6.

 

Drei Stunden später betraten die beiden Kommissare den Befragungsraum im Polizeipräsidium. Ihnen gegenüber saß ein verstockt wirkender Elias Battner, der sich offensichtlich vorgenommen hatte, zu schweigen, und stur durch die beiden Männer hindurchsah. Jan bemühte sich, die Situation etwas aufzulockern, und fragte ihn, ob er etwas zu trinken wolle oder ob er Hunger habe, was der junge Mann erst erstaunt und dann zögernd bejahte.

»Sebastian, holst du uns was aus der Kantine? Wir beide haben doch auch noch nichts gegessen, vielleicht gibt es ja noch etwas halbwegs Vernünftiges.« Und zu Elias gewandt, fügte er hinzu: »An den Standard Ihres Lokals kommen wir hier natürlich nicht heran, aber ich hoffe, es schmeckt trotzdem.«

Elias machte ein verunsichertes Gesicht. Sollte das hier vielleicht eine Art lustiges Kaffeetrinken werden?

Genauso hatte Jan sich das vorgestellt. Ihm lag tatsächlich viel daran, die Atmosphäre so entspannt wie möglich zu gestalten, um Elias vordergründig in Sicherheit zu wiegen.

»Es gab nur noch Kuchen.« Sebastian stellte das Tablett kurze Zeit später mit Kuchen, Kaffee, Geschirr, Besteck, Milch und Zucker auf dem Tisch ab und zog anschließend eine Flasche Mineralwasser aus der einen und drei ineinander gestapelte Gläser aus der anderen Tasche seines Sakkos.

»Perfekt, danke dir. Ich hoffe, Sie mögen Käsekuchen, Herr Battner.«

Sebastian verdrehte innerlich die Augen. Ob Jan nicht ein bisschen zu dick auftrug? Aber sein Plan schien aufzugehen. Der junge Battner entspannte sich, der Kaffeeduft verteilte sich auf angenehme Weise im Raum und alle griffen erst einmal zu.

Sie aßen schweigend, bis Jan unmittelbar in die Stille hinein fragte: »Warum haben Sie Professor Hafner erschossen, Elias?«

Der junge Mann, der die Tasse gerade zum Mund führte, ließ sie ruckartig wieder sinken, sodass der Inhalt nun in einer Lache über den Tisch lief. Battner hustete stark, Sebastian sprang hinzu und klopfte ihm auf den Rücken, worauf der junge Mann abwehrend um sich schlug. »Mir muss keiner helfen«, schimpfte er, als er wieder zu Atem gekommen war, »das hat sowieso noch nie jemand für nötig gehalten.«

»Jetzt übertreiben Sie aber, Herr Battner.« Sebastians Ton war eine Spur zu süffisant. »Ihre Eltern tun doch wirklich alles für Sie.«

»Was wissen Sie denn schon? Und was soll das mit Hafner überhaupt? Ich denke, ich sitze hier wegen zwei aufgeschlitzter Sofas und ein paar kaputter Weinflaschen.«

»Gut, dass Sie das sagen. Worum es sich im Einzelnen gehandelt hat, hatten wir Ihnen noch gar nicht verraten, aber das haben Sie jetzt getan. Damit wollten Sie von der eigentlichen Tat ablenken, nicht wahr?«, hakte Jan nach. »Sie haben geglaubt, dann fiele der Verdacht auf einen Fremden, der logischerweise auch den Mord an Professor Hafner begangen haben müsse. Auf jemanden, der bereit war, für ein Kräuterschnapspatent zu morden, und der dann, als er den vermeintlichen Konkurrenten ausgeschaltet hatte, vor lauter Wut im Weinhof herumgewütet hat, weil er das Patent nicht fand. So sollte es doch aussehen, oder?«

Elias Battner lachte. »Erzählen Sie noch ein bisschen weiter, Herr Kommissar, ich habe früher schon so gern Märchen gehört.«

»Ihre Vorliebe für Märchen haben Sie ja immer noch, nur dass Sie sie jetzt selbst erzählen.« Jan ließ seine Linke über den Tisch schnellen und packte Battners rechtes Handgelenk mit eisernem Griff. »Was haben wir denn da?« Eine lange Narbe zog sich vom Handgelenk des Verdächtigen bis zum Fingeransatz. »Das ist auf jeden Fall keine Narbe, die von einem Schnitt mit dem Messer herrührt. Da hat sich eine wütende oder auch zu Tode erschreckte Katze gewehrt. Es war die Katze von Frau Lindner, stimmt's?« Am Tag nach dem Vorfall waren wir bei Ihnen im Lokal und Sie servierten uns diese tollen Spaghetti. Sie hatten die rechte Hand mit einem Verband umwickelt. Muss im wahrsten Sinne des Wortes tierisch wehgetan haben.« Jan lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, streckte die Beine aus und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.

»Was wollen Sie eigentlich von mir? Warum soll ausgerechnet ich Balduin ermordet haben? Was für ein Schwachsinn. Er war der beste Freund meines Vaters. Sie wollten zusammen eine neue Gourmet-Linie kreieren, und ich war mit von der Partie.«

»Und jetzt sind Sie nur noch allein dabei. Ist doch viel besser, oder? Jetzt können Sie all Ihre Vorstellungen umsetzen, weil Ihr Vater Ihnen sowieso nichts abschlagen wird.« Sebastian beugte sich nach vorn und sah Elias aufmerksam an.

»Wie ist es Ihnen eigentlich gelungen, Ihren Vater nie in Ihr Schlafzimmer zu lassen? Den hätte doch der Schlag getroffen, wenn er Ihre Hass-Tapete gesehen hätte! Sie können uns also nicht vormachen, dass Sie den Professor gemocht haben, wie Sie das eben versucht haben.«

Der junge Mann senkte den Kopf und schwieg. Die beiden anderen konnten geradezu spüren, wie es in ihm arbeitete. Endlich begann er zu schluchzen. »Er hatte meine Mutter auf dem Gewissen«, sagte er leise. »Nicht nur, dass er unsere Familie zerstört hat, er hat sie auch an dem Tag, an dem sie verunglückte, in den Tod geschickt.« Elias Battner rang um Fassung. »Er hatte wichtige Unterlagen vergessen, die er für eine Vorlesung brauchte, und meine Mutter gebeten, sie ihm zu bringen. In der Nacht hatte es gefroren, die Straßen waren spiegelglatt, und die Strecke von Adendorf nach Bonn war gefährlich. Sie muss einem Lastwagen, der entgegenkam, ausgewichen sein, kam von der Fahrbahn ab und knallte mit voller Wucht gegen einen Baum. Es hieß, sie sei sofort tot gewesen, aber ob das wirklich so war oder ob sie noch gelitten hat, wer weiß das schon?« Elias liefen die Tränen über das Gesicht, Jan nestelte eine Packung Papiertaschentücher aus seiner Jackentasche, öffnete sie und reichte ihm eines davon. Elias schnäuzte sich und wischte sich die Augen. »Mutter war der wichtigste Mensch in meinem Leben. Sie hatte immer viel zu tun, aber ich habe mich nie vernachlässigt gefühlt. Sie war fröhlich, und als sie später immer trauriger wurde, weil es zwischen ihr und meinem Vater nicht mehr stimmte, hielten wir beide noch fester zusammen. Bis der Professor kam. Ich habe ihn von Anfang an gehasst!« Elias' Augen verdunkelten sich. »Ich merkte, dass der Mann gefährlich war, dass er versuchte, mir meine Mutter wegzunehmen, noch bevor Vater auch nur irgendwas mitbekam. Hafner mochte mich auch nicht. Trotzdem hätte ich mich irgendwie arrangiert. Ich habe ihn aber noch mehr gehasst, als er meine Mutter dazu zwang, mich zurückzulassen. Sie hat sich damit gequält, aber dann tat sie, was er wollte.«

»Wann reifte in Ihnen der Plan, ihn umzubringen?«, fragte Jan leise.

»Die Gelegenheit war einfach irgendwann günstig, einen Plan hatte ich gar nicht. Es gab aber keinen einzigen Tag nach Mutters Tod, an dem ich ihm nicht das Gleiche gewünscht hätte. Ich wusste, dass er an besagtem Abend in Richtung des Weinhofs unterwegs sein würde. Er wollte unerkannt an einer Weinprobe teilnehmen. Morgens bin ich zu Welsch gefahren, um ein paar Kaninchen für das Restaurant abzuholen. Seine Waffen lagen da einfach so rum. Wahrscheinlich wollte er sie putzen, was weiß ich. Auf jeden Fall nahm ich das Gewehr mit, weil ich das spannend fand. Am Abend habe ich gekocht, aber dann war nicht so viel los, und als der Professor sich auf den Weg machte, bin ich ihm heimlich gefolgt, habe ihn überholt, ohne dass er mich erkannt hat, und habe mich mitten auf die Straße gestellt. Er musste halten.

›Was soll das, Elias, spinnst du?‹, schrie er und sprang aus dem Wagen. Ich bedrohte ihn und zwang ihn, vor mir herzulaufen.« Elias Battners Stimme hatte einen mechanischen Tonfall angenommen, als ob er eine Situation beschriebe, an der er selbst keinen Anteil gehabt hatte. »Ich zwang ihn, sich zu setzen. Wie viel Zeit vergangen ist, weiß ich nicht mehr. Ich habe ihm jedenfalls alles vor die Füße geknallt, was ich ihm immer schon sagen wollte. Als er dachte, ich hätte mich etwas beruhigt, sprang er auf und versuchte zu fliehen. Da habe ich geschossen ...«

Der Körper des jungen Mannes sank in sich zusammen. Niemand sagte etwas. Den beiden Kommissaren fuhren ganz ähnliche Gedanken durch den Kopf. Elias hatte als zutiefst gekränktes Kind gehandelt. Jan fiel ein, wie sehr er seinen eigenen Vater gehasst hatte, und wenn er damals größer gewesen wäre, hätte er sich durchaus vorstellen können, den Tod seiner Katze im gleichen Augenblick zu rächen. Er konnte sich vorstellen, was in Elias vorgegangen war, wie viele Jahre er gelitten hatte. Da jedoch niemand aus seiner engsten Umgebung wirklich gewusst hatte, wie es um ihn stand und welch krankhafte Züge er entwickelte, war ihm die notwendige Hilfe versagt geblieben.

Alexandra und Marie waren von der Lösung des Falles entsetzt, obwohl sie bereits geahnt hatten, wie alles zusammenhing. Trotzdem waren sie froh, dass nun alles vorüber war und der Alltag wieder unspektakulär verlief.

Vielleicht nicht ganz – für Marie hatte sich etwas verändert. Und auch für Jan.