2.

 

»Dieser Balduin Hafner muss ein netter Mensch gewesen sein«, sagte sie beiläufig, als sie abends mit Marie bei der Abrechnung des letzten Tages saß.

»Ach, es geht also wieder los?«, antwortete die Freundin mit einem besorgten Seitenblick.

»Vor dir kann man auch nichts verheimlichen!« Alexandra lächelte schwach. »Ja, es scheint so, aber ich bin froh, dass ich mit dir darüber reden kann. Trotzdem will ich noch mehr über ihn herausbekommen.«

»Was sagt der Kommissar denn dazu? Eigentlich darfst du das doch gar nicht.«

»Stimmt. Deswegen weiß er auch offiziell nichts davon.«

»Aha, so habt ihr das also geregelt!«, grinste Marie, »und wie soll das jetzt weitergehen?«

»Mich lässt der Gedanke nicht los, dass Hafner vielleicht nicht zufällig hier war. Irgendetwas hat er gewollt!« Alexandra stand auf und begann ruhelos hin und her zu laufen. »Aber was? Ich muss zu ihm in die Wohnung, vielleicht finde ich dort einen Hinweis.«

»Aber unseren Wein verkaufst du zwischendurch auch noch, oder soll ich das jetzt ganz allein machen?«

»Natürlich nicht, nach Geschäftsschluss ist ja schließlich auch noch Zeit.«

 

Hauptkommissar Jan Berger hatte sich in den Kopf gesetzt, den Zufall aus dieser Sache auszuschließen. Die Geschichte mit den Fuchsjägern schien durchaus plausibel zu sein, und ihm war in seiner Praxis schon so mancher versehentliche Jagdunfall untergekommen.

Berger, obwohl selbst aufgrund seines Berufes an Waffen gewöhnt und mit ihren Risiken vertraut, war trotz allem ein Gegner der Jagd. Das Machtgefühl über die niedere Kreatur, das aus so manchen Jägeraugen leuchtete, war ihm verhasst. Mochten sie sich noch so sehr als Regulativ der Natur verstehen, das kranke Tiere auszumerzen oder eine angeblich übergroße Population zu dezimieren half, für Berger war dieser Grund oft nur vorgeschoben. Die Einzigen, die dieses Recht hatten, waren für ihn die Förster und ihre Forstgehilfen, alles andere erschien ihm unrecht. Der Grund dafür, dass nur wenige Jäger, nämlich jene, denen ein wirklicher Einklang mit der Natur am Herzen lag, vor seinen Augen Gnade fanden, lag lange Jahre zurück. Auch Jans Vater war passionierter Jäger gewesen, der seinen kleinen Sohn schon früh an die Jagdgewohnheiten gewöhnen wollte und ihn daher mit auf die Pirsch nahm. Das Kind sollte von vorneherein mit diesem Bewusstsein aufwachsen, oder anders gesagt, ein Gefühl der Überlegenheit den Tieren gegenüber entwickeln, kurz, es sollte in den Augen des Vaters schon früh ein richtiger Mann aus ihm werden. Jan jedoch erbrach sich, als der Vater ihn zu dem erschossenen Reh führte, das blutend und in seinen letzten Zuckungen am Boden lag. Als der Vater das Wild schließlich aufbrach, die Eingeweide herausnahm, die blutig und dampfend in der kühlen Herbstluft lagen, und der Gestank für Jan unerträglich wurde, war es mit seiner Fassung vollständig vorbei. Der Vater, der ein solches Verhalten nicht akzeptieren wollte, zwang den Sohn, ihn weiterhin bei der Jagd zu begleiten. Der Zehnjährige begann schlecht zu schlafen, verlor den Appetit und zog sich immer mehr in sich zurück. Die Mutter, die die Not des Kindes zwar traurig erlitt, war aus eigener Schwäche heraus jedoch außerstande ihm zu helfen und zog es vor, sich den Wünschen ihres Mannes zu beugen.

Der Höhepunkt des Leidens war erreicht, als der Vater, wütend über Jans sogenannte Verstocktheit, zum Gewehr griff und dessen geliebte Katze vor seinen Augen erschoss. Von diesem Tag an hatte Jan kein Wort mehr mit ihm geredet und war kurz darauf in ein Internat gekommen. Auch hier war es schwer gewesen, aber trotzdem besser, als die Kälte und Verbohrtheit des häuslichen Umfeldes ertragen zu müssen.

Obwohl es bei seiner Vorgeschichte eher paradox erschien, dass er nach dem Abitur das Studium an der Polizeischule aufgenommen hatte, war es für Jan eine logische Konsequenz gewesen. Sein Sinn für Gerechtigkeit – oder sagen wir besser Ungerechtigkeiten, die jemand erleiden musste – ließ ihm keine andere Wahl. Aber er musste während seiner Ausbildung auch lernen, sein emotionales Gerechtigkeitsempfinden zurückzustellen und durch professionelles Abwägen und Handwerk zu ersetzen. Trotzdem gab es immer wieder Situationen, in denen ihm das schwer fiel. Bei Verhören zum Beispiel, in denen dem offensichtlich schuldigen Täter nichts nachzuweisen war und der Kommissar und der Polizeiapparat an seine Grenzen gerieten. In der Regel verließ er dann den Raum, weil er fürchtete, handgreiflich zu werden, und bis auf ein paar Ausnahmen war es ihm bisher gelungen, ruhig zu bleiben. Auch seinem Vater hatte er damals den Tod gewünscht, und etwas von dieser beängstigenden Energie, die je nach Situation – dessen war er sich sicher – jeden treffen könnte, unter diesen Umständen also, erlebte er sie.

Trotzdem war aus dem ehemals verängstigten Kind ein Mann mit optimistischer Ausstrahlung und positivem Wesen geworden, der von seinen Kollegen respektiert und gemocht wurde. Wie viel innere Arbeit und welchen Reifungsprozess es dazu gebraucht hatte, ahnte niemand, aber Jan war davon überzeugt, dass die lebensbejahende Art wirklich seinem Charakter entsprach und schon immer ein Teil von ihm gewesen war.

Im nächsten Schritt seiner Ermittlungen hieß es jetzt also, die Waffenbesitzer der näheren Umgebung ausfindig zu machen, ihnen einen Besuch abzustatten und ihre Schusswaffen überprüfen zu lassen. Außerdem müsste er herausbekommen, ob es in Alexandras Gegend Leute gab, die illegale Gewehre oder Pistolen besaßen – auf jeden Fall lag ein gutes Stück Arbeit vor ihm. Gleichzeitig musste er mit den Nachforschungen zu Balduin Hafners Person vorwärtskommen. Jan seufzte – die Sisyphusarbeit gehörte halt zum Geschäft.

Alexandra beschloss, ohne die Sache mit Jan abzusprechen, sich ein Bild von Hafners Wohnung zu machen. Da der Tote außerhalb gefunden worden war, war die Wohnung bereits untersucht, aber nicht versiegelt worden; die Polizei hatte den Schlüssel allerdings sichergestellt. Aber wie das bei Mietshäusern oft der Fall war, bestand durchaus die Wahrscheinlichkeit, dass ein Nachbar oder eine Nachbarin einen Ersatzschlüssel besaß, sodass Alexandra sich einen guten Grund ausdenken wollte, um Zugang zur Wohnung zu bekommen.

Marie staunte nicht schlecht, als Alexandra, die legere Kleidung liebte, am späten Nachmittag in einem eleganten schwarzen Kostüm vor ihr stand.

»Mensch, Alexandra, du siehst ja klasse aus!« Marie musterte ihre Freundin aufmerksam. »Vielleicht ein bisschen spießig, sieht aber trotzdem gut aus. Wen willst du denn damit beeindrucken?«

»Wenn ich Zutritt zu Hafners Wohnung bekommen will, muss ich doch vertrauenerweckend aussehen. Meinst du, das geht so?« Alexandra drehte sich langsam um die eigene Achse.

Marie lachte. »Auf jeden Fall! Ich selbst würde dir unbesehen jedes Märchen abnehmen, das du mir erzählst.«

»Okay, dann hoffe ich, dass es Hafners Nachbarn genauso geht. Du kommst doch in der letzten Stunde allein klar? Heute war ja sowieso nicht so viel los.«

»Jetzt geh schon, vorher gibst du ja doch keine Ruhe. Sicher schaffe ich das hier allein.«

Ein gute halbe Stunde später stand Alexandra vor der imposanten, hellen Jugendstilfassade des Acht-Parteien-Hauses in der Bonner Südstadt und überlegte, wo sie klingeln sollte. Hafner hatte in der zweiten Etage gewohnt, und da es von der Anordnung der Klingelknöpfe so aussah, als lägen je zwei Wohnungen auf einer Etage, drückte sie auf den Knopf, der sich unmittelbar neben dem Schild mit dem Namen Hafner befand.

»Ja bitte?«, tönte eine weibliche Stimme aus der Sprechanlage.

Alexandra beugte sich zum Lautsprecher vor.

»Guten Tag Frau Schröder, bitte entschuldigen Sie die Störung. Ich heiße Alexandra Lindner, Ihr Nachbar, Balduin Hafner war mein Bruder.«

»Bitte kommen Sie doch herein«, antwortete die Stimme, dann ertönte der Summton, der die Tür öffnete.

»Das ging ja leichter, als ich dachte!« Alexandra schlug der Geruch frischer Farbe entgegen, als sie den terrazzobelegten Hausflur betrat, und sie schickte sich unter Herzklopfen an, das glänzend weiße Treppenhaus bis zur zweiten Etage emporzusteigen. Frau Schröder, eine schlanke Mittfünfzigerin, deren brünettes, mittellanges Haar von attraktiven grauen Strähnen durchzogen war, erwartete sie bereits – ein bedauerndes Lächeln im Gesicht.

»So sehen Sie also aus, ich war schon gespannt!« Sie musterte Alexandra skeptisch. »Eine Ähnlichkeit zu Ihrem Bruder kann ich aber überhaupt nicht feststellen.«

»Das geht vielen so, die uns kennen. Es liegt wahrscheinlich daran, dass wir zwei verschiedene Väter hatten«, beeilte sich Alexandra die Unsicherheit der anderen zu entkräften. »Hat mein Bruder Ihnen das nie erzählt?«

»Nein, so vertraut waren wir nicht miteinander. Einen Kaffee oder ein Glas Wein haben wir ab und an zusammen getrunken, wenn ich seine Blumen während seiner Abwesenheit gießen sollte. Und meistens hat er mir eine nette Kleinigkeit als Dankeschön mitgebracht, wenn er zurückkam.« Sie lächelte. »Arbeiten Sie auch an der Universität?«, setzte sie unvermittelt hinzu.

»Nein, ich bin selbstständig. Ich besitze eine Weinhandlung.«

»Dann haben Sie ja doch etwas Gemeinsames! Herr Hafner war ja auch ein großer Weinliebhaber.«

»Das stimmt.« Alexandra setzte ihr traurigstes Gesicht auf und senkte den Kopf.

»Furchtbar, was mit Ihrem Bruder passiert ist. Er war ein so feiner Mensch!« Frau Schröders Augen röteten sich. »Ein solches Ende hat keiner verdient.«

Alexandra nickte ernst, dann sah sie Frau Schröder an. »Es stimmt, ein solch unrühmliches Ende hat niemand verdient, das ist alles furchtbar!« Sie machte eine Pause, bevor sie ins Blaue fragte: »Was ich Sie gern fragen wollte: Balduin sprach davon, dass er bei Ihnen einen Wohnungsschlüssel deponiert hat. Könnten Sie so freundlich sein, ihn mir zu leihen? Ich würde mich gern in seinen Räumen umsehen, es muss ja demnächst alles geregelt werden, und ich wollte mir gern einen Überblick verschaffen, Sie verstehen?« Alexandra seufzte schwer.

»Natürlich. Selbstverständlich. Moment, ich hole ihn gleich. Wenn Sie fertig sind, lade ich Sie auf eine Tasse Tee ein, wenn Sie mögen.« Frau Schröder schaute Alexandra abwartend an.

»Gern, das ist sehr lieb von Ihnen.«

 

Als Alexandra einige Minuten später Balduin Hafners Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, lehnte sie sich mit dem Rücken an deren Innenseite und tat einen tiefen Atemzug. Oh je, sie hatte alle Register gezogen und noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen gehabt. Die Angelegenheit schien sich langsam zu verselbstständigen. Einen Moment lang war sie sich tatsächlich wie die Schwester des Toten vorgekommen! Sie beruhigte sich mit dem Gedanken, dass sie schließlich Licht in die Umstände dieses gewaltsamen Todes bringen wollte, immerhin war der Professor auf ihrem Grundstück gestorben, was – so versuchte sie sich einzureden – ihr Vorgehen rechtfertigte.

Sie ging ein paar Schritte durch den Flur, an der Biedermeierkommode vorbei, über der ein antiker Spiegel hing, wandte sich intuitiv nach rechts und stand bald darauf im Wohnzimmer.

Mit allem hatte sie gerechnet, nur nicht damit, dass die Einrichtung genau dem Eindruck ihrer früheren Eingebung entsprach. Der schwere Schreibtisch, der Orientteppich, der dunkle Drehstuhl, die Schreibtischlampe – Alexandra begann zu zittern, weil ihr das alles höchst unheimlich vorkam. Obwohl sie den Toten nicht kannte, konnte sie sich in seine Persönlichkeit einfühlen, mochte es an der Atmosphäre der Räume liegen oder an dem, was sie bereits über Hafner wusste. Alexandra versuchte spontan, ihre Gefühle auszuschalten und der Sache mit Logik beizukommen, um damit ihre Aufregung zu dämpfen. Denn etwas Derartiges war ihr noch nicht begegnet. Als sie sich etwas beruhigt hatte, war sie in der Lage, die Atmosphäre der Wohnung auf sich wirken zu lassen. Wenn auch die Einrichtung nicht ihrem Geschmack entsprach, es war heimelig hier. Auf dem Schreibtisch lagen Berge von Papier; Alexandra ließ sich auf den Drehstuhl sinken und begann automatisch damit, das Material zu sichten. Es dauerte nicht lange, bis sie bemerkte, dass hinter der augenscheinlichen Unordnung ein System steckte. Rechnungen und Belege alltäglicher Ausgaben lagen auf einem Stapel, wissenschaftliche Artikel, die Hafner im Bereich seiner Forschungsarbeit gesammelt hatte, auf der anderen. Der größte Stapel in der Mitte jedoch bestand aus Unterlagen, in denen von Kulinarischem die Rede war. Anscheinend hatte der Professor ein Faible für außergewöhnliche Rezepte gehabt – Alexandra hob erstaunt die Augenbrauen – und er war ein Sammler von Restaurantkritiken gewesen. Alle »guten« Restaurants eines bestimmten Levels im Umkreis von ungefähr 50 Kilometern, ob neu eröffnet oder solche, die bereits über einen guten Ruf verfügten, waren besprochen worden. Einige dieser Lokale orderten ihre Weine bei ihr, sodass ihr sowohl der äußere Rahmen als auch die Speisen vertraut waren, zwei der wichtigsten Faktoren, die in eine gute Beratung einfließen mussten. Aber was interessierte das alles den Professor? Sie schloss die Augen und ließ ihrem Gespür freien Lauf. In ihrer Vorstellung sah sie Balduin Hafner in der »Ente«, einem bekannten Sternerestaurant, sitzen und bei einem Aperitif voller Vorfreude auf sein ausgefallenes Menü warten. Sie sah seine Augen glitzern, als die Vorspeise, die einem kunstvollen Stillleben entsprach, ein Arrangement aus Salatsorten und Edelfischhäppchen, vor ihm stand und er lustvoll nach Messer und Gabel griff. Balduin Hafner war ein Genießer gewesen, dessen war sie sich jetzt sicher. Als Alexandra die Augen wieder öffnete, schwante ihr, dass der Professor sich vielleicht wirklich nicht zufällig auf ihrem Grundstück aufgehalten hatte. Es war der Abend der Weinprobe gewesen, und es bestand die Möglichkeit, dass er spontan daran teilnehmen wollte, durch irgendetwas aufgehalten wurde und schließlich seinem Mörder begegnet war. Aufmerksam blätterte sie den mittleren Stapel noch einmal durch, bis sie auf ihre eigene Weinpreisliste stieß und sie verwundert betrachtete. Alexandras Gedanken überschlugen sich. Das also war der Beweis – Hafner war tatsächlich nicht zufällig da gewesen. Sie musste Jan davon erzählen. Der Vollständigkeit halber sichtete sie die Papiere bis zum Ende durch und hielt wenig später ein zweites Mal erstaunt inne. Vor ihr lag eine sorgfältig ausgeschnittene alte Immobilienanzeige mit Foto. Das Bild zeigte ihren Weinhof, so wie er damals zum Verkauf angeboten worden war. Eine Bemerkung stand, in verlaufener Tinte geschrieben, auf dem Rand des Bildes. Alexandra versuchte mühevoll, es zu entziffern, die Schrift war fast unleserlich. Kurz entschlossen klappte sie ihre schwarze Handtasche auf und steckte die Anzeige hinein. Vielleicht konnte Marie das Wort entziffern oder sie bekam es mithilfe einer Lupe heraus. Auf jeden Fall schien der Professor sich ebenfalls für das Anwesen interessiert zu haben. Und auch hier stellte sich die Frage nach dem Warum.

 

Jan Berger staunte nicht schlecht, als Alexandra ihm am nächsten Morgen von ihren Ermittlungserkenntnissen berichtete.

»Also gab es tatsächlich eine Verbindung zu euch! Irgendwie glaube ich nicht, dass es ihm dabei nur um eine Weinbestellung ging, sonst hätte er die Anzeige nicht ausgeschnitten. Vielleicht wollte er euren Hof auch kaufen.«

»Genau – ich werde die Maklerin noch einmal fragen, vielleicht kann sie mir sagen, wer sich noch für den Hof interessiert hat.«

»Habt ihr das Wort denn inzwischen entziffern können?«, erkundigte er sich, nachdem Alexandra ihm alles haarklein berichtet hatte.

»Marie meint, es könnte ›recherchieren‹ bedeuten, was ja auch Sinn machen könnte, wenn er beabsichtigte, das Anwesen zu kaufen. Was das angeht, werde ich jedenfalls am Ball bleiben.«

Marie war von beiden Frauen immer die praktischere, bodenständigere und auch optimistischere gewesen. Obwohl das Leben nicht immer sanft mit ihr umgegangen war, hatte sie sich ihre positive Einstellung erhalten, was Alexandra, die ihrerseits zu nutzloser Grübelei neigte, bewunderte.

Maries Mann Robert war vor vier Jahren ganz plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben. Die Ehe der beiden war sehr innig gewesen, und nie würde Marie den Moment vergessen, an dem sie an einem schönen Frühlingstag aufgewacht war und Robert tot neben ihr im Bett gelegen hatte. Ihn, der besonders sportlich und durchtrainiert gewesen war, der weder rauchte noch trank und sich darüber hinaus auch noch gesund ernährte, hatte dieses Schicksal trotz allem kurz vor seinem fünfundvierzigsten Geburtstag ereilt, und Marie war sich seitdem der Endlichkeit des Lebens unmittelbar bewusst. Nachdem der erste furchtbare Schock sich gelöst hatte und sie begann, das Unfassbare zu begreifen, ertappte sie sich dabei, dass ihr Schmerz von dem unendlich tiefen Bedauern begleitet wurde, keine Kinder zu haben. Vielleicht wäre dann alles leichter zu ertragen gewesen, weil es jemanden gegeben hätte, um den man sich kümmern und für den man sorgen müsste und mit dem man darüber hinaus das Leid hätte teilen können. Marie schalt sich egoistisch, weil sie einem Kind den Verlust des Vaters zumuten würde, aber ein Vermächtnis von Robert, ein Wesen, in dem er weitergelebt hätte, wäre ein großes Glück gewesen.

Nach zwei dramatischen Fehlgeburten im fünften Schwangerschaftsmonat hatten Robert und Marie ihren Kinderwunsch schweren Herzens begraben. Nie würden die furchtbaren Erinnerungen daran verblassen; die Verzweiflung, die Not und die Hilflosigkeit des Ausgeliefertseins hatten sich tief in ihre Seele eingebrannt. Das Laken voller Blut, der Panik auslösende Schmerz, die Fahrt ins Krankenhaus, das Bedauern in den Augen der Ärzte, die qualvolle, nächtliche Geburt, die kein neues Leben schenkte, sondern den Tod unmittelbar erleben ließ, all das war mehr, als Maries Körper und Geist für lange Zeit verkraften konnten.

Trotzdem hatte sie nie den Glauben an das Leben verloren, und als die wieder auflebende Freundschaft zu Alexandra sich intensivierte und sich neue Lebensentwürfe auftaten, kehrten Optimismus und Zuversicht zurück. Es war schön, so konkret zu planen, um es dann in die Tat umzusetzen. Es war schön, den Beruf zu wechseln, um sich mit einem guten Konzept selbstständig zu machen, sich von Altem zu befreien, um noch einmal ganz von vorn anzufangen. Und der Erfolg gab den beiden Frauen recht.

Marie war lange Jahre Redakteurin bei einer bekannten Kochzeitschrift gewesen, jetzt arbeitete sie als freie Mitarbeiterin – kreative Berufe waren eben eine Passion, die man nicht so einfach loswurde. Aber ihr Schwerpunkt hatte sich verlagert. Wie Alexandra war auch Marie ein Genussmensch mit einem ausgesprochenen Sinn für gutes Essen und Trinken und angenehme Atmosphäre. Schon als junge Mädchen, als andere in ihrem Alter ihre Ernährung nur allzu gern der nächsten Imbissbude überließen, hatten sie sich neue Rezepte ausgedacht, die sie in den elterlichen Küchen ausprobierten. Und als das Biertrinken in der Clique angesagt war, fanden sie wiederum keinen Gefallen daran, aber dafür erschloss sich ihnen die Welt der Weine, in der sie sich nach und nach immer besser auskannten.

In den nächsten Jahren, die mit Studiengängen und Berufstätigkeiten an- und ausgefüllt waren, schlummerte dieses Potenzial in beiden Frauen, Marie war durch ihren Beruf eher auf die theoretische Schiene geraten – sie berichtete über Essen und Trinken, bereiste Länder und sammelte für die Redaktion außergewöhnliche, aber auch ganz bodenständige Rezepte. Um selbst am Herd zu stehen und ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen, blieb ihr nur wenig Zeit, was sie sehr bedauerte. Dass ihrer beider Begabung nicht verschwunden war, spürten die Freundinnen schon bei ihrem ersten Treffen nach langer Zeit wieder, und es dauerte nicht lange, bis die neue Idee in ihren Köpfen Gestalt annahm und sie nicht mehr losließ.

Tatsächlich hatte sich Professor Hafner für das damals noch renovierungsbedürftige Anwesen interessiert, wie Alexandra mit einem Anruf bei der Maklerin herausfand. Der Kaufpreis und Maries offenkundige Begeisterung hatten schließlich den Ausschlag gegeben. Außerdem waren die beiden Frauen bereit gewesen, einige Tausend Euro mehr als die – ihnen damals unbekannte – Konkurrenz zu zahlen. Die Maklerin erinnerte sich noch gut daran, dass der Professor bis zum Schluss um den Zuschlag gekämpft hatte, aber irgendwann aufgeben musste, weil der Preis seine Mittel letztlich restlos überstrapazierte.

Und nun stellte sich die Frage nach dem Warum. Irgendetwas musste Hafner am Abend seines Todes hierher geführt haben, überlegte Alexandra, etwas, was mit dem Haus in Verbindung gebracht werden konnte. Oder hatte es doch mit ihnen als Personen zu tun? Mit Marie und ihr? Vielleicht wollte er ihnen ja doch noch ein Angebot unterbreiten, weil er inzwischen zu Geld gekommen war, wer weiß? Es half nichts, Alexandra musste mehr über den Professor in Erfahrung bringen – über Freunde, Verwandte, seine verstorbene Frau.

Eins nach dem anderen, mahnte sie sich, vielleicht hatte Marie noch eine Idee, auf die sie selbst noch gar nicht gekommen war.

»Wir haben eine Spur!« Jans Stimme drang regelrecht euphorisch durch den Hörer. »Meine Theorie scheint sich zu bestätigen. Wir haben eine Patronenhülse in der Nähe des Wagens gefunden, die zu besagter Patrone passt, die Hafner das Leben gekostet hat. Aber ich will den Tag nicht vor dem Abend loben«, lachte er.

»Wie jetzt? Habt ihr schon jemanden verhaftet?«, fragte Alexandra zurück, wobei sie einen enttäuschen Unterton nicht vermeiden konnte.

»Na, freudig überrascht klingt das ja gerade nicht. Geht dir das zu schnell oder ist es nicht spektakulär genug, wenn es doch ein verunglückter Jagdunfall war?«

»Nein, ja, doch – ach, ich weiß auch nicht. Irgendwie denke ich, dass die Sache doch komplizierter sein müsste. Dass noch mehr dahintersteckt als ein wildernder Bauer, der aus Versehen einen Menschen trifft.«

»Sieh mal einer an, du scheinst dir ja als Miss Marple richtig zu gefallen! Und jetzt bist du traurig, dass die Mörderjagd wahrscheinlich schon vorbei ist.« Alexandra konnte Jans breites Grinsen geradezu hören.

»Deine Komplimente waren schon immer gewöhnungsbedürftig, mein Lieber. Also ganz so schlimm, wie du tust, ist es nicht.«

»Wenn das so ist, bin ich ja beruhigt. Aber was ich dir noch sagen wollte: Die Person Balduin Hafner interessiert uns natürlich nach wie vor. Vielleicht gab es ja eine Verbindung zu dem Mann, der geschossen hat.«

»Gut, dann bleibe ich also am Ball, besonders weil Hafner sich damals wohl auch sehr für unseren Hof interessiert hat, als er zum Verkauf stand. Wir haben das Rennen nur gemacht, weil er im Preis nicht mehr höher gehen konnte.«

»Das ist ja interessant! Wer weiß, welche Strukturen dem zugrunde liegen. Am Ende hat unser Verdächtiger auch damit etwas zu tun. Danke für deinen Hinweis!«

Alexandra ließ die Frage nicht los, warum Hafner sich so besonders nachdrücklich für ihren Hof interessiert hatte. Die Wohnung, in der er lebte, gehörte ihm, und er war allein. Vielleicht hatte er ja die Absicht gehabt, sich wieder zu verheiraten? Aber ein regelmäßiger Damenbesuch wäre der Nachbarin sicher nicht verborgen geblieben und sie hätte ihr, als »Schwester«, sicher davon berichtet. Außerdem wäre das Anwesen für zwei Leute ohne Geschäft immer noch zu groß gewesen und der Professor hatte seinen Beruf offensichtlich geliebt. Deshalb war es unwahrscheinlich, dass er auf der Suche nach einer neuen Existenz gewesen war.

Am ehesten kämen sie der Antwort näher, wenn sie mehr über die Vorgeschichte des Hofes in Erfahrung brächten, beschloss Alexandra und brachte ihr Anliegen beim Abendessen vor.

»Marie, du hattest doch den besseren Draht zu den Vorbesitzern. Kannst du dich deshalb darum kümmern, etwas mehr über unseren Hof in Erfahrung zu bringen?«

»Du spielst auf den ältesten Bruder der sieben Geschwister an, stimmt's?« Marie musste lachen, als sie daran dachte, wie aufdringlich der alte Herr ihr damals den Hof gemacht hatte.

»Genau. Ruf ihn doch mal an. Dir wird schon was einfallen.«

»Und dann steht er morgen hier mit Blumen vor der Tür.« Marie schlug ergeben die Augen zum Himmel. »Und wie werde ich ihn dann wieder los? Das war doch damals schon ein Problem.« Alexandra grinste. »Vielleicht gefällt er dir ja jetzt besser, dann ist es nicht so schlimm, und einen neuen Mann hättest du auch.«

Marie stieß unter dem Tisch mit ihrem Fuß gegen Alexandras Schienbein.

»Aua!«

»Siehst du, das ist die Strafe!« Marie verzog das Gesicht zu einer Grimasse, dann begann sie so zu lachen, dass Alexandra auch losprustete.

»Ich würde mich freuen, wenn wir in Kontakt bleiben«, brummte Marie mit tiefer Stimme, während sie ihre Freundin mit aufgerissenen Augen anstarrte und sie lüstern musterte, »hier ist meine Privatnummer.« Sie machte eine schwungvolle Geste, als ob sie Alexandra etwas überreichen wollte. »Rufen Sie mich an, Gnädigste, Sie werden es nicht bereuen.«

Die beiden prusteten von Neuem los, als sie sich die Szene noch einmal in Erinnerung riefen.

»Eigentlich kann er einem fast leidtun«, meinte Marie, als sie wieder zu Atem gekommen waren, »aber ich fand es schon ziemlich heftig, wie er versucht hat, bei mir zu landen. Kannst du dich noch an die Sandalen mit den gemusterten Socken erinnern? Allein das war Grund genug, nicht darauf einzugehen, außerdem hatte er was vom Glöckner von Notre Dame. Aber er hatte mehr Selbstbewusstsein als wir beide zusammen, das muss ich auch sagen.«

»Trotzdem beneide ich solche Menschen auch irgendwie«, sagte Alexandra nachdenklich, »die sich selbst niemals in Frage stellen und aus der Tiefe heraus unerschütterlich von sich überzeugt sind.«

»Dazu müsstest du aber einen Teil deines Verstandes abgeben, und das willst ausgerechnet du ganz bestimmt nicht!«

»Wahrscheinlich hast du recht.« Alexandra seufzte. »Also, Marie, tust du es trotzdem? Rufst du Heinz Demmer an?«

»Okay, okay, ich werde schon irgendetwas in Erfahrung bringen, wenn es das überhaupt gibt. Am besten, ich versuche es gleich, aufschieben nützt ja nichts.« Sie rollte mit den Augen und schickte sich an, die entsprechende Nummer aus ihrer Telefonliste zu suchen. Dann nahm sie den tragbaren Hörer von der Station und verschwand in der Küche. »Wenn ich hier bei dir bleibe, kriege ich kein ernstes Wort heraus, also entschuldige mich. Bis gleich.«

Als Marie nach einer Viertelstunde den Raum mit angespanntem Gesichtsausdruck wieder betrat, hatte Alexandra fast Mitleid mit ihr.

»Und?« Sie schaute Marie abwartend an. »Gibt es etwas, was wir noch nicht wussten?«

»Du meinst, außer dem ganzen Süßholz-Geraspel und der Einladung zum Essen, die dabei herausgekommen ist?«, antwortete Marie halb lachend, halb entnervt, bevor sie nach einer Atempause fortfuhr. »Ja, ich denke schon. Unser Hof muss in den Zwanziger Jahren ein berühmter Gasthof gewesen sein. Zum gestiefelten Kater hieß er. Ein ungewöhnlicher Name, findest du nicht? Auf jeden Fall muss er seinerzeit zu den angesagten Adressen gehört haben. Darüber können wir sicher noch mehr herausfinden, ohne dass ich mit Demmer essen gehen muss, was meinst du?«

»Klar!« Alexandra starrte nachdenklich in die Luft. »Komisch, vielleicht ist das die Verbindung zu Hafner. Er hatte auf seinem Schreitisch einen ganzen Stapel von Restaurantkritiken liegen. Denkbar wäre, dass er etwas von der Vorgeschichte des Hofes gewusst hat. Aber was würde das ändern?« Sie stützte nachdenklich den Kopf in die Hand und überlegte. Dann sprang sie plötzlich entschlossen auf. »Na ja, auf jeden Fall haben wir einen Punkt, an dem wir ansetzen können! Ich stürze mich mal ins Internet.«

Das Internet ergab eine Reihe von Spuren, »Der gestiefelte Kater« war in den zwanziger Jahren tatsächlich ein bekanntes Restaurant gewesen. Alexandra fand einen Hinweis auf einen Zeitungsartikel zur Eröffnung des Lokals im Juni 1920 und einen weiteren zum 40. Geburtstag des Verlegers und Herausgebers der Bonner Tageszeitung General-Anzeiger, der das Lokal zwei Jahre später an besagtem Tag gemietet hatte. Im Archiv der Zeitung würde sie hoffentlich Näheres finden.

In der Mittagspause des nächsten Tages machte Alexandra sich auf, um die entsprechenden Artikel zu suchen. Wenn sie noch bis zum Betreten des Raumes die romantische Vorstellung gehabt hatte, alte Ordner zu durchforsten und Staub zu atmen, wurde sie rasch eines Besseren belehrt. Alle Einträge waren inzwischen digitalisiert. Sie meldete sich an, ließ sich an einem der Bildschirme nieder und tauchte in die Lektüre alter Zeitungsartikel ein. Eine vergangene, andere Zeit eröffnete sich vor ihren Augen und zog sie bald in ihren Bann.

Der gestiefelte Kater war in den Zwanzigern eine äußerst angesagte Adresse gewesen. Wenn man davon ausging, dass sich damals nur die Wohlhabenden Restaurantbesuche überhaupt leisten konnten, war das Lokal so etwas wie ein Sternelokal gewesen. Und, was sehr ungewöhnlich war, es war von einer Frau geführt worden, die auch Herrin der Küche gewesen war. Rosa Göttner war für ihre ungewöhnlichen und doch zünftigen Gerichte bekannt gewesen, die althergebrachte, oftmals fettreiche Speisen durch andere Zubereitungsarten und Zutatenvariationen in eine leichtere, frische Küche verwandelt hatte, die auch heute noch Bestand haben könnte. Diese Herangehensweise erschien der Köchin, die innovativ dachte und kochte, für ihre Gäste logisch, die außer ausgewählten Sportarten wie Golf oder Tennis keine körperlich schweren Arbeiten zu verrichten hatten und daher auf kalorienreiche Kost verzichten konnten. Neben dem Vorzug, eine begnadete Köchin zu sein, war Rosa Göttner auch eine – wie man sie despektierlich, aber liebevoll nannte – Kräuterhexe gewesen. Niemand kannte sich besser mit Kräutern, ihrem Geschmack, der sich beim Kochen verändern konnte, und ihren Wirkungen aus, sodass sie neben deren Einsatz am Herd auch einen Handel mit Kräutermischungen betrieb. Die Mittdreißigerin hatte das Unmögliche geschafft, sich in einer Männerwelt einen Platz zu erobern – eine Tatsache die Alexandra bei ihrer Lektüre mit großem Respekt zur Kenntnis nahm. Und endlich nahm die Köchin auch äußerlich vor ihren Augen Gestalt an, als sie endlich ein Bild von ihr fand, das diese im Rahmen eines – in der damaligen Zeit sehr angesagten – Monopoly-Spiele-Abends in ihrem Lokal zeigte. Rosa Göttner war eine große, schlanke Frau mit dunkler Etonfrisur, einer kürzeren Variante des beliebten Bubikopfs, und das Foto zeigte sie in einem gerade geschnittenen, kurzen Kleid. Elegant, mit einem hellwachen Ausdruck in ihren großen, dunklen Augen und dem ausdrucksstark geschminkten Mund widersprach sie in jeder Beziehung dem Bild, das man sich damals gemeinhin von einer Köchin machte, sondern schien vielmehr einem Modejournal entsprungen zu sein. Dass sie dabei eine begnadete Köchin war, kam besonders bei den unverheirateten Herren der Schöpfung gut an, die ihr unverblümt den Hof machten. Alexandra musste unwillkürlich lachen. So furchtbar viel schien sich seit damals nicht geändert zu haben, das »Komplettprogramm« war doch bei den meisten Männern immer noch sehr beliebt.

Rosa Göttner war eine Art Paradiesvogel gewesen, deren Karriere unbehelligt blieb, weil ihre Kochkünste dem Bild einer Frau anstanden und sie klug genug war, die erfolgreiche Geschäftsfrau dahinter zu verbrämen.

Alexandra war von dieser Frau mehr und mehr angetan. Das alles hatte sich auf ihrem Hof abgespielt, und sie bedauerte es geradezu, Rosa nicht persönlich kennengelernt zu haben. Die Vorstellung, dass sie in der Gewölbeküche ihre neuen Rezepte entworfen und in die Tat umgesetzt hatte, war aufregend. Es war die Ideenschmiede für etwas Neues gewesen, das schließlich auch Anerkennung gefunden hatte – ein Erfolg, an den Alexandra und Marie gern anknüpfen wollten.

»Siehst du, das, was wir hier machen, hat tatsächlich schon so eine Art Tradition, ohne dass wir es vorher wussten«, bemerkte sie abschließend, nachdem sie Marie ihre Kopien zu lesen gegeben und darüber hinaus viel von ihren Erkenntnissen berichtet hatte.

»Vielleicht sollten wir außerdem noch viel mehr Wert auf die Küche legen«, antwortete Marie nachdenklich, »weißt du, dass wir vielleicht so eine Art Gleichgewicht herstellen.«

»Du meinst aber nicht, dass wir den Weinhandel einschränken sollen, oder?«, fragte Alexandra besorgt zurück. Marie war immer für eine Überraschung gut und sehr begeisterungsfähig. Da ihre Ideen jedoch auch unrealistisch sein konnten, war es an Alexandra, die Dinge mit Marie zusammen von allen Seiten zu beleuchten, um schließlich ein durchführbares Resultat zu bekommen.

»Das hieße, dass du dich dann mehr um die Küche und ich mich besonders um den Weinhandel kümmern sollte?«

»Ja, so ähnlich. Weißt du, was darüber hinaus genial sein könnte? Wenn wir wüssten, was Rosa Göttner überhaupt gekocht hat. Vielleicht könnten wir ja tatsächlich ihre Tradition fortsetzen – auf die heutige Zeit zugeschnitten natürlich – aber das wäre doch eine gute Werbung für uns. Und wenn das rechtlich möglich ist, könnten wir den Namen des Lokals doch auch übernehmen.«

»Hm, Rezepte habe ich im General-Anzeiger nicht gefunden, aber auch da muss es ja irgendeine Möglichkeit geben«, sagte Alexandra nachdenklich. »Was mir aber immer unverständlicher wird, ist, was ein Professor für Alte Geschichte damit zu tun haben sollte. Denn das hat ihn tatsächlich das Leben gekostet.«

In dieser Nacht träumte Alexandra schwer, das Schicksal des Professors ließ sie auch im Schlaf nicht los. Sie sah ihn und sich selbst in seiner Wohnung. Er saß am Schreibtisch und sah sie unverwandt an. Ihr war, als ob er ihr etwas sagen wollte, was sie nicht verstand und er nicht deutlich genug über die Lippen brachte. Dann stand er auf, ging auf sie zu und streckte seine Hände aus, die sich um ihre Oberarme legten. Sein Gesicht näherte sich dem ihren und sein Blick begann, sie zu durchdringen. Alexandra wachte mit wild klopfendem Herzen auf und setzte sich mit einem Ruck im Bett auf. Als sie die Nachttischlampe anknipste und die gewohnte Einrichtung um sich herum wahrnahm, ging es ihr etwas besser, aber sie wusste auch, dass der Strudel, der einen gewaltigen Sog auf sie ausübte, sie nach langer Zeit wieder mit sich reißen würde. Ohne weiter darüber nachzudenken, stand sie auf, ging ins Bad, kramte sich durch die Medikamente in der obersten Schublade des Badezimmerschrankes und schluckte hastig eine Beruhigungstablette mit viel Wasser herunter. »Es ist ja nur eine«, versuchte sie sich vor sich selbst zu rechtfertigen, ›sonst kann ich überhaupt nicht mehr schlafen, und morgen muss ich fit sein.« Sie legte sich wieder ins Bett und löschte das Licht. Die tapsenden Schrittchen, die eine Viertelstunde später rund um ihr Bett liefen, um schließlich vor ihrem Kopfende zu verharren, hörte sie fast nicht mehr. Erst, als Mia auf ihrem Oberkörper landete und sich dann neben sie legte, spürte sie wohlig den kleinen, warmen Körper, der sich an sie kuschelte. Kurz darauf sank Alexandra in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

 

Hauptkommissar Jan Bergers Stimme klang am nächsten Morgen wie durch Watte an Alexandras Ohr und sie bemühte sich zu verstehen, was er sagte. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass es tatsächlich zu einer Verhaftung gekommen war.

»Wir haben den Waffenhalter ermittelt, der zu dem Gewehr und der Patronenhülse passt, die wir in der Nähe des Wagens gefunden haben. Die Fingerabdrücke auf der Waffe stimmen mit denen des Halters überein. Ich will nicht zu euphorisch sein, aber es weist alles darauf hin, dass unser Mann der Täter ist.«

Alexandra griff sich mit der Hand an die schmerzende Stirn.

»Habt ihr denn irgendeine Verbindung zu Hafner feststellen können, oder soll das Ganze wirklich ein Zufall gewesen sein?«

Jan lachte und spannte Alexandra noch ein bisschen länger auf die Folter. »Du wirst es nicht glauben, aber es gibt tatsächlich eine Verbindung. Zwar nicht zu Hafner selbst, aber zu seinem besten Freund, einem gewissen Giovanni Battner. Der betreibt übrigens ein Lokal in Königswinter – passt irgendwie, findest du nicht? Raimund Welsch, so heißt unser Mann, der bei euch im Ländchen einen kleinen Bauernhof hat, versorgt das Restaurant hin und wieder mit Wild – illegal. Heute verhöre ich ihn. Mal sehen, was ich sonst noch herauskriege.«

Eine Weile später saßen sich der Kommissar und der Verdächtige gegenüber.

»Schildern Sie mir doch den Abend des 15. Mai noch einmal in allen Einzelheiten, Herr Welsch. Wie war das mit Ihrer Wildschweinjagd?« Jans süffisanter Tonfall und seine lässige Körperhaltung brachten den anderen sogleich in Harnisch.

»Herr Kommissar, wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass Sie sich irren? Ich bin an diesem Abend spät noch im Wald unterwegs gewesen, das stimmt. Aber das ist doch nicht verboten, oder? Schließlich gehört mir das Land. Ich hatte den Verdacht, dass sich Schwarzwild bei mir breitgemacht hat.«

»Und da haben Sie Ihre Waffe gleich mitgenommen?«

»Nein! Das versuchen Sie mir doch schon die ganze Zeit zu unterstellen. Ich habe das Gewehr nicht mitgenommen. Es lag in meinem Waffenschrank, wie es sich gehört.«

»Herr Welsch, Sie werden mir doch nicht weismachen wollen, dass Sie als alter Jäger ohne Waffe in den Wald gehen, wenn Sie damit rechnen müssen, dass Ihnen ein Wildschwein begegnet? Für wie blöd halten Sie mich?«

Die Mimik im hageren Gesicht des Bauern sank in sich zusammen.

»Also gut, ich hatte eine Waffe dabei, meine Pistole, wenn Sie es genau wissen wollen. Aber ich habe nicht geschossen.«

»Vielleicht haben Sie ja auch keinen Schuss aus der Pistole abgegeben, dafür aber aus Ihrem Jagdgewehr. Und getroffen haben Sie einen Menschen. Ob das aus Versehen oder mit Absicht geschah, werde ich herausfinden.«

»Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich ein Schwein nicht von einem Menschen unterscheiden kann«, hoch sich die Stimme des Beschuldigten empört, »schließlich bin ich kein Anfänger, und mein Nachtglas habe ich auch immer dabei. Und stellen Sie sich vor, ich benutze es auch.«

»Vielleicht waren Sie ja mit Professor Hafner zusammen unterwegs, um nach Wildschweinen Ausschau zu halten. Dann haben Sie gestritten ...«

»... und mir ist nichts Besseres eingefallen, als ihn zu erschießen?« Welsch tippte sich unmissverständlich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. »Ich kannte den Mann doch gar nicht.«

»Aber er war Battners bester Freund. Er wird Ihnen doch im Lokal schon mal begegnet sein, wenn Sie dort Ware ablieferten.«

»Quatsch! Das haben wir so nie gehandhabt. Battner ist immer zu mir gekommen, um das Wild abzuholen, alles andere hätte nur zu unangenehmen Fragereien geführt.«

»Das leuchtet mir ein«, nickte Jan, »aber trotzdem kommen Sie nicht darum herum, mir zu erklären, wie die Patrone aus Ihrer Waffe in den Körper von Herrn Hafner gekommen ist.« Der Kommissar lehnte sich abwartend zurück. Der Bursche war ein harter Knochen.

 

Hafner hatte einen Freund, der ein Restaurant besaß – der Gedanke ließ Alexandra nicht los. Es musste eine Verbindung zu ihnen geben, und der Professor war am Abend seines Todes nicht zufällig auf dem Weg zu ihnen gewesen.

Alexandra stützte den schmerzenden Kopf in die Hände und starrte auf die Tischplatte.

»Du hast wieder damit angefangen«, sagte Marie leise und besorgt mit vorwurfsvollem Unterton.

Alexandra schaute auf. »Ja«, seufzte sie, »ich hatte in dieser Nacht einen regelrechten Albtraum. Der Professor versuchte, mir etwas zu sagen. Ich konnte mich nicht dagegen wehren und weiterschlafen wollte ich auch.«

»Alexandra, du weißt, was passiert, wenn du diese schweren Geschütze wieder regelmäßig nimmst. Du wirst wieder abhängig, und es hat doch so lange gedauert, bis du sie nicht mehr brauchtest. Nicht zuletzt deswegen sind wir hier und haben uns eine neue Existenz geschaffen.«

»Was kann ich denn dafür, dass ausgerechnet bei uns ein Mord geschieht? Hier, wo ich überhaupt nicht damit gerechnet habe? Irgendwie scheine ich mich automatisch in vergangene Leben einfühlen zu können, ob ich das will oder nicht. Die lassen mich einfach nicht in Ruhe. Hafner wollte mir etwas mitteilen, dessen bin ich mir sicher. Es war so eindringlich und es macht mir Angst.«

Marie ließ sich neben ihrer Freundin auf einem Stuhl nieder und legte den Arm um sie. »Komm, ich helfe dir. Wenn du willst, kannst du bei mir schlafen, damit ich dich wecken kann, wenn du anfängst, schlecht zu träumen. Du weißt, seit dem Tag, an dem Robert gestorben ist, habe ich einen leichten Schlaf.«

Alexandra sah ihre Freundin mitfühlend an.

»Das ist lieb von dir, aber ich muss da allein durch. Es hilft auch nichts, wenn ich dir die Tabletten zur Aufbewahrung gebe. Ich will selbst widerstehen lernen, damit ich dieses Kapitel endgültig abschließen kann.«

»Ich verstehe dich, trotzdem habe ich Angst, dass du wieder in die Abhängigkeit rutschst. Du weißt, wie schnell das geht. Wenn du das Zeug jetzt noch ein paar Mal nimmst, war's das.«

»Ich weiß, ich weiß. Ich hoffe, der Fall ist bald aufgeklärt. Aber ich bin mir sicher, dass es da noch einiges an fraglichen Punkten gibt, sonst wäre ich nicht so unruhig.«