5.

 

Marie beschloss, am Samstag einfach auf Verdacht ins La Vita zu gehen und einen Blick in die vertraute Küche zu werfen. Und sie hatte Glück, als sie am späten Nachmittag, als das Lokal noch nicht geöffnet hatte und alle mit den Vorbereitungen beschäftigt waren, mit einem Tablett selbstgebackenem Kuchen dastand.

»Was für eine Überraschung, Marie, ich freue mich!« Giovanni kam auf sie zu und nahm sie in den Arm. »Hast du uns etwas mitgebracht?«, fragte er neugierig, während er vorsichtig das Küchentuch hob, das den Kuchen verbarg.

»Ja, ich habe etwas ausprobiert«, Marie schaute in die Runde, »dieser Apfelkuchen ist so etwas wie die Weiterentwicklung eures Desserts. Wenn er euch schmeckt, verrate ich euch gern das Rezept.« Sie stellte das Tablett ab und entfernte das Tuch. Ein köstlicher Duft aus einem Hauch Vanille, Zimt, Äpfeln und frisch gebackenem Teig stieg auf, während Marie den Kuchen jetzt in Stücke schnitt.

»So, so, du wagst dich also einfach in mein Terrain?« Elias drängte sich von hinten vor und betrachtete eindringlich Maries Werk. Er hatte seine Frage lachend vorgebracht, und doch erschien es Marie, als sei ihm das Ganze nicht recht.

Die anderen probierten schon und sparten nicht mit Lob, während er den Kuchen fast auf seinem Teller sezierte, ehe er ein winziges Stück davon zum Mund führte. »Nicht schlecht«, lautete sein knapper Kommentar, während sein Vater die Augen verdrehte und sich langsam einen Happen in den Mund schob.

»Fabelhaft, Marie, das wird sofort in unser Repertoire aufgenommen, was denkt ihr?«

Alle, bis auf Elias, der sich inzwischen wieder seinem Nudelteig zugewandt hatte, mit dem er überaus beschäftigt schien, nickten. Marlene Battner stibitze sich das letzte Stück vom Blech und lud Marie zu einer Tasse Kaffee ein, was diese gern annahm.

»Kommen Sie, Marie, wir setzen uns ins Lokal, da können wir noch ein bisschen klönen. Ich muss unbedingt wissen, welche Tricks sie bei dem Rezept angewendet haben. Dann muss ich in Zukunft vielleicht nicht immer nur Gemüse putzen.« Sie streckte ihrem Mann lachend die Zunge heraus und verschwand mit Marie im Gastraum.

Nachdem diese ihr haarklein die Zutaten und die Zubereitung des Teiges, die Apfelsorte und die Garzeiten erklärt und Marlene sich alles ebenso genau aufgeschrieben hatte, nahm Marie sich ein Herz und lenkte das Gespräch in private Bahnen.

»Sagen Sie, Marlene«, fragte sie einfach ins Blaue hinein, nachdem diese mit Bedauern vernommen hatte, dass Marie selbst Witwe war, »Elias stammt doch aus der ersten Ehe Ihres Mannes?«

»Ja, aber er ist für mich wie ein eigenes Kind. Na ja«, lachte sie, »Kind kann man ja wirklich nicht mehr sagen, aber irgendwie ist er es immer noch. Als ich in die Familie kam, war Elias eigentlich auch schon keines mehr, sondern steckte in der schlimmsten Pubertät, die man sich vorstellen kann.« Marlene Battner seufzte. »Unsere junge Ehe ist damals auf eine ziemliche Probe gestellt worden, aber da der Umgang mit bockigen Jugendlichen zu meinem Beruf gehört, haben wir das alle zusammen ganz gut gemeistert.« Sie schaute an Marie vorbei in Richtung Küche und warf einen Blick auf Elias. »Der Junge hat sehr an seiner Mutter gehangen; es war furchtbar für ihn, als sie plötzlich nicht mehr da war.«

»Ist sie gestorben?«, fragte Marie voller Mitgefühl.

»Inzwischen lebt sie tatsächlich nicht mehr. Aber davor hat sie Giovanni und ihren Sohn wegen eines anderen Mannes verlassen.«

»Wie kann man denn sein Kind verlassen?«, warf Marie ungläubig ein. »Ich meine, man hört das immer wieder, aber für mich selbst wäre das vollkommen unvorstellbar.« Marlene Battner nickte. »Für mich auch, und wie Giovanni sagt, hat sich seine Frau mit der Entscheidung sehr gequält, aber ihr neuer Partner wollte keine Kinder. Und sie musste sich entscheiden: entweder wegen des Kindes in einer inzwischen ziemlich unglücklichen Ehe zu bleiben oder noch einmal neu anzufangen.«

»In ihrer Haut möchte ich nicht gesteckt haben«, sagte Marie voller Mitgefühl.

»Von diesem Standpunkt aus betrachtet relativiert sich ihr Bild, nicht wahr? Davon abgesehen war Giovanni immer ein engagierter Vater, bis der Junge seine eigenen Wege ging und es erst einmal wieder ziemlich kompliziert wurde.« Sie lachte und ihre Gesichtszüge entspannten sich. »Inzwischen sind wir alle wieder glücklich miteinander.«

»Ja, das kann man wirklich so sagen.« Ihr Mann hatte den letzten Satz gehört, als er sich jetzt zu den beiden Frauen setzte. Zärtlich beugte er sich zu seiner Frau und küsste sie. »Und wo wir gerade dabei sind, Geheimnisse preiszugeben«, er verzog den Mund, »ich kann sagen, dass ich mit Marlene wirklich glücklich bin. Was man von meiner ersten Ehe nicht sagen kann.« Er hob die Hand und machte eine entschlossene Bewegung, als ob er die Erinnerungen fortwischen wolle. »Es ist gut so, wie es ist. Ich bin sehr froh darüber. Wenn ich nicht gerade meinen besten Freund unter solch fürchterlichen Umständen verloren hätte, könnte ich der glücklichste Mensch sein.« Battner senkte den Kopf und schien einen Moment lang vollkommen abwesend zu sein. »Wir kannten uns schon ziemlich lange, Marie«, hob er jetzt wieder an. Er nickte. »Das Lokal fing gerade an, gut zu laufen. Meine Frau war für den Service zuständig, und sie machte das gut. Die Gäste begriffen, dass in meiner Küche nur die besten und frischesten Zutaten verwendet wurden, und ich hatte bald viele Stammkunden. Auch Balduin gehörte dazu, der nur an einem ganz bestimmten Tisch sitzen wollte. Ein bisschen verschroben fand ich das schon«, er zuckte mit den Schultern, »aber der Gast ist eben König. Selten habe ich aber jemanden gesehen, der mit so viel Appetit und Respekt gegessen hat. Respekt vor der Zubereitung, aber auch vor den Zutaten, wie er mir später mal sagte. Lange hatte ich keine Ahnung, wer er wirklich war. Erst, als mir ein anderer Gast einen Zeitungsausschnitt mit einer Restaurantkritik unter die Nase hielt, mit einem Bild von ihm darunter, verstand ich.« Battner machte eine Pause. »Nun ja, was soll ich sagen. Das Lokal wurde nach und nach zu seinem zweiten Wohnzimmer. Nach getaner Arbeit fachsimpelten wir gern noch eine Weile und tranken zusammen noch ein Glas Wein, bevor er ging. Ich kann sagen, dass wir damals Freunde wurden.«

»Und seine Frau? Kam die nie mit?«, fragte Marie verständnislos.

»Damals war er noch nicht verheiratet«, schaltete Marlene Battner sich ein.

»Ach, das ist ja interessant. Aber seine Hochzeit, die hat er sicher hier in seinem Stammlokal gefeiert?«

»Nein, leider. Soweit ich weiß, sind die beiden weggefahren, Giovanni, oder?«

»Genau«, Battner war aufgestanden, »aber jetzt muss ich wieder zurück in meine Küche.«

»Ja, und ich will euch auch nicht länger aufhalten.« Auch Marie erhob sich. »Es war schön, ein bisschen zu plaudern. Ihr müsst uns bald auch einmal besuchen, das habe ich euch ja schon lange versprochen.« Bevor die Battners, die die Ereignisse auf dem Weinhof noch nicht kannten, weitere Fragen stellen konnten, verabschiedete sich Marie. Sie nickte ihnen noch einmal zu und verließ rasch das Lokal.

»Giovannis erste Frau hat die Familie wegen eines anderen Mannes verlassen, inzwischen lebt sie aber nicht mehr«, brachte Marie die Dinge, die sie in Erfahrung gebracht hatte auf den Punkt.

Alexandra musste unwillkürlich lachen. »Das klingt ja gerade so, als wolltest du damit sagen, dass sie ihre gerechte Strafe bekommen hat. Ziemlich moralisch, findest du nicht?«

»Nein, Quatsch, so sollte das nicht rüberkommen. Sie muss sich mit der Entscheidung ziemlich gequält haben, und woran sie gestorben ist, weiß ich nicht. Aber so richtig weitergebracht hat mich die Information auch nicht. Ich wollte aber nicht bohren, das wäre zu auffällig gewesen.«

»Kann ich verstehen!« Alexandra nickte nachdenklich. »Was die beiden Männer, also Battner und Hafner, verbindet, ist neben ihrer Freundschaft also auch der Verlust einer Frau. Ich glaube übrigens, dass die Gefühle, die einen dann heimsuchen, ganz ähnlich sind. Sie mussten sich beide neu orientieren. Wahrscheinlich hat das die beiden Männer wieder näher zusammengebracht.«

»Aber wer Hafner nach dem Leben trachtete und warum, wissen wir immer noch nicht«, seufzte Marie. »Hat Jan eigentlich inzwischen neue Erkenntnisse?«

»Ich glaube schon. Er muss aber immer noch herausfinden, wer mit Welschs Waffe geschossen hat. Die Sache ist wohl viel komplizierter, als alle dachten.«

»Was wissen wir eigentlich über die verstorbene Frau des Professors?«, fragte Hauptkommissar Jan Berger seinen Kollegen Sebastian Breuer, nachdem sie die aktuellen Fakten des Falles noch einmal erörtert hatten.

»Nur, dass sie vor einigen Jahren gestorben ist und dass sie wohl glücklich miteinander waren.«

»Stimmt. So wie Marie erzählte, muss der Professor erst ziemlich spät geheiratet haben, als er schon in den Vierzigern war. Und es war seine erste Ehe. Nachdem er geheiratet hatte, lief es zwischen seinem Freund Battner und ihm eine Zeit lang nicht mehr so gut.« Jan sah für einen Moment gedankenverloren aus dem Fenster.

»Wer weiß, vielleicht war er mit anderen Dingen beschäftigt«, lachte Sebastian, »oder seiner Frau gefiel das Lokal nicht. Mit Sicherheit wird sie was dagegen gehabt haben, dass ihr Mann ständig dorthin lief.« Er seufzte unwillkürlich.

»Ah, da scheint jemand aus Erfahrung zu sprechen«, feixte Jan.

»Jetzt aber mal im Ernst, Chef. Kennst du eine Frau, die ein entspanntes Verhältnis zur Freizeitgestaltung ihres Mannes hat? Meistens wollen die Frauen doch, dass man immer bei ihnen ist und Händchen hält, und fangen irgendwann an, einem alles andere madig zu machen.«

Jan grinste.

»So wie ich das sehe, solltest du dich lieber von deiner neuen Flamme trennen. Hört sich ja an, als wärt ihr schon ein altes Ehepaar.«

»Genau das denke ich auch«, nickte Sebastian resigniert. »Aber wer weiß, vielleicht war das bei Hafner ja genauso.«

»Möglich. Auf jeden Fall sollten wir die Wohnung des Professors noch mal unter die Lupe nehmen. Vielleicht fällt uns doch noch etwas Neues auf.«

 

Unter den persönlichen Dingen Balduin Hafners fanden sie zunächst keine Hinweise, weil sie nicht wussten, wonach sie eigentlich suchten. Doch Sebastian stutzte, als ihm plötzlich ein abgegriffenes Kinderbuch in die Hände fiel. Augenblicklich fiel ihm seine eigene Mutter ein, in deren Schlafzimmer die oberste Kommodenschublade immer noch mit Kindersachen der beiden Söhne angefüllt war. Jedes Teil, das sie dort aufbewahrte, ob es sich um Kleidung oder Spielzeug handelte, hatte für sie eine besondere Bedeutung, und manchmal nahm sie die Sachen wehmütig zur Hand, um in verflossenen Zeiten zu schwelgen.

»Schau mal, Jan«, er hielt das Buch in die Höhe, »soviel ich weiß, hatte Hafner doch mit seiner Frau keine Kinder.« Der Hauptkommissar trat hinzu und nahm seinem Kollegen das Fundstück aus der Hand.

»So alt, dass es ihm selbst als Kind gehört haben könnte, ist es nicht.« Er drehte und wendete das Buch hin und her, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. »Hier, es stammt aus den Achtzigern, da steht die Jahreszahl.«

»Hm, vielleicht hatten sie ja ein Patenkind«, spekulierte Sebastian.

»Aber dann wäre das Buch doch dort und nicht hier. Es sieht eher danach aus, als ob hier jemand etwas, das ihm wichtig war, aufgehoben hätte.« Jan starrte nachdenklich auf die Tierzeichnungen des Einbandes. »Was wissen wir eigentlich von Hafners Frau?«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort. »Sie schien uns nicht wichtig zu sein, weil sie zum Zeitpunkt seines Todes bereits nicht mehr lebte. Aber wer weiß? Vielleicht hängt das alles irgendwie zusammen und wir haben bisher die falsche Fährte verfolgt.«

Sebastian sah seinen Vorgesetzten skeptisch an. »Meinst du wirklich? Mit anderen Worten, rollen wir den ganzen Fall noch einmal von vorne auf?« Jan nickte seufzend.

»Also los! Wo wir schon einmal hier sind, können wir auch versuchen, mehr über Hafners Frau herauszufinden.«

Das Hochzeitsfoto eines glücklich dreinschauenden Paares in den Vierzigern war es schließlich, das ihnen in die Hände fiel.

»Privates haben wir bis auf dieses Bild hier noch gar nicht gefunden«, stellte der Hauptkommissar nachdenklich fest. »Ist doch komisch, oder? Irgendwo muss doch auch ein Stammbuch sein, denn geheiratet haben die beiden ja wohl tatsächlich. In der ganzen Wohnung gibt es außerdem überhaupt nichts, was an Frau Hafner erinnert. So als hätte ihr Mann nach ihrem Tod die Erinnerung ausmerzen wollen.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, meinte Sebastian, »die beiden waren doch angeblich so glücklich. Da behält man doch Dinge des Partners, die einem etwas wert sind. Also ich würde das wenigstens tun.«

»Ich verstehe das auch nicht. Wenn das Bilderbuch und das Foto nicht wären, könnte man denken, dass Hafner Junggeselle war.«

 

Wieder im Präsidium angekommen, machte sich der junge Kommissar sofort daran, die erforderlichen Unterlagen vom Standesamt anzufordern. Als das Fax von Balduin Hafners Heiratsurkunde ihnen eine Stunde später in ihrem Büro entgegenratterte, nahm Jan es zuerst noch tief in seine Überlegungen versunken auf, und während er es noch ziemlich abwesend überflog, blieb er plötzlich an einem ihm wohlbekannten Namen hängen.

Anscheinend hatte er seinen Mund voller Erstaunen geöffnet, denn Sebastian war bereits aufgesprungen und neben ihn getreten, um das Fax ebenfalls zu lesen. Als Jan das Blatt schließlich sinken ließ, sahen die beiden Männer sich erstaunt an.

»Damit habe ich jetzt überhaupt nicht gerechnet«, brach Jan das Schweigen.

»Ich auch nicht. Auf die Idee, dass die neue Frau Hafner früher Frau Battner hieß, wäre ich im Leben nicht gekommen.«

Aber genauso war es. Elisabeth Hafner war Giovanni Battners Frau gewesen, mit ihm zusammen hatte sie lange das Restaurant La Vita geführt und Elias war ihr gemeinsamer Sohn.

Warum hatte das von den Betroffenen eigentlich nie jemand erwähnt? Das konnte nur eines heißen – Jan war sich plötzlich ganz sicher: dass Battner etwas mit dem Mord an seinem Freund Balduin Hafner zu tun haben musste!

Eine Stunde später saß ein ungehaltener Giovanni Battner im Büro der beiden Kommissare.

»Mamma Mia, was denken Sie eigentlich von mir?«, polterte er los, als er mit der Frage konfrontiert wurde, warum er nie erwähnt habe, dass ihn seine Frau wegen des Professors verlassen habe. »Ich habe Ihnen doch erzählt, dass es eine Pause in der Freundschaft zu Balduin gegeben hat und dass wir uns dann wieder angenähert haben.«

»Wann war das denn genau?«, forschte der junge Kommissar nach.

»Nachdem meine Frau durch einen Unfall ums Leben gekommen war.«

»Sie sprechen von ihrer ersten Frau?«, schaltete Jan sich ein.

»Richtig, aber für mich blieb sie immer noch meine Frau. Auch wenn ich mit Marlene inzwischen viel glücklicher bin, als ich es in meiner ersten Ehe war.« Der Koch widmete seine Aufmerksamkeit jetzt dem Muster des Linoleumbodens, während seine Kiefermuskulatur sich verhärtete.

»Irgendwie passt Ihre Aussage nicht ganz zu Ihrer Mimik, Herr Battner. Leiden Sie immer noch unter dem Verlust?« Jan hatte seine Stimme gesenkt und sah sein Gegenüber aufmerksam an.

»Natürlich, ich habe Elisabeth geliebt. Wir haben das Lokal zusammen aufgebaut, und sie ist die Mutter meines Sohnes. Dass irgendwann zwischen uns alles nicht mehr so lief, wie wir uns das einmal vorgestellt hatten, tut der Sache keinen Abbruch. Ich bin Elisabeth dankbar für das, was sie für mich getan hat. Der Alltag hat uns schlichtweg aufgefressen und uns voneinander entfernt. Aber da waren wir sicher nicht das einzige Paar, dem es so erging.«

»Da haben Sie natürlich recht«, räumte der Kommissar ein, »aber ist nicht so etwas wie ein Stachel geblieben, etwas, was Sie immer daran erinnert hat, dass Ihr bester Freund Ihnen die Frau weggenommen hat?«

»Ach wissen Sie, was heißt weggenommen? Wenn Elisabeth mit mir glücklich gewesen wäre, wäre es sicher so nicht gekommen.« Giovanni Battner sah Jan eindringlich an. »Nein, sicher war das alles unheimlich schwer, aber mit dem Abstand, den ich inzwischen habe, muss ich sagen, dass sie es richtig gemacht hat. Sie hatte keine Lust, den Rest ihres Lebens in einer Ehe zu verbringen, in der sie unglücklich war. Klar, ich habe gelitten wie ein Tier, wollte auf jeden Fall alles aufrecht erhalten, egal wie's in mir aussah. Aber auch für mich war es im Nachhinein das Beste, auch wenn ich sie zuerst überhaupt nicht gehen lassen wollte, weil ich dachte, sie gehört mir, mit Haut und Haaren. Inzwischen weiß ich, dass sie recht hatte. Trotzdem hat sie ihre neue Beziehung mit einer großen Hypothek begonnen. Balduin konnte mit Kindern nichts anfangen. Er wollte Elisabeth, aber ohne Elias. Meine Frau hat lange mit sich gerungen, ob sie diesen Schritt wirklich so gehen wollte. Aber letztlich war ihre Liebe zu Balduin stärker ...« Battner starrte gedankenverloren aus dem Fenster.

»Und Ihr Sohn? Wie hat Elias das alles verkraftet?«, fragte Sebastian nach.

»Zuerst schlecht, dann immer besser. Der Kontakt zu seiner Mutter war ja nach wie vor eng, darauf hat sie auch geachtet. Trotzdem war die Situation eine andere als früher. In erster Linie lebte er bei mir und besuchte Elisabeth. Ich glaube, wenn Elias damals hätte wählen können, hätte er sich für die umgekehrte Situation entschieden. Um es kurz zu machen: Die Pubertät erschwerte alles erheblich, genau wie Balduins Uneinsichtigkeit. Schließlich zog Elias aus, um Konditor zu werden, und lebte bei seinem Chef in einer Mansarde über der Konditorei. Darüber ist er erwachsen geworden«, der Vater seufzte, »und heute stehen wir ›so‹ miteinander«, er streckte beide Daumen in die Höhe, »wir können uns blind aufeinander verlassen.«

 

Als Jan abends mit Alexandra und Marie am Tisch saß, sparte er sich die Eröffnung, dass Elisabeth Hafner früher einmal Frau Battner und Elias' Mutter gewesen war, bis zum Dessert auf.

»Lecker, Panna cotta mit Beerengelee, ich bin begeistert, Marie!«

»Danke, ich finde es auch gelungen. Das werde ich in mein neues Repertoire aufnehmen.«

Alexandra erwiderte zuerst nichts, sondern führte andächtig den Löffel zum Mund. »Traumhaft«, sagte sie schließlich und blickte von ihrem leer gekratzten Teller auf. »Ist noch was da?«

»Sicher«, grinste Marie, »ich habe vorsichtshalber die doppelte Portion gemacht. Ihr beiden schlanken Menschen könnt ja auch noch einen Nachschlag vertragen.« Sie blickte bedauernd an sich herunter.

Jan sah sie aufmerksam an. »Ich finde nicht, dass du abnehmen solltest. So, wie du bist, ist es gut.«

»Hast du gemerkt, dass Jan dir gerade ein Kompliment gemacht hat, Marie?«, feixte Alexandra, »das macht er sonst nie. Du kannst dir also was darauf einbilden. Wenn ich daran denke, wie viele Kolleginnen es regelrecht darauf angelegt haben, von ihm einen solchen Satz zu hören ...«. Sie hob die Augen zur Decke.

»Ich nehme an, du warst eine von ihnen?«, konterte Marie, worauf Alexandras Serviette halb auf ihrem Teller mit den Geleeresten landete.

»Toll, die Beerenflecken kriegt man kaum raus. Wenn du auch solch blöde Bemerkungen machst, musst du dich nicht wundern«, meinte sie streng, ging in die Küche und holte den Nachschlag. Den anderen den Rücken zugewandt, lächelte sie in sich hinein. Was Jan anging, so konnte er auch so bleiben, wie er war ...

Der hingegen schwieg. Ob es wirklich stimmte, was Alexandra gesagt hatte? Unsinn! Noch nie war ihm im Präsidium an seinen Kolleginnen so etwas wie ein Heischen nach Komplimenten aufgefallen. Er ließ die in Frage kommenden Frauen vor seinem inneren Auge Revue passieren. Nun ja, es waren ganz attraktive Frauen darunter, aber keine von ihnen gefiel ihm so gut wie Marie.

»Ich muss euch was erzählen«, hob er an, als Marie wieder auf der Bildfläche erschien. »Wir haben Battner heute verhört.«

»Das kann nicht dein Ernst sein«, Maries Augen riss erschrocken die Augen auf, »doch nicht Giovanni! Der kann doch keiner Fliege was zuleide tun. Wie seid ihr in Gottes Willen bloß darauf gekommen?«

Jan machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Ruhig Blut, Marie. Hör erst mal, was ich zu sagen habe.« Er machte eine Pause, bevor er die Bombe endlich platzen ließ. »Battners Frau Elisabeth war die spätere Frau Hafner.«

Seine Rechnung ging auf. Jan genoss den Augenblick des Erstaunens, in dem ihn beide Frauen sprachlos anstarrten.

»Was du nicht sagst«, brach Alexandra schließlich das Schweigen. »Das wirft ja ein ganz neues Licht auf den Fall.«

»So ist es.« Der Kommissar lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.

»Jetzt wird mir auch klar, warum die beiden Freunde jahrelang keinen Kontakt mehr hatten«, sagte Marie leise. »Zuerst waren sie beste Freunde und der Professor saß so gut wie jeden Abend im La Vita. Dann müssen er und Elisabeth sich verliebt haben, und als die beiden die Situation aufdeckten, war es mit der Männer-Freundschaft erst einmal vorbei.«

»Mord aus Eifersucht ist ein sehr gängiges Motiv«, schaltete Alexandra sich ein. »Aber wenn er es gewesen wäre, warum ist so viel Zeit ins Land gegangen? Elisabeth war längst tot, und die beiden Männer überlegten, gemeinsam eine neue Gourmet-Linie zu entwickeln, will heißen, dass sie inzwischen wieder beste Freunde waren.«

»Das stimmt«, nickte Jan, »das passt alles nicht zusammen. Aber wer weiß, vielleicht hat es einen Streit gegeben, in dem alles wieder auflebte, und der Mord geschah im Affekt.«

»Möglich. Trotzdem, ich kenne Giovanni doch ein bisschen. Ich würde ihm niemals einen Mord zutrauen«, meinte Marie nachdenklich. »Mal ganz davon abgesehen: Was passierte eigentlich mit Elias? Der steckte doch gerade mitten in der Pubertät. Ist er mit seiner Mutter gegangen?«

»Nein, wohl nicht, und genau das muss Elisabeth fast das Herz gebrochen haben. Der Professor mochte keine Kinder. Sie musste sich entscheiden, was sie dann auch tat. Natürlich hat der Junge sie besucht, aber das ist nicht das Gleiche. Er blieb jedenfalls zuerst beim Vater, um dann jedoch bald während seiner Konditorlehre auszuziehen.«

»Der Arme!« Maries Stimme war voller Mitgefühl. »Gut, dass er in Battners zweiter Frau Marlene eine neue Mutter gefunden hat. Die beiden mögen sich wirklich, das merkt man auf Anhieb.«

»Es muss also noch etwas anderes hinter dem Anschlag auf den Professor gesteckt haben«, überlegte Alexandra, »aber was? Jan, ihr habt doch das ganze Umfeld durchkämmt. Gab es wirklich keine Neider oder sogar Feinde?«

Jan schüttelte den Kopf. »Die Kollegen haben die Restaurants überprüft, die von Hafner verrissen worden sind, und das waren nicht wenige«, er grinste, »aber es gab keine ernsthaften Hinweise auf eine nähere Verbindung. Vor der Kritik nicht und auch nicht danach.« Jan machte eine nachdenkliche Pause. Dann fuhr er fort: »Bei der Vorstellung, dass wir wieder ganz am Anfang sind, dreht sich mir der Magen um.« Er legte die Hand auf seine Mitte und sah resigniert aus. »Ich könnte wetten, dass wir etwas übersehen haben ... Aber was? Sagt mal«, er schaute von Marie zu Alexandra, »die kaputten Sofas, stehen die noch im Keller?«

»Ja, ja«, bestätigte Marie, »ich habe überhaupt nicht mehr daran gedacht, den Sperrmüll zu bestellen. Wieso fragst du?«

»Ich weiß nicht ..., könnten die Taten nicht zusammenhängen?«

»Das ist doch totaler Schwachsinn«, Alexandra schüttelte ungeduldig den Kopf, »warum sollte jemand den Professor umbringen und eine Zeit danach unsere Sofas aufschlitzen? Umgekehrt würde eher ein Schuh draus, aber so?«

»Vielleicht wollte der Mörder ja von sich ablenken«, überlegte Marie.

»Nein, nein. Stell dir vor, du bist die Mörderin. Dann bist du doch froh, wenn du Fersengeld geben kannst, und tauchst unter. Du gehst dann doch nicht mehr dorthin zurück, wo du die Tat begangen hast, und machst da erst recht auf dich aufmerksam.«

»Also, die Redensart, dass der Täter zum Ort des Geschehens zurückkehrt, gibt es ja nicht umsonst«, gab Jan zu bedenken. »Wer weiß, Mörder sind ja nicht normal, warum sollten sie sich also so verhalten?«

»So gesehen stimmt das.« Marie stand auf. »Also los, dann gehen wir doch in den Keller und schauen uns die Sofas noch einmal genau an.«

Als sie vor den Überresten der Polster standen, kam bei beiden Frauen doch so etwas wie Wehmut auf. Jedes ausrangierte Möbelstück, an dem man hing, erzählte eine Geschichte und rief damit verknüpfte Erinnerungen hervor. Der offensichtliche Vandalismus tat immer noch weh, obwohl gottlob niemand dabei zu Schaden gekommen war.

Alexandra trat nah an ihr altes Sofa heran und fuhr die untere Schlitzkante, über der die Kissenfüllung wie ein Geschwür hervorquoll, mit dem Zeigefinger nach, bis sie vor einem braunen, wie Rost anmutenden Flecken haltmachte. Jan, der die Spur mit den Augen verfolgt hatte, stutzte, genau wie seine frühere Kollegin.

»Denkst du auch, dass es das ist, was ich vermute?«, fragte er langsam. Alexandra nickte.

»Das sieht mir sehr nach einem alten Blutfleck aus. Warum ist der mir bloß bis jetzt entgangen?«

Marie, die hinzugetreten war, machte eine erklärende Handbewegung: »Weil wir nicht darauf geachtet haben. Weder, als der Einbruch passiert war, noch, als wir die Sofas in den Keller gebracht haben. Die Idee, dass beide Vorfälle zusammenhängen könnten, ist uns ja gar nicht gekommen.«

Jan hatte das besage Stück Stoff bereits mit einer herumliegenden Schere abgeschnitten und zog eine kleine Plastiktüte aus seiner Jeanstasche, um den Fetzen einzupacken.

»Hast du in allen Hosen und Jacken eigentlich Tüten, falls dir irgendwo mal Spuren über den Weg laufen?«, erkundigte sich Marie verwundert. Jan sah sie ein bisschen verschämt an, dann nickte er und zuckte mit den Achseln.

»Muss wohl eine Berufskrankheit sein, aber es stimmt tatsächlich. Wenn du wüsstest, wie oft ich nach der Reinigung der Sakkos so einen komischen Klumpen in der Tasche finde. Von der Waschmaschine, die bei der Hosenwäsche schon öfter ihre Dienste verweigert hat, ganz zu schweigen.«

Sie lachten.

Es handelte sich tatsächlich um einen eingetrockneten Blutfleck, wie die Analyse im Labor der Rechtsmedizin ergab, wenn er auch weder zu Battner noch zu irgendeinem Straffälligen aus der Kartei passte. Alexandra mutmaßte, dass es sich vielleicht um ihr eigenes Blut handeln könnte, um einen Fleck, den sie nicht bemerkt oder aus Nachlässigkeit nicht beseitigt hatte. Aber auch diese Spur führte ins Leere.

»Okay, das Blut kann auch von irgendeinem Besucher stammen, wer weiß?«, überlegte Alexandra. »Oder eben doch vom Täter«, warf Jan ein, als sie zusammensaßen, um zu beratschlagen. »Wenn ich mir überlege, dass wir sonst überhaupt keinen Ansatzpunkt finden, der uns weiterbringt, will ich mir auch gar nichts anderes vorstellen.«

In der Nacht schreckte Alexandra wieder aus einem Alptraum hoch. Sie sah ihren Vater die Wohnung betreten, ein Messer in seiner Hand, der Katze drohen, die fauchte und kratzte und sich jaulend unter den Schrank flüchtete. Mit einer ausholenden Bewegung schlitzte der Vater das Sofa auf, um sich mit einem hämischen Lachen wieder aufzurichten.

Als Alexandra am Morgen wieder erwachte, schüttelte sie den Kopf. Das war ja wohl die dümmste Lösung, trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass sich der Tathergang so ähnlich abgespielt haben könnte, lediglich die Person war die falsche.

Dass Alexandra immer wieder von ihrem Vater träumte, war nicht neu, auch nicht, dass diese Träume selten schön oder gar beruhigend waren.

Die Ehe ihrer Eltern war nicht glücklich gewesen, auch schon, bevor Alexandra geboren wurde. Sie war ein sogenannter ›Versöhnungsunfall‹ nach einem Streit gewesen, so hieß es später, woran schon das kleine Mädchen schwer zu tragen gehabt hatte. Die Mutter war der Hoffnung erlegen, dass das Verhalten ihres Mannes sich durch die Schwangerschaft ändern würde, aber als dann ›nur‹ ein Mädchen geboren wurde, war der Keim väterlichen Interesses sofort wieder erloschen. Alexandra setzte alles daran, die Liebe ihres Vaters zu erringen, wenn er – selten genug – zu Hause war. Vergeblich. Er übersah sie, verhielt sich gleichgültig, und sie spürte, dass sie ihm lästig war, wenn sie ihn etwas fragte, ihm freudig übersprudelnd etwas erzählen wollte oder versuchte, auf seinen Schoss zu klettern. Anstatt sie liebevoll in den Arm zu nehmen, wurde er ganz starr, was dazu führte, dass sie den Halt verlor und vom Schoss rutschte.

Alexandra lernte, dass sie einfach nicht interessant genug war, um die Aufmerksamkeit ihres Vaters auf sich zu lenken, jedenfalls glaubte sie das. Dass das Unvermögen, jemand anderen als sich selbst zu lieben, auf der väterlichen Seite zu suchen war, wäre ihr niemals in den Sinn gekommen. Die Mutter versuchte auszugleichen, was möglich war, aber auch sie war natürlich nicht in der Lage, den Vater in diesem Punkt zu ersetzen.

So wuchs Alexandra mit einem Loch in ihrer kleinen Seele auf, das sich niemals schloss. Wenn sich später, als Heranwachsende, junge Männer für sie interessierten, tat sie das von vornherein ab. Für sie würde sich ja doch niemals jemand wirklich entscheiden, also konnte sie das Ganze auch lassen. Kumpel, ja, das konnte sie im Umgang mit Männern wohl sein, die burschikose Art, die sie sich zulegte, ließ auch nichts anderes zu. So floss das Leben dahin, mit dem sie sich inzwischen gut eingerichtet hatte. In den seltenen Augenblicken aber, in denen sie mit sich selbst vollkommen ehrlich war, spürte sie die große Sehnsucht wieder, sich an einen Mann anlehnen zu können und endlich ganz nach Hause zu kommen.

»Wer ist dermaßen hinter dem Kräuterschnapspatent her gewesen, dass er vor Wut einen Mord begeht – weil der Professor ihm vielleicht dummerweise über den Weg lief und er sich ertappt fühlte –, und hat später bei uns herumgewütet? Das passt doch alles überhaupt nicht zusammen.« Alexandra fuhr sich mit der Rechten durch das kurze Haar. »Und übrigens, was das Patent betrifft, das habe ich neu beantragt. Ich dachte zuerst, das müssten wir nicht, aber dem war nicht so. Unseres war längst verjährt.«

»Wie gut, dass du das gemacht hast«, lobte Marie ihre Freundin, »und das wissen doch sicher auch alle, die sich damit befasst haben, z. B. dieser Johannsen, oder auch derjenige, der hier zugange war.«

»Wer das Patent findet, ist auch der neue Eigentümer, und wenn man dann auch noch mit der Gastronomie zu tun hat, könnte das eine lukrative Angelegenheit sein. Ich nehme wirklich an, dass der Professor von der Existenz des Patentes wusste«, Alexandra überlegte einen Augenblick lang angestrengt, »und unser Mörder wusste vielleicht, dass Hafner das wusste, und hat sich an seine Fersen geheftet, bis er sicher war, wohin es geht.«

»Aber der Professor ist doch ein Stück weg von hier angeschossen worden«, gab Jan abends zu bedenken, als Alexandra ihm ihre Theorie vortrug. »Der Mörder hätte theoretisch auch bei euren Nachbarn, den Nettekovens, landen können und hätte sich da tot gesucht.« Er lachte über seine Wortwahl.

Marie schüttelte energisch den Kopf. »Also ein paar Informationen mehr wird er doch sicher gehabt haben, sodass er sicher nicht unseren Weinhof mit dem Bauernhof nebenan verwechselt hätte. Sieht ja alles doch ein bisschen anders aus.«

Jan pflichtete ihr bei. »Sozusagen wie Tag und Nacht. Du hast natürlich recht, Marie.«

»Also wieder alles von vorn«, seufzte Alexandra, »ich hole uns mal eine Flasche Wein, das kann ja noch ein bisschen dauern ...«

Während Jan und Alexandra ihre Überlegungen weiter ausschmückten, saß Marie, in Gedanken weit weg, eine ganze Weile schweigend dabei.

»Hallo, jemand zu Hause?«

»Was?« Marie schrak hoch und sah Alexandra verwirrt an.

»Wo warst du denn gerade unterwegs?«, frage die Freundin lachend, »du hast gar nicht zugehört, stimmt's?«

Marie nickte langsam und blickte von einem zum anderen. »Mir kam nur gerade in den Sinn, dass wir vielleicht auf der völlig falschen Fährte sind. Was wäre eigentlich, wenn das Patent oder unser Hof überhaupt nicht der Grund für den Mord und den Übergriff hier wären?«

»Wie meinst du das?« Jan beugte sich interessiert vor.

»Also, wir kreisen die ganze Zeit um Motive, die irgendetwas mit Habgier zu tun haben. Was wäre eigentlich, wenn es sich aber um rein private Motive handeln würde? Um Liebe, Eifersucht, Enttäuschung und Rache?«

Jan lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, während Alexandra ihre Ellbogen aufstützte und Marie, den Kopf auf ihre Fäuste gestützt, unverwandt ansah.

»Ja, die Idee ist mir mit Giovanni Battner auch kurz gekommen, aber der hat ein Alibi. Zu der Zeit, als Hafner erschossen wurde, hat er mit ein paar Angestellten die Küche aufgeräumt.« Der Kommissar kratzte sich den Kopf. »Aber es stimmt schon, wir haben uns da ziemlich verbissen. Ist trotzdem schwer, die eigene Betrachtung eines Falles zurückzustellen, um den Blick wieder freier zu kriegen. Okay, dann lasst uns noch mal überlegen: Wer hätte ein Motiv, den Professor umzubringen?«

»Na, Battner«, antwortete Alexandra sofort.

»Ja, aber Battner war es nachweislich nicht, das haben wir doch überprüft. Bleiben seine Frau ... und Elias.«

Marie nickte langsam, dann sagte sie stockend: »Marlene Battner hatte sicherlich kein Motiv. Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.«

»... aber Elias könnte eines gehabt haben«, beendete Jan den Satz nachdenklich.

Marie sah ihn an, während ein paar Szenen, die sich in der Küche des Restaurants zugetragen hatten, vor ihrem geistigen Auge abliefen. Obwohl sie tiefstes Mitgefühl für Elias und das, was er als Jugendlicher durchlitten hatte, hegte, war es ihr nie gelungen, ihn von Herzen sympathisch zu finden. Das hatte auch mit seinen cholerischen Anfällen zu tun, die er manchmal in der Küche austobte, wenn etwas auf Anhieb nicht gelang. Gleichgültig, ob es um Saucen, Fleischzubereitungen, Nudelteig, Brot, zerkochtes Gemüse oder das Arrangement der Speisen auf den Tellern ging. Elias fand immer gern einen Grund, außer sich zu sein, und machte den anderen damit das Leben schwer, bis auf das seines Vaters, der die Ausbrüche seines Sohnes nie so ernst nahm. Während Maries Zeit in der Küche des Restaurants war ihr dieser Wesenszug ziemlich auf die Nerven gegangen. Ein paar Mal hatte sie Elias zur Räson gerufen und sich damit bei ihm unbeliebt gemacht. Trotzdem konnte sich Marie ihre gefühlsmäßige Zurückhaltung dem jungen Mann gegenüber nicht erklären, außer, dass sie ihm intuitiv nicht traute.

Und Elias' Mutter war aus dem geschützten Kreis der Familie, in dem alles seine Ordnung hatte, ausgebrochen und einem anderen Mann gefolgt ...

 

Am nächsten Morgen stand Marie mit einem Blech warmen Kuchens – diesmal hatte sie mit reifen, duftenden, tieforangefarbenen Aprikosen experimentiert – in der Restaurantküche des La Vita. Gabeln und Teller hatte sie gleich mitgebracht, und alle nutzen die Gelegenheit, sich ihre Kaffeepause, so sie dazu kamen, mit einem Stück Kuchen zu versüßen. Und wieder erntete sie nur Lob, sogar Elias ließ sich zu einem »Schmeckt ganz okay« herab.

Wieder zu Hause, nahm sie sich die angebrochene Flasche Grappa vom Küchenregal, goss sich ein großes Schnapsglas davon ein und setzte sich an den Küchentisch. Während der erste Schluck wärmend und auch ein wenig brennend ihre Kehle hinunterlief, stieß sie einen tiefen Seufzer aus, der Alexandra auf den Plan rief, die nebenan gerade dabei war, neue Tonröhren für die Weinflaschen an der Naturziegelwand emporzustapeln. Sie sah Marie verblüfft an, die gerade andächtig den zweiten Schluck zu sich nahm.

»Mensch, wo warst du denn? Ich hab dich gesucht. Und was machst du da überhaupt am späten Vormittag?«, deutete sie auf das Glas in Maries Hand.

Marie winkte ab. »Ich fühle mich gerade wie ein trojanisches Pferd, und das gefällt mir gar nicht.«

»Was? Ich verstehe nur Bahnhof. Warum hast du keinen Zettel geschrieben, wo du bist? Machst du doch sonst immer. Erst dachte ich, du hättest heute ausnahmsweise mal verschlafen, und bin nachsehen gegangen. Und dein Handy lag natürlich wieder auf dem Tisch.«

»Ach, Alexandra, ich komme mir so schlecht vor. Heute Morgen bin ich ganz früh aufgestanden, habe einen Aprikosenkuchen gebacken und bin zum La Vita gefahren. Und hier – deshalb brauchte ich jetzt erst einmal einen Grappa«, sie zog eine Plastiktüte aus der Jackentasche, in der sich eine Kuchengabel befand.

»Du meinst, Elias hat von dieser Gabel gegessen?«, stellte Alexandra nüchtern fest, worauf die Freundin nickte. »Super gemacht! Weißt du was? Ich bringe das gleich zum DNA-Abgleich zu Krüger ins Labor, dann wissen wir bald mehr.«

Marie wurde indessen von widersprüchlichen Gefühlen hin und her gerissen. Was, wenn Elias wirklich schuldig war? Dann war sie für die Ergreifung des Täters verantwortlich und dafür, dass Giovanni und Marlene Battner in großes Leid stürzten. Am meisten machte ihr jedoch zu schaffen, dass sie – je mehr sie darüber nachdachte – Elias die Tat durchaus zutraute.

Es stimmte, die DNA des Blutflecks und die, die auf der Kuchengabel zu finden war, stimmten überein. Damit war Elias der mutmaßliche Täter, der für den Vandalismus im Weinhof verantwortlich war. Aber war er auch ein Mörder? Hauptkommissar Jan Berger besorgte sich vom zuständigen Haftrichter einen Durchsuchungsbefehl für Elias' Wohnung, dann fuhren er und sein Kollege Sebastian Breuer zum La Vita.

Ob es die Art war, in der sie mit ernsten Mienen die Küche betraten, oder einfach die Tatsache, dass sie wie eine Front wirkten, Jan erkannte in Elias' Augen gleich die Angst, obwohl er versuchte, sie zu verbergen, und sich sofort wieder seiner Arbeit zuwandte.

»Was ist los?« Giovanni Battners Stimme klang alarmiert, auch er hatte die Gefahr, die greifbar im Raum stand, augenblicklich erkannt.

Jan trat zügig und ohne eine Erklärung abzugeben zu Elias und sagte seinen Spruch auf: »Elias Battner, ich nehme Sie fest, wegen des Verdachtes des Hausfriedensbruchs und des Vandalismus. Sie haben das Recht zu schweigen und das Recht auf einen Anwalt.«

In der Küche brach die Hölle los. Alle, bis auf Giovanni Battner, schrien durcheinander. Elias drehte sich mit einem Ruck zu Jan um, ein großes Fleischmesser drohend auf ihn gerichtet. »Das könnte euch so passen! Na los, trau dich!«

»Herr Battner, machen Sie kein Theater. Lassen Sie das Messer fallen!« Sebastian hatte seine Waffe gezückt und richtete sie auf Elias, der wirr um sich blickend versuchte, die Situation einzuschätzen. Schließlich senkte er den Kopf und ließ das Messer fallen. Sein Vater hatte währenddessen hilflos und totenbleich, wie versteinert, dabeigestanden. Jetzt ging ein Ruck durch seinen Körper und er bewegte sich langsam auf seinen Sohn zu.

»Elias, sag, dass das nicht stimmt! So etwas tust du doch nicht! Und überhaupt, was heißt hier Vandalismus? Worum geht es denn eigentlich?« Tränen stiegen ihm in die Augen und er umarmte seinen Sohn, als wollte er ihn nie wieder loslassen.

»Herr Battner, wir haben stichhaltige Beweise dafür, dass Ihr Sohn das Geschäft und die Wohnungen von Alexandra Lindner und Marie Sander verwüstet hat. Sonst stünden wir jetzt nicht hier. Außerdem durchsuchen die Kollegen im Moment gerade die Wohnung Ihres Sohnes.«

»Elias«, die Stimme des Vaters klang gequält, »ich kann das nicht glauben. Du kennst Marie doch. Ich verstehe überhaupt nichts mehr.« Seine Arme sackten nach unten und er drohte zu fallen. Jan sprang hinzu, um Battner zu stützen, und führte ihn zu einem Stuhl, damit er sich setzen konnte. Jemand brachte ihm ein Glas Wasser, dass er unberührt in der Hand behielt.

»Papa, es tut mir alles so leid, verzeih mir.«

Sebastian hatte Elias inzwischen Handschellen angelegt, und er wurde von den beiden Beamten abgeführt.

Nachdem er als Untersuchungshäftling eingewiesen war, machten sich die beiden Kommissare auf den Weg zu Elias' Wohnung in der Kirchstraße. Die Kollegen der Spurensicherung waren so gut wie fertig und hatten bereits verdächtig scheinendes Material verpackt und Papiere gesichtet.

»Danke, Leute, den Rest erledigen wir. Wir müssen uns sowieso noch genau umsehen. Lasst das Papier also ruhig hier, wir sichten das gleich an Ort und Stelle.«

»Geht mal ins Schlafzimmer, wir haben alles extra so gelassen, damit ihr euch einen Eindruck verschaffen könnt. Also tschüss, bis später.«

Bevor Jan genau nachfragen konnte, waren die Kollegen verschwunden. Jan und Sebastian blieben verwundert an der Schwelle des Schlafzimmers stehen. Über dem Bett, auf der Stirnseite des Raumes, hingen dicht an dicht aneinandergereiht Zeitungsartikel. Die ganze Wand war damit tapeziert. Am auffälligsten war jedoch, dass quer über jedes Blatt in Rot und Schwarz wüste Beschimpfungen und Morddrohungen mit drei Ausrufezeichen geschmiert waren. Das ganze Zimmer war derart mit negativer Energie angefüllt, dass es einen schauderte.

»Also hier kann bestimmt keiner in Ruhe schlafen!« Sebastian trat ein und sah sich um. Jan ging an den Wänden entlang und las laut vor. Dann brach er ab.

»Also doch! Er muss den Freund seines Vaters abgrundtief gehasst haben.« Er nahm ein Blatt von der Wand. Wie bei den anderen Seiten handelte es sich um Restaurantkritiken Balduin Hafners, die Elias über Jahre hinweg chronologisch geordnet, aufgehängt und dann beschmiert hatte.

»Sag mal, ob der Vater seinen Sohn nie besucht hat? Das wäre ihm doch aufgefallen?«, fragte Sebastian verständnislos. Jan zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hat Elias sein Schlafzimmer unter Verschluss gehalten. Ich kann mir vorstellen, dass er das geschickt angestellt hat. Diese Hassgeschichte geht ja schon über Jahre, der Vater ahnte nichts davon, und die Mutter erst recht nicht. Die ist ja auch unheimlich bemüht, mit dem Jungen alles richtig zu machen, gerade weil sie seine Stiefmutter ist.«

»Und Giovanni Battner wollte nichts davon wissen und hat Augen und Ohren zugemacht.«

»Jetzt brauchen wir nur noch Elias' Geständnis.«