1.

 

Es war schon nach Mitternacht, aber keiner der Gäste machte Anstalten endlich aufzubrechen, im Gegenteil. Alexandra konnte ein Gähnen nur mühsam unterdrücken. Wie immer war es ihr ein Anliegen gewesen, die Weinprobe zu etwas Besonderem zu machen – jeder Gast sollte sich ganz persönlich von ihr angesprochen fühlen. Ausgestattet mit Witz, Entschlossenheit, Eloquenz und einem ausgezeichneten Fachwissen verstand sie es, die Gäste nicht nur zu beeindrucken, sondern auch in ausgiebigem Umfang zum Kauf ihrer – zugegebenermaßen – ausgezeichneten Weine zu motivieren.

Der Schwerpunkt heute lag auf den Weinen der Toskana, die sich, frisch aus ihrer Heimat importiert, dicht an dicht in Tonröhren gelagert, an den alten Ziegelmauern entlang in die Höhe stapelten. Erst letzte Woche noch war Alexandra in Italien unterwegs gewesen, um die Weine auf den Gütern ihrer Wahl zu verkosten und entsprechende Mengen zu ordern. Der alte Gewölbekeller des Hofes war für Präsentationen wie geschaffen, was sich inzwischen immer mehr herumgesprochen hatte, sodass sich die Weinproben steigender Beliebtheit erfreuten.

Gleich nachdem Alexandra und ihre Freundin Marie die zum Kauf stehende alte Hofanlage im Töpferort Adendorf, im sogenannten malerischen Drachenfelser Ländchen, zum ersten Mal gesehen hatten, war ihre Entscheidung klar gewesen. Der alte, ein wenig verfallene rote Backsteinbau, der um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert herum gebaut worden war und inzwischen unter Denkmalschutz stand, forderte sie geradezu dazu heraus, ihn in seiner alten Schönheit wieder erstrahlen zu lassen.

Der Hof bestand aus einem zweigeschossigen Haupthaus, an dessen Seitenfront acht hohe Kassettenfenster symmetrisch neben- und untereinander angeordnet waren, aber nur die unteren vier waren mit Fensterläden ausgestattet. Die Mitte des Gebäudes wurde horizontal durch einen dekorativen Sims unterteilt, der sich unterhalb des Daches noch einmal wiederholte. Im danebenliegenden niedrigeren Anbau befanden sich die Eingangstür und ein großes zweiflügeliges, nach oben in einem Halbrund mündendes Tor, das den Weg zum Innenhof mit seinem hinteren Gebäudetrakt freigab, in dem das Geschäft und beide Wohnungen untergebracht waren. Auf dem großen, wild bewachsenen Grundstück mit dem alten Baumbestand mutete das ganze Ensemble in seinem Gesamteindruck so romantisch an, dass die Entscheidung, es zu kaufen und liebevoll zu restaurieren, nahezu zeitgleich gefallen war. Und als das Gutachten über die Bausubstanz ebenfalls positiv ausgefallen war, hatten die beiden Freundinnen ihren Plan in die Tat umgesetzt.

Innen und außen war aus dem alten Gemäuer nun ein richtiges Schmuckstück geworden. Die Wände des offenen Innenhofes waren weiß getüncht und Naturklinkersteine zu einem Weg verlegt worden, der durch eine mediterran anmutende Pflanzenvielfalt mit knospenden Oleanderbüschen in orange, weiß, rosa und rot sowie zwei mittelgroßen Olivenbäumen zum eigentlichen Haupteingang des Geschäftes führte. Es kam in der Tat ziemlich selten vor, dass Kunden, die dieses Tor einmal durchschritten hatten, unverrichteter Dinge wieder von dannen zogen. Das angenehme Ambiente regte zum Kauf an, was sowohl Alexandras als auch Maries Schönheitssinn zu verdanken war.

Die Innenausstattung war besonders Maries Geschmack zu verdanken, deren Auge für ausgefallene und harmonische Dekorationen zum Tragen gekommen war.

Edle Naturmaterialien dominierten, angefangen bei den ersteigerten alten Fliesen für die Fußböden bis hin zu den in frischen Tönen gehaltenen Stoffen, die zu bodenlangen Vorhängen und Tischdecken verarbeitet worden waren. Platz gab es darüber hinaus genug, sodass sowohl Alexandra als auch Marie je eine der beiden großzügigen Wohnungen im angebauten Seitentrakt des Gebäudes bezogen, die durch die teilweise freigelegten Balken und die naturfarbenen Dielenböden eine behagliche Landhausatmosphäre verbreiteten.

Die reizvolle, waldreiche Landschaft, die den Blick auf das Siebengebirge freigab, war ein äußerst beliebtes Naherholungsziel, das gerade um den Ort Adendorf herum eine Vielzahl von Sehenswürdigkeiten zu bieten hatte. Ein besonderes Schmuckstück war die alte Wasserburg der Freiherren von Loe, deren Anfänge auf das Jahr 1337 zurückgingen. Marie und Alexandra hatten die Gegend zum ersten Mal im Rahmen des jährlich stattfindenden Wandertages, der von Bonns größter Zeitung, dem General Anzeiger, organisiert wurde, entdeckt.

Das romantische Örtchen, in dem wegen der Tongrube vor allem das Töpferhandwerk zu Hause war, zog viele Besucher an, die besonders am Wochenende ihre Wanderungen durch die unberührte Natur mit einem Besuch der zahlreichen Töpferstuben krönten. Seitdem es den Weinhof der beiden Frauen gab, war eine weitere Attraktion dazugekommen, die sich schnell herumgesprochen hatte. Und das Engagement der Freundinnen tat ein Übriges.

Alexandra ließ jetzt ihren Blick durch den Raum schweifen. Der alte, lange Refektoriumstisch aus dunklem Holz schien sich – in einem malerischen Durcheinander – unter angebrochenen Flaschen, Gläsern und benutzten Tellern zu biegen, die immer noch mit den Resten toskanischer Vorspeisen gefüllt waren. Rote Bruchsteinwände atmeten in ihrem gemauerten Halbrund die Atmosphäre des Vergangenen, in dem sich die modernen, hellen Stühle im ersten Moment als Kontrast ausnahmen, um sich dann jedoch harmonisch mit dem Alten zu verbinden.

»Frau Lindner, Sie haben doch eben die Geschichte des Gallo Nero, des schwarzen Hahns, des Erkennungszeichens des Chianti Classico, erwähnt!« Die ältere Dame schaute interessiert, während sie herzhaft in eine Scheibe toskanischer Salami biss, sodass ein schwarzes Pfefferkorn sich löste und über den Tisch sprang. Die Wangen der Fragestellerin röteten sich und sie kicherte verlegen.

Alexandra griff nach ihrem Glas, in dem der rote Chianti funkelte, ließ den Wein kreisen, roch daran und nahm einen genießerischen Schluck. Die anderen folgten ihrem Beispiel.

»Die schöne Geschichte möchte ich Ihnen nicht vorenthalten«, sagte sie lächelnd. »Also: Vielleicht wissen Sie, dass es im Mittelalter eine starke Konkurrenz zwischen den toskanischen Städten Florenz und Siena gab, in deren weitläufiger Umgebung sich das Anbaugebiet des Chianti Classico befindet. Da damals die Grenzgebiete der Städte nicht eindeutig festgeschrieben waren, beschloss man, dieser Tatsache abzuhelfen und zwei edle Ritter nach dem ersten Hahnenschrei aus ihren Heimatstädten aufeinander zureiten zu lassen. Und dort, wo sie sich träfen, wollte man schlussendlich die Grenze ziehen.« Alexandra machte eine Pause, um die Spannung ein wenig zu erhöhen. »Die Sieneser taten alles, um einen schönen, weißen Hahn aufzupäppeln, während die Florentiner ihren kleinen schwarzen Hahn nur wenig fütterten, sodass er am besagten Morgen schon sehr früh krähte und der florentinische Ritter sich auf den Weg machte. Das führte dazu, dass er dem Sieneser zeitlich weit voraus war und diesen erst in Fonterutoli traf, das nur ungefähr 23 Kilometer von Siena entfernt liegt.« Alexandra legte eine Pause ein und schaute in die Runde. »Somit fiel ein großes Gebiet, das schließlich fast das ganze Chianti-Classico-Gebiet ausmachte, an die Florentiner, und seitdem ziert der schwarze Hahn die Flaschen dieses wunderbaren Weines.«

Applaus erhob sich und Alexandra hob noch einmal lächelnd ihr Glas, in dem der Chianti in dunklem Rot leuchtete: »Möge er Ihnen jetzt besonders gut schmecken!«

Es dauerte noch weitere zwei Stunden, bis der letzte Gast sich auf den Heimweg machte, und Alexandra warf abschließend einen zufriedenen Blick auf die Bestellungen.

»Unsere Themenabende machen sich gut«, rief sie in die benachbarte Gewölbeküche hinein, während sie die leer gegessenen Teller einsammelte. Ihre Freundin Marie Sander streckte den Kopf in den Raum. »Ich bin so froh, dass wir beide die Idee hatten, zu den Weinen auch Spezialitäten aus der jeweiligen Region anzubieten. Das ist viel gemütlicher, und die Leute fangen sofort an, miteinander zu reden, auch wenn sie sich gar nicht kennen. Hast du das auch gemerkt? Und das Kochen macht mir ja sowieso großen Spaß.«

Marie wischte sich lachend ihre nassen Hände an der Schürze ab und trat jetzt zu Alexandra an den großen Refektoriumstisch, um ihr beim Abräumen zu helfen.

Ein größeres Kontrastprogramm, als die beiden Frauen es in ihrer äußeren Erscheinung boten, konnte man sich kaum vorstellen. Alexandra Lindner, die groß, schlank und sportlich war und manchmal ein wenig burschikos daherkam, fuhr sich erschöpft mit der Rechten durch ihr kurzes, naturblondes Haar.

»Komm, lass uns zum Abschluss noch ein schönes Glas Wein zusammen trinken«, schlug Marie vor, während sie schon wieder auf dem Weg in die Küche war, um die angebrochene Flasche Grauburgunder aus dem Kühlschrank zu holen.

»Aber wirklich nur ein Glas!«, rief Alexandra ihr ergeben nach. Marie machte gern die Nacht zum Tage, aber heute fühlte Alexandra sich dazu außerstande. Im Gegensatz dazu wippten Maries dunkle Locken sogar noch nach einem so ausgefüllten Tag wie diesem bei jedem Schritt unternehmungslustig auf und ab, als sie jetzt den Raum mit der vor Kälte perlenden Flasche in der Hand wieder betrat. Alexandra musste unwillkürlich lächeln. Quirlig, klein und ein wenig rundlich war Marie mit ihrem Puppengesicht und ihrer Fröhlichkeit, die sie nur sehr selten verließ, der Inbegriff der guten Laune. Durch ihre Offenheit und ihre warmherzige Ausstrahlung schaffte sie es immer wieder, alles und jeden um sich zu scharen – es schien so eine Art Naturgesetz zu sein, dass man sich in ihrer Gesellschaft einfach wohlfühlte.

Alexandra und Marie kannten sich seit der gemeinsamen Schulzeit und waren eigentlich immer schon Freundinnen gewesen, bis auf einige Jahre, in denen sie sich aus unerklärlichen Gründen aus den Augen verloren hatten. Damals war es Marie gewesen, die auf Alexandras Briefe nicht mehr reagiert hatte, bis diese es schließlich aufgab. Sieben Jahre hatte ihre Pause gedauert, bis sie sich im Rahmen eines Klassentreffens zum ersten Mal wieder begegneten und beidseitig das Gefühl hatten, es sei inzwischen überhaupt keine Zeit vergangen. Marie tat nun ihrerseits alles, um den Kontakt zu ihrer Freundin aufrecht zu halten, und seit einem Jahr führten die beiden inzwischen ihren gemeinsamen Weinhandel, wobei sie alle Kraft und Energie in den Neubeginn und den Auf- und Ausbau ihres Geschäftes steckten, sodass für ein ausgefülltes Privatleben im Moment wenig Zeit blieb, was aber keine von beiden beunruhigte.

 

Als Alexandra jetzt über den Hof zum Nebengebäude ging, in dem ihre Wohnung lag, blieb sie auf halbem Wege stehen, um sich vor lauter Müdigkeit zu strecken. Sie gähnte laut und atmete die frische Nachtluft mit Genuss ein, als sie unvermittelt stutzte. So frisch, wie sie erwartet hatte, roch es nicht, im Gegenteil. Alexandra versuchte es noch einmal und verzog augenblicklich das Gesicht zu einer Grimasse. Irgendein Bauer aus der Umgebung schien es zu gut mit der Düngung seiner Felder gemeint zu haben, igitt! Sicher, auch das gehörte zum Landleben, auch wenn sie sich nur schwer daran gewöhnen konnte. Erschöpft legte sie sich endlich ins Bett und schlief sofort ein.

Am nächsten Morgen hätte Alexandra sicher verschlafen, wenn sie nicht durch lautes Schnurren geweckt worden wäre. Mia, ihre schwarze Katze mit den weißen Pfoten und dem ebenso weißen Näschen, saß neben ihrem Kopfkissen und sah sie auffordernd an, als sie die Augen aufschlug. Alexandra warf einen Blick auf das Zifferblatt des Weckers, der auf ihrem Nachttisch stand und seufzte. Schon neun! Sie hatte versprochen, Marie beim Aufräumen zu helfen, und außerdem musste sie den Laden öffnen.

»Schon gut, Miachen, ich weiß ja, dass ich verschlafen habe! Und du hast bestimmt schon großen Hunger.« Alexandra lächelte und streichelte die Katze, die ihr Köpfchen jetzt gegen ihre Hand drückte. Beide genossen die Momente der Zuwendung, dann schwang Alexandra entschlossen die Beine aus dem Bett.

»Also komm, dann gibt es jetzt erst einmal dein Frühstück und ich schaue mal, ob Marie schon einen Kaffee für mich hat.«

Als Alexandra eine halbe Stunde später ihre Wohnung verließ, prallte sie schon an der Eingangstür wieder zurück, als ob sie einen Schlag erhalten hätte. Mein Gott, was für ein Gestank! Sie würde sich beschweren! Nettekoven, der Bauer, der die Nachbarfelder um den Hof herum bestellte, hatte offensichtlich zu tief ins Jauchebecken gegriffen. Regelrecht geschäftsschädigend war das. Sie lief rasch zur Gewölbeküche, aus der schon verhaltenes Geschirrklappern zu hören war, und traf auf Marie, die bereits die zweite Ladung aus der Spülmaschine räumte. Alexandra seufzte – Marie war ein Phänomen. Auch nach nur wenigen Stunden Schlaf stand sie jetzt schon wieder fröhlich und taufrisch in der Küche, als hätte sie einen achtstündigen Schönheitsschlaf genossen, und hatte darüber hinaus das Chaos der vorabendlichen Weinverkostung schon so gut wie beseitigt.

Anstelle einer Begrüßung machte Alexandra jedoch zuerst ihrem Ärger Luft, als sie die Küche betrat.

»Sag mal, Marie, ist dir der Gestank draußen nicht aufgefallen?«, fragte sie außer sich, während Marie ihr eine Tasse Kaffee einschenkte. »Ich finde das unmöglich. Ob die Nettekovens jetzt neuerdings nachts die Jauche auf den Feldern verteilen? Also, das geht auf keinen Fall so weiter. Ich gehe gleich mal rüber und sag denen meine Meinung. Jetzt sag du doch auch mal was!« Alexandra sah die Freundin ungläubig an, die sich in aller Seelenruhe eine Brötchenhälfte mit Butter und Honig bestrich und sie genüsslich zum Mund führte.

»Stimmt«, nickte Marie, während sie die Hand, die das Brötchen hielt, wieder sinken ließ, »ich habe mich auch schon gewundert. Aber was sollen wir machen? Schließlich sind wir hier nun mal auf dem Land.« Sie zuckte resigniert mit den Schultern. »Aber du hast recht, diesmal ist es viel schlimmer als sonst. Wie dem auch sei, jetzt komm, setz dich endlich und trink deinen Kaffee. Sonst ist die Kanne gleich schon wieder leer.«

»Wie machst du das nur, Marie?« seufzte Alexandra. »Du bist schon fast fertig mit dem Frühstück und ich bin heute früh kaum aus dem Bett gekommen! Ich hätte auch noch weitergeschlafen, wenn Mia mich nicht geweckt hätte.«

»Ich brauche eben nicht so viel Schlaf wie du. Den Laden habe ich übrigens auch schon aufgeschlossen. Deshalb habe ich den Tisch gleich hier gedeckt, dann hören wir, wenn jemand kommt.«

 

Nach dem Frühstück schlug Alexandra die Abkürzung zum nachbarlichen Bauernhaus ein, die quer durch ihren großen Garten führte, an den Überresten des alten Schuppens vorbei, den sie demnächst ganz abreißen wollten. Als sie ungefähr die Hälfte der Strecke hinter sich gelassen hatte, traf sie der Gestank plötzlich mit einer solchen Wucht, dass es ihr fast den Atem nahm.

Sie hustete, ruderte mit den Armen und hielt sich schließlich – lediglich für einige Sekunden erfolgreich – die Nase zu, um gleich darauf doch wieder Luft holen zu müssen. Augenblicklich begann sie zu würgen, bis sich ihre Aufmerksamkeit schließlich auf einen Wasserspiegel in der Nähe des Schuppens konzentrierte, der vorher nicht da gewesen war und jetzt plötzlich, wie von Geisterhand inszeniert, vor ihr lag. Sie stutzte. Natürlich! Die Jauchegrube! Ja, tatsächlich, das musste die Jauchegrube sein, die die Vorbesitzer des Hofes erwähnt hatten, ohne dass sie diese bei der Begehung des Grundstückes jemals gefunden hatten, sodass der Umstand schließlich in Vergessenheit geraten war. Alexandra trat nun doch näher hinzu und ließ ihren Blick über das trübe Wasser gleiten. Als sie die Augen bereits wieder abwenden wollte, machte sich plötzlich ein Detail in ihrem Bewusstsein fest, das sie scheinbar übersehen hatte. Sie schaute noch einmal genauer hin und sah jetzt im von ihrem Standpunkt aus halbwegs verborgenen Teil der Grube die Hacke eines Männerschuhs, der, die Sohle aufwärtsgerichtet, dort herumzuschwimmen schien. Eigenartig! Alexandra machte einige Schritte in die Richtung, um die Sache besser in Augenschein nehmen zu können, und dann sah sie ihn.

Der Mann, der dort mit dem Gesicht nach unten in der Grube lag, war offensichtlich darin eingebrochen – die herumliegenden Holzsplitter und abgerissene, fingerdicke Bodendeckerranken sprachen für sich. Alexandra registrierte einen Fußabdruck, der sich in die feuchte Erde am Rand der Grube eingegraben hatte, und ein zerknülltes Papiertaschentuch. Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, dass sie selbst vielleicht einbrechen könnte, und ungeachtet der ekligen Feuchtigkeit, ging sie neben der Grube in die Knie und versuchte, sich trotz aller Beklemmung ein Bild zu machen. Sie erkannte, dass dem Mann nicht mehr zu helfen war. Dort, wo er mit dem Oberkörper lag, war das Jauchenwasser dunkler gefärbt, was für eine Verletzung sprechen könnte. Alexandra richtete sich auf, während ihr jetzt das Herz bis zum Halse schlug, drehte sich auf dem Absatz um und lief zum Haus zurück. Sie musste die Polizei rufen und Marie Bescheid sagen.

Eine Dreiviertelstunde später fuhr ein dunkler Kombi auf den Hof und sie ging dem Fahrer entgegen, der inzwischen ausgestiegen war, sich bewundernd umsah und das idyllische Panorama für einen Moment auf sich wirken ließ, bis er Alexandra erblickte und lachend auf sie zukam.

»Ich dachte ja eben, ich höre nicht richtig, als ich deinen Namen hörte, Alexandra. Na, wie geht's unserer ehemaligen Rechtsmedizinerin?« Er blieb ganz plötzlich stehen und hielt sich die Nase zu. »Ist das das Parfüm, was man jetzt hier auf dem Land trägt? Du liebe Güte!«

»Hallo, Jan. Ja, dieses Parfüm ist hier absolut en vogue.« Sie verzog den Mund zu einem verunglückten Grinsen. »Aber komm erst mal mit, ich zeige dir, wo der Tote ist, dann wirst du das auch verstehen.«

Jan Berger, Hauptkommissar und ein früherer Kollege Alexandras, hatte vor einem Jahr sehr bedauert, dass sie sich dazu entschlossen hatte, ihren Beruf an den Nagel zu hängen, um sich einen lang gehegten Traum zu verwirklichen. Ihre Arbeitsweisen ergänzten sich gut, und er hatte sich mit der anstehenden Veränderung schwergetan. Der neue Rechtsmediziner, Dr. Sebastian Krüger, hatte es deshalb zuerst nicht leicht damit gehabt, Bergers Anerkennung zu bekommen, aber inzwischen respektierten sie sich auf Abstand.

Über Jan und Alexandra war im Präsidium viel spekuliert worden; irgendwie hätten sie, wenn es nach den Kollegen gegangen wäre, ein Paar sein müssen, wahrscheinlich, weil sie sich äußerlich ähnlich waren. Auch Berger war groß, schlank, schlaksig und hatte dichtes, blondes Haar. Darüber hinaus besaßen beide einen ähnlichen ovalen Gesichtsschnitt. Man hätte sie für Geschwister halten können, aber da sie das nicht waren, sollte so viel Ähnlichkeit – besonders nach Auffassung der Kolleginnen – ein Zeichen dafür sein, dass sie zusammengehörten. Alexandra war dem Geflüster hinter ihrem Rücken immer rigoros entgegengetreten – es fehlte noch, dass andere darüber befanden, welcher Mann zu ihr passte. Obwohl ... – aber an dieser Stelle angelangt, verbannte sie ihre Gedanken besser.

Auch Jan war das Gerede nicht verborgen geblieben. Er mochte Alexandra gern und respektierte sie, träumte aber insgeheim von einer Frau mit einer besonders weiblichen Ausstrahlung. Gefunden hatte er sie jedoch auch bis zu seinem vierzigsten Geburtstag noch nicht, den er unlängst hinter sich gebracht hatte, was seinem Optimismus jedoch keinen Abbruch tat.

Als Marie jetzt eilig aus dem Haus gelaufen kam und sich zu ihnen gesellte, ruhte sein Blick eine ganze Weile wohlgefällig auf ihr, was Alexandra schmunzelnd zur Kenntnis nahm.

»Um Gottes willen, was sagst du da, Alexandra? In einer Jauchegrube liegt wirklich ein Toter?« Maries dunkle Augen waren vor Schreck geweitet und sie begann zu zittern.

Alexandra ging auf ihre Freundin zu und nahm sie in den Arm.

»Als ich dir das eben sagte, hast du das erst gar nicht richtig begriffen, oder?«

Marie nickte. »Das muss doch dann die Grube sein, die wir bisher nicht gefunden hatten?«

»Genau, sie liegt hinten beim alten Schuppen, den wir demnächst abreißen wollen. Man konnte wirklich nichts sehen, weil die Erde und auch die Grube mit Bodendeckern zugewuchert sind. Was der Mann hier gewollt hat«, sie zuckte mit den Schultern, »keine Ahnung.« Sie schaute von Marie zu Jan. »Also los, bringen wir's hinter uns!« Alexandra wandte sich um und schlug den Weg in Richtung Garten ein. »Ist Krüger übrigens schon verständigt worden?«, fragte sie über die Schulter gewandt zurück.

»Klar«, nickte Jan, »der ist schon auf dem Weg. Muss gleich hier sein. Du hast dir aber doch sicher auch schon einen Eindruck verschafft? So ganz kann man bestimmt doch nicht aus seiner Haut, oder?«

»Natürlich nicht!« Alexandra zuckte die Schultern. »Als ich sah, dass er schon tot war, habe ich logischerweise nichts verändert.« Alexandra lächelte schief. »Hier ist es übrigens.« Sie blieb stehen und deutete auf die Grube, in der die Leiche schwamm. Jan Berger kniete sich an den Rand und betrachtete das Szenario, während Marie sich voller Abscheu und nach Luft schnappend abwandte.

»Hast du auf den ersten Blick irgendwelche Verletzungen entdeckt?«

»Nein, nicht direkt. Es kann aber sein, dass er irgendwo eine größere Wunde hat, aus der viel Blut lief, wie ich vermute.«

»Aber angenommen, er wurde vielleicht erschossen, dann hätten wir das doch gehört?« Marie hielt sich schützend die Hände vor Augen und Nase, um den Gestank abzuwehren und den Toten nicht ansehen zu müssen, während sie mit Alexandra sprach.

»Nicht unbedingt«, warf der Hauptkommissar ein, »ihr wart doch mit eurer Weinprobe beschäftigt, wie ich gehört habe. Es waren Leute da, also gab es Stimmengewirr, wahrscheinlich Musik, Gläserklirren, Tellergeklapper usw.« Marie nickte. »Außerdem gibt es Schalldämpfer«, warf Alexandra ein. »Aber das wird die Spurensicherung hoffentlich ergeben, wenn wir nicht zu unvorsichtig waren.«

»Hallo, ist da jemand? Krüger, mein Name, ich bin der Rechtsmediziner. Die Leute von der Spusi sind auch schon da.«

 

Dr. Sebastian Krüger bestätigte Alexandras Vermutungen, und nachdem die Leiche endlich abtransportiert war und die Spurensicherung das Gelände durchkämmt und abgeriegelt hatte, verabschiedeten sich der Kommissar und der Mediziner und die beiden Freundinnen setzten sich, besonders zu Maries Nervenberuhigung, zu einem Kaffee zusammen.

»Was denkst du, was der Mann hier überhaupt gewollt hat?«, fragte sie nach einer längeren Pause. Alexandra schaute von ihrer Tasse auf.

»Genau darüber denke ich auch gerade nach, aber ich kann mir überhaupt keinen Reim darauf machen. Ein Kunde, der sich zur Weinprobe verspätet hat, war es sicher nicht. Alle, die sich angemeldet hatten, waren auch da, das habe ich kontrolliert. Aber vielleicht kannte er einen unserer Gäste.« Sie zuckte unentschlossen mit den Schultern. »Oder er war wirklich zufällig hier«, fiel Marie ihr ins Wort. »Dein Kommissar hat mich übrigens eben an der Tür noch gebeten, dir zu sagen, dass du morgen zu ihm kommen sollst, damit er deine Aussage aufnimmt.«

»Okay, trotzdem, irgendwie kommt mir das alles ziemlich irreal vor. Stell dir vor: Jetzt schaffen wir uns eine neue Existenz und dann findet man einen Toten auf unserem Grund und Boden.« Alexandra machte ein besorgtes Gesicht.

»Du meinst, wenn sich das herumspricht, könnte das abträglich für unser Geschäft sein? Ja, das habe ich mir auch schon überlegt. Und ich befürchte, dass so ein spektakulärer Fall gerne von der Zeitung aufgegriffen wird.« Marie schaute unglücklich drein.

»Ich hoffe, dass ich genau das verhindern kann, wenn ich Jan darum bitte, eine Pressesperre zu verhängen – das Ganze könnte sich sonst wirklich fatal auswirken. Am besten, ich nehme das sofort in Angriff.«

»Unser Mann ist erschossen worden.« Jan bot seiner ehemaligen Kollegin den Platz vor seinem Schreibtisch an und stellte ein Glas Wasser vor sie hin. »Papiere hatte er nicht bei sich, aber die Kollegen haben ungefähr zwei Kilometer von euch entfernt ein herrenloses Auto gefunden, das auf einem Feldweg stand. Zugelassen ist es auf einen gewissen Balduin Hafner – ungewöhnlicher Name, findest du nicht? Jedenfalls habe ich herausgefunden, dass es sich dabei wirklich um den Mann aus eurem Jauchebecken handelt, schau mal.« Er drehte den Bildschirm seines Computers so herum, dass Alexandra einen Blick darauf werfen konnte. »Außerdem stammt der Fußabdruck zweifelsfrei von ihm.«

»Den Mann habe ich noch nie gesehen«, sagte Alexandra nach kurzer Überlegung, »außer gestern natürlich, als er geborgen wurde.«

»Der Sturz in die Jauchegrube war übrigens nicht die Todesursache, du musst dir also keine Vorwürfe machen, dass du ihm nicht mehr helfen konntest. Hafner ist tatsächlich erschossen worden. Wir haben Fußspuren einer zweiten Person in der Nähe des Wagens gefunden, die aber leider durch die Feuchtigkeit der Nacht aus der Form geraten sind. Mal sehen, ob da noch was geht.« Er schaute seine ehemalige Kollegin auffordernd an. »Dr. Krüger wird dir übrigens Näheres berichten, wenn es dich interessiert.« Alexandra nickte. »Das dachte ich mir«, grinste Jan, »deshalb habe ich ihm auch schon Bescheid gesagt, dass du gleich kommst.«

»Ich kann mir überhaupt keinen Reim darauf machen, was der Mann bei uns gewollt hat.« Alexandra verzog resigniert die Mundwinkel. »Vielleicht hatte er ja eine Panne und wollte Hilfe holen.«

Jan schüttelte den Kopf. »Das Auto ist voll funktionsfähig und der Tank war auch nicht leer, daran kann es also nicht gelegen haben.«

»Gibt es denn irgendwelche Spuren am Auto? War er vielleicht gar nicht allein? Habt ihr Blut gefunden?«

»Negativ. Im Auto gab es nur Spuren von Hafner selbst. Kein Blut.«

»Das heißt, dass er nicht im Auto saß, als er angeschossen wurde«, sagte Alexandra nachdenklich.

»Davon gehe ich aus. Und es ist – so sieht es jedenfalls aus – auch keiner mit ihm gefahren. Der Täter muss ihm also aufgelauert haben, wenn es überhaupt Absicht war.«

»Was sollte es denn sonst gewesen sein?«

»Im Moment gibt es bei euch wohl so eine Art Wildererproblem. Es ist schon häufiger vorgekommen, dass Bauern aus der Gegend Füchse schießen, weil sie um ihre Hühner fürchten oder als sozusagen selbst ernannte Sheriffs den Fuchsbestand reduzieren wollen. Da diese Leute natürlich wissen, dass sie illegal handeln, sind sie auch gern nachts und in den frühen Morgenstunden unterwegs. Da wir außerdem Vollmond haben, ist das eine Möglichkeit, die wir in Betracht ziehen sollten.«

»Also könnte Hafners Tod Zufall gewesen sein?«

»Durchaus.« Jan fuhr sich mit der Rechten über die Kinnstoppeln seines Dreitagebarts. »Aber es kann natürlich auch Mord gewesen sein«, seufzte er.

»Dann muss der Täter aber dem Opfer gefolgt sein oder er hat Hafter dort aufgelauert, weil er wusste, wohin er wollte.«

»Genau. Gibt es vielleicht von eurer Seite irgendetwas, was dir dazu einfällt? Etwas, was mit eurem Hof zu tun haben könnte?«

»Meinst du vielleicht irgendwelche Streitigkeiten der Vorbesitzer, von denen wir gehört haben, alte Fehden oder so?«, frage Alexandra nachdenklich.

»Ja, so etwas in der Art. Denn wie deine Freundin Marie mir gestern sagte, gab es ein ziemliches Hin und Her, bis ihr den Zuschlag bekommen habt.«

Alexandra maß Jan mit einem raschen Seitenblick. »Das stimmt! Bis wir den Hof endlich hatten, ist einiges an Zeit vergangen. Und ziemlich nervenaufreibend war es auch. Aber das lag daran, dass die Vorbesitzer aus einer Erbengemeinschaft mit sieben Geschwistern bestanden, die sich untereinander nicht einigen konnten, ob der Hof nun verkauft werden sollte oder nicht. Na ja, am Ende ist es ja dann doch gut ausgegangen.« Alexandra seufzte, dann fuhr sie fort: »Hast du schon etwas zur Person dieses Balduin Hafner herausgefunden?«

Jan nickte, dann schüttelte er den Kopf. »Ja und nein ..., also, was ich sagen will: Bisher gibt es nichts Auffälliges. Er war 52 Jahre alt und Professor für Alte Geschichte hier an der Uni, war alleinstehend und verfasste in seiner Freizeit wissenschaftliche Artikel über alte Schriften, um das mal grob zu umreißen. Was seine Persönlichkeit angeht, also welche Vorlieben er hatte, was er für ein Mensch war, wie er bei den Kollegen angesehen war – all das müssen wir noch recherchieren.« Jan verzog unwillig die Mundwinkel. »Zu blöd aber auch, dass Wiegand noch einige Wochen im Krankenhaus liegen muss, ich weiß überhaupt nicht, wo mir der Kopf steht.«

»Ist Wiegand dein neuer Kollege?«

»Genau, wir haben den letzten Fall zusammen bearbeitet. Netter Kerl und ein ziemlich risikofreudiger Fahrer. Na ja, er konnte von Glück sagen, dass ihm bei dem Unfall nicht noch mehr passiert ist. So hat er zwar einiges gebrochen, aber das wird schon wieder. Demnächst bekomme ich zwar einen jungen Kollegen zugeteilt, aber das kann noch dauern«, seufzte er.

Alexandra schaute Jan nachdenklich an. »Sag mal, wie wäre es, wenn ich ein paar Ermittlungen für dich mache? Immerhin kenne ich den Laden hier und das ganze Prozedere ist mir vertraut. Wir müssten das ja nicht an die große Glocke hängen.«

Jan schaute genauso nachdenklich zurück, dann nickte er. »Aber davon darf ich natürlich nichts wissen!«, grinste er. »Hast du denn überhaupt Zeit dazu?«

»Also um zur Person des Professors etwas herauszubekommen, könnte ich heute sogar das Notwendige mit dem Spannenden verbinden. Ich muss sowieso in die Stadt, um neue Flyer für uns drucken zu lassen. Da könnte ich doch der Uni einen Besuch abstatten.«

»Und als was willst du dich ausgeben?«

»Mir wird schon irgendetwas einfallen, notfalls hat Professor Hafner einen größeren Posten Wein bei mir bestellt – hoffentlich war er auch Weintrinker, mal sehen. Ich tue jedenfalls mein Bestes!« Alexandras ausdrückliche Entschlossenheit beseitigte Jans letzte Zweifel.

»Gut, ich melde mich später auf deiner Privatnummer. Und nimm es als Dankeschön für die Pressesperre, um die ich dich gebeten habe.« Alexandra lächelte und nickte ihm zu. »Aber jetzt schaue ich mir den Toten erst noch einmal genau an.«

Dr. Krüger erwartete Alexandra bereits. Die beiden hatten sich im letzten Jahr kennengelernt und vor Alexandras Weggang eine Woche lang sozusagen zur »Übergabe der Geschäfte« zusammengearbeitet. Obwohl sie Kollegen waren und sich mochten, waren beide bei einem – für die Abteilung sonst unüblichen – »Sie« geblieben. Krüger hatte etwas an sich, das einen vertrauten Umgang verbat. Immer äußerst korrekt gekleidet und mit vollendeten Umgangsformen vermittelte er den Eindruck einer zwar sympathischen, aber dennoch unsichtbare Grenzen ziehenden Persönlichkeit. Als er Alexandra jetzt die Hand mit einer leichten Verbeugung reichte, spürte sie es wieder, gleichzeitig drängte sich ihr jedoch der Eindruck auf, als befände sich ihr Gegenüber in einer Art selbst gebautem Käfig, den er immer mit sich herumtrug.

»Frau Kollegin, es ist mir eine Ehre! Bitte folgen Sie mir, Herr Professor Hafner liegt hier vorn.« Er machte eine höfliche Handbewegung, drehte sich um und schritt voran.

Vor einem der großen Rundbogenfenster machte er an einer Bahre halt und schlug das weiße Laken, das den Körper des Toten vollständig bedeckte, mit einem Ruck zur Seite.

Da lag er, der Mann, der so unrühmlich in ihrem Jauchebecken gestorben war. Friedlich sah er aus, die grauen Bartstoppeln waren kaum in dem bleichen Gesicht zu sehen, das auch im Tod noch intelligent und sympathisch wirkte. ›Welch schreckliches Ende für ihn‹, dachte Alexandra mitfühlend. Dann glitt ihr Blick sachkundig zu der Wunde in seiner Brust.

»Ich vermute, dass eine Kugel die Hohlvene angerissen hat. Durch die langsame Sickerblutung hatte er deshalb auch noch Zeit zu fliehen. Was meinen Sie, Herr Kollege?«

»Genau, das ist auch meine Diagnose. Wir können also davon ausgehen, dass er in einem Umkreis von … Metern erschossen wurde, mit einer HK SLB 2000 light übrigens, wie das Projektil beweist, das in der Lunge steckte.«

»Das ist ein kurzes Jagdgewehr, richtig?«, warf Alexandra ein. Dr. Krüger nickte.

»Genau. Das Ganze könnte sich zum Beispiel in der Nähe seines Autos abgespielt haben. Danach ist er schwer verletzt umhergeirrt, ehe er schließlich in diese grässliche Grube fiel.«

»Furchtbar! Dazu kommt, dass das alles auf unserem Grund und Boden passiert ist und wir uns überhaupt keinen Reim darauf machen können, was er dort wollte. Weder meine Freundin Marie noch ich haben ihn je vorher gesehen. Haben Sie sonst noch etwas gefunden, Herr Kollege?«

»Der Todeszeitpunkt liegt bei etwa ein Uhr morgens, und dem Mageninhalt nach zu urteilen, hatte er vorher ein üppiges Mahl zu sich genommen. Entenstopfleber, Wildschweinbraten mit Klößen und Rotkohl und, wenn ich nicht irre, eine große Portion Vanillecreme mit Himbeerpüree zum Nachtisch. Ansonsten war er ziemlich alkoholisiert. Rotwein und Schnaps, nehme ich an.«

»Vom Essen scheint er ja etwas verstanden zu haben, auf jeden Fall war er kein Kostverächter, und gefahren ist er anschließend auch noch«, überlegte Alexandra, während sie den Toten intensiv musterte. Dann hob sie den Blick und sah ihrem Nachfolger freundlich in die Augen, während sie ihm die Hand reichte. »Ich danke Ihnen, Herr Kollege. Wenn sich noch etwas Neues in diesem Fall ergeben sollte, geben Sie mir dann Bescheid?«

»Natürlich, Frau Lindner, das mache ich gern.«

Auf dem Weg nach draußen dachte Alexandra noch einmal über Dr. Krüger nach. Seine vollendeten Umgangsformen deuteten auf ein strenges, standesbewusstes Elternhaus hin oder auf eine elitäre Internatserziehung. Manchmal konnte er im eher kameradschaftlich-jovialen Umfeld des Kommissariats wie ein Fremdkörper wirken, fast wie ein Pierrot, der weiße Clown im Zirkus, der sich nicht auf die Ebene der anderen herablassen mag und doch solch traurige Augen hat, die etwas von Heimatlosigkeit in sich tragen. Ob er verheiratet war und Familie hatte? Normalerweise hätte Alexandra das gewusst, aber nicht bei Dr. Krüger, über dessen Lippen niemals ein privates Wort kam. Eigenartig! Alexandra schüttelte unwillig den Kopf – warum machte sie sich überhaupt solche Gedanken? Vielleicht weil sein Augenausdruck sie berührt hatte, denn irgendwie fühlte sie sich solidarisch mit ihm; sie kannte diesen Blick von sich selbst. Lange hatte sie dazu gebraucht, um die Melancholie daraus zu verbannen, auch wenn es ihr immer noch nicht ganz gelang, was außer Marie jedoch niemand bemerkte.

Alexandra schüttelte sich unwillkürlich, als könne sie den Schatten der Vergangenheit damit Einhalt gebieten, und lenkte ihre Aufmerksamkeit jetzt bewusst auf die nächsten Schritte, die sie in Bezug auf Balduin Hafner unternehmen wollte. Immerhin wusste sie, dass er Wein getrunken hatte, bevor er starb, daher war schon einmal nicht zu befürchten, dass ihre Notlüge, er habe einige Kisten Rotwein bei ihr bestellt, augenblicklich enttarnt würde.

Nachdem sie sich im Universitäts-Hauptgebäude über die Lage des Historischen Seminars informiert hatte, suchte sie unverzüglich das Sekretariat für Alte Geschichte auf und fand sich einige Minuten später einer zupackend wirkenden Frau gegenüber, die hinter einem mit Papieren und Mappen überquellenden Schreibtisch saß und mittleren Alters sein mochte.

»Die Liste für die Veranstaltungen finden Sie da hinten am Schwarzen Brett, und beachten Sie, dass einige Seminare bereits voll sind«, sagte sie, mit der Hand über die rechte Schulter deutend, ohne von der Arbeit aufzusehen.

»Verzeihen Sie, mein Name ist Alexandra Lindner, und ich komme in einer ganz anderen Angelegenheit.« Alexandra setzte ihr freundlichstes Lächeln auf, als die andere jetzt aufschaute und sie befremdet musterte. Die geröteten Augen hinter der Hornbrille in auffälligem Tigermuster schauten skeptisch, und bevor etwas Abweisendes über die Lippen der Sekretärin kommen konnte, beeilte Alexandra sich, deren offensichtliche Voreingenommenheit zu unterwandern.

»Ich komme vom Weingut Lindner und Sander. Herr Professor Hafner hat einen größeren Posten Rotwein bei uns bestellt, und ich würde gerne wissen, wann ich ihn liefern kann. Wir hatten verabredet, miteinander zu telefonieren, aber ich erwische immer nur den Anrufbeantworter. Können Sie mir vielleicht weiterhelfen?«

Alexandra versuchte einen unschuldigen Augenaufschlag, während sie sich regelrecht schlecht dabei vorkam, die andere so gemein zu belügen, um an weitere Informationen heranzukommen. Und tatsächlich quollen wie auf Kommando die Tränen aus den Augen der sonst so streng wirkenden Vorzimmerdame, die jetzt hektisch nach einem Taschentuch zu suchen begann. Alexandra griff in ihre Jackentasche, zog augenblicklich ein sauberes Tüchlein heraus und reichte es der anderen.

»Danke«, schluchzte diese, während sie danach griff, sich vorsichtig die Tränen abtupfte, um das Augen-Make-up nicht zu verwischen, und sich dann geräuschvoll die Nase putzte. »Ogottogott, nein, dieses Elend«, sie blickte Alexandra aus verweinten Augen an, »der Herr Professor ..., wenn Sie wüssten ...« Die Tränen flossen aufs Neue und Alexandra reichte ihr voller Mitgefühl ein weiteres Taschentuch. Der mächtige Busen unter dem gelb-schwarz getigerten Oberteil wogte im Rhythmus der Schluchzer auf und ab.

»Almut Berger, mein Name.« Sie reichte Alexandra über den Schreibtisch hinweg die Hand, dann strich sie sich – entschlossen, die Tränenflut zu besiegen – die tiefschwarz gefärbten, mittellangen Haare hinter die Ohren. »Professor Hafner lebt nicht mehr, das haben wir heute Morgen von unserem Dekan erfahren. Die Polizei hat ihn informiert, und wir sollen uns jetzt darauf einstellen, von der Polizei vernommen zu werden.«

»Das hört sich ja alles furchtbar an!« Alexandras offensichtliches Mitgefühl lockerte die Zunge ihres Gegenübers so weit, dass nach der anfänglich spürbaren Skepsis jetzt ein Redeschwall auf sie niederprasselte.

»Der Professor ist ...«, sie hielt inne und die Tränen flossen erneut, »mein Gott, jetzt muss ich ja sagen war so ein netter Mann ..., meistens gut gelaunt und noch dazu schon so lange Witwer.« Sie errötete und schlug verlegen die Augen nieder.

»Sie mochten ihn wohl gern?«, fragte Alexandra leise, worauf die andere stumm nickte.

»Sie sagten, er war Witwer?«

»Ja, und er muss sehr an seiner Frau gehangen haben. Jedenfalls ist mir nicht bekannt, dass er eine Freundin hatte.«

»Haben Sie denn auch über Privates gesprochen?«

»Nun ja, manchmal wenigstens, meistens während der Kaffeepausen, wenn es nichts Berufliches zu besprechen gab.« Frau Berger überlegte einen kurzen Moment, bevor sie zögernd fortfuhr: »Wenn ich es recht bedenke, sprachen wir vor allem über mich. Ich habe vor Kurzem meine Mutter zu mir genommen, wissen Sie, und das ist nicht ganz leicht.« Sie zuckte die Schultern und versuchte ein Lächeln. »Jedenfalls nahm er großen Anteil an meiner Situation – meine Mutter ist manchmal recht verwirrt – und redete mir zu, mir von professioneller Seite helfen zu lassen.«

Alexandra nickte und schwieg, um Frau Berger nicht zu unterbrechen. »Fachlich war Professor Hafner durch seine Forschung und durch seine Beiträge in der Zeitschrift Historia gut angesehen.«

»Was erforschte er denn?«

»Sein Steckenpferd war die sumerische Keilschrift. Er hat einige neue Erkenntnisse darüber veröffentlicht. Und er liebte es, gut zu essen und zu trinken, was auch seine Studenten sehr an ihm zu schätzen wussten.«

»Warum?«, fragte Alexandra verdutzt.

Almut Berger lächelte. »Ach wissen Sie, im Moment ist das Semester nicht sehr groß – Alte Geschichte ist ja auch ein sehr spezielles Fach – und wenn der Professor Seminare gab, brachte er hin und wieder eine Platte voller leckerer Häppchen mit, die er verteilte. Natürlich nicht, ohne mir vorher etwas davon abzugeben.«

»Und woher hatte er die?«

»Keine Ahnung, er lächelte immer nur, wenn ich ihn fragte, ob er sich morgens schon früh in die Küche gestellt habe. Ob er die Kanapees selbst belegte oder sie irgendwo abholte – ich weiß es nicht.«

»Eigenartig!« Alexandra schüttelte den Kopf. »Das heißt, ich meine, das war natürlich ein netter Zug von ihm! Welcher Professor macht das schon? Aber ein bisschen komisch finde ich es schon.«

»Zugegeben, aber wenn Sie ihn gekannt hätten, wäre Ihnen das gar nicht eigenartig vorgekommen. Es passte zu ihm.« Frau Berger schaute Alexandra ein wenig gedankenverloren an, dann sammelte sie sich plötzlich und setzte wieder ein geschäftsmäßiges Gesicht auf. »Aber was plaudere ich da alles? Sie sind doch wegen der Weinlieferung hier. Tja, ich befürchte, da kann ich Ihnen jetzt auch nicht mehr weiterhelfen. War der Wein denn schon bezahlt?«

Alexandra beeilte sich, verneinend den Kopf zu schütteln.

»Ja, dann ist es doch vielleicht nicht so schlimm. Sie entschuldigen mich, jetzt muss ich dringend weiterarbeiten, der Dekan braucht die Veröffentlichungsliste von Professor Hafner.«

»Natürlich! Ich danke Ihnen herzlich für die Auskunft, Frau Berger. Und alles Gute für Sie.«

Auf der Rückfahrt sah Alexandra plötzlich den Professor vor sich, wie er wohl zu Lebzeiten gewesen sein mochte. Sie sah ihn im Gespräch mit seiner Sekretärin, nahm wahr, mit welcher Geste er zwei Löffel Zucker in seinen Kaffee häufte, konnte sein Lächeln erkennen und erlebte ihn im Hörsaal vor seinen Studenten, schon eine Anekdote im Kopf, wenn es mal zu langweilig zu werden drohte. Sie sah ihn zu Hause in gediegener Einrichtung an seinem Schreibtisch sitzen und noch bei Nacht seinen Forschungen nachgehen, sich mit einer fahrigen Geste durch das kurze graue Haar streichen, während er sich in seinem alten, dunklen Drehstuhl zurücklehnte, schließlich gähnte, dann mit einer entschlossenen Handbewegung das Schreibtischlicht löschte, aufstand und ins Bad ging. Ja, ihr Gefühl sagte ihr, dass Balduin Hafner ein sympathischer Mann gewesen sein musste. Während Alexandra fuhr und auf die Straße vor sich starrte, ohne sie wirklich wahrzunehmen, durchlief sie ein Ruck, der sie augenblicklich in die Wirklichkeit zurückbrachte.

Nein, sie durfte das nicht wieder zulassen. Balduin Hafner war vielleicht ein sympathischer Mann gewesen, aber jetzt war er tot.

Der wahre Grund, warum Alexandra ihren alten Beruf an den Nagel gehängt hatte, hatte nicht nur etwas mit der Erfüllung eines großen Traumes zu tun, sondern vor allem mit ihrer Eigenschaft, sich in die Menschen einzufühlen, die tot vor ihr auf dem Seziertisch lagen. Für Alexandra waren die Leichen nicht irgendwelche Gegenstände, obwohl diese Betrachtung ihr den Umgang mit ihnen erleichtert hätte, sondern blieben Menschen, die eine bestimmte Identität und ein Schicksal besaßen, mit Vorlieben und Abneigungen, bestimmten Charaktereigenschaften und Bildungsniveaus. Niemals wären ihr despektierliche Bezeichnungen wie: »Da vorn liegt der Lungendurchschuss« über die Lippen gekommen, wie es teilweise sogar die Ärzte im Krankenhaus praktizierten, die mit lebenden Patienten umgingen. Eben diesen Respekt, der für Alexandra unabdingbar gewesen war, schätzte sie auch an ihrem Nachfolger, Dr. Krüger, der eine ähnliche Einstellung dazu besaß.

Bei Alexandra kam jedoch noch eine andere Eigenschaft oder besser gesagt Fähigkeit hinzu, die über das normale Maß des Einfühlungsvermögens hinausging. Jedes Mal, wenn sie einem Toten gegenübertrat, konnte sie sich ein genaues Bild darüber machen, wie er zu Lebzeiten gewesen war. Gleichgültig, wie verunstaltet die Körper aussehen mochten, vor Alexandras geistigem Auge verselbstständigten sich Bilder und verdichteten sich schließlich zu Filmsequenzen, die bestimmte persönliche Situationen im Leben der Toten, ob Täter oder Opfer, wiedergaben. Alexandra, die auch als Kind schon über eine blühende Fantasie verfügt hatte, hatte diese Absonderlichkeit, wie sie es bei sich selbst nannte, lange als Unsinn abgetan, bis sie durch den Stand der jeweiligen Ermittlungen eines Besseren belehrt wurde. In einer Persönlichkeit geirrt hatte sie sich so gut wie nie, was ihr selbst unheimlich erschien. Dass die Toten ihr, jenseits aller fortschrittlichen Untersuchungsmethoden, praktisch von ihrem ganz persönlichen Leben berichteten, war zu einer kräftezehrenden Last geworden, die sie nicht länger tragen und ertragen wollte. Dass sie damit ein großes Potenzial im Hinblick auf den Ermittlungsfortschritt verschenkte, verdrängte sie einigermaßen erfolgreich, weil sie wusste, dass ihr spezielles Einfühlungsvermögen ihre Kräfte oft überstieg. Bisher war es ja auch ohne das meist gut gegangen, bis auf einige Fälle, in denen sie den Kollegen einen entscheidenden Tipp geben konnte, den sie mit dem Ergebnis eines persönlichen Brainstormings verschleierte.

Marie und Alexandras Mutter Renate waren die Einzigen, die von dieser Eigenart wussten. Renate war mit diesem Phänomen groß geworden, ohne selbst davon betroffen gewesen zu sein, aber ihre Mutter, Alexandras Großmutter, war für ihr besonderes Gespür bekannt gewesen und schien wenigstens einen Teil dieser Fähigkeiten auf ihre Enkeltochter übertragen zu haben.

Ob es wirklich nur ein Teil war oder ob die Begabung umfassender war, wollte Alexandra gar nicht wissen. Sie fühlte sich ohnehin manchmal wie eine Außenseiterin, weil sich ihr Umstände und Situationen oftmals anders erschlossen als ihren Mitmenschen. Bis zum Eintritt ins Studium war ihr dieses besondere Gespür, das ihr später so sehr zu schaffen machte, verborgen gewesen. Als sie im Rahmen der Klinischen Semester allerdings mit ihrer ersten Leiche konfrontiert wurde, die es zu sezieren galt, änderte sich das schlagartig. Sie sah den Obdachlosen, der seinen Körper der Wissenschaft vermacht hatte, in seinem Umfeld, wusste, wo er schlief, wie viel Schnaps er trank und wie hoffnungslos er sich fühlte. Zuerst hatte sie das als übersteigertes Hirngespinst abgetan, aber als sie bei der nächsten Leiche ganz andere erlebte Szenen vor sich sah, gab ihr das zu denken.

Am Anfang ihrer Berufstätigkeit war es Alexandra zuerst gelungen, sich ganz pragmatisch mit dieser Eigenart zu arrangieren. Was blieb ihr auch anderes übrig? Dass die ganze Angelegenheit jedoch äußerst kräftezehrend war, stellte sich nach einigen Jahren heraus, in denen sie psychosomatische Beschwerden entwickelte. Migräneanfälle und Rückenschmerzen häuften sich, die von üblichen Therapien unberührt blieben, aber auch die Angst vor der nächsten Leiche steigerte sich. Erst, als sie sich nach drei Monaten dabei ertappte, dass der Griff zur »rosaroten Brille« in Form von Psychopharmaka, die ihr den Umgang mit all ihren Ängsten erleichterten, inzwischen zum Alltag geworden war, musste sie sich eingestehen, dass sie inzwischen davon abhängig geworden war. Selbst vom Fach, bildete sie sich – wie viele Suchtkranke – jedoch ein, dass sie jederzeit ganz leicht damit aufhören könnte, wenn sie es für nötig hielt. Aber es gelang ihr nicht, als sie es schließlich wirklich versuchte.

Alexandra, die sich gerade aufgrund ihrer ungewöhnlichen Sensibilität zum Schutz ein gewisses Maß an pragmatischer Bodenständigkeit erarbeitet hatte, musste sich eingestehen, dass sie unfähig war, ihre Sucht zu beenden, wenn sie so weitermachte wie bisher. Noch gab es keinen Fall von Fehldiagnose, aber in selbstkritischen Augenblicken spürte sie, dass ihr die Situation irgendwann entgleiten könnte, weil die Genauigkeit, die für ihren Beruf unabdingbar war, sich in einer Art von positiver Gleichgültigkeit verlor. Wenn Marie, mit der sie ihren Alltag gern besprach, ihr in dieser Zeit nicht den Spiegel vorgehalten hätte, wären ihr sicher bald Fehler unterlaufen, aber so begann sie, sich nach und nach mit Lebensalternativen auseinanderzusetzen. Und irgendwann war der Entschluss dann wirklich gefallen, und seit sie den Dienst quittiert hatte, ging es ihr wieder besser.