3.

 

Als Alexandra am nächsten Morgen die Zeitung aufschlug und die Artikel überflog, wurde sie auf ein Detail aufmerksam, das sie zuerst überlesen hatte, und blätterte noch einmal zwei Seiten zurück. Ohne genau zu wissen, wonach sie eigentlich suchte, glitt ihr Blick über die Zeilen und plötzlich sprang es ihr förmlich ins Auge: »Der bekannte Restaurantkritiker Bertram Höppner ist tot.« Unter der Überschrift war ein kleines Bild zu sehen – es zeigte das Konterfei von Balduin Hafner!

»Marie, schau mal, was ich gefunden habe!« Sie sprang auf und lief die Zeitung hin- und herschwenkend zu ihrer Freundin in den Laden. »Hafner war nicht nur Professor für Alte Geschichte, er war unter dem Namen Bertram Höppner auch Restaurantkritiker. Jetzt wird mir klar, warum die vielen Besprechungen auf seinem Schreibtisch lagen – er muss sie selbst verfasst haben. Und wenn ich dem Artikel glaube, war er in der Szene ziemlich bekannt und auch gefürchtet.« Alexandra schien einen Moment lang durch Marie hindurchzustarren. Dann fuhr sie eifrig fort: »Weißt du was? Wir fahren heute Abend nach Königswinter. Ich lade dich zum Essen ein. Wir gehen ins La Vita.«

Das Lokal lag im romantisch-historischen Ortskern des unmittelbar am Rhein gelegenen Weinortes, am Fuße des Petersberges. Die Lage mutete nicht nur durch den Weinanbau äußerst idyllisch an, aber Alexandra mochte das Städtchen nicht besonders, weil es meistens fürchterlich überlaufen war und es ihr oft so vorkam, als würde der Ort sich für die zahlreichen Touristen aus aller Welt prostituieren. Es gab viele geschmacklose Souvenirläden und folkloristisch-aufdringliche Kneipen, in die man sich lieber nicht verirrte. Der Massentourismus hatte mit der Fertigstellung der Drachenfels-Zahnradbahn im 19. Jahrhundert begonnen, mit der der Aufstieg zur Burgruine des benachbarten Drachenfelses bequemer zu erledigen war als zu Fuß oder auf dem Rücken geduldiger Esel. Beide Möglichkeiten gab es immer noch, aber das Gros der Besucher zog die Bahn vor. Von oben hatte man einen spektakulären Blick auf das hier überaus romantische Rheintal, was den mühsamen Aufstieg lohnte. Da viele Ausflüge zu Alexandras Kinderzeit hierher geführt hatten, war sie lange nicht mehr dort gewesen, auch weil sie unangenehme Erinnerungen damit verband.

Neben der ganzen Folklore gab es natürlich auch wunderschöne kleine Geschäfte mit wirklichem Kunsthandwerk, Weinhandlungen, Feinkostläden mit edlem Sortiment und hervorragende Lokale.

 

Als die beiden Freundinnen das italienische Restaurant am Abend betraten, waren beide beeindruckt. Das La Vita glich nicht im Geringsten dem üblichen Bild des »Italieners um die Ecke« mit dunklen Möbeln, einfachen Tischen und Bildern von der Stange, es war in seiner zurückhaltenden Einrichtung eines der edelsten Lokale, das sie jemals betreten hatten. Designerlampen verströmten warmes Licht, das sich auf dem edlen Parkett spiegelte. Holztische, denen man in ihrer perfekten Schlichtheit ansah, dass sie teuer gewesen waren, weiße Damast-Tischläufer, die deren Oberfläche nicht völlig verdeckten, und das weiße, schnörkellose Geschirr in gefälliger Form ließen die ganze Einrichtung wie ein Kunstwerk erscheinen. Einzig die elegant gekleideten Gäste und die Vielfalt der Speisen brachten so viel Farbe in den Raum, dass er nicht frostig, sondern so gemütlich wirkte, dass man sich wohlfühlte und gleichzeitig das schöne Ambiente genießen konnte.

»Das ist also das Lokal, das Hafners bestem Freund gehört«, sagte Marie leise, nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatten. »Ich muss sagen, der Mann hat Geschmack.«

Das Essen war köstlich, ganz wie es zum Stil des Hauses passte.

»Ich muss sagen, dass ich noch nie ein so perfektes Risotto gegessen habe«, lobte Alexandra die Vorspeise, als der Kellner die leeren Teller abholte. Und das Niveau hielt sich durch alle Gänge hindurch.

»Warum hat das Restaurant sich noch keinen Stern erkocht? Ich finde, sie hätten es verdient. Fisch zuzubereiten ist eine Kunst für sich, mein Seewolf war köstlich, fest und doch zart im Fleisch, und dieses Ratatouille dazu – ein Traum.«

»Und erst die warmen Apfelküchlein! Dieser Mürbeteig«, Alexandra verdrehte verzückt die Augen, »und die süßsauren Äpfel, die noch etwas Biss hatten! Meinst du, du könntest sie nachbacken?«

»Ich kann es versuchen«, lachte Marie, »das Rezept habe ich schon im Kopf, aber ob es genauso schmeckt?«

Bei so vielen Komplimenten, die sie der Küche ausrichten ließen, blieb es nicht aus, dass der Chef wissen wollte, wer es war, der dort saß und mit so viel Genuss und Sachverstand urteilte. Giovanni Battner griff nach drei Gläsern, der Flasche mit seinem besten Grappa und folgte dem ausgestreckten Arm seines Kellners, der ihm die Richtung wies. Die beiden Frauen schauten überrascht auf, als der stattliche, dunkelhaarige Besitzer und Koch des Restaurants nun vor ihrem Tisch stand und charmant fragte, ob er sie zu einem besonderen Tröpfchen einladen dürfe.

»Hoffentlich verrät Marie uns nicht, wenn sie davon gekostet hat«, schoss es Alexandra durch den Kopf, als der Wirt die Gläser einschenkte. Sie wollte inkognito bleiben, damit Battner der Grund verborgen blieb, aus dem sie wirklich hier waren. Aber Alexandras warnender Blick wäre gar nicht nötig gewesen. Marie lobte den Grappa, als tränke sie einen so edel gereiften Schnaps zum ersten Mal und priese ihn nicht selbst in ihrem Laden zum Kauf an. Alexandra war erleichtert.

»Herr Battner, ich muss sagen, dass ich noch nie so gut gegessen habe!« Marie lächelte ihm zu. »Eigentlich müssten Sie sich bei dieser Qualität längst einen Stern erkocht haben.«

Der Angesprochene seufzte. »Das ist sehr nett von Ihnen, dass Sie das sagen.« Er schob sich eine Strähne seines vollen schwarzen Haares aus der Stirn und zwirbelte am rechten Ende seines Schnurrbartes. »Wir hatten gute Hoffnung, dass das bald passieren würde, wollten etwas verändern, ein paar besondere Speisen hinzunehmen, aber jetzt ist leider ... etwas dazwischen gekommen.« Er senkte für einen kurzen Moment den Kopf und trank sein Glas dann mit einem einzigen Schluck aus.

»Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht behelligen«, sagte Marie bestürzt, worauf Giovanni Battner sie freundlich ansah.

»Nein, nein, machen Sie sich keine Sorgen. Es ist nur so, dass manchmal Dinge passieren, mit denen man nicht gerechnet hat ...«, er machte eine Pause, »aber ich würde mich sehr freuen, wenn Sie recht bald wieder bei mir essen würden.« Er stand auf, verbeugte sich und verschwand mit ausholenden Schritten in der Küche.

»Ich bin froh, dass du ihm nichts von unserem Weinhandel erzählt hast«, sagte Alexandra später im Auto, als sie auf dem Heimweg waren.

»Für wie blöd hältst du mich eigentlich?«, gab Marie entrüstet zurück. »Battner ist doch Hafners bester Freund gewesen, darauf hat er ja auch irgendwie angespielt mit seiner Bemerkung über das Unvorhergesehene, oder sehe ich das falsch? Auf jeden Fall wäre ihm bestimmt aufgefallen, wer da bei ihm im Lokal saß, wenn er gehört hätte, dass wir sozusagen vom Fach sind. Ein Wort hätte das andere nach sich gezogen, und du willst doch bestimmt noch mehr über ihn herausfinden, oder?«

»Du hast es erfasst. Ich muss wissen, was Hafner wirklich mit Battner zu tun hatte, das sagt mir jedenfalls mein Bauch.«

»Der inzwischen voll des guten Essens ist«, frotzelte Marie. »Jetzt müssen wir nur schauen, dass wir nicht auch in die Jauchegrube fallen.«

»Wirklich, Marie, das ist geschmacklos, findest du nicht? Dein Humor in allen Ehren, aber manchmal ...«

»... kannst du nicht genug davon kriegen, das wolltest du doch sagen, oder?«

»Wusstest du, dass unser Professor auch Restaurantkritiker war?«, fragte Alexandra den Hauptkommissar am nächsten Morgen, »er veröffentlichte unter dem Namen Bertram Höppner Kritiken – und sein Urteil war etwas wert.«

»Das ist ja interessant, aber in unserem Fall bringt uns das nicht weiter – mochte er seine Pläsierchen ruhig haben, sei's drum.«

»Das ist alles, was du dazu zu sagen hast? Wo das doch einen ganz anderen Blick auf den Fall werfen kann?« Alexandra drückte den Hörer unwillig fester an ihr Ohr. Jan war so sehr von der Schuld seines in Untersuchungshaft sitzenden Verdächtigen überzeugt, dass seine Professionalität darunter litt, wie sie fand. »Du willst diese Spur also nicht weiterverfolgen?«, fragte sie ungläubig.

»Im Moment nicht. Aber wenn es dir Spaß macht, bleib ruhig am Ball. Zu viel kann man ja eigentlich auch nie wissen.«

»Dein Ton ist ziemlich gönnerhaft, mein Lieber. Aber es stimmt, die Sache beginnt mich mehr und mehr zu interessieren, ich werde mich weiter damit beschäftigen.«

»Tu, was du nicht lassen kannst, Alexandra, und jetzt entschuldige mich, die Pflicht ruft.«

»Blöder Kerl!« Alexandra warf den Hörer entrüstet auf die Couch. Jan war so auf seine Lösung fixiert, dass nichts anderes in sein Bewusstsein drang. Aber – sie besann sich einen Moment – bei seiner Vorgeschichte war es vielleicht sogar nachzuvollziehen, dass er sich bis über beide Ohren in den Fall versenkte und von seiner Meinung nicht abrücken wollte. Aufgrund eines aktuellen Anlasses hatte Jan seiner damaligen Kollegin irgendwann ein paar Dinge aus seiner Kindheit erzählt. Sie sah die Szene noch einmal vor sich – äußerlich war er völlig gleichgültig geblieben, aber sie hatte an seinen Augen gesehen, wie sehr ihn die Erinnerung noch schmerzte.

Es galt also, noch mehr herauszufinden, schon allein, um ihm eine echte Alternative zu bieten. Alexandra träumte in der letzten Zeit ab und zu von Professor Hafner und sie hatte das Gefühl, dass das nicht aufhören würde, bis der Fall wirklich gelöst war. Außerdem bildete sie sich ein, dass sie erspüren könnte, wenn der Schuldige gefunden worden war, und das war bisher nicht der Fall.

Wenn Giovanni Battner und der Professor also wirklich so gute Freunde gewesen waren, dann war der Koch ihre vielleicht persönlichste Informationsquelle. Die Frage war nur, wie sie das anstellen sollte.

»Schick mich hin!« Maries knappe Bemerkung unterbrach Alexandras wortreiche Überlegungen, wie sie es anstellen sollte, Battners Vertrauen zu gewinnen.

»Wie meinst du das?«, fragte diese verdutzt.

»Wir wollten doch demnächst mehr Wert auf unsere Küche legen und vielleicht ein kleines Bistro eröffnen. Im La Vita könnte ich eine Menge lernen, wenn wir den Chef dazu kriegen, dass ich so eine Art Praktikum bei ihm mache, was meinst du? Natürlich soll er das nicht umsonst tun. Ich verspreche ihm ein Portrait in der Kochzeitschrift. Aber die größte Frage ist die, ob er das überhaupt macht, denn wer zieht sich gern die Konkurrenz heran?« Marie wog unschlüssig den Kopf hin und her.

Alexandra nickte. »Das ist eine tolle Idee. Eine Hand wäscht die andere. Du kannst ja außerdem sagen, dass dein Vater einen schwunghaften Weinhandel betreibt und dich Battner als Erbin präsentieren, was ja noch nicht einmal gelogen ist. Vielleicht sucht er ja noch jemanden, bei dem er guten Wein zum Vorzugspreis erstehen kann.«

»Dann muss ich meinen Vater aber einweihen. Der wundert sich doch sonst, warum wir selbst nicht das Geschäft machen.«

Alexandra gefiel die Lösung, auf diese Weise könnten sie sicher an wertvolle Informationen über das Privatleben des Professors kommen, und Marie war sowieso die bessere Köchin von ihnen beiden.

Als sie jetzt ins Geschäft ging, um die neue Weinlieferung aus Bad Neuenahr einzusortieren, und den ersten der zehn Kartons öffnete, stieg ihr ein Geruch entgegen, der ihr sofort vertraut war. Zu Hause im Keller hatte es genauso gerochen, und ohne, dass sie es verhindern konnte, verloren sich ihre Gedanken in der Vergangenheit, während die Hände automatisch ihre Arbeit verrichteten. Sie zuckte unwillkürlich zusammen, als sie wieder die Stimme ihres Vaters vernahm, der die Mutter in harschem Befehlston anwies, eine Kiste Bier aus dem Keller zu ihm ins Büro in den ersten Stock ihres Elternhauses zu schleppen. Natürlich war sie ihrer Mutter zu Hilfe gekommen, was den Vater wiederum zu groben Schimpftiraden veranlasst hatte, die auf sie beide heruntergingen, bis sie sich schuldig, klein, dumm, bar und bloß fühlten. Alexandra erinnerte sich an die Wut, die sie jedes Mal wieder überkommen, wenn sie gebeugten Hauptes seinen Raum verließ, und an die Rachegedanken, die sie automatisch entwickelte. Unzählige Todesarten hatte sie sich schon für ihn ausgemalt, ohne dass sie das geringste Mitleid verspürt hatte. Die Wutanfälle des Vaters, in denen er ihnen das, was ihm gerade in die Hände fiel, hinterherwarf, waren an der Tagesordnung, und er ruhte nicht eher, bis eine von ihnen ihn für ihre bloße Anwesenheit um Verzeihung bat. Renate und Alexandra zitterten, wenn der Schlüssel sich im Schloss drehte und der Vater von der Arbeit nach Hause kam. Dann endete die harmonische Zeit, die sie in ihren gemeinsamen Stunden genossen, und der Terror begann wieder von vorn. Tausendmal hatte Alexandra ihre Mutter beschworen, sich vom Vater zu trennen, und Abertausende Male hatte ihre Mutter ihr Eheversprechen vor Gott ins Feld geführt, das ihr eine Trennung untersagte. Alexandra war noch nicht einmal in der Pubertät gewesen, als sie erkennen musste, dass ihre Mutter eine schwache Frau war, und hatte im Gegenzug augenblicklich die Verantwortung für sie übernommen. Die Wahl, dies von sich zu weisen, weil sie sich selbst mit dieser Aufgabe überforderte, war ihr nicht geblieben, und gehen konnte sie als junges Mädchen, an der Schwelle zum Erwachsensein, auch nicht, weil sie es nicht fertigbrachte, die Mutter allein ihrem Schicksal zu überlassen.

So waren die Jahre vergangen, in denen sich Alexandras Männerbild geprägt hatte. Hatte sie früher noch gehofft, ihr Vater würde sich ändern, war sie im Laufe der Zeit eines Besseren belehrt worden, und schließlich hatte sie nur noch Hass für ihn empfunden.

Als sie zwanzig Jahre alt war, stolperte der Vater eines späten Abends in ziemlich alkoholisiertem Zustand die steile Kellertreppe aus Stein hinunter. Alexandra und ihre Mutter stürzten herbei und sahen ihn am Fuß der Treppe seltsam verrenkt und schwer atmend liegen. Blut quoll aus einer großen Wunde an seinem Kopf und sein Hals war seltsam überspannt. Renate machte eine Bewegung, um ihm zu Hilfe zu eilen, worauf die Tochter sanft den Arm um sie legte und sie ins Wohnzimmer führte. Bis zum frühen Morgengrauen saßen sie eng umschlungen wie zu Statuen erstarrt auf dem Sofa, bis Alexandra sich behutsam von ihr löste. Sie ging die Kellertreppe hinab und erkannte, dass der Vater tot war. Als sie dann den Notarzt rief, klang sie ganz ruhig.

Die Polizei, die den Fall untersuchte, stellte fest, dass Herr Lindner betrunken die Treppe hinuntergefallen war und Ehefrau und Tochter angesichts der späten Stunde nichts davon mitbekommen hatten, weil sie bereits tief schliefen.

Die Beerdigung war für beide zum Tag der Befreiung geworden, und sie sprachen nie wieder darüber, was sich wirklich an jenem Unfalltag zugetragen hatte.

Trotzdem lastete dieser Vorfall seit vielen Jahren auf Alexandras Seele, obwohl sie sich ehrlich eingestehen musste, dass sie, hätte sie die Wahl, aus damaliger Sicht immer wieder so handeln würde. Obwohl sie sich zuerst selbst nicht darüber klar gewesen war, hatte der gewaltsame Tod des Vaters sie in ihrer Berufswahl beeinflusst. Vielleicht war es so etwas wie ein Zwang gewesen, sich immer wieder vom Tod eines Menschen zu überzeugen, mit dem sie als Rechtsmedizinerin konfrontiert wurde. Aber auch ihre andere Seite hatte etwas damit zu tun, wenn die Toten ihr ihre Geschichte erzählten, in die sie sich einfühlen musste, eine Geschichte, in der sie für Alexandra wieder lebendig wurden, bevor sie das Skalpell zum ersten Obduktionsschnitt ansetzte. Die psychische Belastung hatte sie schließlich nur noch mithilfe ihrer rosaroten Brille ertragen, und ihre Seele war fast daran zerbrochen, sodass sie sich nur noch durch einen radikalen Schnitt aus der Gefangenschaft befreien konnte.

Einen Mann, der das Leben mit ihr teilte, gab es bisher nicht. Nach einigen Fehlversuchen, bei denen Alexandra immer wieder feststellte, dass die in Frage kommenden Männer irgendwann Ähnlichkeiten mit ihrem Vater aufwiesen, ohne dass sie zuerst damit rechnen konnte, hatte sie es aufgegeben, vorläufig jedenfalls.

Bei Marie war das anders. Beseelt durch ihre glücklichen Erfahrungen, war sie fest davon überzeugt, dass ein zweites Lebensglück irgendwo auf sie wartete, auch wenn sie nicht wusste, wann das sein würde.

Ihre positive, zugewandte Art, ihr offensichtlicher Sachverstand und nicht zuletzt das Portrait seines Restaurants waren es schließlich, die Giovanni Battners Befürchtungen, einer Konkurrentin Einblick in sein heiliges Reich zu gewähren, zerstreuten. Dazu kam das überaus faire Angebot, das Maries Vater ihm für seine Spitzenweine einräumte, sodass er Marie schließlich die Hand reichte, um sie in seinem Team willkommen zu heißen. Und Marie enttäuschte ihn nicht. Sie, die selbst eine leidenschaftliche Sammlerin von Rezepten war, brachte sich mit Können und so viel Experimentierfreude ein, dass selbst ein so begnadeter Koch wie er neue Impulse bekam. Es dauerte nicht lange, bis Giovanni Battner Marie das Du anbot, womit auch persönliche Themen in den Vordergrund rückten. Marie kam sich richtig verschlagen vor, ihn unter Vortäuschung falscher Tatsachen dorthin gebracht zu haben, aber – so rechtfertigte sie ihre Taktik – sie wollte ihm ja nichts Böses.

»Heute hat Giovanni mir von seinem verstorbenen Freund Balduin erzählt, der einem Unfall zum Opfer gefallen ist – na ja, so kann man das auch nennen. Wahrscheinlich wollte er nicht, dass ich neugierig werde, wenn von Mord die Rede gewesen wäre«, berichtete Marie Alexandra am Abend. »Jedenfalls kamen wir darauf, weil ich ihm vorher von dir und unserer siebenjährigen Freundschaftspause erzählt hatte. Stell dir vor, es ist ihm mit dem Professor ganz ähnlich ergangen. Sie waren die besten Freunde und von einem Tag zum anderen haben sie nichts mehr voneinander gehört. Erst viel später haben sie ihre Freundschaft wieder aufleben lassen, und da entstand die Idee, zusammen noch einmal etwas Neues in Angriff zu nehmen.«

»Das war der Zeitpunkt, als Hafner sich für unseren Hof interessierte, oder?«

Marie nickte. »Genau. Jetzt überlegt Battner, ob er ein neues Projekt mit seinem Sohn auf die Beine stellt. Der ist Patissier und arbeitet in dem Edelrestaurant in der Bonner Innenstadt. Wie heißt das doch gleich?«

»Du meinst das mit dem französischen Namen, nicht wahr? Ich komme gerade nicht drauf, ach, ist ja auch egal, ich weiß jedenfalls, was du meinst. Das ist ja interessant! Also wollten sie aus unserem Hof so etwas wie einen Gourmet-Tempel machen?«

»So ähnlich. Es hätte ja auch was hergegeben, mit dem großen Garten und der schönen Terrasse. Ja, das wäre sicherlich eine Möglichkeit gewesen. Welche Rolle hätte Hafner denn dabei gespielt? Den Service hätte er doch sicher nicht übernommen?«

»Du, sag das nicht«, antwortete Marie eifrig, »ich bin davon überzeugt, dass er das aushilfsweise wirklich getan hätte, allein deshalb, weil er so viel Spaß an der ganzen Sache gehabt haben muss. Und er war ein Genießer, wie er im Buche steht. Rezepte hat er übrigens auch gesammelt, da hatten wir sogar etwas gemeinsam.«

»Find doch mal heraus, ob die beiden etwas von der Vergangenheit unseres Hofes gewusst haben. Denn das wäre wirklich interessant.«

 

Als Marie am nächsten Tag mit Hingabe den perfekten Mürbeteig knetete, dessen Zusammensetzung sie jetzt kannte, schnitt sie das Thema der Sammelleidenschaft noch einmal an.

»Schade, dass du meinen Freund nicht gekannt hast, Marie«, warf Battner ein, »ihr hättet euch gut verstanden! Er hatte außerdem eine Vorliebe für Rezepte aus früheren Zeiten und wann immer er konnte, ging er zu Auktionen, um seine Sammlung zu vervollständigen. Balduin hat mir auch den Vorschlag gemacht, einige dieser Rezepte umzumodeln, die wir unseren Gästen als neuen Trend präsentieren wollten.«

»Aber dann wären sie doch vollkommen verfremdet gewesen«, antwortete Marie erstaunt.

»Nicht wirklich. Viele Speisen waren ja früher sehr fettlastig, mit dicken Mehlschwitzen verklebt, und Kräuter spielten nur eine untergeordnete Rolle. All das könnte man tatsächlich ändern, ohne die Grundzutaten zu verfremden. Übrigens gab es hier in der Region in den Zwanzigern eine recht bekannte Köchin, die das damals schon erkannt hat.«

Rosa Göttner, schoss es Marie durch den Kopf, während sie Giovanni aufmerksam ansah.

»Diese Frau hat hier in der Gegend gekocht, ein bisschen draußen auf dem Land. In Fachkreisen erzählt man sich, sie habe ein Album verfasst, in dem sie ihre neuen Rezepte aufgeschrieben und illustriert hat. Balduin hatte sich in den Kopf gesetzt, es unbedingt aufzuspüren, zu kaufen und es zur Grundlage unserer neuen Küche zu machen. Leider ist es dazu nicht mehr gekommen.« Er senkte traurig den Kopf.

»Wusste er denn, wo er es finden würde?«, fragte Marie vorsichtig.

»Ich glaube, ja. Jedenfalls hat er ein großes Geheimnis daraus gemacht. Er wollte mich zu meinem Geburtstag damit überraschen, denke ich. Kein Sterbenswörtchen hat er mir erzählt. Na ja, mir ist jedenfalls gehörig die Lust daran vergangen. Sollen sich andere darum streiten. Es gibt außer Balduin wohl noch einige andere hartnäckige Interessenten.«

»Also doch! Mein Instinkt hat mich nicht getrogen«, sagte Alexandra triumphierend, nachdem Marie ihr die ganze Geschichte erzählt hatte. »Hafner war an jenem besagten Abend nicht zufällig hier. Und dieses berühmte Album muss er tatsächlich bei uns vermutet haben.«

»Aber warum hat er sich erst so spät auf den Weg gemacht? Ich kann mir vorstellen, dass er sich bei unserer Weinprobe einen Eindruck von uns machen wollte. Das wäre ja auch ganz unauffällig gegangen. Vielleicht wollte er anschließend mit uns reden. Aber die Weinprobe fing um zwanzig Uhr an, also selbst, wenn er später dazugekommen wäre, hätte er sicher nicht bis nach Mitternacht gewartet.«

»Er muss also von seinem Mörder aufgehalten worden sein«, überlegte Alexandra und trommelte dabei nervös mit den Fingern auf die Tischplatte. »Es kann natürlich wirklich so sein, dass es ein Jagdunfall war, wie Jan meint. Hafner wurde angeschossen, blieb eine Zeit lang liegen und schleppte sich dann weiter. Aber das halte ich für unwahrscheinlich. Die Sickerblutung führt nicht erst nach Stunden zum Tod. Ein halbe Stunde hat er vielleicht noch gehabt, aber nicht mehr.«

»Giovanni erwähnte irgendwelche Konkurrenten. Vielleicht ist ihm ja einer von denen gefolgt, hat ihn bedroht und versucht, ihn unter Druck zu setzen, oder so ähnlich.«

»Du meinst, dass darüber die Zeit vergangen ist?« Alexandra schaute ihre Freundin nachdenklich an. »Ja, das könnte eine Erklärung sein.«

Es blieb ihnen also nichts anderes übrig, als weiter in die Gastro-Szene einzutauchen, wenn sie diese Spur weiter verfolgen wollten.

Jan konnte nach dem neuesten Stand der Erkenntnisse die Augen eigentlich nicht weiter davor verschließen, es sei denn, sein Verdächtiger hätte inzwischen gestanden. Aber der war schon wieder auf freiem Fuß, wie Alexandra von einem zerknirschten Hauptkommissar erfuhr, obwohl er ihn immer noch für schuldig hielt, weil der tödliche Schuss auf den Professor definitiv aus Raimund Welschs Waffe abgefeuert worden war.

»Hat Welsch eigentlich auch noch andere Restaurants in der Gegend mit seinem illegal geschossenen Wildbret beliefert?«, fragte Alexandra in gleichgültigem Tonfall.

»Wohl schon, außer mit dem La Vita hat er noch einen Deal mit einem Lokal in Altenahr, einem in Bad Neuenahr und einem in Sinzig gehabt. Allesamt kochen auf hohem Niveau, wie ich recherchiert habe.«

»Sieh an, du spielst also auch mit dem Gedanken, dass jemand anderer aus der Szene geschossen haben könnte? Jemand, der Welsch kannte?«

»Ja, ich gebe es durchaus zu«, antwortete Jan. »Ich glaube inzwischen auch, dass es nicht Welsch war, der Hafner erschossen hat. Dafür war es aber jemand, der genau wusste, was passieren würde, wenn man die abgefeuerte Waffe bei ihm findet.«

»Kennst du dich eigentlich mit Auktionen aus?«, wechselte Alexandra unvermittelt das Thema. »Ich glaube, das könnte eine Spur sein.«

Dann erzählte sie Jan, was sie durch Maries Einsatz inzwischen herausgefunden hatten.

»Hafner ist immer nach Hamburg in ein großes Auktionshaus gefahren, das für seine besonderen Bücherversteigerungen bekannt ist. Hier kann man auch regelmäßig alte Kochbücher ersteigern«, berichtete Marie am nächsten Abend stolz. »Übrigens ist morgen mein letzter Tag bei Giovanni in der Küche«, fuhr sie nach einer Pause fort, »ich habe das Gefühl, dass er uns gern mal besuchen würde, um zu sehen, wie wir unsere neuen Ideen umsetzen. Meinst du, ich soll ihm zum Abschied reinen Wein einschenken?«

Alexandra schüttelte den Kopf. »Nein, besser nicht. Warte lieber damit, bis der Fall endlich gelöst ist. Sein Freund ist immerhin hier auf unserem Grundstück gestorben, und auch die Kochbuchsache sollte sich bis dahin erledigt haben.«

»Gut, ich glaube auch, dass das besser ist. Deshalb werde ich ihn vertrösten und ihm versprechen, dass wir ihn einladen, wenn wir unser neues Bistro eröffnen.«

»Dann lass uns mal überlegen, ob wir nicht bald mal nach Hamburg fahren. Komisch ...«, Alexandra schüttelte irritiert den Kopf, »eigentlich ist das doch ein ziemlicher Umstand. Warum hat der Professor eigentlich nicht versucht, die alten Rezepte online zu ersteigern?«

»Genau das habe ich Giovanni auch gefragt. Aber die Rezepte sollte man sich vor Ort besser ansehen, sonst hat man am Ende etwas ersteigert, was sein Geld nicht wert ist.«

»Das leuchtet mir ein. Ja, dann werde ich mich mal um die Termine kümmern, die den Sammlungen vorbehalten sind.«

 

Schon am Samstag in einer Woche sollte es in Hamburg eine Abendauktion zum Thema »Wertvolle Bücher« geben, in der auch eine alte Kochbuchsammlung versteigert wurde, fand Alexandra heraus, und die beiden Freundinnen beschlossen sofort, sich den Ablauf an Ort und Stelle anzusehen.

Hamburg war immer wieder ein Erlebnis, die großen, hellen Bankhäuser und Hotels mit ihren grün oxidierten Kupferdächern entlang der Alster sprachen vom Reichtum dieser Stadt und waren eine Augenweide. Passagen mit edlen Geschäften reihten sich aneinander, um den Kunden Schutz vor Nässe und Kälte zu gewähren, und konnten mit der Vielfalt ihrer Auslagen Kaufgelüste und Bedürfnisse wecken, von denen der Betrachter bisher überhaupt nichts geahnt hatte.

Vornehm gab sich auch das imposante Auktionshaus im Bauhaus-Stil, dessen Motto »Sehen und bieten« sich besonders bei den frisch ins Leben gerufenen abendlichen Saalversteigerungen zunehmender Beliebtheit erfreute.

Als sich Alexandra und Marie gleichzeitig darüber klar wurden, dass der vorsichtige, zögerliche Schritt, mit dem sie auf dem Weg zur Kochbuchversteigerung die Hallen durchschritten, hier lediglich den Unerfahrenen vorbehalten war, beeilten sie sich, diesen Eindruck zu ändern. Sie setzten darüber hinaus eine Art desinteressiertes Pokergesicht auf, sodass beide schließlich lachen mussten und das vermeintlich vornehme Publikum sie mit strafenden Blicken maß.

Die Auktion an sich verlief tatsächlich so, wie sie es aus Filmen kannten. Die Leute boten durch das Heben der Hand mit sogenannten Bieterkarten auf ihr Wunschobjekt. Für 16.200 Euro kam ein Kochbuch aus dem Jahre 1581 unter den Hammer, ein Preis, der bisher außerhalb von Alexandras Vorstellungskraft gelegen hatte, und sie spürte förmlich den Sog, der von einer solchen Versteigerung ausgehen konnte, aus der man, wenn man einmal beteiligt war, nur vollkommen unsentimental und streng gegen sich selbst und seinen Geldbeutel wieder herauskam, sonst war man verloren.

Zwei Männer fielen den beiden Frauen auf, die sich mit verbissenen Gesichtern zu überbieten versuchten, bis der Jüngere von ihnen, der in ihrem Alter sein mochte, im wahrsten Sinne des Wortes die Waffen streckte, denn genauso sah es aus, als er die Hand mit der Karte auf seinem Oberschenkel ablegte, die dort jetzt reglos verharrte.

»Ich denke, wir sollten unser Kochbuch auch einmal schätzen lassen«, legte Alexandra halblaut ihren Köder aus, als sie den Saal am Ende der Auktion unmittelbar hinter den beiden Männern verließen, »immerhin war Rosa Göttner auch damals schon eine berühmte Köchin.«

Bildete sie sich das ein oder hielt der jüngere der beiden Männer wirklich einen Moment lang in seinen Bewegungen inne, als sie besagten Namen erwähnte? Er drehte sich um und bedachte die beiden Frauen mit einem äußerst gewinnenden Lächeln.

»Verzeihen Sie, ich bekam eben zufällig mit, dass Sie den Namen Rosa Göttner erwähnten. Und Sie möchten gern wissen, ob das Kochbuch, das sich in Ihren Händen befindet, etwas wert ist?« Er machte eine Pause und schaute von einer zur anderen. »Hier ist meine Karte!« Mit einer eleganten Bewegung zog er eine Visitenkarte aus seiner rechten Brusttasche und überreichte sie Alexandra. »Ehe Sie jemand anderen fragen, wenden Sie sich lieber an mich. Ich handle mit alten Büchern und meine Kunden sind ernsthafte Sammler. Wenn Sie mögen, schaue ich mir das Exemplar gerne einmal an, damit Sie eine Preisvorstellung bekommen. Haben Sie das gute Stück dabei?« Allein der Tonfall seiner erwartungsvollen Neugier, der jenseits aller professionellen Freundlichkeit in seiner Frage lag, war ein Indiz für den Wert des imaginären Kochbuches.

»Leider nein«, hob Marie bedauernd die Schultern und lächelte ihr unschuldigstes Lächeln. »Es liegt gut verwahrt in einem Schließfach. Vielleicht ist das ja ein wenig übertrieben, aber wir wollten lieber vorsichtig sein.«

»Darf ich fragen, wie Sie in den Besitz des Buches gekommen sind?«

»Natürlich, Herr ...«, Alexandra warf einen Blick auf die Karte in ihrer Hand, »... Johannsen, wir haben es geerbt. Und da wir uns in diesem Bereich überhaupt nicht auskennen, wollten wir es erst schätzen und dann vielleicht versteigern lassen.«

»Meinst du, er hat uns die Geschichte abgenommen?«, fragte Marie wenig später auf dem Weg zum Hotel. »Für so naiv und ahnungslos, wie wir beide daherkamen, kann uns doch eigentlich niemand halten.«

»Überschätze die Männer nicht«, grinste Alexandra, »sie glauben doch ganz gerne, was sie von einer Frau präsentiert kriegen. Deshalb denke ich schon, dass dieser Johannsen uns auf den Leim gegangen ist. Und wenn auch andere etwas aufgeschnappt haben, kannst du sicher sein, dass die Kochbuchgeschichte die Runde macht. Ganz wohl ist mir allerdings nicht dabei, wenn ich es recht bedenke. Ich hoffe, wir haben keinen Fehler gemacht.«

Das ungute Gefühl blieb ihnen auch nach ihrer Rückkehr aus Hamburg erhalten. Alexandra sprach mit dem Hauptkommissar darüber, der sie in aller Form dafür rügte und sogar von einer Zeitbombe sprach, die sie gezündet haben könnten.

»Stell dir vor, die tauchen bei euch auf und wollen euch dazu zwingen, das Kochbuch rauszurücken! Ich fass' es nicht! Ein Kochbuch, das anscheinend viel wert ist, aber – und das ist ja das Verrückteste überhaupt – das ihr ja noch nicht einmal habt!«

 

In stillschweigendem Einverständnis begannen Alexandra und Marie am Wochenende mit der systematischen Suche nach Rosa Göttners Vermächtnis. Sie klopften Wände und Böden nach möglichen Hohlräumen ab, prüften die Dielenböden und ließen ihren Blick sorgfältig über die Ziegelwände gleiten, um festzustellen, ob es Unterschiede in der Verfugung gab. Vom Keller bis zum Dachboden durchforsteten sie jeden Raum in Hinblick auf ein Versteck, was sich besonders im Weinkeller schwierig gestaltete, sodass sie schließlich aufgaben.

»Wir können doch jetzt nicht jede Flasche einzeln wegräumen, um nachher alles wieder an seinen Platz zu stellen«, stöhnte Marie allein bei der Vorstellung auf. »Komm, wir setzen uns jetzt erst einmal hier auf die Treppe und verschwenden mal einen Gedanken daran, wo wir selbst etwas verstecken würden, damit es die Nachwelt irgendwann auch findet, denn das muss doch eigentlich Rosa Göttners Anliegen gewesen sein.«

Alexandra schaute sie nachdenklich an. »Stimmt, immer vorausgesetzt, dass keiner der Nachbesitzer es schon gefunden hat, nichts damit anzufangen wusste und es vielleicht einfach weggeworfen hat. Oder dass Rosa selbst es weggegeben hat. Auch diese Möglichkeit gibt es.«

»Aber es gäbe doch nicht ein solches Interesse daran, wenn nicht jemand das schon in Betracht gezogen hätte. Immerhin scheint es in der Branche trotz allem die Überzeugung zu geben, dass das Buch hier irgendwo sein muss, sonst hätte der Professor sich doch nicht hierher auf den Weg gemacht. Und er kannte sich in der Szene gewiss gut aus.«

Schweigend suchten sie weiter. Es stellte sich heraus, dass der Raum, der direkt unter der Gewölbeküche lag, bei genauer Betrachtung so eine Art Ersatzküche gewesen sein musste; dafür sprachen ein altes Becken und eine scheinbar ebenso alte Gasleitung. Hier musste auch ein Herd gestanden haben. Die eigentliche Entdeckung jedoch war ein mit morschen Brettern zugenagelter Speiseaufzug, den Marie schließlich hinter einem alten Regal entdeckte, das zu jener Menge Gerümpel gehörte, das sie beim nächsten Sperrmülltermin entsorgen wollten. Der Kellerraum gehörte mit drei anderen, die sich daran anschlossen, zu den noch nicht renovierten Räumen. Die Instandsetzung der gesamten Hofanlage hatte so viel Geld verschlungen, dass Alexandra und Marie von vornherein beschlossen hatten, die nicht benötigten Teile des Kellers erst später zu sanieren, die Sache war schließlich nicht besonders dringend.

Jetzt rückten sie mit vereinten Kräften das alte Regal vorsichtig zur Seite und Alexandra begann an den Brettern zu reißen, die die Öffnung des Speiseaufzuges hinter sich verbargen.

»Hör auf!« Marie musste lachen, als Alexandra sich immer mehr in Rage rüttelte, weil das Holz unter ihren Händen nicht nachgeben wollte.

»So alt und immer noch so widerspenstig. Autsch!« Alexandra ließ frustriert die schmerzenden Hände sinken, um nach dem Splitter zu suchen, den sie sich unter die Haut getrieben hatte.

»Gut, dass uns jetzt keiner zugesehen hat«, sagte Marie mitleidslos. »Wozu gibt es schließlich Werkzeug? Mit dem Stemmeisen ist die Sache in null Komma nichts erledigt.«

»Weiß ich selber«, äffte Alexandra Maries besserwisserischen Tonfall nach, »aber das Stemmeisen liegt im Schuppen und ich habe keine Lust hinzulaufen. Warte mal ...« Sie sah sich suchend um. Ihr Blick glitt über am Boden liegende Glasbruchstücke, die sie unbewusst registrierte, bis sie etwas entdeckte, worauf sie gehofft hatte. »Hier, wie wär's denn damit?« Sie ging auf ein Stück verrostetes Eisen zu, das in der Ecke auf dem Boden lag, hob es auf und betrachtete es. »Na also, das ist lang und flach genug, um sich unter die Nägel schieben zu lassen.«

Und tatsächlich, die Bretter gaben nach kurzem Widerstand auf und den Blick auf den geschlossenen Speiseaufzug frei.

Mit beiden Händen zog Marie an dem Griff, der die beiden Hälften miteinander verband. Ächzend tat sich zuerst ein Spalt auf, der sich langsam verbreiterte, sodass sie hineinspähen konnte. Marie nickte. »Da liegt tatsächlich was, ich glaub's ja nicht!« Mit vereinten Kräften zogen sie die Aufzugtüren auseinander – dann war es geschafft. Ein dick eingewickeltes Päckchen lag vor ihnen. Wie einen Schatz hob Marie es heraus und legte es auf einem leeren Regalbrett ab. Dann begann sie vorsichtig damit, die zahlreichen Wachspapierschichten zu entfernen, bis sie schließlich auf einen prächtig bestickten, nur wenig vom Alter vergilbten hellblauen Leinenbeutel stieß, der mit einer ebenso blauen Seidenschleife zugebunden war. Andächtig blieben die beiden Frauen davor stehen, um ihren Fund zu betrachten, dann nahm Marie das Päckchen in die Hand. Alexandra löste die Schleife und zog die Öffnung auseinander, um das Geheimnis endlich zu lüften. Bedächtig ließ sie ihre Hand in den Beutel gleiten, betastete vorsichtig den Inhalt und förderte endlich ein Fotoalbum zutage.

Eine halbe Stunde später saßen sie nebeneinander in der Gewölbeküche und betrachteten mehr oder weniger enttäuscht die vergilbten, aber noch gut erhaltenen Bilder. Auch Mia bekundete Interesse, sprang auf den Tisch und schnupperte vorsichtig an der ersten Seite, um sich schnell wieder abzuwenden und angewidert die Pfote zu schütteln.

Die beiden Frauen lachten. »Na siehst du, Mia, auch du hast schnell gemerkt, dass das nicht das Richtige ist, außerdem hast du natürlich recht. Es riecht wirklich nicht besonders gut.«

Die Bilder im Album waren in sorgfältiger Handschrift kommentiert, unter jedem Foto stand etwas. Durchweg zeigte es das Gehöft im Urzustand, den Kräutergarten, den die Köchin damals angelegt hatte, die Umgebung und natürlich auch die Köchin selbst in Aktion, wie sie am Herd stand. Den Einband allein konnte man als ein vom Jugendstil inspiriertes Kunstwerk bezeichnen, das eine Küchenszene darstellte. Rosa Göttner schien viele Talente gehabt zu haben. Langsam blätterte Marie Seite für Seite um, und Seite um Seite stieg sowohl ihre als auch Alexandras Achtung vor einer für die damalige Zeit sehr ungewöhnlichen Frau. In Sammlerkreisen war dieses Fotoalbum sicher einiges wert, aber das war unwichtig. Von den erhofften Kochrezepten fehlte jedoch jede Spur.

Anhand dessen, was Alexandra und Marie inzwischen über die Köchin wussten, und anhand der Bilder, die die Köchin bei der Arbeit zeigten, konnten die beiden Freundinnen sich allerdings gut vorstellen, dass Rosa Göttner eine wirkliche Wegbereiterin gewesen war. Hier hackte sie ungewöhnliche Mengen von frischen Kräutern, dort bereitete sie eine schaumig aussehende Süßspeise und dort stürzte ein frisch gebackenes Brot aus der Form. Dabei unterschieden sich die Ergebnisse dem Augenschein nach kaum von denen einer heutigen bodenständigen Küche.

»Tja, alte Bilder hin oder her – ein wertvolles Kochbuch ist das trotz allem nicht. Meinst du, es gibt überhaupt eins, Marie? Vielleicht ist das ja alles nur ein Gerücht, das andere für wahr halten.« Alexandra blätterte die Seiten des Albums nachdenklich bis zum Ende um. »Schau mal, Marie, hier auf dem hinteren Buchdeckel ist von innen so etwas wie ein kleiner Schuber, in dem ein paar zusammengefaltete Seiten Papier stecken.« Alexandra griff vorsichtig hinein und zog einige vergilbt aussehende Blätter heraus, die bis auf die erste Seite Zeile an Zeile in Rosa Göttners malerischer Handschrift gehalten waren. Neugierig, aber auch ein wenig verwirrt schauten die beiden Frauen auf die erste Seite, deren verschnörkelte alte Schrift einen offiziellen Charakter zu haben schien.

»Patentübertragung«, buchstabierte Alexandra und fragte sich im gleichen Moment, ob sie sich geirrt hatte. Zögernd faltete sie die fünf verbliebenen Seiten auseinander und plötzlich wusste sie, was dieses Album tatsächlich so wertvoll machte.

»Rosa hat hier ihren eigenen Kräuterschnaps gebrannt«, sagte Marie in die Stille hinein, »und sie überträgt dem Finder das Patent daran.«

»Bei den Glasscherben unten im Keller lag auch so ein gedrehtes Stück, das von einem Destillierkolben stammen könnte«, fiel Alexandra unvermittelt ein, »ich hab's gesehen, aber nicht wirklich wahrgenommen. Ja, Marie«, lachte sie, »es scheint, als wären wir nun doch auf eine Goldader gestoßen.«

Und so war es tatsächlich. Die Patentübertragung war das wirklich Wertvolle gewesen und natürlich die Rezeptur des Kräuterschnapses. Dafür allein lohnte sich die Anschaffung einer Destillieranlage, denn weder Alexandra noch Marie wollten die Zubereitung fremden Händen überlassen. Das Ganze gestaltete sich spannender als gedacht und passte als neue Dimension gut zu ihrem Weinhandel.