Leben Nr.
6:
Schöner
Urlaub
Ein Leben im Außendienst
Ich war noch nicht richtig wach. Aber wach genug, um zu ahnen, wie ich mich fühlen würde, wenn ich erst richtig wach war.
Ein diabolische Grunge Band hatte sich in meinem Schädel eingenistet und spielte Apokalypse. Mein Magen brannte. Es rumpelte in meinen Eingeweiden. Als hätte dort jemand eine gewaltige Maschinerie zum Leben erweckt, um meinen Darm von innen her auszuweiden.
Ich röchelte eine Weile benommen vor mich hin.
Ein Windhauch blies mir ins Gesicht. Kalt, feucht, unangenehm. Wo kam der verdammte Wind her?
Ich stöhnte und fröstelte. Nicht mehr lange, und ich wäre unwiderruflich wach.
Das Hämmern und Sägen ging derweil in die nächste Runde. Kaum wahrnehmbar zwischen dem lärmenden Schmerz drang ein Plätschern an mein Ohr und verstärkte den Eindruck von klammer Feuchtigkeit. Es roch sogar feucht.
Vielleicht hatte es geregnet? Hatten wir die Fenster nicht richtig zugemacht und jetzt stand die Wohnung unter Wasser? So betrunken konnte doch niemand sein?! Nein, das war etwas anderes. Etwas, was überhaupt nicht ins Haus gehörte. Verdammt. Ganz langsam öffnete ich die Augen.
Ich blinzelte. Würgte. In meinem Mund der unschöne Geschmack von schon mal Gegessenem. Aber das war jetzt Nebensache.
Ich blinzelte wieder und wieder. Weil ich nämlich direkt in die Sonne schaute. Eine nebelverhangene, kalte Sonne. Aber ohne Zweifel eine Sonne. Was war hier los? Und wo zum Teufel war das verdammte Dach?
Ganz langsam, mit unendlicher Vorsicht, tauchte mein matter Geist aus den fiebergeränderten Schattenwelten auf, in denen er die Nacht verbracht hatte, und torkelte an die Oberfläche des Wachbewußtseins.
Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Mit Schrecken registrierte ich aus den Augenwinkeln, dass jemand direkt neben mir saß. Und es sah nicht so aus, als wäre es meine Frau. Die hätte ich selbst in diesem Zustand wiedererkannt. So lange waren wir nun auch wieder nicht verheiratet. Ich wollte aufstehen.
Es ging nicht.
Ich versuchte mich zu strecken und fragte mich, ob ich nicht doch bloß in einem besonders hartnäckigen Albtraum steckte. Ich war nämlich angekettet. Nicht an die unerbittliche Schwere des Seins, sondern an eine dunkle Kette, deren breite Metallbänder sich um meine Handgelenkte schmiegten.
„So Jungs, alles aufwachen!“ Die Stimme donnerte durch die Morgenluft wie ein Jagdgeschwader aus einem dieser alten Kriegsfilme. Bild in schwarz-weiß, aber Soundeffekte in THX-Dolby-Suround-Qualität.
„Frühstück in 10 Minuten, und dann gehts los!“
Um mich herum erwachten andere Gestalten zum Leben. Ein Dutzend, vielleicht auch mehr. Einige stöhnten, stierten lustlos vor sich hin, andere waren augenscheinlich guter Dinge, soweit man guter Dinge sein konnte nach einer Nacht im Freien und in Ketten.
Bevor Zeit für einen zusammenhängenden
Gedanken war, tauchte in meinem Blickfeld eine Ente auf. Sie trug
einen schwarzen BH, Strapse und hatte eine obszöne Tätowierung auf
der Schwanzfeder. Abgesehen davon kam sie mir vage bekannt
vor.
Aus meiner Donald Duck Heftesammlung, eine Reminiszenz an meine
belesene Kindheit. Ich hatte mich schon immer für Literatur
interessiert. Was machte Daisy in diesem Outfit auf einem T-Shirt
mit der Aufschrift ‘Duck Hunter’, das sicherlich nicht zur
offiziellen Walt Disney Kollektion gehörte?
In dem T-Shirt steckte ein braungebrannter, muskelbepackter Oberkörper, seinerseits mit einer Reihe Tätowierungen verziert, die allesamt nichts Gutes verhießen.
Bevor ich fragend den Mund aufmachen konnte, hielt Daisy mir eine kleine Holzschale hin, die einen undefinierbaren Brei enthielt.
„Mahlzeit“, dröhnte Daisy und bewies damit wider Erwarten einen subtilen Sinn für Humor.
Ohne die Schale an mich zu nehmen, schaute ich den Hünen vor mir ungläubig an.
„Was zum ...?!“
Flop. Mit einem Achselzucken landete die Schale in meinem Schoß und der Brei auf meiner Hose. Er war ziemlich heiß. Daisy war offenbar nicht in Stimmung für Diskussionen.
„Sie sollten das lieber essen“, sagte eine Stimme neben mir.
Ich drehte mich mühsam um zu der Gestalt, die neben mir saß und die nicht meine Frau war. Es war überhaupt keine Frau. Neben mir saß ein Mann von vielleicht fünfzig Jahren und kurzem, stahlgrauen Haar. In Ketten.
„Wo sind wir hier?“
Der Mann machte eine ausladende Geste mit dem Kinn, während er seinen Brei schlürfte als handle es sich um einen kulinarischen Geheimtip aus der Sneak Preview des neuen Guide Michelin.
„Schauen Sie sich doch mal um...“
Um uns herum war Wasser. Richtig viel Wasser. So weit das Auge reichte. Nein, das war sicher nicht mein Schlafzimmer.
Das gibt’s doch nicht, dachte ich. Ich bin auf einem Boot.
Ein Boot...
Von ganz weit her versuchte sich ein zerlumpter Fetzen der Erinnerung zu Wort zu melden. Ein Boot...
„Wenn Sie den Brei nicht mögen, nehme ich ihn“.
„Was?“
„Es gibt nur zwei Mahlzeiten am Tag. Wasser gibt es aber jede Stunde“, erklärte der Mann. Dass er an die Holzbank gekettet war, auf der wir beiden saßen, schien ihm nichts auszumachen.
Der Mann nahm eine Handvoll Brei, kaute genüßlich und schaute dann prüfend in meine blutunterlaufene Augen.
„Sie hat’s aber ganz schön erwischt, was?“
„Hm. Und wer sind Sie?“
„Oh, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Vogelbauer. Dr. Arno Vogelbauer.“ Er rasselte mit der Kette und zuckte mit den Schultern, wie um sich zu entschuldigen, dass er mir unter diesen Umständen nicht gut die Hand reichen konnte. Dieser kleine Verstoß gegen die Etikette schien aber das einzige zu sein, was ihn in Bezug auf die Ketten beunruhigte.
Ich mußte lachen. Ein heiseres, unkontrolliertes Lachen, am Rande des Wahns. Da saß ich angekettet, desorientiert und hilflos und dieser Fremde stellte sich vor, als träfen wir uns auf der Cocktailparty eines gemeinsamen Bekannten.
Mein Lachen erstickte in einem unappetitlichen Würgen, mit dem ich gegen einen aufkommenden Brechreiz ankämpften mußte. In meinem Magen waren anscheinend immer noch diese diabolischen Maschinen zu Gange.
Durch meinen Kopf trieben Fetzen der Erinnerung und versuchten, sich zu größeren Stücken zusammenzusetzen. Da war ein Wort, das mir weiterhelfen konnte. Cocktail...? Cocktail...! Das war es. Cocktail! Cocktails in ungesunden Mengen. Vielleicht auch ein oder zwei Schnäpse, auf jeden Fall eine Menge Alkohol. Ich hatte einen Kater. Gar keine Frage, einen ganz gewaltigen Kater.
Aber warum? Und wie kam ich hierher?
Nun, das konnte ich klären, sobald ich die verdammten Ketten losgeworden war.
In diesem Moment riß die Nebeldecke auf, und das Sonnenlicht verzauberte die Welt um uns herum in glitzernde Spiegel, fischsilbern wie die Facetten eines gläsernen Bürokomplexes. Der kühle Wind war wie weggeblasen und in der Luft vermischten sich die Sonnenstrahlen mit dem Gesang der Seevögel. Ein würziger Duft zog in die Nase, ein bißchen wie frisch geschlagenes, noch feuchtes Holz.
So weit können wir nicht vom Ufer entfernt sein, dachte ich, und wie zur Bestätigung wurde ich am Horizont einer gewaltigen Hügelkette gewahr. Aus dieser Perspektive eine traumhafte Kulisse, für die jeder Reisekatalog-Fotograf seine rechte Hand gegeben hätte. Einfach perfekt.
Dann hörte ich die Trommel und sah die Ruder.
„Und zieht...“, befahl eine tiefe Stimme zum Klang der Trommel. Daisy, kein Zweifel.
Vogelbauer hatte den Riemen vor uns gepackt und zog mit aller Kraft durch.
„Was zum Teufel soll das werden?“, wollte ich wissen und ignorierte den Riemen geflissentlich.
Bevor Vogelbauer ein Wort sagen konnte, traf mich ein Knüppel an der Schulter. Ich zuckte zusammen, mehr aus Überraschung, als aus Schmerz. Es war nicht gerade ein bösartiger Schlag gewesen, eher ein Schupser. Aber mit einem Knüppel! In meinem Zustand bewirkte selbst ein schnelles Zucken, das mir sofort wieder der Schädel brummte.
„Entschuldigen Sie, ...ähm... “. Der Mann, der zu dem Knüppel gehörte, tauchte in meinem Blickfeld auf, räusperte sich und faßte sich dann ein Herz. „Du fauler Sack, wirst Du wohl anpacken?“
Ich atmete ein paar Mal tief durch, bis ich sicher war, wach und am Leben zu sein und starrte meinen merkwürdigen Peiniger ungläubig an.
„Und zieeeht...“ Daisys Stimme tönte wie das Totengeläut einer sizilianischen Bergkapelle, ein Bild, das gut mit der Hügelkette am Horizont harmonierte.
Der Mann mit dem Knüppel trat von einem Bein aufs andere und räusperte sich erneut. Seine Augen zwinkerten nervös, was so gar nicht zu seinem groben Auftreten paßte. Aber er hatte einen Knüppel in der Hand. Und wer wußte es, vielleicht würde er ihn auch zum Einsatz bringen?!
Ich wartete nicht weiter, sondern packte den Riemen und begann zu rudern.
Ich ruderte die nächsten zwei Stunden.
Mit jedem Schlag schwitzte ich eine Portion Alkohol aus den Poren und nach und nach zogen sich Schaufelbagger und Preßlufthammer samt Grunge Band dahin zurück, wo auch immer sie hergekommen sein mochten und machten in meinem Schädel Platz für halbwegs zusammenhängende Gedanken.
Ich wußte wieder, wer ich war. Gar nicht so einfach bei den vielen Leben, die ich schon gelebt hatte. Ich rede jetzt nicht von Wiedergeburt auf dem steinigen Weg ins Nirwana, ich rede jetzt mehr im übertragenen Sinne. Aber ich hatte beruflich und privat schon so viele Stationen hinter mir, dass es gut und gerne für mehrere Lebensläufe gereicht hätte.
Was hatte ich nicht schon für Jobs ausprobiert in meinem Leben. Bis auf Schriftsteller eigentlich alles. Was witzig war, weil ich mir immer fest vorgenommen hatte, eines Tages als erfolgreicher Autor meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Außerdem stimmte es nicht. Es gab auch andere Jobs, mit denen ich trotz meiner beruflichen Flexibilität bislang noch nicht in Kontakt gekommen war. Ich konnte mich zum Beispiel nicht erinnern, dass Schiffe schon jemals eine Rolle in meinem Berufsleben gespielt hätten.
Jetzt saß ich auf einem fest und ruderte, was das Zeug hielt.
Normalerweise, also wenn ich nicht gerade als in Ketten gelegt war, arbeitete ich im Außendienst einer großen Versicherung. Für meine Verhältnisse war ich schon eine kleine Ewigkeit bei der Firma beschäftigt. Eingestiegen war ich im Innendienst. Betriebliche Altersvorsorge. Das klingt nach einem wenig spektakulären Job, und genau deswegen hatte ich ihn damals genommen. Ich wollte Ruhe und Sicherheit. Seßhaft werden.
Jetzt saß ich hier angekettet auf so einer Art römischen Galeere.
Das Boot war aus Holz, vielleicht zwanzig Meter lang. Bug und Heck waren steil nach oben gezogen und der Steven ringelte sich achtern zu einer kleinen Schlange. Das Ganze sah ein bißchen so aus, wie bei Wicki und den starken Männern, eine weitere Reminiszenz an meine kulturelle Vielseitigkeit schon seit frühester Jugend. Allerdings fehlte vorne der Drachenkopf, und ich dachte, der wäre für Wikingerschiffe obligatorisch. Deswegen tippte ich auf römisch. Aber wer konnte das schon so genau sagen.
Auf jeden Fall gab es auf jeder Seite ein gutes Dutzend Ruder. Sie wurden von zwei nebeneinandersitzenden Männern bedient. Alle in Ketten.
Das Boot hatte in der Mitte eine kleine Kajüte, wahrscheinlich für den Chef, und einen Mast, an dem bei gutem Wind ein Rahsegel gesetzt werden konnte. Im Heck gab es ein kleines Steuerhäuschen und zwei Steuerleute bedienten ein altertümliches Seitenruder. Neben ihnen schlug der Duck Hunter die Trommel, als hinge davon unser aller Leben ab. Ich hoffte inständig, dass dem nicht so war.
Weitere Einzelheiten meines aktuellen Lebens poppten mir ins Gedächtnis zurück. Ich war frisch gebackener Sales Champion. Der glückliche Sieger im Kampf um Abschlüsse und Umsätze im hart umkämpften Versicherungsmarkt. Ein aufreibender Job, aber wo ging es schon ruhig und gemütlich zu? Selbst im Innendienst, wo ich mich eine Weile in Ruhe auf die nächste Herausforderung hatte vorbereiten wollen, hatte man für sein Geld arbeiten müssen. Und nicht zu knapp. Das schnelle Geld mit wenig Einsatz – am Ende war das nur ein Mythos. Ich hatte einiges probiert, um diesem Ideal möglichst nahe zu kommen, aber wenn ich ehrlich war, mit mäßigem Erfolg. Ich hatte mich im Zweifel bislang noch immer für’s Geld entschieden, oder für das, was es letztlich symbolisierte. In meinem Falle Unabhängigkeit. Ich war kein Machtmensch und meine Grundbedürfnisse waren schon lange befriedigt. Die materiellen zumindest. Aber zu wissen, dass ich einen Job im Zweifel auch hinschmeißen konnte, weil ich nicht auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen war, das war mir viel wert.
Interessanterweise führt das dazu, dass ich in genau diesen Job dann sogar noch mehr Zeit steckte, als ich vielleicht nötig gewesen wäre. Freiheiten zu haben, und sie nicht zu nutzen, war auch eine Form von Freiheit.
Möglicherweise war es seit der Vertreibung aus dem Paradies aber auch bloß einfach ein für alle Mal mit der Muße vorbei, und seitdem mußten wir unseren Lebensunterhalt mühsam im Schweiße unseres Angesichts verdienen. Egal wie.
Ich schmunzelte. In jedem guten Schriftsteller steckt immer auch ein Philosoph. Sagte Nietzsche. Oder war es…
„Autsch!“
Mein Nachbar riß mich mit einem heftigen Ruck an der Kette aus den Gedanken. Ich mußte beim Philosophieren aus dem Rhythmus gekommen sein, und alleine konnte Vogelbauer das lange Ruder nicht im Takt halten.
„Sie müssen aufpassen. Das wird hier nicht gern…“ Aber da war es schon passiert, und der verwirrte Gnom mit dem Holzknüppel tauchte wieder vor mir auf. Offensichtlich war es sein Job, hier für Disziplin zu sorgen.
Erregt fuchtelte er mir mit dem Knüppel vor dem Gesicht herum. Philosophieren hatte seine Risiken und Nebenwirkungen. Das hatte schon Sokrates erfahren müssen, als er den Schierlingsbecher gereicht bekam. Und ich lernte es auch gerade.
„So geht das nicht!“, schrie die Figur vor mir. „Sie…, ähm… Du…, Du…“. Auf der Suche nach einem passenden Schimpfwort für mich, ließ er den Knüppel unkontrolliert hin und her kreisen. Ich hatte Angst, dass er mir aus Versehen ein Auge ausstach.
Aber bevor sich der Gnom entscheiden konnte, was nun die angemessene Strafe für meine Taktlosigkeit sei, hatte Vogelbauer die Wogen bereits wieder geglättet.
„Alles in Ordnung“, versicherte er dem Männchen in beruhigendem Tonfall. „Alles wieder im Griff.“
„Wirklich?“, wollte der Gnom wissen.
„Wirklich“, bestätigte Vogelbauer.
Erleichtert zog der Gnom mit seinem Knüppel von dannen. Er machte einen echt verwirrten Eindruck, und die Frage war, warum man ihn hier frei herumlaufen ließ. Dazu noch mit einem Knüppel.
Ich hätte Vogelbauer gerne gefragt, war hier eigentlich los war. Aber er bedeutete mir, dass man auch Unterhaltungen nicht gerne sah und raunte mir zu, die nächste Pause abzuwarten.
In diesem Moment sah Daisy zu uns hinüber, aufmerksam geworden durch den Auftritt des Gartenzwergs und unser Getuschel. Der eine Blick genügte, um mich zu überzeugen, dass jetzt offensichtlich nicht der Zeitpunkt für eine längere Unterhaltung war. Auch Daisy mochte seine mentalen Probleme haben, und ich hatte kein Interesse herauszufinden, wie sich das gegebenenfalls äußerte, sollte man sein Mißfallen erregen.
Immerhin war mein Kopf jetzt wieder völlig klar. Also, um es kurz zu machen: Obwohl der Innendienst durchaus auch seine guten Seiten hatte, war ich nach einiger Zeit in den Vertrieb gewechselt. Irgendwie hatte es mich wieder auf die Piste gezogen. Mein vorheriges Leben als Berater war eine gute Grundlage, um erfolgreich Vertrieb zu machen, und von Marketing hatte ich auch ein bißchen Ahnung. Vielleicht lag mir das Leben als Geschäftsreisender einfach im Blut. Vielleicht spielte auch der größere Geschäftswagen eine Rolle und Tantiemen, von denen man im Innendienst nur träumen konnte. Ich war seit kurzem ein verheirateter Mann, da konnte ein kleiner Bonus am Jahresende nicht schaden.
Dieses Jahr hatte ich die höchste Abschlußquote aller Außendienstler im gesamten Unternehmensbereich geschafft. Mit einem breiten Grinsen hatte mir unser Vorstand vor versammelter Mannschaft zu meinem hervorragenden Ergebnis gratuliert. Sogar aus den USA waren Kollegen gekommen zu der Veranstaltung, bei der wie jedes Jahr die besten Vertriebsleistungen ausgezeichnet wurden.
Nach seiner Laudatio hatte mir unser Vorstand einen Gutschein in die Hand gedrückt, um sie dann für den hauseigenen Fotografen so enthusiastisch und ausdauernd zu schütteln, dass ich den Phantomschmerz noch heute in den Fingern spüren konnte.
Wir standen auf der riesigen Terrasse des 5-Sterne-Hotels, das man für die Veranstaltung auserkoren hatte. Es lag direkt am Meer, das Wasser zum Greifen nah. Ein laues Lüftchen umwehte die fantasievollen Canapès, die uns in Battalionsstärke erwarteten. Dann kamen die Cocktails. Jeder gratulierte mir und wollte mit mir anstoßen. Es kamen mehr Cocktails, ebenfalls in Battalionsstärke. Ich stieß an mit jedem, der wollte, und trank mein Glas immer brav aus. Dann war irgend etwas schiefgelaufen.
Jetzt saß ich hier und achtete darauf, beim Nachdenken nicht wieder aus dem Takt zu kommen. Der monotone Klang der Trommel war mir beinahe schon in Fleisch und Blut übergegangen.
Ich erschrak daher richtiggehend, als die Trommelschläge plötzlich verstummten. Die Ruhe hatte fast etwas Unwirkliches.
Pause.
Wir tranken Wasser, das in Plastikbechern gereicht wurde. Die stammten sicherlich nicht aus der Römerzeit, aber niemand von uns störte sich an diesem Stilbruch. Wir hatten alle einen mächtigen Durst. Bei mir kam noch der Nachdurst hinzu.
Die Sonne stand im Zenit, ein Tag wie aus dem Bilderbuch. Allerdings die Sorte Buch mit großflächigen Panoramadarstellungen, bei denen man Einzelheiten, zum Beispiel angekettete Galeerensträflinge, nicht so gut erkennen konnte, um den künstlerischen Gesamteindruck nicht zu stören.
„Sie machen das hier zum ersten Mal mit?“
Ich sah meinen Nachbarn mißtrauisch an. Hatte ich da eben richtig gehört?
„Ich bin schon das dritte Mal dabei“, ließ Vogelbauer mich wissen. „Letztes Jahr war ich drei Wochen bei dem Alaska-Programm. Blockhütte ohne Heizung. Wenn Sie Feuer wollten, mußten Sie Holz hacken. Haben Sie schon mal bei minus zwanzig Grad Holz gehackt?“
„Nein“, gestand ich. Meine Frau war nicht so der rustikale Typ, also gab es bei uns keinen Kamin, um den ich mich hätte kümmern müssen. Warum also Holz hacken?
„Na ja, diesmal sind es ja nur fünf Tage“, meinte Vogelbauer. „Aber ich finde die Atmosphäre hat etwas ganz Besonderes auf diesen Galleeren.“
„Fünf Tage !??“
„Haben Sie das Programm nicht gelesen?“
„Das Programm...?“, echote ich.
„Zwei Mahlzeiten, Schlafen im Freien und in Ketten. Bei Fehlverhalten können Strafen verhängt werden. Alles natürlich unter ärztlicher Kontrolle. Ein Abbruch des Programms ist aber nur möglich, wenn der Arzt zustimmt.“
„Sagen Sie das nochmal“, röchelte ich.
„Zwei Mahlzeiten, Schlafen im Freien...“
„Schon gut.“ Meine Gedanken versuchten sich selbst zu überholen. Mir kam ein furchtbarer Verdacht.
„Sie machen das Ganze freiwillig?“, krächzte ich.
Vogelbauer sah mich nur verständnislos an. „Natürlich.“
Hier schien es von geistig Verwirrten ja nur so zu wimmeln.
„Ich will raus hier. Sofort!“
Vogelbauer schüttelte mitfühlend den Kopf.
„Das ist wohl Ihr erstes Persönlichkeitstraining überhaupt, was? Wenn Sie schon am ersten Tag abbrechen, bringt es Ihnen doch gar nichts. Abgesehen davon, daß es sowieso nicht geht.
„Persönlichkeitstraining?“
„Geld kriegen Sie auch keins zurück.“
„Geld??“
„Na die zwölftausend Euro. Nicht gerade billig, würde ich sagen. Die Versicherungsprämien treiben es angeblich in die Höhe - dafür bekommt man aber auch was geboten!“
Vogelbauer nahm seinen letzten Schluck Wasser und betrachtete mit einem Stirnrunzeln den Plastikbecher.
„Unfaßbar“, stöhnte ich.
„Na ja, nobody is perfect“, meinte Vogelbauer und zerknüllte den Becher.
Das war alles ein bißchen viel. Ich hatte keine Lust mehr. So ging das nicht. Ich brauchte kein Persönlichkeitstraining. Also begann ich zu fluchen.
Auch Fluchen wurde an Bord nicht gern gesehen. Im Nu hatte ich die Aufmerksamkeit von Holzknüppel erregt.
Ich nahm den Mann erstmalig näher in Augenschein. Schütteres Haar, die blasse Haut eines echten Bürogewächses und dicke Brillengläser. Mindestens sechs Dioptrien, vielleicht mehr. Nicht unbedingt ein Schlägertyp. Er schwitzte und man konnte es selbst hier draußen riechen.
In wenigen Sekunden hatte ich mir eine Strategie zurechtgelegt. Ich würde bluffen.
„Hören Sie mal!“, zischte ich. „Ich weiß nicht, welcher Idiot für diesen Fehler verantwortlich ist, aber das wird Konsequenzen haben...“
Treffer. Hinter der monströsen Brille begann eines der Augenlider nervös zu zucken.
Gut, dachte ich und setzte nach.
„Ich habe keinen Abenteuerurlaub gebucht und auch kein Überlebenstraining. Ich hasse diesen Blödsinn. Sie werden mich auf der Stelle losmachen und dann will ich mit dem Verantwortlichen hier reden.“
Jetzt flatterten beide Augenlider. Der Mann rang um Fassung.
„Wir haben uns doch verstanden?“, wollte ich wissen.
„Ja..., also nein, ...ich weiß nicht...“. Eine nervöse Zunge irrte zwischen seinen Mundwinkeln herum, der Knüppel schlaff in seiner Linken. Der Mann blickte hilfesuchend über Deck. Aber Daisy und die anderen Aufseher hatten sich zurückgezogen zum Steuerhäuschen im Heck, um der Mittagshitze zu entgehen. Er war allein mit einem aufsässigen Gefangenen.
„Für diesen Irrtum wird jemand bezahlen müssen“, bemerkte ich beiläufig.
„Wirklich?“, fragte der Mann unglücklich.
Ich nickte. „Teuer bezahlen.“
„So ein Mist!“ Auf den Zügen des Mannes gaben sich weitere Streßsymptome ein Stelldichein. Es zwickte und zuckte, dass man vom bloßen Zusehen wässrige Augen bekommen konnte.
„Mist, Mist, Mist! Warum ich? Da muß ausgerechnet ich wieder in so was geraten. Ich hasse das!“ Der Mann war dabei, ein bißchen die Nerven zu verlieren. Er ließ seinen Knüppel geistesabwesend durch die Luft sausen, so dass ich mich blitzartig wegducken mußte. Aber der Mann hatte es gar nicht bemerkt. Als ich mich nach einem weiteren Lufthieb energisch räusperte, ließ er den Knüppel schuldbewußt fallen. Als hätte er sich die Finger daran verbrannt. „Warum immer ich?“
„Na, na“, ließ sich Vogelbauer vernehmen. „So schlimm ist es doch auch wieder nicht.“
„Sie haben gut reden“, ließ er uns Angekettete wissen. „Sie wissen ja nicht, wie das ist...“
Doch, wußte ich! Wer war denn hier angekettet?! Das war ja nicht zum Aushalten. „Also was ist jetzt?“, knurrte ich böse.
„Lassen Sie den Mann doch mal ausreden“, intervenierte Vogelbauer. „Sie sehen doch, daß er sich in seiner Rolle nicht wohlfühlt.“
„Hm.“ Ich fand, dass Vogelbauer zweifelhafte Prioritäten setzte, wollte ihn aber nicht auch noch gegen mich aufbringen.
Unser Wärter nutze die Gelegenheit. „Ich habe gleich gewußt, daß dieser Urlaub nichts für mich ist“, flüsterte er, dankbar, sein Herz ausschütten zu können.
„Wir sind Anfang des Jahr privatisiert worden. Wissen Sie, was das heißt?“
„Was?“
„Neue Strukturen, neue Prozesse. Alles neu. Unser altes Versorgungsamt gibt’s nicht mehr. Ich war nämlich im Versorgungsamt. Verwaltungsinspektor. Den gibt’s aber auch nicht mehr. Sie nennen mich jetzt Supply Manager.“
„Glückwunsch“, sagte Vogelbauer.
„Von wegen! Gut, den Beamtenstatus können sie einem nicht mehr nehmen. Aber trotzdem. Nichts ist mehr so, wie es sein sollte. Mein Chef heißt jetzt Supervising Executive President. Oder so ähnlich.“
„Und der hat Sie hierher geschickt?“
„Ja.“
„Ja???“, echoten wir beide ungläubig.
„Es ist wegen meiner Beförderung. Nicht alle in meiner Besoldungsstufe sind ja Supply Manager geworden. Da stünde mir jetzt ein Persönlichkeitstraining zu, hat er gesagt. Zumindest würde ich auf der Liste stehen. Frischer Wind, hat er gesagt. Und natürlich die Vorbereitung auf die neue Aufgabe. Verantwortung übernehmen. Blitzschnelle Entscheidungen treffen. Diese Dinge eben.“
„Aber ich weiß nicht“, er zuckte traurig mit den Schultern. „Blitzschnelle Entscheidungen, wofür soll das gut sein?! Ein Beschaffungsvorgang dauert bei uns fast zwei Monate. Wenn’s schnell geht! Mir wächst das alles einfach über den Kopf.“
Ich sah hinaus auf die Wellen. Der Mann hatte Probleme, keine Frage. Ich beobachtete einen Wassertropfen, der langsam das Ruderblatt hinab lief, bis er an der Kante angekommen war. Dort harrte er einen Augenblick aus, wurde größer und schwerer und ließ sich schließlich majestätisch ins Meer zurückgleiten, aus dem er gekommen war und zu dem er gehörte.
Ich musterte auf den Ex-Verwaltungsinspektor. Ich musterte meine Handketten. Ein weiterer Tropfen vereinigte sich mit seinen Salzwasser-Kollegen. Diese Tropfen kannten keine Hierarchie. Und trotzdem wußten sie genau, wohin sie gehörten.
„Kann es sein, daß ich dieses Training noch nicht richtig verstanden habe? Warum sind wir angekettet und er nicht?“ Ich verstand das nicht.
Vogelbauer zuckte mit den Schultern. „Er macht halt ein anderes Programm mit. Es ist nicht ungewöhnlich, mehrere Kurse gleichzeitig anzubieten.“
„Mehrere Kurse gleichzeitig?“
„Ja, spart den Veranstaltern eine Menge Geld. Wir härten hier auf den Ruderbänken unsere Persönlichkeit ab. Er hingegen macht einen Executive-Urlaub. Kann mal so richtig auf den Putz hauen. Seine Führungspersönlichkeit schärfen.“
„Mit einem Holzknüppel?“
„Um die Urinstinkte freizusetzen. Wiederbelebung des archaisches Rollenverständnisses. Gut für Hierachiebildung und außerdem sehr beliebt als kleines Incentive für Führungskräfte, die ihre Talente mal so richtig ausleben wollen. Geht ja im Büro nicht immer so, wie man vielleicht möchte.“
„Aha“.
Etwas machte ‚Klick‘. Incentive. Da war es wieder. Das Sieger-Incentive. Plötzlich konnte ich mich über die Cocktails hinweg an die fehlenden Teile des gestrigen Abends erinnern. Ich wußte jetzt, was schiefgelaufen war. Es war der Executive-Kurs, den mein Chef mit seinem Gutschein für mich im Sinn gehabt hatte, nicht der Survival-Kurs. Wo ich doch meine Toughness das ganze Jahr über so eindrucksvoll unter Beweis gestellt hatte bei unserer Kundschaft. Da wollte er mir eine kleine Freude machen.
Nur hatte ich ein paar Cocktails zuviel erwischt. Und für die Leute an Bord sah ich dann wohl eher nach Abhärtungstraining aus, wie ich so halb bewußtlos hier ankam. Ich wußte jetzt auch wieder, wie froh der Fahrer vom Chef gewesen war, dass ich ihm nicht ins Auto...! Der hatte mich so schnell wie möglich loswerden wollen und sich nicht mit langen Erklärungen aufgehalten, was es mit mir auf sich hatte. Er hatte mich am Hafen abgesetzt und damit war der Fall für ihn erledigt.
Ich schaute den frisch gebackenen Supply Manager mit meinem besten Verkäuferblick an. Schließlich war ich ein Sales Champion. Er stand immer noch unschlüssig vor mir und fühlte sich unwohl in seiner Haut. Hängende Schultern, nervöser Blick. Ein bißchen Abhärtung würde dem Mann nicht schaden.
„Haben Sie eigentlich einen Schlüssel für diese Ketten?“, wollte ich wissen.
„Hm“, nickte der Inspektor kraftlos.
„Ich habe da eine Idee...“, sagte ich. Ich blickte dem Mann tief in die Augen. Es war eine Entscheidung zu treffen. Ich wußte es. Er wußte es. Und dann war es vorbei. Der Inspektor nickte ergeben. Wir waren uns handelseinig.
Ein Trommelwirbel zerfetzte die mittägliche Stille.
„So Jungs, weiter geht’s. Alle Mann wieder an die Riemen!“. Ich wunderte mich, was Daisy wohl im richtigen Leben für einen Job hatte. Stadionsprecher vielleicht. Wahrscheinlich sprang er ein, wenn die Lautsprechanlage ausfiel. Oder das hier war das richtige Leben und er arbeitete tatsächlich für den Veranstalter dieser Managementkurse. Irgend jemand mußte ja die Verantwortung an Bord haben. Das nahm ich jedenfalls an.
Ich würde diesen Veranstaltern jetzt mal gehörig die Meinung sagen. Ich griff mir Schlüssel und Knüppel. Er lag überraschend gut in der Hand. Ich stieß dem Inspektor aufmunternd in die Seite, bevor ich seine Fesseln zuschnappen ließ und nickte Vogelbauer zum Abschied kurz zu.
Die beiden griffen sich das Ruder und legten sich ins Zeug. Der Inspektor hatte ohne zu zögern meinen Platz übernommen und fühlte sich in seiner neuen Rolle sichtlich wohler. Er hatte noch nie gerne Leute angeschrien. Ich hatte ihm einen Gefallen getan. Er mir auch.
Auf dem Weg zum Heck fiel mein Blick auf zwei Ruderer, die nicht mit dem Herzen bei der Sache waren. Auch hier schien sich unser Ex-Inspektor nicht den nötigen Respekt verschafft zu haben. Die beiden taten zwar so, als zögen sie die Riemen durchs Wasser, aber in Wirklichkeit fuhren sie nur ein bißchen durch die Luft. Auf diese besonders lässige Art und Weise, die allen anderen Ruderkollegen klar machte, dass sie das ganz bewußt taten, weil sie einfach ganz besonders cool waren. Warum sollten sie so blöde sein, und sich hier ein Bein ausreißen?
Ich erkannte die Beiden sofort. Nicht persönlich, nein. Aber ich kannte den Typ. Er war in jedem größeren Meeting zu finden. Überall. Der Typ, der immer eine gescheite Frage stellte, wenn ein hohes Tier mit im Raum war, aber nie etwas Produktives absonderte, wenn er unter Seinesgleichen war. Der Typ, der immer kurz aufs Klo mußte, wenn die Arbeitspakete verteilt wurden. Der Typ, der die Ruder nie voll durchzog, außer sein Chef stand daneben.
Im ersten Moment dachte ich mir nichts weiter dabei. Ich hatte meine eigenen Probleme und die Nase voll. Von Cocktails. Von diesem Boot. Von Persönlichkeitstrainings. Was gingen mich diese Leute, die sich nicht an die Spielregeln hielten? Vielleicht wollten die auch einfach nur weg hier?
Noch vier Tage? Ha! Bei diesem herrlichen Wetter? Mit bester medizinischer Betreuung? Das war doch absurd. Oder?
Über mir begannen die Seevögel wieder ihren eigentümlichen Gesang. Das Meer glitzerte genüßlich, alle Tropfen mit sich selbst und mit allen anderen im Einklang. Auch eine Art von Freiheit. Ein ewiger Kreislauf.
Ich schaute zum Heck hinüber. Daisy machte seinen Job und nahm keinerlei Notiz von mir. Einer der Steuerleute sah mich und winkte kurz. Ich hatte einen Knüppel, also war ich einer von Ihnen. Dass ich nicht wirklich wie ein Gnom aussah, alleine schon, weil ich einen halben Meter größer war, von den sechs Dioptrien und den saftigen Körperausdünstungen ganz zu schweigen, fiel offenbar überhaupt nicht weiter auf.
Ich schaute zu meiner Reihe zurück. Vogelbauer winkte mir, vergnügt wie immer, auf seinen Lippen ein wissendes Lächeln.
Das konnte ich doch nicht machen?
Nein, oder?
Eine Weile stand ich einfach so da. Einer der Jungspunde neben mir versuchte gerade, mit dem Ruderblatt eine Möwe zu erschlagen, die neben unserem Boot friedlich auf dem Wasser schwamm.
Ich nahm meinen Knüppel und stieß dem Quertreiber von hinten ins Kreuz. Sanft, aber nicht zu sanft.
Vier Tage? Warum eigentlich nicht!
„Hey ihr beiden, Schluß mit dem Unsinn! Ich werde ab jetzt ein Auge auf Euch haben...“