Leben Nr.
4:
Überraschung
Ein Leben im
Marketing
Die Sonne drang durch einen Spalt im Vorhang und kitzelte mich rücksichtslos in der Nase.
Heute war ein besonderer Tag. Aber der Sonne war das egal. In Hotelzimmern gab es immer einen Spalt im Vorhang, durch den sich die Sonne in aller Herrgottsfrühe frech ins Zimmer stehlen und dort ungeniert umtun konnte.
In dem hellen Lichtstrahl tanzten tausende Staubkörnchen ein scheinbar schwereloses Tänzchen. Mit einem kehligen Schnurren schob sich Amira näher an mich heran, während ich darüber sinnierte, warum Hotels eigentlich so versessen auf Vorhänge waren. Habe eigentlich noch nie ein Hotel mit normalen Jalousien gesehen.
Amira hatte ihren Kopf an meine Schulter gebettet und hielt mich mit einem Bein umschlungen. Sie roch nach Mandel und Schlaf. Wie ein Lebkuchen. Ihr Knie ruhte angewinkelt auf meinem Bauch und ihr Fuß streichelte sanft meinen Oberschenkel. Ich mochte das. Ich kam viel zu selten in diesen Genuß, auch wenn mein Gesicht dabei unter ihrem langen, dunklen Haar vergraben wurde, so dass ich kaum noch Luft bekam. Allerdings – bei den gewaltigen Staubfängern auf der Vorhangstange machten ein paar Haare in der Nase auch nichts mehr aus. Ich fragte mich, was Stauballergiker wohl von diesen Vorhängen hielten? Wahrscheinlich suchten sie sich einen Job, bei dem man nicht ständig im Hotel lebte. Hatte eine Reihe von Vorteilen.
Ich blies ein paar von den dunklen Haaren aus meinem Gesicht, um ungestört den Lebkuchenduft genießen zu können. Die Frage war, ob ich nochmal ein bißchen eindösen sollte. Ich fragte mich das schon seit Sonnenaufgang um sechs Uhr dreißig. Jetzt war es kurz vor acht.
Amira gab erste Lebenszeichen von sich.
„Mußt Du nicht langsam aufstehen?“, flüsterte sie. Dabei machte sie keinerlei Anstalten, mich freizugeben. Im Gegenteil. Langsam begann ihr Knie auf meiner Bauchdecke zu kreisen und arbeitete sich dann systematisch weiter nach unten vor. Als es die Stelle erreicht hatte, die ganz oben auf der Liste meiner Lieblingskörperteile stand, war ich plötzlich ziemlich munter. Aufstehen war das Letzte, wonach mir jetzt der Sinn stand. Ich hatte schließlich Geburtstag.
„Na los!“. Amira ließ mich einen Moment das volle Gewicht ihres Beines spüren und hauchte mir dabei einen Kuß auf die Wange. Dann knabberte sie ein bißchen an meinen Ohrläppchen, und wie zufällig sprang dabei auch der letzte Knopf ihres Pyjamas auf.
„Alles Gute“, hauchte sie. "Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“. Ihre Zähne gaben mein Ohrläppchen frei und sie zog sich lächelnd in ihre Hälfte des Bettes zurück.
"Was ist denn jetzt los?", protestierte ich.
„Du", lachte sie. "Du mußt jetzt los! Hast Du vergessen, warum Du hergekommen bist?“, tadelte sie.
Nein, hatte ich nicht. Werde einer schlau aus dieser Frau. Ich wartete einen Moment, ob ich nicht vielleicht doch noch an Ort und Stelle mit der mir zustehenden Geburtstagsüberraschung beglückt wurde. Es sah nicht danach aus. Ich stemmte mich also widerwillig aus dem warmen, weichen Hotelbett und schlurfte ins Bad.
Als ich zwanzig Minuten später sauber, wohlriechend und frisch rasiert wieder aus dem Bad kam, räkelte sich Amira immer noch zwischen den Laken. Ich fand das ziemlich gemein.
"Nicht enttäuscht sein", lachte Amira. "Vorfreude ist doch die schönste Freude. Und wir haben noch den ganzen Abend für uns. Dann gibt's auch was zum Auspacken. Versprochen." Amira zauberte unter dem Kopfkissen ein kleines Päckchen hervor und winkte schelmisch damit.
"Und ich darf entscheiden, was zuerst ausgepackt wird", schlug ich vor.
Amira lachte. "Erst die Arbeit, dann das Vergnügen."
"Tja", seufzte ich. "Wenn man doch beides miteinander verbinden könnte."
"Tja", sagte Amira.
Aber genau genommen taten wir das ja.
Ich hatte ein neues Kapitel meines Lebens aufgeschlagen. In diesem Leben war ich nicht mehr als Unternehmensberater in der Welt unterwegs, sondern als Marketing-Speerspitze.
Der Unterschied war gar nicht so groß. Ich reiste jetzt nicht mehr zu Klienten, sondern zu Messen, Produktpräsentationen, Presseterminen. Es ging vor allem um’s Präsentieren und Repräsentieren und zwar bevorzugt in erlesenem Ambiente.
Das Unternehmen, für das ich seit ein paar Monaten arbeitete, war ein riesiger Gemischtwarenladen. Der größte, den ich bislang gesehen hatte. Vom Haargummi bis zur Weltraumstation gab es kaum etwas, was wir nicht im Programm hatten. Aber ausschließlich High Tech! Ein Haargummi von uns erkannte den Haartyp seiner Trägerin und paßte sich automatisch farblich an. Wenn man ihn abends abnahm, analysierte er kurz die Haarstruktur und gab eine Empfehlung ab, ob vor dem zu Bett gehen noch ein Pflegeprodukt angesagt war.
Mein Job war es, unsere neuesten Entwicklungen dem interessierten Fachpublikum zu präsentieren und unser Branding als erfolgreiche und innovative High Tech Schmiede weiter auszubauen. Ich lotete die Resonanz aus und knüpfte Kontakte, die ich an unseren Vertrieb weiterleitete, der dann die eigentliche Arbeit erledigte.
Messewochen waren echt anstrengend. Dafür genoß ich den Vorteil, dass es zwischen zwei Veranstaltungen auch mal eine Weile ruhiger sein konnte. Produktentwicklung, Design und auch der Vertrieb liefen dann weiter auf Hochtouren, aber ich konnte zwischendurch ein paar Tage kürzer treten. Dafür war ich auf Messen und Kongressen rund um die Uhr im Einsatz. Die besten Kontakte knüpfte man an der Hotelbar, und zwar kurz bevor sie endgültig dicht machte. So gegen vier Uhr morgens in der Regel.
Bei aller Begeisterung für unsere Produkte – ich mußte aufpassen, dass ich nicht den Rest meines Leben im Hotel verbrachte, geschweige denn, es dort beendete.
Hotelbestattungen, das wäre mal was Neues, schmunzelte ich, während ich in meinen Anzug schlüpfte. Eine schöne Idee für das Buch, das ich eines Tages schreiben würde.
Trivialliteratur natürlich, aber mit Schmackes. Ich dachte da in Richtung Dan Brown, nur mit weniger Eingeweiden um die Schauplätze der Handlung verteilt. Dafür vielleicht eine Prise mehr Humor. Wer mörderische Psychopathen wollte, brauchte nur die Nachrichten einzuschalten. Da mußte niemand extra ein Buch schreiben. Aber verkaufszahlenmäßig dachte ich definitiv in Richtung Dan Brown.
Ich hielt Amira zwei Krawatten hin, und sie wählte die Gelbe mit den kleinen Punkten aus. Ohne hinzuschauen. Amira war nicht der Krawattentyp, soweit ich das beurteilen konnte. Ich nahm trotzdem die Gelbe und machte mich an den Knoten.
So flexibel die Arbeitszeiten phasenweise waren, so hart waren sie, wenn sich eine gute Gelegenheit für eine vielversprechende Präsentation bot. Da waren die Regeln fast noch strenger als im Beratergeschäft und auch ein Geburtstag keine Entschuldigung.
Heute zum Beispiel fand ein Kongreß statt, auf dem die Créme de la Créme der Bekleidungsindustrie von morgen versammelt war. Ein absoluter Pflichttermin. Es hatte Monate gedauert, einen festen Platz auf der Referentenliste zu ergattern. Da konnte ich mich unmöglich ausklinken.
Also hatte ich das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden und Amira gefragt, ob sie mich nicht begleiten wolle. Klar wollte sie. Amira war ein unkomplizierter Typ. Wir waren erst seit kurzem zusammen. Sie fand es okay, wenn ich unterwegs war und sie liebte Vier- oder Fünf-Sterne Hotels. Ich sollte dankbar sein für eine so unkomplizierte Freundin. Und so attraktiv obendrein.
Natürlich hatte ich uns in die beste Kategorie des Veranstaltungshotel eingebucht. Ich wußte, was ich meinem Status als High Tech Guru schuldig war. Und Amira. Gab außerdem Extra-Meilen, und die durfte ich sogar privat einlösen.
Es bestand wenig Gefahr, dass Amira sich langweilen würde, während ich bei meiner Zuhörerschaft das Verlangen nach unseren Produkten zu wecken versuchte. Amira war leidenschaftliche Shopperin, und wir waren hier in einer ausgesprochenen Modestadt. Die Flaniermeile auf der Kö hielt genug Sehenswürdigkeiten aus der Welt des Glamours und Konsums bereit, um problemlos mehrere Tag zu überstehen, ohne dem gleichen Paar Schuhe zweimal über den Weg zu laufen.
Für heute abend hatte ich ein Tisch im Fernsehturm reserviert. Blick auf Vater Rhein und die putzige Hundertwasser-Siedlung hinter der Uferpromenade. Zum Nachtisch würden wir dann wieder ins Hotel gehen. So wie es aussah, würde es etwas besonders Leckeres geben.
„Wann ist denn dein großer Auftritt?“, wollte Amira wissen.
„Mittags, kurz vor der Essenspause. Ich muß also schauen, dass ich mit meinem Vortrag nicht überziehe. Die Leute werden hungrig sein.“
„Du schaffst das spielend“, lächelte sie. „Wo steigt das Ganze?“
„Unten im Kongreßbereich. Wir sind gestern abend dran vorbeigelaufen, erinnerst Du Dich?“
„Klar. Ich meine, in welchem Saal?“
„Rheinsaal, glaube ich“. Das war ein sicherer Tipp. Jedes Hotel in Düsseldorf hatte einen Rheinsaal. Manche sogar mehrere.
Normalerweise interessierte sich Amira nicht für die Details meiner Arbeit. Was ich tagsüber so trieb, gehörte nicht zu unseren Gesprächsthemen. Schade eigentlich, dachte ich manchmal, aber man konnte nicht alles haben. Heute zeigte sich Amira jedoch überaus interessiert. Lag das an meinem Geburtstag oder sollte ich sie einfach öfter mal mitnehmen?
„Wieviele Leute werden denn da sein?“, wollte sie wissen.
„Na ja, es ist nicht natürlich nicht die Pariser Woche, aber ich denke, dass die Veranstaltung trotzdem gut besucht ist. Alles von Rang und Namen wird da sein. Ein paar hundert Leute bestimmt.“
„Nervös?“
„Nö, eigentlich nicht. Ich preise ja ständig wildfremden Menschen unsere Produkte an. Das ist mein Job.“
Ich hatte eine Theorie. Diese Theorie besagte, dass jeder Redner einen individuellen Zuschauerhorizont hatte. Quasi ein persönliches Spektrum, in dem er sich sicher bewegen konnte.
Es fing an mit der intimen Runde am Besprechungstisch. Limit etwa zwanzig Leute. Da ging es um Blickkontakt, den Einzelnen adressieren, die Hierarchien in der Gruppe erkennen. Reden und reden lassen. Keine langen Monologe, sondern geschickte Moderation des Gesprächsflusses.
Sowie der Tisch entfiel, galten andere Spielregeln. Die Teilnehmer wurden zum Publikum und saßen nicht mehr neben, sondern vor Dir. Man konnte den Konferenztisch aus dem Effeff beherrschen, aber auf einem Podium plötzlich das große Flattern kriegen. Ein neuer Horizont eben. Da starrten sie dich frontal an und wollten unterhalten werden, ohne selbst arbeiten zu müssen. Satzbau umstellen, Körpersprache anpassen, die Stimme arbeiten lassen. Was bei Tisch offen und spontan wirkte, war plötzlich Ausdruck unerfahrener Hilflosigkeit, wenn man nicht höllisch aufpaßte.
Der nächste Horizont kam mit der Saaltechnik. Das Limit lag jetzt bei hundert oder mehr Zuhörern. Man brauchte Licht und Mikrofon. Rednerpult. Multimedia-Technik. Das konnte eine ganz neue Erfahrung für einen Redner sein, selbst wenn er sich auf einem Podium eigentlich zuhause fühlte. Gerade der Umgang mit dem Mikrofon erforderte eine Menge Übung.
Dann die Königsdisziplin: Massenveranstaltungen. Tausend Leute oder mehr, anonym und gesichtslos. Jetzt wurde es richtig professionell. Fernsehkameras, damit dich auch die Leute aus der letzten Reihe auf der Großleinwand verfolgen konnten. Make-Up und Schweißausbrüche, das gleißende Licht der Scheinwerfer und die aberwitzig übertriebenen Mund- und Handbewegungen, die notwendig waren, um noch Emotionen transportieren zu können.
Ich selbst hatte auf meinen Touren mittlerweile in allen Ligen gespielt. Deshalb wußte ich, dass mein Ding die mittlere Kategorie war. Mein persönlicher Rednerhorizont war der klassische Konferenzsaal. In den großen Hallen machte ich keine so glückliche Figur. Aber ein Raum wie der Rheinsaal, das war ein Heimspiel für mich. Deswegen war ich auch nicht nervös. Wenn überhaupt, eher ein bißchen müde. Immer wieder das gleiche Spiel, immer auf Achse. Ich machte das jetzt schon so lange. War das der Sinn des Lebens? Am Ende doch Hotelbestattung, wenn auch mit fünf Sternen?
Mir wurde bewußt, dass Amira von alledem nichts wissen konnte. Vielleicht redeten wir zu wenig miteinander. Aber unsere Beziehung hatte ohne Frage ihre Qualitäten. Auch wenn Philosopieren über das Leben nicht dazu gehörte. Der Geruch von frischen Lebkuchen kam mir wieder in die Nase.
„Hey, jetzt muß ich aber tatsächlich los. Ich sitze schließlich bei der Eröffnung mit auf dem Podium. Wäre doch schade, wenn die ohne mich loslegen?“.
"Nicht auszudenken", unkte Amira. "Ich wünsche Dir viel Spaß!". So wie sie es sagte, klang es, als hätte die Sache eine sinnliche Komponente. Hatte sie aber nicht. Das war einfach mein Job.
Ich machte mich auf die Socken. Mit dem Fahrstuhl ging es direkt in den Kongreßbereich. Ich frühstückte morgens bloß eine Tasse Kaffee. Das war auch ein Grund, warum Amira nicht extra aufgestanden war. Hätte sich kaum gelohnt für sie.
Vor dem Rheinsaal war ziemlich Betrieb. Ich schnappte mir einen Kaffee, und hielt Ausschau nach der Referentenbetreuung.
Ich vertrat heute den Textilbereich unserer Firma. High-Tech Klamotten. Das war spannender, als es sich im ersten Moment anhörte.
Die Kleidung von morgen wird nicht mehr nur dazu dienen, uns vor Wind und Wetter zu schützen und uns dabei halbwegs gut aussehen zu lassen.
Schweißgeruch absorbieren, Bodylotion ersetzen, Allergien bekämpfen, die Bandscheiben massieren und gleichzeitig den zunehmenden Elektrosmog von uns fernhalten. Das waren nur einige der Dinge, die wir von unserer Kleidung in Zukunft erwarten durften. Ohne die Hauptfunktion aus den Augen zu verlieren, die zweifelsohne weiterhin darin bestehen würde, uns gut aussehen zu lassen.
Wir waren sehr aktiv im Textilfaser-Engineering und mischten bei mehreren Forschungsprojekten mit. Gute Erfolge hatten wir mit Silber erzielt. Silber pur, Silber im Kupfermantel, Silber mit Teflonbeschichtung.
Mittlerweile gab es eine ganze Reihe von Firmen auf dem Markt, die entsprechende Angebote im Programm hatten. Ein T-Shirt mit 20%-Silberanteil war mit 130 Euro in der gut sortierten Boutique zwar kein Schnäppchen, aber für Neurodermitiker eine Möglichkeit, sich Linderung von ihrem Juckreiz zu verschaffen. Wer es billiger wollte, konnte Socken mit der gleichen Technologie erwerben, deren antibakterielle Wirkung sich wohlwollend auch auf jene Bakterienkulturen erstreckte, die für den herzhaften Duft ausgelaugter Füße nach einem langen Arbeitstag verantwortlich war.
Aber auf einem Innovationskongreß konnte man mit solchen Geschichten niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Die Branche war noch jung, und dürstete nach neuen Entwicklungen.
Wie in allen Technologie-Branchen war auch in diesem Markt der größte Auftraggeber das Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten von Amerika. Man vermutete das nicht unbedingt, wenn man durch die Edelboutiquen der Altstadt schlenderte. Aber die amerikanischen Kampfmonturen des 3. Jahrtausends verlangten nach einem nachhaltigen Facelifting und die europäischen Armeen plagten ähnliche Sorgen. Ziel war es, das Gewicht einer Kampfuniform von aktuell 50 kg in wenigen Jahren zu halbieren und sie gleichzeitig mit modernster Technik vollzustopfen. Für eine GPS-Peilung war in der Zukunft kein besonderes Gerät mehr notwendig. So etwas erledigten zukünftig die Klamotten ohne großes Aufhebens mit.
Unsere Firma war zwar nicht im militärischen Bereich aktiv, aber man tauschte sich intensiv aus. Ein großer deutscher Chip-Hersteller hat leitende Fasern bis zur Marktreife entwickelt, die eine eigene Verkabelung innerhalb der Kleidung unnötig machte, um elektronische Schaltelemente im Stoff mit Strom zu versorgen. Das war sicherlich praktisch für den Soldaten der Zukunft, aber genauso praktisch für den Business-Mann von morgen.
Jedenfalls wenn es nach uns ging.
Ich hatte mittlerweile die Referentenbetreuung ausfindig gemacht. Eine ebenso kompetente wie korpulente Dame versorgte mich mit Namensschild, Agenda und wichtigen Hinweisen zum Tagesablauf, während ich an meinen Kaffee nippte.
Bei Streß litt ich selbst hin und wieder unter Achselschweiß, und hätte daher gerne über unsere neuen Fortschritte mit Cyclodextrinen berichtet. Aber das Zeug - im Prinzip nichts weiter als ringförmig angeordnete Zuckermoleküle - war noch meilenweit von der Serienreife entfernt. Und nach ein paar Mal Waschen war von den Zuckermolekülen ehrlich gesagt auch nicht mehr viel übrig. Ich hatte trotzdem etwas sehr Interessantes im Gepäck. Ein Produkt, das nahezu marktreif war. Ich war gespannt, wie die Zuhörer es aufnehmen würden.
Die Konferenzmanagerin hatte mich zum Podium buxiert und stellte mich den anderen Referenten vor. Obwohl mein Lebenslauf, der in jeder Referentenmappe steckte, auch mein Geburtsdatum enthielt, gratulierte mir niemand zum Geburtstag. Ich war nicht wirklich böse. Ich hatte selber auch nicht in die Unterlagen der anderen Referenten hineingeschaut. War ja doch immer dasselbe. Wer weiß, vielleicht hatte noch einer der Kollegen auf dem Podium heute Geburtstag, und keiner wußte es.
Auf der Bühne herrschte ein unglaubliches Gewimmel. Eine Menge Techniker machten sich an einem Kabelstrang zu schaffen, und überall stolperten Hostessen in ihren hochhakigen Mietpumps herum, richteten Unterlagen her und sorgen alleine durch ihre Anwesenheit und ihr einstudiertes Dauerlächeln für die notwendige Hintergrundatmosphäre. Ein Detail, das man nicht unterschätzen sollte.
Kurz hatte ich das Gefühl, ein bekanntes Gesicht in dem Gewusel auszumachen, aber als ich einen Blick in die Richtung warf, war niemand zu sehen.
Im Saal unten herrschte ebenfalls hektische Betriebsamkeit. Der Raum begann sich rasch zu füllen, während sich die Bühne langsam leerte und wir unsere Plätze auf dem Podium einnahmen.
Dann der Gong, Saallicht aus, Podiumsbeleuchtung an. Es konnte losgehen.
Das Grußwort sprach ein Professor Meier für Textiles Gestalten von irgendeiner namenlosen Fachhochschule, die mit dem Veranstalter kooperierte. Ich war immer wieder überrascht, für was es alles Lehrstühle gab. Textiles Gestalten. Es trieb bisweilen seltsame Blüten, wenn Hochschulen neue Lehrstühle kreierten, die vor allem dem Zweck dienten, bei der Drittmittelvergabe vorne mit dabei zu sein.
Amira gönnte sich wahrscheinlich gerade eine schöne Dusche und überlegte, welche Schuhe wohl am besten zu einem Einkaufsbummel auf der Kö paßten. Das war sicher keine leichte Entscheidung.
Ich lauschte den Vorträgen der Kollegen. Ich stellte befriedigt fest, dass keiner meiner Vorredner sensationelle Neuigkeiten zu berichten hatte. Alles sehr fundiert, sehr bodenständig. Aber keine spektakulären Produkte. Das war gut. Da konnte ich den Leuten jetzt etwas Abwechslung bieten.
Wir hatten nämlich ein neuartiges Handy-Hemd entwickelt. Eigentlich ein ganz normales Hemd, nur dass es eben telefonieren konnte. Ich hatte es bereits an.
Mein Vortrag wurde angekündigt. Der habilitierte Textilgestalter hatte soeben eine Kurzform meiner Vita zum Besten gegeben, die im wesentlichen aus meinem Namen und dem meiner Firma bestand, und freute sich jetzt mit dem ganzen Saal auf einen weiteren aufregenden Einblick in die textile High-Tech-Zukunft.
Ich freute mich auch.
Ich erhob mich vom Podium. Das Rednerpult stand am anderen Ende der Bühne. Höflicher Applaus begleitete mich die paar Schritte bis zum Pult, das von allen Seiten mit großen Werbeplakaten eingerahmt war. Ich lächelte und ...
... erstarrte vor Überraschung mitten in meiner Bewegung.
Vor mir saß Amira.
Amira, die ich im Geiste um diese Zeit schon beim dritten Sommer-Outfit wähnte, war gekommen, um mir zuzuhören. Sie saß direkt vor mir. So nah, dass es mich fast nervös machte. Eigentlich saß sie gar nicht richtig, sie kauerte..
„Was...?“ , entfuhr es mir.
Was zum Teufel war hier los? Amira saß direkt unter dem Rednerpult.
Sie legte den Zeigefinger auf die Lippen und machte eine verschwörerische Geste. Dann winkte sie mich zu sich heran, wie um mich aus meiner Erstarrung zu lösen.
Das Publikum. Richtig. Der Applaus ebbte ab. Gespannte Erwartung im Saal. So ein Publikum hatte ein feines Gespür und ich hatte immer noch einen halben Schritt bis zum Rednerpult vor mir.
„Was...", nahm ich den Faden krächzend auf. "Was für eine Freude... ehm..., sie alle heute hier zu sehen“. Endlich brachte ich den letzten Schritt zuwege und stand an meinem Pult.
In den vorderen Reihen konnte ich einige Stirnrunzler ausmachen, ob meiner lauen Eröffnung. Aus der allerersten Reihe hingegen lächelte es mich aufmunternd an. Wenn das eine Geburtstagsüberraschung war, dann war sie gelungen. Ich hatte mich ja bereits über meine Theorien zum Thema Rednerhorizont ausgelassen. Also dies überstieg eindeutig meinen bisherigen Horizont. Aber ich riß mich zusammen. Schließlich hatte ich heute Geburtstag.
„Ich... ehm... ich habe Ihnen heute etwas mitgebracht, das sie so wahrscheinlich noch nie gesehen haben. Ich darf sagen, eine... Premiere!"
Premiere! Das konnte man wohl sagen.
Der Gestaltungsprofessor verfolgte meine Eröffnung mit unverhohlener Verwunderung und machte sich ein paar hektische Notizen. Wahrscheinlich fragte er sich, wer diesen stotternden Trottel am Rednerpult auf die Agenda genommen hatte und wollte denselben Fehler nicht zweimal machen.
Was soll ich sagen. Mein schönes Intro, das ich mir zurechtgelegt hatte, war wie weggeblasen. Ich mußte schleunigst wieder Fuß fassen. Schließlich war das hier so etwas wie ein Heimspiel. Ich war hier, um den Leuten unser neues Handy-Hemd zu präsentieren, und genau das würde ich auch tun. Da konnte mich Amira gleich mal richtig in Aktion erleben.
Fragte sich bloß, warum Amira unter dem Pult saß, und was sie tun würde. Meinen Vortrag hätte sie sich auch gut vom Saal aus anhören können. Wahrscheinlich sogar besser. Bequemer auf jeden Fall.
Das Rednerpult war durch die Werbetafeln von drei Seiten her geschlossen, so dass wenigstens niemand im Saal etwas bemerken konnte. Also weiter im Text.
„Ich müßte mal kurz telefonieren“, sagte ich.
„Wer von Ihnen hat ein Handy dabei?" Das Publikum war verdutzt. Der Professor machte sich weitere Notizen.
"Nur keine Scheu", munterte ich die Leute auf. "Bitte einfach mal hochhalten!"
Die ersten Handys wurden in die Höhe gereckt, und bald wimmelte es von winkenden Telefonen. Die Leute hatten entschieden, meine kleine Einlage zu mögen. Vorerst.
"Sehr schön. Vielen Dank. Was würden Sie sagen, wenn Sie alle diese Geräte morgen nicht mehr bräuchten?"
"Was die Handy-Industrie sagen würde, kann ich mir schon vorstellen", neckte ich und hatte prompt ein paar Lacher auf meiner Seite.
"Jetzt aber mal im Ernst. Wir haben eine tolle Möglichkeit gefunden, wie sie in Zukunft auch ohne diese störenden kleinen Handknochen, die Ihnen immer das Jackett ausbeulen, erreichbar sind. Online, wann immer sie wollen. Wir haben ein Gerät entwickelt, das in die Kleidung, die Sie auf dem Leib tragen, integriert ist. Und das man deshalb nicht verlegen kann.“
Soweit, so gut. Ich wußte nur noch nicht, warum Amira da unten saß und schelmisch lächelte.
„Ich möchte Ihnen das heute gerne live präsentieren. Und dann würde ich gerne mit Ihnen besprechen, wie wir alle gemeinsam mit dieser Idee Geld verdienen können.“
Beim Stichwort ‚Geld verdienen‘ waren die Vertreter der Markenartikler und der großen Handelsketten wie gewünscht hellhörig geworden. Nicht alle Forschungen behielten nämlich dieses hehre Ziel im Auge. Dabei war das letztlich der Zweck der ganzen teuren wissenschaftlichen Übungen.
„Wir haben unseren Prototyp zunächst ganz auf eine männliche Kundschaft zugeschnitten.", klärte ich die Zuhörer auf.
Amira hatte sich bewegt. Was trieb sie da nur?
„Geschäftsleute, Vieltelefonierer, Vielreisende. Selbständige, Berater, mittleres bis gehobenes Konzern-Management. Das ist unser Startsegment.“ Keine Frage, sie bewegte sich. Sie hatte mein Hosenbein ein Stück nach oben geschoben und fuhr mit ihren Fingernägeln meine Wade entlang.
„Diese Zielkunden werden zukünftig allein mit Hilfe ihres Hemdes telefonieren!“ Raunen im Saal.
„Sie haben richtig gehört, ein ganz normales Businesshemd, wie es viele von Ihnen heute anhaben.“ In unserer Branche gab es immer auch einige unverbesserliche T-Shirt-Träger und hier und da den intellektuellen Rollkragen, aber die Mehrheit der Leute waren mit Hemd und Krawatte erschienen. Die wenigsten von Ihnen hatten allerdings bislang mit Ihrem Hemd gesprochen, geschweige denn damit telefoniert.
Amira kibbelte mich weiter an der Wade. Ein bißchen brachte mich das schon aus dem Konzept. Aber sie war züchtig angezogen. Hochgeschossener Blazer, bis oben zugeknöpft. Da kam man wenigstens nicht auf ich-weiß-nicht-was für Gedanken. Es war so schon schwer, den roten Faden zu behalten. Aber ich war jetzt in Fahrt.
„Wir haben zuerst über Sakkos als Trägermedium nachgedacht", klärte ich das Publikum auf.
"Vor allem, weil man da eine Menge unterbringen kann. Aber Sakkos trägt man nicht den ganzen Tag über. Im Sommer zieht man sie aus, legt sie weg. Das kam für uns nicht in Frage.“
Ich denke, das Publikum konnte mir in der Argumentation folgen. Auch in der allerersten Reihe wurde das Stichwort ausziehen aufgenommen, allerdings anders, als ich vermutet hätte.
Plötzlich jedenfalls war der Blazer nicht mehr zugeknöpft und es wurde schlagartig klar, warum sie ein hochschließendes Modell gewählt hatte. Weil das alles war, was sie auf dem Leib trug.
Ups!
Schnell weiter im Text, bevor ich mir überlegen konnte, was das zu bedeuten hatte.
„Ein Hemd - ehm... oder auch eine Bluse - haben den Vorteil, das man sie ehm... normalerweise den Tag über anläßt.“ Aus der allerersten Reihe kam ein freches Grinsen. Nicht jeder trug den ganzen Tag lang ein Hemd oder eine Bluse, sagte das Grinsen. Amira hörte mir offensichtlich aufmerksam zu.
„Tja, ...ehm... ein Hemd, ja.“ Der rote Faden drohte nun doch zu entgleiten. Wo ich gerade so gut Fuß gefaßt hatte. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass der Professor für textile Spiele, zwischenzeitlich durch meine Rede milde gestimmt, wieder auf der Hut war.
Ich spürte, wie das Eis dünner wurde. Also versuchte ich es mit einem alten Trick und veränderte blitzschnell meine Perspektive. Das Ganze war plötzlich ein Spiel. Sagen wir Fußball. Ich durfte mir jetzt nicht den Ball abnehmen lassen. Auch wenn der Gegner mich abzulenken versuchte.
„Um alle notwendigen Bauteile in unserem Hemd unterzubekommen, haben wir zusammen mit namhaften Partnern völlig neue, mikroskopisch kleine Bauteile entwickelt.“ Ganz anders der Anblick zu meinen Füßen. Von mikroskopisch klein konnte da nicht die Rede sein. Was hatte der Gegenspieler vor? Noch taktierte er im Mittelfeld, ohne größeren Schaden anzurichten. Aber wie lange noch?
Ich jonglierte weiter mit meinen drei Rollen als Redner, Voyeur und Fußballer. „Wir verwenden Kragen, Ärmel und Manschette, um Bauteile unterzubringen. Jedes Element wird vorher wasserdicht in Teflonfolie versiegelt. So kann die Waschmaschine der Technik nichts anhaben."
Auf der Leinwand hinter mir wurde die Technik mit einer kleinen Animation visualisiert.
"Im Hemdsaum eingenäht steckt unser schwerstes Bauteil, die Batterie. In der Hose ist sie blickgeschützt und ...mmrrhhhmm!“ Ich täuschte in bester Schwalbenmanier einen Hustenanfall vor, als die Finger, die eben noch meine Fußballer-Waden liebkosten, plötzlich nach oben wanderten. Mein Gegenspieler war unvermittelt in den Strafraum eingedrungen.
„... schlägt keine Falten!“ Ich ließ das Gehuste in ein kehliges Räuspern ausklingen und versuchte tapfer weiterzumachen. Ein paar Lacher aus der ersten Reihe gaben mir die Gelegenheit, mich wieder zu sammeln. Das war nicht ganz einfach. Amiras Fingernägel bearbeiteten nämlich akribisch eine neue Stelle. Quasi den Elfmeterpunkt. Sie konnte doch nicht wirklich allen Ernstes mitten auf der Bühne ein Tor schießen wollen?!
Ein Spiel dauert neunzig Minuten. Vielleicht war sie ja nur auf ein Unentschieden aus.
"Zurück zu unserem Hemd", mahnte ich die Zuhörer. Und mich!
„Wir benötigen keinerlei Verkabelung, das erledigen alles das Gewebe, dessen Fasern Strom leiten können. Schwachstrom, keine Angst! Der Oberarm ist gleichzeitig die Antenne. Was die Strahlenbelastung betrifft, die ideale Stelle. Möglichst gleich weit entfernt von unseren beiden empfindlichsten Körperteilen. Vom Kopf und von... na sie wissen schon!".
Ja, das Publikum wußte, wovon ich sprach. Heiterkeit im Saal. In Anbetracht der Umstände fand ich mich gar nicht schlecht und begann, die Situation ein bißchen zu genießen.
Ich nahm den Ball wieder auf. „Im Kragen befindet sich ein Richtmikrofon, in der Manschette sind eine Folientastatur und ein Plexiglas-Display untergebracht. Die Tastenbeschriftung ist in Hemdfarbe gehalten, und durch die Ultra-Flachbauweise erzielen wir einen edlen Designeffekt. Futuristisch, dabei aber unaufdringlich. Gut zu bedienen. Problemlos.“
Man sagt uns Männern ja gerne nach, wir könnten uns nicht auf mehrere Dinge gleichzeitig konzentrieren. Unsinn, wir können! Weiter im Spiel.
„Nervige Klingeltöne gehören bei unserem Hemd der Vergangenheit an. Das ist indiskret und aufdringlich. Bei uns vibriert es einfach sanft im Hemdsaum.“
Und der steckte in der Hose.
Das war auch dem Publikum klar. Anzügliches Feixen erfüllte den Saal. Ja, das gefiel den Leuten. Auf der Leinwand zeigte der Beamer im Großformat, wie es funktionierte. Das schien Amira anzuspornen, sich jetzt auch noch mit meinem Reißverschluß zu beschäftigen. Jetzt hörte der Spaß aber auf.
Ein Zucken lief durch meinen Körper. Mein doppeltes Spiel forderte seinen Tribut und ich kam ins Schwitzen. Unter meinen Achseln bildeten sich leichte Verfärbungen und ich wünschte mir, unser Handy-Hemd wäre bereits mit den Cyclodextrinen ausgestattet. Ich wischte mir eine Schweißperle von der Stirn.
Der Techniker interpretierte das als das vereinbarte Zeichen und blendete auf der Leinwand eine Telefonnummer ein. Es war die Nummer meines Hemdes.
Die Nummer blinkte rot und verheißungsvoll wie in einer 0190-Werbung. Im Hintergrund war ein roter Kirschmund zu sehen, der sich sinnlich einem Telefonhörer näherte. Wir waren zwar eine seriöse Firma, aber wir waren auch Marketing-Experten.
Das Publikum war nicht auf den Kopf gefallen. Die ersten hatten bereits ihr Handy gezückt, die angegebene Nummer eingetippt und auf Verbindungsaufbau gedrückt, bevor ich noch Live-Demo sagen konnte.
Ich nahm an, dass mein Hemd bereits wie wild vibrierte. Aber ich spürte nichts. Bei mir vibrierte alles. Ich mutmaßte, dass unsere Laborleute nicht jede Situation vorab ausgiebig testen konnten. Und wenn ich diese Sache hier überstanden hatte, würde ich wohlweislich auf ein entsprechende Feed-Back verzichten. Das sollten die Kollegen mal schön selbst rausfinden.
Ich drückte auf gut Glück die Gesprächsannahme-Taste in meiner Manschette. Ich war mir ziemlich sicher, dass jemand in der Leitung sein würde.
"Aschberg?", meldete ich mich höflich, mein Gesicht samt glasiger Augen in Großformat auf der Leinwand.
"Professor Meier", tönte es aus dem Verstärker in meinem Ohr. Aus den Saallautsprechern auch.
"Wie geht es Ihnen? Was macht Ihr Vortrag. Wir haben uns ja gerade auf einer Veranstaltung kennengelernt, haha." Der Mann war ja ein richtiger Entertainer! Auf der Leinwand erschien das übergroße Gesicht unseres textilen Gastgebers, der mit Handy am Ohr schräg hinter mir auf dem Podium saß. Wer hätte gedacht, dass der Mann so schnell tippen konnte.
Ich drehte mich langsam zu ihm um. Der Professor winkte. Ich winkte zurück.
Die Leinwand zeigte uns abwechselnd in der Halbtotalen.
Er winkte nochmal.
"Kommen Sie, kommen Sie", rief er freudig. Es war klar, dass der Professor erwartete, dass ich jetzt zu ihm hinüber marschiert kam. Er wollte das sprechende Hemd in Bewegung sehen.
Ich fand das keine so gute Idee. Aber da war der Kameramann auch schon bei mir, um einige Großaufnahmen einzufangen. Noch einen Schritt näher, und er würde den Leuten wirklich etwas bieten können.
Wenn das passierte, würde diesen Vortrag niemand so schnell vergessen. Vor allem ich nicht. In meinem vorgezogenen Ruhestand hätte ich viel Zeit, mich immer wieder an diese einmaligen Augenblicke zu erinnern.
Aber Amira überprüfte bereits, ob mein Reißverschluß wieder an Ort und Stelle wahr. Sie war wirklich auf Zack. Wahrscheinlich hatte sie ebenfalls kein Interesse an einer überraschenden Filmkarriere. Mit diesem Entrée würde es schwierig werden, sich für Charakterrollen zu bewerben. Obwohl ich mir nach dem heutigen Auftritt nicht mehr sicher war, ob Amira wirklich der Typ für Charakterrollen war. Sie schien mir da – sagen wir - flexibel veranlagt zu sein.
Ich sah zu, dass ich von dem Pult wegkam. Das gelang mir auch. Was mir nicht gelang, war, ein paar Großaufnahmen von mir und meiner Hose zu verhindern. Schließlich war es der Job des Kameramanns, dem ganzen Saal nahezubringen, was genau sich in Hemd und Hose bei dieser Live-Demo abspielte. Und in der Hose tat sich einiges.
"Oha!", hörte ich den Professor. "Respekt, Respekt."
Der Saal tobte. Hauptsächlich Männer. Ich gebe zu, die Story würde sonst auch nicht so gut funktionieren. Diese Geschichte aus diesem Kapitel meines Lebens war vor allem dem männlichen Publikum gewidmet. Dabei war das Ganze ja nicht meine Idee gewesen. Amira hatte sich das ganz alleine ausgedacht. Oder vielleicht nicht groß gedacht. Einfach gemacht. Sie war eine spontane Person. Das fand ich eigentlich prima. Gerade jetzt aber auch ein bißchen peinlich. Ich versuchte probehalber, im Erdboden zu versinken. Es funktionierte nicht. Blieb nur die Flucht nach vorn.
Ich schenkte dem Publikum mein breitestes Lächeln.
"Der Vibrationsalarm hat noch so seine Nebeneffekte. Wir arbeiten daran!"
"Wer weiß", gluckste der Professor selig. "Vielleicht sollten Sie dieses Feature eingebaut lassen. Das könnte ein echter Renner werden!"
Der Saal war nicht mehr zu halten. Zwischen dem Johlen brandete Applaus auf. Erst vereinzelt, dann lauter. Ein Crescendo der Begeisterung rauschte in meinen Ohren. So peinlich war es gar nicht. Ich deutete eine Verbeugung an und sah zu, dass ich von der Bühne kam. Abgang, wenn's am Schönsten ist. Die Technik reagierte, und auf der Leinwand erschien wie aufs Stichwort unser Firmenlogo. Ein voller Erfolg.
Ich schaute, dass ich mich rar machte, bis sich alles wieder halbwegs beruhigt hatte. Vor allem bei mir. Man sollte es überreizen.
Die Menge strömte zur Mittagspause. Für Gesprächsstoff bei Tisch war gesorgt. In dem ganzen Gewimmel verließ Amira unbemerkt wieder ihr lauschiges Plätzchen. Völlig korrekt gekleidet im hochgeschossenen Business-Kostüm schlenderte sie wie zufällig an mir vorbei.
"Du hältst unterhaltsame Vorträge“, meinte sie ohne zu erröten.
"Du glaubst gar nicht, wie … ähm aufregend… das manchmal ist", gab ich zurück.
Amira grinste. „Glaub‘ ich. Aber ich muß jetzt dringend shoppen gehen“, sagte sie. „Ich bin ja nicht nur zum Vernügen hier.“
Wie ein Schmetterling im Wind schwebte sie davon.
Ich sah Ihr eine Weile hinterher.
Hm, alles in allem ein guter Vortrag, dachte ich bei mir.