Leben Nr. 5:
Stellvertreter
Ein Leben im Innendienst

 

Ich saß an meinem Schreibtisch. Nicht gerade ein Prachtexemplar, was Schreibtische anging. Ich wollte jetzt gar nicht an Vogelaugenahorn denken oder an englische Zeder. Selbst  Standard-Businessline in Buchefurnier wäre ein Fortschritt gegenüber dieser grauen Polystyrolplatte gewesen. Bis vor kurzem hatte ich nicht mal gewußt, was Polystyrol überhaupt war und hatte nichts vermißt.

Aber es war nun mal mein Schreibtisch und es kam schließlich nicht so sehr darauf an, wie er aussah, sondern was man daran machte. So viel hatte ich mittlerweile begriffen. Ein ganz ordentlicher Entwicklungsschritt für jemanden wie mich, der gerade ein Leben im  Marketing verbracht hatte.

Welch ein Kontrast.

Eben noch als Berater und Marketing-Koryphäe in den Hotellobbies der vier- und fünf-Sterne Häuser dieser Welt unterwegs, und jetzt an einem Schreibtisch aus Polystyrol.

Ein neues Kapitel, ein neues Leben.

Aber ich hatte es ja so gewollt. Redete ich mir jedenfalls ein. Ich hatte so viele Jahre aus dem Koffer gelebt, dass ich kaum noch wußte, wie ein regulärer Büroarbeitsplatz eigentlich aussah. Nun gut, in dieser Hinsicht hatte ich offensichtlich auch nichts verpaßt, aber ich sollte nicht zu lange auf der gleichen Metapher herumreiten. Immerhin schrieb ich seit einiger Zeit wieder. Nicht an dem Roman, der mich berühmt machen würde, nein, so weit war ich noch immer nicht, aber wenigstens mal hier eine Kolumne oder da eine Kurzgeschichte. Das sollte meinem Schreibstil doch eigentlich irgendwie zugute kommen?

Jedenfalls hatten die vielen Nächte in den Hotelbars ihre Spuren unter meinen Augen hinterlassen und ich beschloß, dass es Zeit für etwas Neues war. Ich hatte noch einige Leben vor mir.

Vielleicht hatte es auch eine Rolle gespielt, dass Amira mich verlassen hatte. So eine Trennung war immer ein schöner Anstoß, etwas Neues zu beginnen. War auch ein Anlaß für weitere Ringe unter den Augen. Erst recht in der Variante des Verlassen werdens. Wie ein Schmetterling war Amira durch mein Leben geschwebt, fröhlich aber flatterhaft, und genauso war sie dann eines Tages wieder davon geflattert.

Ich hatte den Blues. Das beste Mittel gegen den Blues wäre natürlich eine neue Liebe gewesen, aber die war gerade nicht in Sicht. Das zweitbeste Mittel, befand ich, war neuer Job, in den ich mich stürzen konnte.

Was also wollte ich tun? Gegen ein bißchen Reisen hatte ich nichts einzuwenden. Aber das immer gleiche Spiel mit beliebig auswechselbaren Geschäftspartnern - wer gibt als Erster auf und zieht sich, seine Müdigkeit zugebend, auf’s Zimmer zurück, um am nächsten Morgen wieder ‚fit’ zu sein - das wollte ich nicht mehr spielen. Das war ich, wenn schon nicht meiner Schriftstellerkarriere, zumindest meinen Augenringen schuldig.

Meinem Bankkonto wiederum war ich es schuldig, mich gegenüber meinem bisherigen, recht ansehnlichen Salär, nicht wesentlich zu verschlechtern.

Keine Frau und kein Geld, das machte keinen Sinn.

Also Vertrieb.

Im Vertrieb wurden gute Gehälter gezahlt und die berühmten Soft Skills wogen schwerer, als Faktenwissen und technischer Sachverstand. Man mußte halt ein Händchen für die Sache haben, und das hatte ich. Fand ich.

Jetzt hieß es nur aufpassen, nicht vom Regen in die Traufe zu kommen, was die Reise- und Arbeitszeiten betraf. Und so landete ich bei einer Versicherung. Ich kannte Herrn Kaiser von der Hamburg-Mannheimer aus meiner Jugend noch persönlich. Also seine Fernsehspots. Das hatte mein Bild vom Versicherungsvertreter nachhaltig geprägt – und so extrem stressig kam mir die Tätigkeit nicht vor.

Um so überraschter war ich, als mir eine der führenden deutschen Versicherer folgenden Deal anbot: Eine lukrativ dotierte Position im Außendienst mit weiteren Aufstiegschancen, wenn ich zuvor einige Zeit im Innendienst verbringen würde, um das Unternehmen und seine Produkte gründlich kennenzulernen.

Verglichen mit den Erfahrungen aus meinen vorherigen Leben war das eine ziemlich konservative, um nicht zu sagen antiquierte Geschäftsphilosophie. Aber vielleicht hatte es ja einen Grund, dass die Versicherungen eine der stabilsten Branchen im Lande waren und auch durch größere Krisen in der Regel viel weniger in Mitleidenschaft gezogen wurden, als die Banken oder das produzierende Gewerbe.

Ich dachte ein paar Tage über das Angebot nach, dann nahm ich es an. Es schien mir solide. Produkte zur betrieblichen Altersvorsorge; viel solider ging es nicht mehr, ohne Steinmetz zu werden. Nichts Oberflächliches oder Flatterhaftes und von flatterhaft hatte ich für’s Erste die Nase voll. Da war immer noch der Blues.

Ich fand, die Tatsache, dass ich auf den Deal eingegangen war, zeigte, wie sehr ich mittlerweile gereift war. Wurde Zeit, dass auch mein Schreibstil ein wenig reifte. Ich sollte es zum Beispiel mit mehr Dialog versuchen. Wörtliche Rede anstatt deskriptiver Prosa. Das konnte meiner Geschichte nur guttun. Von zielgerichteten Einführungen ganz zu schweigen.

 Ich blickte über das Polystyrol hinweg meinen Zimmernachbarn an. Wenn ich gewußt hätte, dass der Deal für die ersten zwölf Monate noch nicht mal ein Einzelbüro beinhaltete, wer weiß, wie ich mich entschieden hätte. Von Vogelaugenahorn ganz zu schweigen, aber diese Metapher hatte jetzt tatsächlich ihr Verfallsdatum überschritten.

Mein Zimmergenosse Martin strahlte.

„Ich gehe heute mit dem Kleinen zur Modellbahn-Ausstellung“, verkündete er. „Da muß ich schauen, dass ich demnächst Land gewinne.“

„Schön für Dich“. Ich seufzte. Martin war ein angenehmer Zeitgenossen, jedenfalls solange das Thema nicht auf seine Ex zu sprechen kam. Ich neidete ihm seinen freien Nachmittag nicht.

Ich selbst würde heute so schnell kein Land sehen. Auf meinem Tisch stapelten sich mehrere knifflige Fälle. Da ich bislang recht wenig mit Versicherungen im allgemeinen und betrieblicher Altersvorsorge im besonderen zu tun gehabt hatte, waren fast alle Fälle für mich knifflig. 

Säuberlich aufgeschichtet in einem Körbchen mit der Aufschrift ‚Eingang‘ warteten sie mit einem malizösen Lächeln auf dem Deckblatt auf mich. So viel zum Thema ‚papierloses Büro’.

Wieviele Vorgänge im Laufe einer Woche in welchem Eingangskörbchen landeten, war das Ergebnis einer hochentwickelten Kapazitätsplanung, die das Räderwerk des gesamten Bereichs am Laufen hielt. Niemand kannte den genauen Verteilschlüssel. Man munkelte, dass eine komplizierte Mischung aus Entscheidungsbäumen und heuristischen Methoden zum Einsatz kam. Dass für die Berechnung der Quoten mehrere Rechenzentren von Nöten waren. Wie sonst konnte die Wochenplanung so viel Zeit in Anspruch nehmen? Immerhin, noch war der Prozeß scheinbar  innerhalb einer Woche zu bewältigen, sonst wären wir bald in eine Endlosschleife geraten und hoffnungslos abgestürzt.

Vielleicht spielte auch das Wetter eine Rolle und dieser Schmetterling, von dem man in den Artikeln über das Chaos immer so viel las. Dieser kleine Bursche, der für die ganzen Unwetter in China verantwortlich war. Aber niemand wußte etwas Genaues. Chefsache. Selbst ich war nicht eingeweiht, obwohl ich der Stellvertreter unseres Chefs war. Gehörte mit zum Deal, ich hatte darauf insistiert. Mein Argument, dass ich so doch am schnellsten die wichtigen Dinge lernen würde, war bei den Einstiegsverhandlungen auf fruchtbaren Boden gefallen.

Außerdem hätte ich anders kaum meinen Anspruch auf einen Dienstwagen halbwegs vernünftig untermauern können. Das Fundament war schon etwas wackelig. Auch wenn mich das Alter ruhiger und weiser gemacht hatte – so ruhig, dass ich auf den Dienstwagen verzichtete, sicher nicht!

Aber ich driftete schon wieder in die deskriptive Prosa ab.

„Ihr habt doch gleich Managementrunde, oder?“ Ein betörendes Parfum hatte sich ins Büro geschlichen und umwehte uns mit einem Hauch von Dschungelcamp und Versage. Gleich darauf steckte Tamara den zugehörigen perfekt gestylten Kopf durch die Tür.

Das war ein weiteres Privileg. Ich durfte meinen Chef jeden Freitag in die sogenannte Managementrunde begleiten. Anders als beim Dienstwagen ein Privileg, auf das ich gut hätte verzichten können.

„Ja“, nickte ich. „Wie jeden Freitag.“

„Dann kannst Du ja nochmal das Thema Weiterbildung anschneiden, oder?“, flötete Tamara. „Wir brauchen dringend ein paar Schulungen Kein Mensch bei uns kennt die neuen Tarife der Pensionskasse. Wir schreiben unsere Angebote eigentlich nur noch aus dem Bauch heraus!“

In Tamaras Fall wurde dieser von einem kleinen goldenen Piercing verziert. Vielleicht half das bei den Angeboten. Für das Betriebklima half es auf jeden Fall. Es war zu sehen, wenn sie eine von diesen Streckbewegung machte, die für einen Moment ihr Top über den Bauchnabel hochrutschen ließ. Wir liebten diese Bewegung. Tamara wußte das und tat uns hin und wieder den Gefallen. Aber sie übertrieb es nicht. Manchmal erinnerte sie mich trotzdem an einen Schmetterling.

„Hast Du denn schon mit Gertenschläger gesprochen?“, wollte ich von Tamara wissen. Jonas Gertenschläger, mein Chef, unser Abteilungsleiter, Verteidiger der Pensionärsinteressen, Lichtgestalt der betrieblichen Altersvorsorge. Vielleicht konnte ich Tamara, so sehr ich sie mochte, abwimmeln und sie direkt auf Gertenschläger loslassen.

„Hab‘ ich, weißt Du doch! Aber wir müssen jetzt dringend etwas tun. Die Kollegen murren schon.“ Tamara klackte unwillig mit ihren clubtauglichen Stilettos, die zur normalen Fortbewegung in einem Bürogebäude eigentlich völlig ungeeignet waren. Wenn sie so weitermachte, würde sie uns noch ein Loch in den Linoleumboden stanzen.

„Okay, ich nehm’s mit“, nickte ich.

‚Sie haben eMail erhalten!‘ ertönte es von meinem Schreibtisch. Unsere Computer konnten neuerdings sprechen. Nicht besonders viel und nicht besonders originell, aber sie konnten sprechen.

Frank tauchte neben Tamara im Türrahmen auf. Er tauchte gerne neben Tamara auf.

„Na, gleich Managementrunde?“, strahlte Frank. Er sprach zwar mit mir, jedenfalls nahm ich das an, aber sein Blick war fest auf unsere Miss Bauchnabel geheftet.

„Ich wollte fragen, ob...“

Es klingelte. „Moment...“,  beschied ich Frank und nahm das Gespräch entgegen.

‚Sie haben eMail erhalten!‘, tönte es aus dem Computer.

„Sagen Sie, was ist jetzt mit der Faber-Sache?!“, tönte es aus dem Hörer.  Faber  Söhne, 400 Mitarbeiter, Umstellung von Direktversicherung auf Pensionskasse. Einer der kniffligen Fälle auf meinem Schreibtisch.

„Wir tun, was wir können“, versuchte ich unseren Außendienstmann zu beruhigen.

„Ja, ja, ich tue hier auch, was ich kann. Und wenn ich heute kein Angebot rausschicke, dann haben wir ein Problem. Wo bleiben denn die verdammten Unterlagen? Ich hatte gerade den alten Faber persönlich an der Strippe“.

„Verstehe...“. Ich ließ den Hörer sinken und blickte hilfesuchend zu Martin hinüber. Der schüttelte wild den Kopf und deutete auf seine Uhr.

„Also“, nahm ich mein Gespräch wieder auf, „wir tun was wir können. Ich habe den Fall auf höchste Priorität gesetzt. Mehr kann ich nicht versprechen.“

„Sie wissen aber schon, dass ich unseren Vertriebschef ganz gut kenne, oder?“. Ich rollte mit den Augen. Ja, wußte ich. Es gab in diesem Unternehmen nicht einen Außendienstler, der nicht irgendein hohes Tier persönlich gut kannte. Vor allem, wenn es Terminprobleme gab.

„Wir tun wirklich unser Bestes“, versuchte ich zu beschwichtigen.

„Hallo“, sagte Ilse und gesellte sich zu unserer illustren Runde. Ich freute mich, sie zu sehen und nickte ihr freundlich zu.

‚Sie haben eMail erhalten!‘

„So ein Schwachsinn“, brummte ich. Eigentlich in Richtung Computer, denn die synthetische Stimme begann mir auf den Geist zu gehen. Ich hatte allerdings noch den Telefonhörer in der Hand.

Wie bitte?“, wollte der Außendienstmann irritiert wissen.

„Ich sagte, die Faber-Sache ist schon so gut wie erledigt“, säuselte ich in den Hörer.

Der Vertriebskollege bellte irgendwas zurück und legte auf.

„Streß?“, fragte Ilse.

„Gerade einiges los.“ Ich sah Ilse an. Im Vergleich mit Tamara wirkte sie ein wenig blaß. Aber das war nicht besorgniserregend, schließlich war es eine Lebensaufgabe von Tamara, andere Frauen neben sich verblassen zu lassen.

Ich war mir ziemlich sicher, dass bei Ilse auch nach intensiver Suche nirgendwo versteckte Piercings aufblitzen würden. Dafür schimmerte in ihren Augen so etwas wie Mitgefühl.

„Ich wollte fragen, ob ihr heute die Sache mit der Rechtsabteilung klären könnt“, platzte Frank mit seinem Anliegen heraus, kaum dass ich den Hörer aus der Hand gelegt hatte. „Wir brauchen die neuen Bedingungen für die Einverständniserklärungen, sonst kommen wir in Teufels Küche.“

„Ist das wirklich so dringend?“, wollte ich wissen. Ich war doch nicht der Kummerkasten der Abteilung.

„Dringend? Machst Du Witze?“. Das Thema schien Frank so zu bewegen, dass er sogar seinen Blick von Tamara losriß.

„Wir haben unterschriebene Verträge draußen“, sagte er. „Wenn wir nicht schleunigst die Einverständniserklärungen einholen, dann gute Nacht. Ich sehe schon die ersten Klagen auf uns zukommen. Vielleicht könnt ihr auch gleich das mit der Haftung abklären?! Ich hab’ noch nichts von den Rechtsfritzen bekommen von wegen Beschränkungsklausel.“

„Das wollte Gertenschläger doch letzte Woche abklären“, wunderte ich mich.

„Genau.“ Die Unterstützung kam von Ilse.

„Schon, schon, aber jetzt muß halt auch mal was passieren. Sonst sehen wir alt aus“, beschwor uns Frank.

„Also gut, ich nehm’s mit.“ Irgendwas machte ich falsch.

„Dank‘ Dir“, meinte Frank, wandte sich ab und prallte frontal mit Herzelsberger zusammen. Besser gesagt, prallte frontal von Herzelsberger ab und taumelte benommen in Tamara hinein. Herzelsberger nahm davon keine Notiz und navigierte seine beeindruckenden 130 Kilo Lebendgewicht in Richtung meines Schreibtisches. Wie Tamara es schaffte, trotz Bleistiftabsätzen und Frank, der ihr nun quasi um den Hals hing, nicht ins Straucheln zu geraten, war eine kleine Meisterleistung.

‚Sie haben einen Termin!‘ informierte mich mein Computer völlig ungerührt.

„Was denn hier los? Volksversammlung, oder was? “, keuchte Herzelsberger anstelle einer Begrüßung oder gar einer Entschuldigung. Ein bißchen kurzatmig war er von Natur aus, und heute kam anscheinend noch schlechte Laune dazu.

„Hallo Herr Herzelsberger“, flötete Ilse. „Freut uns auch, Sie zu sehen“. Ich hätte Ilse einen Kuß geben können.

„Leute, ich versuche zu arbeiten“, meldete sich Martin zu Wort.

„Ja, ja, schon gut. Wir haben alle zu arbeiten“, schnaufte Herzelsberger. „Ich wollte...“

Er wurde vom Klingeln meines Telefons unterbrochen. Martin schlug stumm die Hände über dem Kopf zusammen. Dann klingelte es auch bei ihm. Er nahm ab und schon nach wenigen Augenblicken tagte er mit erhobener Stimme auf den Anrufer ein.

Ich nahm ebenfalls ab.

„Hallo, wie sieht es denn mit dem Sachsenbrau-Angebot aus?“, wollte eine Frauenstimme wissen. Die Verbindung war ziemlich schlecht, aber es schien Frau Berger zu sein. Auch eine Kollegin aus dem Außendienst, und die benutzten prinzipiell das Handy, auch wenn die Netzstärke gegen Null tendierte und ein Festnetztelefon in Griffweite stand.

„Das Sachsenbrau-Angebot?“, fragte ich, um Zeit zu schinden. Ich kannte den Fall. Sehr knifflig.

Auf Leitung 2 blinkte es. Jemand versuchte mich intern zu erreichen. Das konnte warten.

Frau Berger sagte etwas, aber ich verstand es nicht. Zum Teil lag das an der schlechten Verbindung, zum Teil daran, dass Martin mittlerweile fast in seinen Hörer schrie, um die ganz beachtliche Geräuschkulisse in unserem Büro zu übertönen.

Leitung 3 blinkte ebenfalls.

Auf Anregung unseres Chefs hatten wir ein neues Telefonsystem eingeführt, mit dem jeder von uns bis zu drei Leitungen gleichzeitig bedienen konnte. Wir nahmen wir an, dass sich Gertenschläger davon eine bessere Erreichbarkeit für unsere Kunden versprach. Mir persönlich war nicht klar, warum sich unsere Erreichbarkeit verbessern sollte, nur weil jetzt dreimal so viele Kunden wie vorher in der Warteschleife mit Musik beschallt werden konnten. Aber ich war ja noch am Lernen.

Herzelsberger räusperte sich vernehmlich. Er wollte etwas loswerden und mochte es gar nicht, wenn er warten mußte. Martin wurde noch lauter und fuchtelte mit beiden Händen bedrohlich in der Luft herum.

Frau Berger sagte wieder etwas, was ich nicht genau verstand. Ich schickte Leitung 3 in die Warteschleife. Da gab es beruhigende Musik. Leitung 2 ließ ich einfach weiter blinken. War ja nur ein internes Gespräch.

‚Sie haben eMail erhalten!‘ Ich mußte demnächst unbedingt einen Blick auf meinen Computer werfen.

„Passen Sie auf“, unterbrach ich Frau Berger willkürlich in ihre Wortfetzen hinein. „Haben Sie dem Kunden den schon die Einverständniserklärungen geschickt?“

„E...nv...ä...din is...?!“, rauschte es fragend in der Leitung.

„Genau, Frau Berger! Die muß jeder Kunde unterzeichnen, vorher können wir da gar nichts machen.“

„...?...“, rauschte es.

„Wie bitte, Frau Berger? Die neuen Formulare? Ah, die bekommen Sie direkt von der Rechtsabteilung. Ja, genau!“ Die Antwort der Berger war im wesentlichen ein Rauschen, aber sinngemäß erschien es mir, als ob sie nicht viel davon hielt, direkt mit der Rechtsabteilung zu sprechen. Das hätte es ja noch nie gegeben und überhaupt, wozu ich denn eigentlich da sei?

Falls sie mich damit motivieren wollte, machte sie ihre Sache nicht besonders geschickt.

„Also gut, Frau Berger, dann verbleiben wir so“, säuselte ich in den knisternden Äther. „Sie melden sich wieder, wenn Sie die Unterlagen beisammen haben.“ Ohne eine Erwiderung abzuwarten, die ich weder verstanden noch gemocht hätte, legte ich auf.

Leitung 2 blinkte mit einer Penetranz, die schon fast an Unverschämtheit grenzte. Auch auf meinem Bildschirm blinkte jetzt etwas. Der Computer konnte nicht nur sprechen, er warnte bei bestimmten Ereignissen auch optisch. Zum Beispiel wenn man zu viele unbearbeitete eMails in seinem elektronischen Eingangskorb hatte.

Leitung 3 hingegen hatte aufgegeben. Sehr gut. Die Wirkung einer Überdosis Richard Clydermann war nicht hoch genug einzuschätzen.

‚Sie haben eMail erhalten! Ihr Eingangskorb ist voll, bitte löschen Sie eMail!‘

Frank begann sich langsam von Tamara zu lösen. Benebelt von ihrem Parfum, das selbst unseren Kaktus auf der Fensterbank auszudörren drohte, waren seine Augen ganz stumpf und glasig.

„Also jetzt aber...“, legte Herzelsberger los. Ich beachtete ihn nicht. Das Blinklicht von Leitung 2 begann mich zu hypnotisieren. Ich schaute auf’s Display. Ein interner Anruf. Drei Nullen am Ende! Solche Rufnummern hatten doch nur Vorstände. Vorstände drei Nullen, Bereichsleiter zwei Nullen, Abteilungsleiter eine. Also Ziffern hinten an der Durchwahl, sonst hatte das nichts weiter zu sagen, das mit den Nullen.

„Ich muß jetzt mal auf unsere Personalsituation zu sprechen kommen“, schnaufte Herzelsberger.

„Mir doch egal“, schrie Martin in seinen Hörer.

„Gleich...“, versuchte ich Herzelsberger ruhig zu stellen und griff nach dem Hörer, um Leitung 2 endlich anzunehmen. Aber just in diesem Moment hörte das Blinken auf. Keine Sekunde zu früh, denn Herzelsberger ließ sich jetzt nicht mehr bremsen.

„Wir müssen dringend eine weitere Stelle bei der Pensionskasse besetzen. Da gibt’s Arbeit für zehn Leute und wir haben nur fünf.“

„Aber ich dachte, Gertenschäger hätte schon längst eine weitere Stelle genehmigt?“, fragte ich.

„Hat er auch, hat er auch. Aber wir brauchen keine freien Stellen, wir brauchen Leute“, fauchte Herzelsberger. „

„Hm...“, sagte ich. Das war ja wie im Tollhaus hier.

„Kommt gar nicht in Frage“, ereiferte sich Martin in die relative Stille hinein. Sein Kopf war mittlerweile so rot, wie der von Herzelsberger. Bloß dass der immer so aussah, während Martin an sich ein ruhiger Zeitgenosse war. Ich fragte mich langsam, mit wem er da eigentlich telefonierte. Unser Außendienst war zwar schlimm, aber so schlimm nun auch wieder nicht.

„O.K., ich spreche die Personalsituation mal in der Managementrunde an“, versuchte ich, wenigstens das Gesicht von Herzelsberger wieder ein paar Prozent zu entfärben.

„Nicht ansprechen, Stelle besetzen!“, brummte Herzelsberger, aber er war zufrieden und drehte ab.

„Ist mir scheißegal“, schrie Martin. Jetzt erkannte ich den Tonfall wieder. Das war kein Außendienstler am anderen Ende der Strippe. Das konnte nur seine Ex sein. Wütend knallte Martin den Hörer auf die Gabel. Das würde ein schöner Nachmittag mit seinem Kleinen.

‚Sie haben eMail erhalten!‘

Herzelsbergers 130 Kilo Lebendgewicht schoben sich rücksichtslos zur Tür hinaus und schwemmten Tamara und Frank mit sich hinweg. Falls er es nicht vermasselte, konnte es noch ein schöner Tag für Frank werden, bei so viel Hormonen, die ihm jetzt durch die Adern pulsierten.

Der Geruch von Honig und parfümierten Mandeln begann sich zu verflüchtigen, und ich hatte das Gefühl, unser Kaktus könnte ein bißchen Wasser vertragen.

„Sag mal, Martin, alles in Ordnung“, wollte Ilse wissen. Mein Zimmergenosse hatte gerade mit lautem Knacken seinen Bleistift in der Mitte durchgebissen.

„Sprich‘ mich nicht an. Sprich‘ mich einfach nicht an!“.

Ilse sah zu mir hinüber. Ich wollte ihn nur aufmuntern, sagte ihr Blick.

Lieb von Dir, sagte mein Blick. Aber keine Chance, in diesem Zustand. Gib ihm noch ein paar Minuten.

„Ah, hier sind Sie! Schön. Ich dachte, Sie wären vielleicht schon auf dem Weg zu mir!“. Gertenschlägers rundes Gesicht war in der Tür aufgetaucht und lächelte mir freundlich zu. Niemand kannte dieses Gesicht anders als freudig lächelnd. Ich fragte mich, ob Gertenschlägers Gesichtsmuskulatur nach so vielen Jahren überhaupt noch zu einem anderen Gesichtsausdruck fähig war.

 „Ja, ziemlich was los heute.“ Ich hatte gar nicht gemerkt, dass es bereits kurz vor vier war. Gertenschläger schätzte es eigentlich nicht, wenn er mich in meinem Zimmer abholen mußte. Aber seinem Lächeln tat das keinen Abbruch.

„Was liegt denn so an?“, fragte er schnuppernd. „Ah, Sie hatten Besuch von Frau Isonovic!“

Sie haben eMail erhalten!

„Da ist die Faber-Sache und das Sachsenbrau-Angebot“, erklärte ich. „Dann haben wir eine Umfirmierung und der neue Entwurf für die Deutsche Bau sollte eigentlich auch noch raus. Von daher, wenn Sie heute lieber auf mich verzichten wollen...“, versuchte ich nochmals mein Glück.

„Nein, nein, kommt nicht in Frage“, lächelte Gertenschläger. „Sie stecken ja so tief in Ihren Fällen, das wird Ihnen guttun, mal rauszukommen.“

„Ich dachte nur, weil heute Freitag...“

Eingangskorb ist voll, bitte löschen Sie eMail!

„Na, lassen Sie mal gut sein. Die Fälle laufen uns ja nicht davon, haha. Aber vielleicht sollten Sie bei Gelegenheit mal nach Ihren eMails schauen?“ Gertenschläger strahlte und tätschelte mir aufmunternd die Schulter, während wir uns Richtung Konferenzzimmer in Bewegung setzten. Er meinte es wahrscheinlich sogar gut. Ich winkte Ilse zum Abschied. Sie lächelte aufmunternd.

Ich winkte Martin. Keine Reaktion.

„Was ist denn mit Ihrem Kollegen los?“, raunte Gertenschläger. „Probleme?“

„Nein, nicht ...“

„Sie wissen ja, als stellvertretender Abteilungsleiter müssen Sie immer ein Ohr für die Nöte und Bedürfnisse Ihrer Kollegen haben.“

„Ich...“

„Ja, ich weiß. Aber die Akten sind nicht alles. Wir haben es mit Menschen zu tun. Das darf man nie vergessen. Mit Menschen!“ Gertenschläger strahlte. „Wie Frau Isonovic“, zwinkerte er.

Mir fiel nichts anders ein, als ergeben zu nicken.

Der Konferenzraum beeindruckte mich immer wieder und bestätigte mich in dunklen Stunden, dass ich doch das richtige Unternehmen für meine weitere berufliche Zukunft gewählt hatte. Gut, dass man hier keine Kunden rein ließ. Die hätten sonst nämlich auf dumme Gedanken kommen können, was die Höhe ihrer Prämien betraf.

Neben dem massiven Wurzelholztisch fielen vor allem die französischen Impressionisten ins Auge. Vielleicht waren französische Impressionisten in Konzernzentralen der Finanzbranche jetzt nichts so Besonders. Jedenfalls wenn man sie, wie ich lange Zeit, nur für ausgesprochen hochwertige Drucke hielt. Wenn man wußte, dass es sich um die Originale handelte, sah die Sache nochmal anders aus.

Leider war kaum Gelegenheit, sich eingehender mit dieser feinen Duftnote des Spätkapitalismus auseinanderzusetzen. Kaum hatten wir Platz genommen, erschien wie von Geisterhand eine dampfende Tasse frischer Kaffee vor uns, dann verließen die Service-Kräfte lautlos den Raum, schlossen behutsam die große Doppeltür und das Meeting ging los.

Degenhardt führte den Vorsitz. Er trug als Bereichsleiter die Verantwortung für acht Abteilungen im Bereich Business Customers. Die betriebliche Altersvorsorge gehörte dazu.

Alle Abteilungen waren vollzählig angetreten. Degenhardt legte Wert auf Zuverlässigkeit und Vollständigkeit. Diesem Umstand war auch die an sich ungewöhnliche Tatsache geschuldet, dass die stellvertretenden Abteilungsleiter immer vollzählig mit an der Runde  teilnahmen. So saß Degenhardt einer Runde von 16 Managern vor, anstatt acht, was ihn in seinen Augen wahrscheinlich doppelt so wichtig machte. 

Punkt 1 auf der Agenda war die interne Aus- und Weiterbildung. Das Thema, das mir Tamara ans Herz gelegt hatte.  Degenhardt machte gerade mit wenigen, präzisen Worten klar, dass die Schulungsbudgets weiter gekürzt werden mußten. Ausbildung kam als Kostenblock gleich nach den Personalkosten, und im Gegensatz zu Letzteren konnte man die Schulungskosten relativ leicht beeinflussen. Indem man einfach weniger schulte.

Als erster hatte Müller diese Nachricht verdaut und meldete sich zu Wort. „Völlig richtig“, pflichtete er Degenhardt bei, „wir müssen da alle Einsparpotentiale heben. Allerdings… wir sollten mit Augenmaß agieren...“

Augenmaß war etwas, dessen Degenhardt sich rühmte. Kam gleich nach Zuverlässigkeit. „Schulungsmaßnahmen für Wachstumsfelder sind natürlich ein anderes Thema“, pflichtete er Müller bei. Riester-Produkte zum Beispiel waren zwar nicht erfolgreicher als andere, aber per Management-Beschluß zum Wachstumsfeld deklariert worden. Müller, in dessen Abteilung diese Produkte bearbeitet wurden, nickte dankbar. Er war mit dem Augenmaß seines Chefs sichtlich zufrieden.

„Was ist mit der Pensionskasse?“, flüsterte ich meinem Chef zu. „Die Kollegen brauchen auch eine Weiterbildung!“

Aber es war zu spät. Degenhardt befand, dass alle – außer Müller - ihre Budgets nochmals um zehn Prozent kürzen sollten. Die Runde war zwar nicht erfreut aber sie nickte. Auch mein Chef erhob keine Einwände. Bei schwierigen Entscheidungen war Einstimmigkeit für Degenhardt wichtig. Genauso wichtig wie Zuverlässigkeit und Augenmaß.

Schon waren wir beim nächsten Thema. Die Juristen in der Abteilung von Waldbaum waren völlig überlastet. Da wir alle auf die Juristen bei Waldbaum angewiesen waren, selbst bei der kleinsten Vertragsänderung, war das ein Problem. Noch bevor sich jemand anders zu Wort melden konnte, sprang Müller schon wieder auf. Es schien, als war er heute gedopt.

„Bei der Überarbeitung der neuen Verträge kann meine Abteilung den Kollegen gerne aushelfen. Ich denke, wir sind flexibel genug, um das hinzubekommen.“

Degenhardt strahlte. Flexibilität kam in seinem Wertekatalog gleich nach Zuverlässigkeit, Augenmaß und Einstimmigkeit.

„Guter Vorschlag, oder was meinen Sie, Waldbaum?“

Dr. Waldbaum nickte artig. Ich war mir nicht sicher, wie begeistert er war, dass irgendwelche Sachbearbeiter aus der Abteilung Müller, die gerade keinen Riester-Fall auf dem Tisch hatten, in ihrer freien Zeit mal eben das juristische Kleingedruckte in den Geschäftsbedingungen unseres Konzerns umarbeiteten. Aber er ließ sich nichts anmerken. So ein großzügiges Hilfsangebot konnte er unmöglich vor versammelter Mannschaft ausschlagen, schließlich war er Teamplayer, und Teamgeist kam bei Degenhardt gleich nach Zuverlässigkeit, Augenmaß, Einstimmigkeit und Flexibilität.

Ich beugte mich zu meinem buddhahaft lächelnden Chef und fragte: „Was ist mit den neuen Einverständniserklärungen? Die brauchen wir dringend!“ Buddha nickte weise. Und noch ehe ich richtig begriff, hatte er der versammelten Runde schon strahlend das Angebot gemacht, dass in unserer Abteilung doch die neuen Einverständniserklärungen erarbeitet werden könnten. Man war doch schließlich ein Team.

Degenhardt strahlte. So viel Teamgeist machte ihn richtig stolz.

„Wie soll denn das gehen?“, raunte ich meinem Chef perplex zu. „Wir sind doch völlig unterbesetzt?“

„Sie glauben doch nicht, dass wir uns von Müller die Butter vom Brot nehmen lassen?“, zischte Buddha. „Was der schafft, schaffen wir schon lange“. Mein Chef hatte offensichtlich keine Lust, dass nur Müller heute Pluspunkte für sein Manager-Karma einheimste. Schließlich ging es womöglich um eine Wiedergeburt als Bereichsleiter.

Ich staunte und lernte. Dafür war ich ja hier.

Waldbaum nickte ergeben. Diesmal war ich sicher, einen gequälten Zug um seine Mundwinkel wahrzunehmen. Er ahnte, welche Scherereien ihm diese Amtshilfe noch einbringen würde, wenn die besagten Formulare erst mal im Umlauf waren. Aber er mußte gute Miene zum bösen Spiel machen, er war schließlich Teamplayer. Und das nächste Mal würde er eine Urlaubssperre verhängen, die Kranken aus den Betten holen lassen und zur Not seine drei Kinder als Aushilfskräfte mit ins Büro bringen, bevor er nochmal freiwillig in der Managementrunde von Kapazitätsproblemen berichten würde.

Am Ende war das der Sinn der Übung?

Wie ich Waldbaum so betrachtete, wurde mir klar, dass uns hier in diesem ehrwürdigen Ambiente gerade ein tiefer Einblick in die Grundlagen des modernen Managements zuteil geworden war. Nach Waldbaums Miene zu urteilen, hatte er dieselbe Erleuchtung erfahren.

Leider blieb keine Zeit, diese faszinierende Lektion zu vertiefen, denn die Runde war zum nächsten Tagesordnungspunkt weitergeeilt. Jetzt ging es um das Thema Einstellungen.

Ich beugte ich mich zu Gertenschläger und wisperte: „Wir sollten unbedingt die Neueinstellungen ansprechen.“

Müller schenkte sich gerade eine Tasse Kaffee nach, es bestand also zumindest eine kleine Chance, dass mal jemand anders zu Wort kommen würde.

Zu meiner Überraschung nutzte Gertenschläger tatsächlich die Gunst des Augenblicks und trug der Runde unser Anliegen vor. Wieder eine interessante Lektion. Niemals einen Mitspieler unterschätzen. Selbst wenn es Dein Chef ist.

Degenhardt zog die Stirn in Falten. Kein gutes Zeichen. Einerseits ja, er glaubte uns die Lage, andererseits, Neueinstellungen waren so eine Sache. Hochpolitisch dieser Tage, hochpolitisch.

Da erwachte Müller aus der selbstauferlegten Kontemplation, um ein weiteres Mal uneigennützig in die Bresche zu springen. Der Kaffee verstärkte anscheinend, was immer er heute früh als Muntermacher eingeworfen haben mochte.

„Wie wäre es denn, wenn ich Ihnen einen Kollegen ausborge?“, fragte Müller.

Das würde überhaupt nicht helfen. In die Einarbeitung von Kollegen aus der Müller-Abteilung mußte man erfahrungsgemäß unsäglich viel Zeit investieren. Die hatten wir nicht. Ganz abgesehen davon, dass wir Schulungen ja vorhin einstimmig gestrichen hatten. Aber das waren in einer Runde von Teamplayern wahrscheinlich kaum zulässige Argumente.

Verwegen meldete ich mich selbst zu Wort. „Gäbe es denn eine Chance, den Mitarbeiter fest zu übernehmen?“, krächzte ich in dem Bewußtsein, gerade ein kleines Sakrileg begangen zu haben.

„Ich weiß nicht. Vielleicht sollten wir erst einmal abwarten, wie sich die Situation entwickelt?“, meinte Müller zu Gertenschläger gewandt. Mich ignorierte er völlig. Müllers ganze Mimik signalisierte, dass er hier einen kleinen Finger nach dem anderen hinstreckte und es doch verwunderlich fand, wenn man ihm nun zur Belohnung die ganze Hand abnehmen wollte. Und das von einem kleinen Stellvertreter, einem Greenhorn ohne jegliches Verständnis für die komplexen Sachzwänge des modernen Managements. Das war weder guter Teamgeist, noch gesundes Augenmaß!

Eine weitere interessante Lektion.

Degenhardt sah es ähnlich. „Wir machen das mit der temporären Ausleihe.  Aber bitte keine offizielle Versetzung.“ Er sprach direkt zu Müller und Gertenschläger. Es war, als wäre ich gar nicht anwesend. Ich war eigentlich nicht der Typ, der sich eine solche Behandlung wortlos gefallen ließ. Aber ich war ja zum Lernen hier. Also verbiß ich mir meinen Kommentar und verfolgte den Rest der Diskussion in Schweigen und Demut, um mich nicht weiterer Despektierlichkeiten verdächtig zu machen.

Die Kollegen marschierten von Thema zu Thema, und pünktlich nach 90 Minuten verkündete Degenhardt das Ende des Meetings, zufrieden damit, wieder einmal alle Probleme einvernehmlich und nachhaltig gelöst zu haben. Tatsächlich hatten wir mehr als zehn Tagesordnungspunkte hinter uns gebracht und immer war eine Entscheidung getroffen worden. Jede einzelne ein sorgfältig abgewogenes Produkt aus Zuverlässigkeit, Augenmaß, Einstimmigkeit, Flexibilität und Teamgeist. So, wie Degenhardt es gerne hatte.

In unserem Flur war niemand mehr zu sehen. Ich hoffte, Martin hatte es pünktlich zu seiner Eisenbahn-Ausstellung geschafft. Nicht so sehr wegen dem Kleinen, der war unproblematisch. Aber seine Ex, die war nicht ohne.

„Sie haben sich ja ziemlich aktiv eingebracht“, bemerkte Gertenschläger, der mich noch begleitete. War da ein leiser Vorwurf in seiner Stimme zu hören? Ich hatte schließlich nur einen Satz gesagt. Einen Satz in 90 Minuten.

„Ich denke...“

„Na, das wird schon! Ich muß jetzt dringend los. Habe meiner Frau versprochen, sie ins Theater zu begleiten, Sie wissen schon. Ich hoffe, Sie müssen auch nicht mehr zu lange arbeiten.“ Er tätschelte mir die Schulter. Hatte er das schon immer so gemacht?

„Ich wollte jetzt eigentlich auch Schluß machen.“

„Das verstehe ich nur zu gut. Aber wir haben doch noch offene Fälle, oder?! Sollten Sie da nicht noch mal ran?“

„Aber Sie hatten doch selbst gesagt, die Fälle...“

„Ich hatte gesagt, Fälle sind nicht alles“, korrigierte Gertenschläger milde. „Sie müssen auch andere Dinge im Auge behalten, wenn Sie mal eine gute Führungskraft werden wollen. Das heißt allerdings nicht, dass die Fälle nicht wichtig wären, nicht wahr?“

„Aber...“

„Ich hatte vorhin übrigens einen Anruf von unserem Vertriebsvorstand.“, fuhr Gertenschläger in ruhigem Tonfall fort. Schlagartig fielen mir die vielen Nullen wieder ein.

„Die Faber-Sache?“, fragte ich.

Gertenschläger nickte. „Wollte sich eigentlich direkt bei Ihnen melden. Ein Außendienstler hatte da irgendwas in den falschen Hals bekommen. Hat Sie aber leider nicht erreicht.“ Gertenschläger zog eine Braue in die Höhe. Kein Vergleich mit Tamara, aber für seine Verhältnisse ein ziemlicher Gefühlsausbruch

 „Natürlich habe ich unserem Vorstand versichert, dass wir die Unterlagen noch heute abend raus bekommen“, lächelte er weise. Die Stirnfalte war wieder verschwunden, die Welt wieder in Ordnung.

Ich nickte ergeben.

„Wir haben es eben mit Menschen zu tun“, sinnierte Gertenschläger. „Also dann, ich muß jetzt wirklich los.“ Halb im Lift drehte er sich nochmal um.

„Ach“, meinte er, „und schauen Sie, dass Sie zukünftig das Telefon ein bißchen im Auge behalten. Wir wollen doch beim Vorstand keinen falschen Eindruck von unserer Abteilung wecken, oder?“ Sagte es und war mit einem Lächeln im Aufzug verschwunden. So friedvoll, dass man ihm kaum ernstlich böse sein konnte, wenn man sich nicht wirklich Mühe gab.

Diese Stellvertreter-Sache begann langsam an meinen Nerven zu zehren. Ich mußte zusehen, dass ich schnellstmöglich wieder im Außendienst landete. Und bis es soweit war, würde ich versuchen, die Karriereleiter mindestens noch einen Schritt weiter nach oben zu klettern. Um mir sogleich einen guten Stellvertreter zu suchen!