Saikos Brief

Wenn Du dies liest, bin ich nicht mehr auf Erden. Ich weiß nicht, was der Tod ist, aber ich bin mir ganz sicher, daß meine Freuden, Leiden und Ängste, sobald ich gestorben bin, für immer ein Ende haben. So viele Gedanken an Dich und Shoko werden von dieser Welt bald verschwunden sein. Mein Körper, mein Herz, das alles ist plötzlich nicht mehr da.

Trotzdem wirst Du, viele Stunden oder vielleicht sogar Tage, nachdem ich fortgegangen bin und mich in Nichts verwandelt habe, diesen Brief lesen. Er wird Dir von all dem erzählen, was mich jetzt erfüllt. Genau so wie ich während meines Lebens mit Dir sprach, wird Dir dieser Brief mitteilen, was ich dachte und fühlte, – lauter Dinge, die Du bis dahin noch nicht kanntest. Als ob ich mit Dir plauderte, wirst Du mir zuhören, wirst überrascht und traurig sein und wirst mich schelten. Ganz sicher aber weinst Du nicht. Du wirst – wie allein ich das bei Dir erlebt habe – nur sehr traurig aussehen (Midori-san kennt das bei Dir bestimmt nicht!) und wirst sagen: »Ach, Liebste, wie konntest du das tun!« Ich vermag Dein Gesicht ganz deutlich zu sehen und Deine Stimme zu hören.

Auch wenn ich tot bin, wird sich mein Leben also weiter in diesem Briefe bergen – so lange, bis Du ihn gelesen hast. Wenn Du ihn öffnest und das erste Wort liest, fängt mein Leben an, hell aufzuflammen, und fünfzehn oder zwanzig Minuten lang, bis Du das letzte Wort hinter Dich gebracht hast, werden genau wie zu der Zeit, als ich noch lebte, alle meine Gedanken in jeden Winkel Deines Körpers strömen und Dein Herz mit tausend Erinnerungen füllen. Was für ein wunderliches Ding ist doch ein ›letzter Brief‹! Obgleich das Leben, das dieser Brief enthält, nur fünfzehn oder zwanzig Minuten währt, ja, trotzdem, möchte ich Dir jetzt mein wahres Ich noch offenbaren. Es mag in diesem Augenblick entsetzlich klingen, aber ich habe mich Dir während all der Jahre nicht ein einziges Mal so gezeigt, wie ich wirklich bin. Nur das Ich, das Dir diesen Brief jetzt schreibt, ist mein wahres Ich. Ja, nur dieses allein!

Ich denke noch heute oft daran, wie zauberhaft schön der Tennozan-Berg bei Yamazaki damals aussah und wie naß die roten Herbstblätter von dem feinen Regen waren. Es war kaum zu fassen, daß es auf Erden solche Schönheit gab. Wir brachten uns unter dem alten, verschlossenen Tor des berühmten Teehauses Myokian, das in der Nähe des Bahnhofs steht, vor dem Regen in Sicherheit und schauten zu dem Berg auf, der unmittelbar hinter dem Bahnhof steil in die Höhe stieg und prachtvoll vor unseren Augen dalag. Unbewußt hielten wir vor so viel Schönheit den Atem an. War diese ungewöhnliche Szenerie nur ein launischer Scherz dieses Novemberabends, der langsam schon in Nacht überging? War die seltsame Stimmung an jenem Tage daran schuld, daß in kurzen Abständen immer neuer, feiner Regen vom Himmel strömte? Jedenfalls war der ganze Berg so farbenreich und zaubervoll, daß wir uns fast fürchteten hinaufzusteigen. Dreizehn Jahre sind seitdem vergangen, aber ich weiß noch deutlich, wie erregend hübsch das Laub aussah.

Wir waren damals zum ersten Mal beide allein fortgefahren. Du hattest mich am Morgen durch die Vorstädte von Kyoto mitgenommen, und ich fühlte mich erschöpft. Sicher warst Du auch sehr müde. Als wir den stillen und schmalen Weg zum Tennozan erklommen, stießest Du plötzlich die Worte hervor: »Lieben ist Besessenheit! Es ist doch nichts Schlechtes, daß ich von der Leidenschaft für Teeschalen besessen bin! Wie könnte böse sein, wenn ich von der Liebe zu dir besessen bin?« Und Du fügtest hinzu: »Nur du und ich haben die Schönheit dieses Berges hier erlebt! Jetzt können wir nicht mehr zurück!« Das hörte sich wie die Drohung eines eigensinnigen Kindes an.

Diese törichten, sinnlosen, verzweifelten Worte machten plötzlich meinen Entschluß, Dich zu verlassen (den ich Dir an diesem Morgen hatte mitteilen wollen), zusammenstürzen. Die vage, irre Traurigkeit, die aus Deinen Worten drohte, ließ in meinem Körper das Glück einer Frau, die sich geliebt fühlt, zu einer Blüte kristallisieren.

Wie einfach und leicht ist es für mich, meine eigene Untreue zu verzeihen, während ich es unmöglich fand, Nachsicht mit meinem Manne, Kadota, zu haben.

Du gebrauchtest das Wort Verbrechen zum ersten Mal im Atami-Hotel, als Du zu mir sagtest: »Wir wollen Verbrecher sein!« Erinnerst Du Dich? In der Nacht rüttelte der Sturmwind an den hölzernen Fensterläden unseres Zimmers, das auf das Meer hinausging. Gegen Mitternacht standest Du dann auf und schobst sie zurück, um den Lärm abzustellen, und da entdeckten wir auf hoher See ein Fischerboot, das so hell brannte, als hätte man eine Fackel angezündet. Wir waren gar nicht weiter bestürzt, daß sich da draußen ein paar Menschenleben in höchster Gefahr befanden, uns bewegte nur die Schönheit dieses Anblicks. Aber nachdem Du die Läden wieder geschlossen hattest, wurde ich doch unruhig und öffnete sie erneut. Das Boot war jedoch wohl schon verbrannt, ich entdeckte keine Spur mehr von ihm auf den Wellen, es breitete sich eine ungeheure, trübe Ruhe auf der dunklen Wasserfläche.

Bis zu dieser Nacht hatte ich mich immer wieder bemüht, mich von Dir zu trennen. Allein, als ich jenes brennende Boot sah, gab ich den Kampf auf und fügte mich meinem Schicksal. »Wir wollen Verbrecher sein!« sagtest Du, und »Willst du mir nicht helfen, Midori zu betrügen, solange wir leben?« Da antwortete ich Dir ohne das geringste Zögern: »Ja, weil wir nicht anders können als Verbrecher zu sein, wollen wir große Verbrecher sein! Solange wir leben, wollen wir nicht nur Midori, sondern auch alle anderen betrügen!« Und in dieser Nacht konnte ich zum ersten Mal, seit wir uns heimlich verbunden fühlten, wieder ruhig schlafen.

Ich glaube, ich habe in dem Boot, das, von keinem bemerkt, draußen auf dem Meer verbrannte, das Schicksal unserer hoffnungslosen Liebe erkannt. Sogar jetzt noch, wo ich Dir schreibe, steht dieses Boot, das strahlend in der Finsternis verbrennt, wie eine Vision vor mir. Was ich in jener Nacht auf dem Meer sah, war ohne Zweifel das jammervolle irdische Leid eines Frauenlebens.

Aber was soll es, sich in diesen Erinnerungen zu verlieren. Die dreizehn Jahre, die damals begannen, waren natürlicherweise mit Kummer und vielen Traurigkeiten angefüllt, und doch bin ich überzeugt, daß ich glücklicher war als irgendeine andere Frau. Immerzu von Deiner großen Liebe umfangen, darf ich wohl behaupten: ich fühlte mich so glücklich, daß es beinahe zu viel des Glückes war.

Heute habe ich tagsüber in meinem Tagebuch gelesen. Ich fand, daß ich die Worte Tod, Verbrechen und Liebe allzu häufig gebrauchte, und das erinnert mich jetzt daran, daß der Weg, den ich mit Dir ging, wahrlich nicht einfach gewesen ist. Aber die stattliche Schwere dieses Kollegheftes war, als ich es in die Hand nahm, auch das Gewicht meines Glücks. Verbrechen, Verbrechen, Verbrechen – ja, immerzu quälte mich das Bewußtsein, ein Verbrechen zu begehen, und ich sah Tag für Tag dem Phantom des Todes ins Gesicht, denn ich war entschlossen, in dem gleichen Augenblick, da Midori davon erführe, zu sterben. Erlangte sie auf irgendeine Weise Kenntnis von unserer Liebe, so war ich, sagte ich mir, verpflichtet, mein Verbrechen mit dem Tod zu sühnen. Aber mein Glück war nur um so unvergleichlicher groß.

Wer hätte es denn ahnen können, daß es außer meinem Ich noch ein anderes gibt? (Dich irritiert vielleicht diese Ausdrucksweise, aber ich weiß nicht, wie ich es sonst sagen soll!) Ja, in dieser Frau Saiko haust noch eine andere, die ich bisher nicht kannte! Eine andere, von deren Existenz Du niemals erfahren hast und von der Du Dir nie hättest träumen lassen.

Einmal sagtest Du, jeder Mensch trage eine Schlange in sich. Du besuchtest damals Dr. Takeda von der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Kyoto. Ich wartete, während Du Dich mit ihm unterhieltest, in dem langen Korridor des düsteren Backsteingebäudes und betrachtete die in Kästen ausgestellten Schlangen. Als Du nach einer halben Stunde wiederkamst, war mir bei diesen Schlangen fast übel geworden.

Mit einem Blick auf die Glaskästen meintest Du scherzend: »Diese ist Saiko. Diese da Midori. Und die bin ich. Jeder Mensch trägt so eine Schlange in sich. Du brauchst dich nicht so zu ängstigen!« Midori-sans Schlange war eine kleine, sepiafarbene aus Südasien, und die, von der Du behauptet hattest, es sei die meine, war klein, über und über mit Tupfen bedeckt, stammte aus Australien, und ihr Kopf war so spitz wie ein Bohrer. Was meintest Du mit diesen Worten? Ich habe Dich nie danach gefragt, aber sie trafen mich tief, und ich habe sie nie wieder vergessen können. ich sann oft darüber nach, was die Schlange eines jeden Menschen wohl bedeutete, und manchmal glaubte ich, es sei der Egoismus, ein andermal bezeichnete ich so die Eifersucht oder, ganz allgemein, das Schicksal.

Noch jetzt weiß ich es nicht genau. Ich bin nur wie Du überzeugt, daß auch in mir eine solche Schlange lebt. Und diese Schlange ist mir heute zum ersten Mal erschienen.

Sie ist mein anderes Ich, von dem ich bisher selber nichts wußte. Ja, das ist meine Schlange.

Sie tauchte plötzlich heute nachmittag auf. Als Midori mich besuchen kam und in mein Zimmer trat, trug ich den graublauen Haori aus Yuki-Seide, den Du mir vor langer, langer Zeit einmal aus Mito hattest kommen lassen, einen Überwurf, den ich ganz besonders liebe. Er erregte Midori-sans Aufmerksamkeit im gleichen Augenblick, als sie bei mir eintrat. Sie schien bestürzt, hielt plötzlich im Sprechen inne und verstummte dann eine Weile ganz und gar. Zunächst glaubte ich, sie sei nur eben überrascht, daß ich für heute ein so exzentrisch wirkendes Gewandstück ausgewählt hatte, und so schwieg ich, halb boshaft, ebenfalls.

Dann aber sagte sie, wobei sie mich mit kalten Augen musterte:

»Das ist doch der Haori, den du damals trugst, als du mit Misugi in Atami warst? Ich habe euch gesehen!«

Ihr Gesicht war überraschend bleich und ernst, und ihre Stimme klang scharf und spitz wie ein Dolch, den sie mir ins Herz zu stoßen gedachte.

Zunächst wußte ich überhaupt nicht, was sie meinte. Doch kurz darauf ging mir die ganze Bedeutung ihrer Worte auf, ich zog meinen Kimono mechanisch zusammen und setzte mich, als sei dies nun nötig, sehr aufrecht hin.

Wußte sie denn tatsächlich alles? Und schon seit so langer Zeit?

Seltsamerweise fühlte ich mich ruhig, so etwa, als stünde ich in einer Abendstunde am Meer und blickte auf die aus der Ferne heranrollenden Wellen. Fast hätte ich mit einer herzlichen, mitleidvollen Geste nach ihrer Hand gegriffen und gesagt: »Oh, du weißt also alles?«

Nun war der Augenblick gekommen, vor dem ich mich schon immer gefürchtet hatte, aber ich spürte nicht die leiseste Angst in mir. Ein Geräusch so sanft wie das der Wellen am Strande füllte den Raum zwischen uns beiden aus. Der Schleier des Geheimnisses, das Du und ich dreizehn Jahre lang gehütet hatten, war zwar grausam zerrissen worden, aber was ich jetzt vorfand, war nicht der Tod, der mich in Gedanken immer verfolgt hatte. Es war – ja, wie soll ich es nennen? – eine Art von Stille und Friede, eine ganz seltsame Ruhe. Ich war zutiefst erleichtert. Die dunkle, schwere Bürde, die so lange auf meinen Schultern gelegen hatte, war nun endlich fort, und statt ihrer war ein wunderlich den Tränen nahes, leeres Gefühl in mir. Ich erkannte, daß ich über vieles nachzudenken hatte. Es war nichts Dunkles und Trauriges, sondern kam von weither und war still und friedlich. Ich wurde von einer Art Rausch ergriffen, den ich als Befreiung empfand. Wie geistesabwesend saß ich da und starrte in Midori-sans Augen. Ich hörte nicht einmal, was sie sagte.

Als ich zu mir kam, hatte sie das Zimmer schon verlassen und eilte mit heftigen Schritten den Korridor entlang.

»Midori-san!« rief ich ihr nach.

Warum wollte ich sie zurückrufen? Ich weiß es selber nicht. Vielleicht wünschte ich mir, daß sie noch länger, ja immerfort bei mir säße. Wäre sie zurückgekommen, hätte ich vielleicht ganz schlicht zu ihr gesagt: »Würdest du mir Misugi jetzt nicht in aller Form zurückgeben?« Oder ich hätte mit gleichem Herzen das genaue Gegenteil gesprochen: »Nun ist die Zeit da, dir Misugi wieder zurückzugeben.«

Ich weiß wirklich nicht, welcher der beiden Sätze aus meinem Mund gekommen wäre.

›Wenn Midori-san unser Geheimnis entdeckt, werde ich sterben!‹ Was war das doch für ein komisches Traumgespinst! ›Verbrechen, Verbrechen, Verbrechen‹ – was für ein sinnloser Begriff von Verbrechen! Muß denn jemand, der seine Seele verkauft hat, unbedingt selber ein Teufel sein? Hatte ich nicht sogar Gott und mich selber dreizehn Jahre lang betrogen?

Dann schlief ich tief. Als Shoko mich wachgerüttelt hatte, taten mir alle Gelenke so weh, daß ich nicht aufzustehen vermochte. Ich fürchtete, es breche nun plötzlich die furchtbare Erschöpfung der letzten dreizehn Jahre aus. Als ich zu mir kam, sah ich meinen Onkel neben meinem Kopfkissen sitzen. Du bist ihm einmal begegnet, er ist Unternehmer. Er war gekommen, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Aber er war in Geschäften nach Osaka unterwegs und konnte daher nur eine halbe Stunde bleiben. Er erzählte mir von allen möglichen Dingen und mußte bald wieder gehen, doch während er auf dem Vorplatz seine Schuhbänder knüpfte, bemerkte er: »Kadota hat also vor einiger Zeit geheiratet!«

Kadota! Wieviel Jahre hatte ich seinen Namen nicht mehr gehört! Natürlich meinte mein Onkel meinen ehemaligen Mann, Reiichiro Kadota. Er erwähnte ihn nur nebenher, aber ich taumelte fast zurück.

»Wann?« Meine Stimme zitterte so stark, daß ich es selber spürte.

»Im letzten Monat oder im Monat davor. Er soll sich in der Nähe seines Krankenhauses in Hyogo ein neues Haus gebaut haben.«

»So?« Das war alles, was ich mit Mühe hervorbrachte.

Als mein Onkel fortgegangen war, schleppte ich mich langsam, Schritt für Schritt, den Korridor entlang und lehnte mich unterwegs an einen Pfeiler im Empfangszimmer. Mir war plötzlich schwindlig geworden, ich fürchtete irgendwie tief hinunterzufallen. Doch dann strömte ganz von selber etwas Kraft in meinen Arm, der sich an dem Pfeiler festhielt, und während ich so, aufrecht stehend, durch das Fenster sah, zitterten draußen die Bäume im Wind, aber um mich herrschte eine unangenehme Stille wie in dem Wasser eines Aquariums.

»Oh, jetzt ist alles aus!« flüsterte ich vor mich hin.

Ich wußte selber nicht recht, was ich damit meinte, doch Shoko, die unerwartet neben mir stand, fragte erstaunt: »Was ist aus?«

»Ich weiß nicht.«

Ich hörte, wie sie kicherte, und spürte, wie mich ihre Hand leicht im Rücken stützte.

»Was redest du denn da? Geh doch lieber wieder zu Bett!«

Weil mich Shoko drängte, kehrte ich mit verhältnismäßig kräftigen Schritten in mein Schlafzimmer zurück, aber als ich mich auf das Bett setzte, war mir, als stürzte, wie bei einem Dammbruch, alles schrecklich ineinander. Quer dahockend, den einen Arm auf das Futon gestützt, hatte ich mich, obgleich es mir schwerfiel, einigermaßen in Kontrolle, solange Shoko in meiner Nähe saß. Aber kaum war sie in die Küche hinausgegangen, brach ich in lautes Schluchzen aus, und die Tränen strömten mir nur so über die Wangen.

Bis zu diesem Zeitpunkt hätte ich es nie für möglich gehalten, daß die einfache Tatsache von Kadotas Heirat mich so vernichtend treffen könnte. Was war aus mir geworden? Wie konnte das nur geschehen? Nach einer Weile – ich weiß nicht, wieviel Zeit inzwischen vergangen war – sah ich plötzlich durch das Fenster, daß Shoko im Garten welkes Herbstlaub verbrannte. Die Sonne war schon untergegangen. Es war der ruhigste Abend meines ganzen Lebens.

»Oh, du verbrennst es schon?« rief ich mit unterdrückter Stimme, als hätten wir da irgend etwas verabredet. Ich nahm aus der hintersten Ecke meiner Schublade mein Tagebuch heraus. Natürlich verbrannte Shoko das Laub, damit ich mein Tagebuch mit hineinwerfen konnte. Das konnte, dachte ich, doch gar nicht anders sein. Ich trat mit dem Heft auf die Veranda hinaus, setzte mich in den Liegestuhl und las eine Weile darin. Es war ein Tagebuch, in dem ich die Worte Verbrechen, Tod und Liebe unzählige Male aneinandergereiht hatte. Es waren die reuigen Aufzeichnungen einer Sünderin. Die Schriftzeichen Verbrechen, Tod und Liebe, die ich dort dreizehn Jahre lang Gestalt hatte werden lassen, hatten ihre strahlende, lebendige Farbe völlig eingebüßt, sie taugten gerade noch dazu, jetzt mit dem Laub, das Shoko verbrannte, als violetter Rauch zum Himmel aufzusteigen. Als ich das Heft Shoko übergab, war ich gleichzeitig entschlossen, mich umzubringen. Ich fühlte, daß die Zeit gekommen war, wo ich zu sterben hatte. Vielleicht ist es aber richtiger zu sagen, daß ich einfach die Kraft zum Leben nicht mehr besaß.

Kadota war, nachdem wir uns getrennt hatten, allein geblieben. Doch hatte ihm eigentlich nur immer die günstige Gelegenheit zu heiraten gefehlt. Er war zu Studien ins Ausland gegangen, während des Krieges nach Südasien geschickt worden, und so war es geschehen, daß er sich seit unserer Trennung nicht mehr verheiratet hatte. Erst jetzt sah ich ein, daß diese Tatsache für mich als Frau eine unsichtbare, gewaltige Hilfe bedeutet hatte. Bitte, glaube mir, was ich Dir jetzt sage! Ich habe Kadota seit unserer Scheidung wirklich nicht wieder gesehen, auch nicht gewünscht, ihm zu begegnen, und ich hörte nur durch Verwandte in Akashi ein paar zufällige Gerüchte über ihn.

Ich habe Jahre lang sogar die Schriftzeichen für Kadota vergessen!

Es ist jetzt Nacht geworden. Nachdem Shoko und das Mädchen in ihre Zimmer gegangen waren, nahm ich ein Photo-Album vom Bücherbord. Es enthält ungefähr zwanzig Bilder von Kadota und mir.

Vor einigen Jahren hat Shoko einmal bemerkt: »Ein paar Bilder von dir, Mama, und solche von Vater sind so eingeklebt, daß gerade Gesicht auf Gesicht zu liegen kommen!«

Ich war bestürzt. Natürlich hatte Shoko dies ohne jede Hinterabsicht gesagt, aber ich fand nun tatsächlich, daß gewisse Bilder, die kurz nach unserer Heirat aufgenommen worden waren, auf gegenüberliegenden Seiten so eingeklebt waren, daß unsere Gesichter, wenn man das Album schloß, aufeinanderlagen. Damals antwortete ich nur: »Was redest du denn für Unsinn!« Und damit war das Gespräch darüber zu Ende. Allein, Shokos Worte blieben in mir haften, und etwa einmal im Jahr mußte ich deutlich daran denken. Trotzdem habe ich die Bilder bis auf den heutigen Tag nicht herausgenommen oder sie anderswo eingeklebt. Aber jetzt fühlte ich, daß der Zeitpunkt gekommen war, sie dort herauszulösen. So entfernte ich Kadotas Bilder aus meinem Album und tat sie in das von Shoko, damit sie sie lange als Erinnerung an ihren Vater, als er noch jung war, hüten konnte.

Ja, das Ich, das ich bisher selber nicht gekannt hatte, war solch ein Wesen! Die kleine Schlange aus Australien, die, wie Du einmal meintest, in mir lauert, hat heute morgen ihren weiß getupften Körper plötzlich sehen lassen. Und die sepiafarbene Schlange aus Südasien, Midori-sans Schlange also, hat unser Atami-Geheimnis mit ihrer roten Zunge verschluckt und dann die unschuldigste Miene aufgesetzt.

Was ist diese Schlange, die, wie Du sagtest, jeder Mensch in sich hat? Ist es Egoismus, Eifersucht, Schicksal oder das Karma, das dies alles umfaßt und von dem wir uns nicht befreien können? Wie schade, daß ich Dich nun nicht mehr danach fragen kann. Und doch: was für ein trauriges Wesen ist so eine Schlange! Einmal las ich in einem Buch die Worte »Traurigkeit des Lebens«, und nun da ich Dir diesen Brief schreibe, verspüre ich wirklich etwas unsagbar Trauriges und Kaltes, aus dem uns nichts mehr zu retten vermag. Was ist denn diese Qual, die jeder in sich trägt?

Jetzt, da ich Dir das alles geschrieben habe, wird mir plötzlich klar, daß ich Dich mein wahres Ich noch immer nicht sehen ließ. Mein Entschluß, den ich gefaßt habe, als ich diesen Brief begann, droht langsam zusammenzubrechen, und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als all dem Grauenhaften zu entfliehen.

Was ist das für eine klägliche Ausflucht, von einem »Ich, das ich selber nicht kenne« zu reden! Ich schrieb Dir, ich hätte zum ersten Mal die kleine Schlange in mir entdeckt. Sie sei mir erst heute erschienen.

Das war gelogen. Es stimmt nicht! Ich kenne sie schon seit langem.

Mir ist, als zerspringe meine Brust, wenn ich an die Nacht des 6. August zurückdenke, als die Wohnviertel zwischen Osaka und Kobe in ein Meer von Flammen verwandelt wurden. Shoko und ich waren schon geraume Zeit in dem kleinen, von Dir gebauten Luftschutzgraben gewesen, aber sobald das Dröhnen der B-29 den Himmel über uns erfüllte, stieß mich das in eine abgrundtiefe Einsamkeit. Was war das für eine unsagbare, herzerdrückende Einsamkeit! Ich war zum Verzweifeln einsam! Ich spürte, daß ich unmöglich länger still sitzen konnte, tappte ins Freie hinaus, und da sah ich Dich stehen.

Überall war der Himmel zu einem tiefen Rot entzündet. Das Feuer hatte in der Nähe unseres Hauses begonnen, und nun liefst Du plötzlich zu mir her, und wir standen beide am Eingang unseres Luftschutzgrabens. Schließlich begaben wir uns zusammen hinein, aber kaum war ich dort, fing ich laut zu weinen an. Du und Shoko, ihr dachtet wohl, ich sei vor lauter Angst hysterisch geworden, und auch ich konnte mich selbst später noch, wenn ich darüber nachdachte, nicht begreifen. Verzeih mir! Ich war zwar von Deiner Liebe zärtlich umfangen, von einer Liebe, die viel größer war, als ich es verdiente, aber ich wünschte mir damals sehnlichst, daß ich, genau so wie Du jetzt zu mir geeilt warst, den Unterstand von Kadota aufsuchen könnte, der sich vor seinem schmucken, weißen Krankenhaus in Hyogo befand, das ich von der Eisenbahn aus einmal gesehen hatte. Zitternd vor unwiderstehlichem Verlangen, unterdrückte ich dieses, haltlos schluchzend, nur mit allergrößter Mühe.

Und doch war ich damals meines anderen Ichs nicht zum ersten Mal gewahr geworden. Als Du mir vor einigen Jahren in der Universität sagtest, ich trage eine kleine Schlange in mir, war ich bestürzt und fühlte mich wie versteinert. Ich habe mich vor Deinen Augen nie zuvor so gefürchtet wie damals. Vielleicht sprachst Du ohne Absicht, aber ich hatte das Gefühl, daß Du mir tief ins Herz blicktest, und so krampfte sich mein ganzer Körper verzweifelt zusammen. Das zornige Unbehagen, das mir die Nähe wirklicher Schlangen bereitet hatte, verflüchtigte sich auf der Stelle. Und als ich furchtsam zu Dir aufsah, standest Du aus irgendeinem Grunde völlig geistesabwesend da und blicktest, die nicht angezündete Zigarette im Mund, versonnen in die Weite. So etwas hatte ich bei Dir noch nie erlebt. Einen so ausdruckslosen Blick habe ich bei Dir noch nie gesehen! Doch das alles dauerte nur einen Augenblick, und als Du Dich mir zuwandtest, war in Deinem Gesicht wieder der mir so wohlbekannte, sanfte Ausdruck.

Bis dahin hatte ich mein anderes Ich noch in keiner festen Gestalt erfassen können, aber nun war es von Dir benannt worden, und ich gewöhnte mich daran, mir mein Ich als eine kleine Schlange vorzustellen. In dieser Nacht schrieb ich über diese Schlange in mein Tagebuch. Während ich dort die Worte ›kleine Schlange, kleine Schlange‹ mehrmals hintereinandersetzte, sah ich ganz deutlich, wie sie sich in einer sich verjüngenden Spirale um sich selber gewunden hatte und ihr Kopf an der Spitze scharf wie ein Bohrer zum Himmel ragte; es tröstete mich ein wenig, an mein fürchterliches und widerwärtiges Ich in einem so reinen Bild zu denken, das die Traurigkeit und Hingabe eines Frauenlebens trefflich zum Ausdruck brachte. Sogar Gott, meinte ich, würde die Gestalt einer kleinen Schlange rührend und erbarmenswert finden und Mitleid mit mir haben. Mit dieser Vorstellung wollte ich ganz unbewußt meine Lage ein wenig erleichtern. Und von dieser Nacht an schien ich eine noch größere Sünderin geworden zu sein.

Nun, da ich Dir das alles so offen geschrieben habe, will ich Dir auch noch den Rest gestehen. Bitte, sei mir nicht böse! Es geht um jene stürmische Nacht vor dreizehn Jahren, die Nacht, in der wir uns geschworen haben, Verbrecher zu sein und alle Welt zu betrügen, damit wir unsere Liebe bewahren und nähren könnten.

Kurz nachdem wir uns diese verwegene, irre Liebe gelobt hatten, wußten wir nicht, was wir einander noch sagen sollten. Ich lag mit dem Rücken auf dem gestärkten Bettlaken und sah schweigend zur Dunkelheit auf. Es gab in meinem ganzen Leben keine Stunde mehr, die so seltsam eindrucksvoll gewesen wäre. Ich kann freilich nicht mehr genau sagen, ob es nur fünf, sechs Minuten waren oder ob wir eine halbe oder ganze Stunde schwiegen.

Ich fühlte mich unsagbar einsam. Ich vergaß ganz und gar, daß Du ebenso neben mir lagst, und ich war völlig in meine Einsamkeit verloren. Wir besaßen doch jetzt gewissermaßen eine vereinte Kampflinie, warum fühlte ich mich nur so hilflos und einsam, während wir doch gleichzeitig unerhört reich und glücklich waren? Du hattest Dich in jener Nacht entschlossen, alle Welt zu betrügen. Aber ich nehme an, daß Du nicht etwa beabsichtigtest, auch mich zu betrügen. Doch ich – ich nahm Dich bei meinem Gelübde nicht aus! ›So lange ich lebe, will ich Midori-san, die ganze Welt, und auch dich und mich selber betrügen – das ist mein Schicksal!‹ Dieser Gedanke flackerte wie ein Irrlicht tief auf dem Grund meines einsamen Herzens.

Ich hätte die Bande zu Kadota, von denen ich nicht weiß, ob sie auf Liebe oder Haß beruhten, unbedingt abschneiden müssen. Mochte seine Untreue auch nur eine unbedeutende Verfehlung dargestellt haben, es überstieg meine Kraft, sie ihm zu verzeihen. Und es war mir gleichgültig, was aus mir würde und was ich dann tat. Ich fühlte mich furchtbar bedrückt und sehnte mich verzweifelt nach irgend etwas, was mir geholfen hätte, diese Qual zu ersticken.

Aber wie unvernünftig war das! Heute, nach dreizehn Jahren ergeht es mir nicht anders.

Lieben, geliebt werden – was für ein jammervolles Menschentun! Als ich im zweiten oder dritten Jahr in die Mädchen-Oberschule ging, wurden wir bei einer Prüfung in Englischer Grammatik nach aktiven und passiven Verbformen, also etwa ›schlagen-geschlagen werden‹, ›sehen-gesehen werden‹ gefragt. Unter vielen solchen Beispielen befand sich auch das blendende Wortpaar ›lieben-geliebt werden‹. Während nun jedes Mädchen, den Bleistift im Munde kauend, eifrig auf diese Fragen starrte, wurde mir – ein nichtsnutziger Einfall irgendeiner meiner Mitschülerinnen – von hinten heimlich ein Blatt Papier zugesteckt, auf dem ich zwei Sätze vorfand: »Möchtest du lieben? Oder möchtest du geliebt werden?« Unter die Worte »Möchtest du geliebt werden?« waren viele Kreise mit Tinte und den verschiedensten Blau- und Rotstiften geschrieben worden, während unter »Möchtest du lieben?« kein einziges Ja-Zeichen zu sehen war. Ich bildete keine Ausnahme und setzte meinen kleinen Kreis unter die Frage »Möchtest du geliebt werden?« Die Mädchen begriffen offenbar schon mit vierzehn, fünfzehn Jahren, wenn sie noch gar nicht wissen, was Liebe und Geliebtwerden bedeutet, instinktiv das Glück, geliebt zu werden.

Aber als dann während der Prüfung das Mädchen neben mir das Papier aufnahm, schaute es nur flüchtig darauf und machte, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, mit ihrem dicken Bleistift einen großen Kreis auf die leere Stelle. Das hieß: »Ich möchte lieben!« Noch heute erinnere ich mich genau, daß ich, obgleich mir eine solche Entschiedenheit fast abstoßend erschienen war, dadurch tief verwirrt wurde, so als hätte mich jemand geschickt aus einem Hinterhalt verwundet. Es handelte sich um eine nicht besonders begabte Schülerin unserer Klasse, ein unauffälliges, etwas düster wirkendes Mädchen. Ich weiß nicht, was aus diesem Kind, dessen Haare bräunlich schimmerten und das immer allein war, später geworden ist. Aber noch jetzt, nach zwanzig Jahren, muß ich, während ich dies niederschreibe, aus irgendeinem Grunde an das Gesicht dieses einsamen Mädchens denken.

Wenn eine Frau am Ende ihres Lebens ruhig ihr Antlitz der Wand des Todes zukehrt, wird da Gott einer Frau, die das Glück, geliebt zu werden, genossen hat, oder einer Frau, die sagen kann, sie habe, obgleich sie dabei nicht glücklich wurde, mit heißem Herzen geliebt, – den ewigen Frieden schenken? Aber gibt es denn auf dieser Erde überhaupt Frauen, die vor Gott behaupten können, sie hätten geliebt? Ja, das gibt es. Jenes Mädchen mit den dünnen Haaren ist vielleicht zu einer von diesen wenigen Auserwählten herangereift. Mit wirren Haaren, am ganzen Leib verwundet und in abgerissenen Gewändern, erhebt sie wohl stolz ihr Gesicht zum Himmel auf und sagt: ich habe geliebt! Und dann tut sie den letzten Atemzug.

Ach, wie ich es hasse! Ich möchte weit, weit fortlaufen! Aber das Gesicht dieses Mädchens holt mich immer wieder ein, so sehr ich mich auch bemühe, sie abzuschütteln. Ich bin nun am Ende meiner Kraft. Woher wohl diese furchtbare Unruhe vor dem Tode rührt, der in wenigen Stunden hier erscheinen wird? Ich werde jetzt unausweichlich als eine Frau bestraft, welche die Qual des Liebens nicht hat ertragen wollen und nur immer nach dem Glück, geliebt zu werden, jagte.

Es macht sehr traurig, daß ich nach dreizehn Jahren eines Lebens, das dank Deiner großen Liebe glücklich war, Dir solches schreiben muß.

Der Zeitpunkt, von dessen Kommen ich fest überzeugt war, der Augenblick, wo das auf dem Meer in Flammen stehende, unvergeßliche Boot zu Ende brennt, ist nun da. ich bin zu matt, um noch weiterzuleben. Endlich ist es mir gelungen, Dir mein wirkliches Ich zu zeigen. Es ist zwar nur ein Leben in einem ›letzten Brief‹ und dauert wohl auch nur fünfzehn oder zwanzig Minuten, aber es ist doch mein, Saikos, wirkliches Leben!

Laß es mich am Schluß dieses Briefes noch einmal sagen: diese dreizehn Jahre waren wie ein Traum. Aber ich war, dank Deiner übergroßen Liebe, glücklich – glücklicher als irgend ein anderer Mensch auf Erden.