Brief von Shoko

Lieber Onkel Josuke!

Wie unheimlich schnell sind die drei Wochen vergangen, seit Mama tot ist! Seit gestern ist kein einziger Beileidsbesuch mehr gekommen, das ganze Haus ist mit einem Mal unheimlich verwaist. Seit Mama nicht mehr auf Erden ist, bin ich einsam, – einsam bis auf den Grund meines Herzens. Du bist sicher schrecklich erschöpft! Du hattest ja alles übernommen, was bei einem solchen Trauerfall getan werden muß – von der Versendung der Traueranzeigen bis zur Sorge um das Nachtmahl für die Totenwache. Außerdem hast Du, da Mama ja unter so ungewöhnlichen Umständen starb, statt meiner noch mit der Polizei gesprochen. In allem hast Du äußerste Umsicht bewiesen. Ich weiß wirklich nicht, mit welchen Worten ich Dir danken soll. Hoffentlich bricht während Deiner Geschäftsreise nach Tokyo nicht all die Müdigkeit, die in Dir steckt, plötzlich aus!

Nach Deinen Plänen, die Du mir vor Deiner Abreise zeigtest, müßtest Du jetzt in Tokyo mit allem fertig sein, und ich stelle mir vor, wie Du Dich in die Waldlandschaft der Izu-Halbinsel verliebt hast, die ja, wie ich weiß, immer so wundervoll heiter ist, mir aber trotzdem oft wie ein auf Porzellan gemaltes, fast melancholisch stimmendes Bild vorkommt. Ich begann diesen Brief heute in der Hoffnung, daß Du ihn noch auf Izu lesen würdest.

Ich hatte vor, Dir einen Brief zu schreiben, nach dessen Lektüre Du Lust verspürst, Dich mitsamt Deiner Pfeife von dem herrlichen Wind mächtig durchblasen zu lassen, aber das will mir nun, so sehr ich mir auch Mühe gebe, nicht gelingen. Ich bin kläglich gescheitert und habe schon eine Menge Briefpapier zerrissen. Dabei hatte ich überhaupt nicht mit irgendeiner Schwierigkeit gerechnet. Ich wollte Dir nur aufrichtig meine Gefühle schildern und Dich in einer gewissen Sache um Deine Zustimmung bitten. Ich hatte mir sorgfältig überlegt, wie ich es Dir sagen könnte, und gewissermaßen alle Vorbereitungen zu diesem Briefe abgeschlossen, aber als ich dann zur Feder griff, drang alles, was ich Dir hatte sagen wollen, entsetzlich verwirrend auf mich ein – ach nein, so war das eigentlich gar nicht. Alle nur erdenkbaren Traurigkeiten stürmten von allen Seiten auf mich los, – so wie an windigen Tagen die weißen Wogenköpfe am Strand von Ashiya zerschellen! Aber ich will diesen Brief doch weiterschreiben …

Lieber Onkel! Soll ich Dir etwas gestehen? Ich weiß alles über Dich und Mama! Ich erfuhr es am Tag vor ihrem Tod. Ich habe heimlich Mamas Tagebuch gelesen.

Wie peinigend und schwierig wäre es gewesen, wenn ich Dir das alles hätte mündlich erzählen müssen. Ich hätte es sicher gar nicht fertiggebracht, Dir zusammenhängend zu berichten. Ich kann das heute nur, weil ich es Dir in einem Briefe schreibe. Aber ich bin keineswegs etwa entsetzt oder ängstlich! Nur sehr traurig! Meine Zunge ist wie gelähmt vor Schmerz. Und ich bin nicht nur wegen Dir oder Mama oder über mich selber betrübt, sondern eigentlich über alles auf der Welt, über den blauen Himmel über mir, den Oktober-Sonnenschein, die Rinde des Lagerströmien-Baumes, die Bambusblätter im Wind, ja sogar über das Wasser, die Steine und den Erdboden. Alles, die ganze Natur hat plötzlich die Farbe der Trauer angenommen. Seit ich Mamas Tagebuch las, weiß ich, daß die Farben der Natur sich täglich zwei- und dreimal, manchmal sogar fünf- oder sechsmal verändern, und daß dies genauso unerwartet geschieht, wie die Sonne sich plötzlich hinter Wolken versteckt. Sobald ich über Dich und Mama nachsinne, ist auf einmal alles um mich anders! Weißt Du, daß es außer den über dreißig Farben in einem Farbtub-Kasten noch eine weitere, für Menschenaugen sehr wohl sichtbare Farbe gibt – die der Traurigkeit?

Aus dieser Affäre zwischen Dir und Mama habe ich gelernt, daß es eine Liebe geben kann, die niemand segnet und die auch von niemandem gesegnet werden kann. Nur Du und Mama, nur Ihr beide, wußtet von Eurer Liebe, niemand anderer sonst, Deine Frau Midori weiß nichts davon, und auch ich nicht; keiner Deiner Verwandten ahnt irgend etwas, und auch die Nachbarn, die gleich neben unserem Hause und auf der anderen Straßenseite wohnen, ja, sogar Deine liebsten Freunde wissen nichts! Und sie sollen es auch nicht erfahren. Jetzt, da Mama tot ist, weißt nur Du allein davon. Und wenn Du später einmal diese Welt verlassen hast, wird sich niemand auch nur träumen lassen, daß es das einmal gab. Ich war bis jetzt überzeugt, daß die Liebe wie die Sonne ist, hell und strahlend, und sie für immer von Gott und den Menschen gesegnet und gepriesen wird. Ich glaubte, daß die Liebe langsam wie ein klares, dahinfließendes Wasser wächst, wie ein Fluß, der wundervoll im Sonnenschein leuchtet und dessen Ufer voll Gräser, Bäumen und Blüten ist. Das, so meinte ich, sei die Liebe. Wie hätte ich mir eine Liebe vorstellen können, die von der Sonne nicht beschienen wird? Eine Liebe, die irgendwoher irgendwohin fließt, tief in der Erde wie ein unterirdischer Strom?

Mama hat mich dreizehn Jahre lang getäuscht, und noch als sie starb, hielt sie die Wahrheit vor mir verborgen. Ich hätte das niemals für möglich gehalten. Ich hätte es mir nicht träumen lassen, daß es zwischen Mama und mir so ein Geheimnis gibt! Mama pflegte zu sagen, wir beide seien Mutter und Tochter, die man ganz allein auf Erden zurückgelassen hat. Aber sie weigerte sich standhaft, mir offen zu erzählen, warum sich mein Vater von ihr einst hat scheiden lassen. Sie behauptete, ich würde das, sobald ich heiratete, schon noch begreifen. Wie begierig ich war, endlich so alt zu sein! Ich wollte durchaus nicht ungeduldig irgendwelche Einzelheiten darüber erfahren, was sich zwischen den beiden zugetragen hatte. Ich wußte, wie schwer es für sie war, mir etwas zu verschweigen. Ja, es schien untragbar für sie zu sein! Und so kann ich es jetzt gar nicht fassen, daß Mama es fertiggebracht hat, noch ein weiteres Geheimnis vor mir zu hüten.

Als ich ein Kind war, erzählte mir Mama die Geschichte von dem Wolf, der von einem Dämonen besessen war und einen kleinen Hasen ins Verderben lockte. Der Wolf wurde wegen dieser Untat in einen Stein verwandelt. Mama betrog mich, sie betrog Midori, sie betrog jedermann! Oh, es ist grauenvoll! Was in aller Welt hat Mama dazu gebracht? Was für ein schlimmer Dämon ist in sie gefahren? Ja! Mama hat in ihrem Tagebuch selber das Wort Verbrecher gebraucht. »Ich und Misugi werden Verbrecher sein. Und weil wir nun keine andere Möglichkeit mehr haben, als Verbrecher zu sein, wollen wir große Verbrecher sein!« Arme, arme Mama! Sie war ärmer als der Wolf, der den kleinen Hasen in eine Falle lockte. Wie konntet Ihr, Du und Mama, Euch nur dazu entscheiden, Verbrecher zu sein, große Verbrecher? Wie grauenvoll ist das, daß eine Liebe nicht existieren kann, ohne Schuld auf sich zu laden! Als ich ein Kind war, kaufte man mir auf dem Tempelmarkt zur Feier des Shoten-san in Ninomiya als Papierbeschwerer eine Glaskugel, in der rote, künstliche Blütenblätter waren. Ich nahm die Kugel und ging damit weiter, aber plötzlich fing ich zu schluchzen an. Keiner konnte das begreifen. Nun war ich wie diese Blütenblätter, die in einem kalten Glase unbeweglich gefroren sind und sich überhaupt nicht bewegen können, – Blütenblätter, zum Tode verurteilt! Als ich mir überlegte, wie den Blättern wohl zumute war, befiel mich damals als Kind eine unbeschreibliche Traurigkeit. Und diese Traurigkeit ist jetzt in mich zurückgekehrt. Die Liebe zwischen Dir und Mama gleicht jenen Blütenblättern.

Lieber Onkel Josuke!

Vielleicht zürnst Du mir, daß ich Mamas Tagebuch heimlich gelesen habe. Am Tag vor ihrem Tod ahnte ich es fast, daß sie sich nie wieder erholen würde. Irgend etwas in ihrem Aussehen vermittelte mir die furchtbare Gewißheit, daß ihre letzte Stunde unaufhaltsam näher rückte. Das einzig Besorgniserregende in den letzten sechs Monaten war das ständige, leichte Fieber, aber Mama hatte immerhin unveränderten Appetit, sie sah, wie Du weißt, frisch aus, und ihr Körpergewicht nahm sogar etwas zu. Und doch erschien mir ihr Rücken, insbesondere die Linie von ihrem Hals bis zu den Schultern, seltsam traurig. Am Tage, bevor sie starb, kam Midori, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, und ich begab mich in Mamas Zimmer, um ihr den Besuch zu melden, aber als ich die Schiebetür öffnete, erschrak ich zutiefst. Mama saß auf dem Bett, ihr Gesicht war von mir abgewandt, und sie trug einen blaugrauen Haori-Überwurf aus Yuki-Seide mit großen, hellen Distelmustern, den sie bisher, in Papier gewickelt, in ihrem Schrank verwahrt gehalten und mir als Geschenk schon einmal versprochen hatte. Diesen Haori fand sie für sich allzu heiter, und so trug sie ihn bis zu diesem Augenblick auch nie.

»Was hast du denn?« fragte sie, wandte mir ihr Gesicht zu und konnte offenbar nicht recht begreifen, was mich so bestürzt hatte.

»Aber …« stammelte ich, doch dann wußte ich nicht recht, wie ich fortfahren sollte, und kurz darauf erinnerte ich mich kaum mehr, was mich so erschreckt hatte. Statt einer Antwort begann ich zu lachen. Mama war in ihrer Kleidung schon immer extravagant gewesen, und so konnte es eigentlich gar nicht überraschen, daß sie das helle Gewand aus früheren Jahren irgendwann einmal anlegte, um zu sehen, ob es ihr noch immer gefalle. Seit sie krank geworden war, nahm sie gern Gewänder, die sie schon lange nicht mehr getragen hatte, aus dem Schrank, um sich, wie ich vermute, auf diese Weise ein wenig zu zerstreuen. Aber als ich sie in diesem Haori vorfand, war ich doch bestürzt. Sie sah so hübsch darin aus, daß ich, ohne zu übertreiben, sagen könnte, sie sei mir gesund und frisch erschienen, – aber sie wirkte gleichzeitig erschreckend einsam und traurig. Ich hatte sie noch nie so gesehen. Midori folgte mir in Mamas Zimmer nach. »Oh, wie hübsch!« rief sie aus, nahm aber dann schweigend, und als sei sie von Mamas Schönheit bezaubert, neben ihr Platz.

Den ganzen Tag über mußte ich daran denken, wie wunderschön aber erschreckend verlassen Mamas von dem Haori umhüllte Schultern ausgesehen hatten. Es war, als hätte mir jemand eine kalte Bleistange ins Herz gerammt.

Gegen Abend legte sich der Wind, der bis dahin heftig gestürmt hatte, ich rechte, zusammen mit unserem Mädchen Sadayo, das abgefallene Laub im Garten zusammen und verbrannte es. Am Tag davor hatte ich bereits ein Bündel Reis-Stroh bereitgelegt, das wir zu einem phantastisch hohen Preis gekauft hatten, und daraus wollte ich Strohasche für Mamas Holzkohlenbecken machen. Da trat Mama, die uns durch die Fenster des Empfangszimmers zugesehen hatte, plötzlich auf die Veranda. In ihrer Hand hielt sie ein in Kartonpapier gewickeltes, kleines Päckchen.

»Verbrenne das mit!« bat sie mich.

»Was ist das denn?«

»Das ist gleichgültig«, erwiderte sie mit mir ungewohnter Strenge. Aber nach einer Weile besann sie sich wohl und sagte in ruhigem Ton:

»Es ist ein Tagebuch. Mein Tagebuch. Verbrenne das Päckchen so, wie es ist!«

Dann wandte sie sich ab und ging mit wunderlich schwankenden Schritten fort, als trage sie der Wind hinweg.

Es dauerte etwa eine Stunde, bis die Strohasche fertig war. Schließlich waren die letzten Strohhalme aufgeflammt und hatten sich in violetten Rauch verwandelt. Ich war jetzt fest entschlossen. Mit Mamas Tagebuch unter dem Arm begab ich mich heimlich in mein im ersten Stock des Hauses liegendes Zimmer hinauf und versteckte es tief hinter dem Bücherbord. In dieser Nacht erhob sich erneut ein heftiger Wind. Als ich von meinem Fenster hinuntersah, kam mir der Garten im Licht des unheimlich weißen Mondes wild wie der Strand irgend eines sehr nördlichen Landes vor, und das Rauschen des Windes erinnerte mich an Wogen, die sich schäumend brachen. Mama und Sadayo waren bereits schlafen gegangen, ich war ganz allein auf. Ich stapelte fünf, sechs dicke Bände eines Konversationslexikons an der Tür, damit diese nicht so leicht geöffnet werden konnte, zog die Vorhänge zu – ich fürchtete mich sogar vor dem Mondlicht, das ins Zimmer floß! – und rückte meine Tischlampe zurecht. Hierauf öffnete ich das Päckchen, fand ein Kollegheft, das Mama als Tagebuch benutzt hatte, und legte es ins Lampenlicht.

Lieber Onkel Josuke!

Mich hat hierbei vor allem die Furcht geleitet, ich könnte, falls ich diese Gelegenheit ungenützt verstreichen ließe, in meinem ganzen Leben nie mehr etwas über meinen Vater und über Mama erfahren. Bis dahin glaubte ich naiv, ich sollte mich so lange gedulden, bis ich heiratete, Mama würde mir dann schon einiges erzählen. Aber als ich nun Mama in ihrem Haori erblickt hatte, fühlte ich mich jeder Hoffnung beraubt. Ich war überzeugt, daß Mama nie wieder gesund würde.

Die Gründe, warum meine Eltern sich getrennt hatten, waren mir von meiner Großmutter in Akashi und einigen anderen Verwandten einmal angedeutet worden. Ich erfuhr, daß mein Vater, als ich fünf Jahre alt war und mit Mama, Großmutter und den Dienstmädchen in Akashi wohnte, an der Universität Kyoto gerade in Kinderheilkunde promovieren wollte, da kam an einem sehr windigen Apriltag plötzlich eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm und wollte Mama sprechen. Kaum hatte sie das Empfangszimmer betreten, legte sie das Baby in die Tokonoma-Nische, und als Mama Tee hereinbrachte, fand sie zu ihrer Bestürzung die junge Frau in einem langen Unterkleid, das sie ihrem Reisekörbchen entnommen hatte. Die Frau war geistesgestört. Später hieß es, das schlecht genährte Baby, das in der Tokonoma-Nische eine Weile unter den Nanten-Früchten geschlafen hatte, sei das Kind meines Vaters und dieser Frau.

Das Baby soll kurz darauf gestorben sein, und die Frau, deren Krankheit zum Glück nur vorübergehender Art gewesen war, erholte sich bald wieder. Sie soll heute mit einem Kaufmann in Okayama glücklich verheiratet sein. Kurz nach jenem Zwischenfall verließ Mama Akashi eilig mit mir, und mein Vater, den die Familie meiner Mutter adoptiert hatte, zog fort. Als ich dann schon in die Oberschule ging, sagte meine Großmutter eines Tages zu mir: »Saiko ist viel zu eigensinnig gewesen. Es war doch damals nichts mehr zu ändern …«

Vielleicht ist Mama in Fragen der Reinheit allzu empfindlich gewesen, und sie hat aus diesem Grunde meinem Vater seinen Fehltritt einfach nicht verzeihen können. Das ist alles, was ich hiervon weiß. Bis zu meinem siebenten oder achten Lebensjahr war ich überzeugt, daß mein Vater nicht mehr lebte. Man hat mich in dem Glauben erzogen, er sei tot, und noch jetzt werde ich dieses Gefühl nicht los. So oft ich mich auch darum bemühe, ich kann mir meinen Vater, der, eine Wegstunde von hier entfernt, noch immer unverheiratet, ein großes Krankenhaus leitet, gar nicht vorstellen! Ja, selbst wenn er wirklich noch lebte – mein Vater ist schon vor langer Zeit gestorben!

Ich öffnete die erste Seite von Mamas Tagebuch. Das erste Wort, das ich da in meiner Aufregung entdeckte, war ein Wort, mit dem ich am allerwenigsten gerechnet hatte. Es hieß: Verbrechen. Die Worte Verbrechen, Verbrechen, Verbrechen standen, wohin ich auch schaute, und sie waren so leidenschaftlich geschrieben, daß ich Mamas Hand kaum mehr darin erkennen konnte. Und als sei Mama unter dem Gewicht dieser aufeinandergetürmten Worte ›Verbrechen‹ zu Boden gestürzt, so stand da wie ein Aufschrei: »Gott, vergib mir! Midori-san, vergib mir!« Alles andere nahmen meine Augen nicht mehr wahr, nur die Worte dieser einen Zeile erschienen wie Dämonen grauenhaft lebendig und starrten mich mit drohenden Gesichtern an, als wollten sie sich auf mich stürzen. Ich schloß das Tagebuch sofort. Es war ein furchtbarer Augenblick. Rings um mich war alles totenstill, ich vernahm nur das laute Pochen meines Herzens. Ich stand auf, um mich noch einmal zu vergewissern, daß Tür und Fenster fest zu waren. Und als ich zu meinem Tisch zurückkam, öffnete ich das Tagebuch entschlossen wieder. In einem Gefühl, als sei ich nun selber ein Teufel, verschlang ich es von seiner ersten bis zur letzten Seite. Aber ich fand nicht eine Zeile über das, was ich so ungeduldig zu wissen begehrt hatte, den Grund nämlich, warum meine Eltern auseinandergegangen waren. Ich erfuhr nur von dem heimlichen Verhältnis zwischen Dir und Mama, eine Sache, die ich nicht im Traum für möglich gehalten hätte. Mama hat ihre Empfindungen in diesem Tagebuch mit wilder Leidenschaft zu Papier gebracht. Manchmal litt sie offenbar sehr unter dieser Liebe, manchmal war sie glücklich, ein andermal betete sie, dann wieder war sie verzweifelt oder gar entschlossen, sich umzubringen – ja, sie hat oft ernstlich erwogen, ob sie sich nicht das Leben nehmen sollte! Falls durch irgendeinen Zufall Midori entdeckte, was zwischen Dir und ihr vorging, wollte sie sich, schrieb sie, töten. Ich vermag es mir einfach nicht vorzustellen, daß Mama, die sich doch immer heiter und fröhlich mit Midori unterhielt, sich so entsetzlich vor ihr geängstigt hat!

Nachdem ich das Tagebuch zu Ende gelesen hatte, wußte ich, daß Mama in den letzten dreizehn Jahren der Gedanke an den Tod schwer bedrückt hat. Gelegentlich trug sie vier, fünf Tage, manchmal zwei, drei Monate lang nichts in ihr Tagebuch ein. Aber auf jeder Seite stand sie dem Tod gegenüber. »Wäre der Tod nicht die allerbeste Lösung? Er erledigt doch alles!« Wie kam sie zu so verzweifelten und zügellosen Reden? »Was hat einer, der auf das Sterben vorbereitet ist, noch zu fürchten? Saiko, du mußt viel tapferer sein!« Was brachte meine sanfte Mama dazu, so rebellische Worte zu äußern? War das Liebe? War es jenes schöne und strahlende Gefühl, das man Liebe nennt? Einmal schenktest Du mir zu meinem Geburtstag ein Buch mit dem Bild einer stolzen, nackten Frau, die aufrecht an einer Quelle stand. Sie ließ das lange Haar ihren Oberkörper herunterwallen, und ihre beiden Hände hielten ihre wie Knospen aufragenden Brüste umspannt. In diesem Buche hieß es, das sei die Liebe. Aber wie ganz anders war die Liebe zwischen Euch beiden!

Von dem Augenblick an, als ich Mamas Tagebuch las, verwandelte sich Midori für mich plötzlich in jemand, den ich mehr als irgend einen anderen Menschen auf dieser Welt fürchtete. Mamas heimliches Leid hatte sich nun in mein eigenes verwandelt. Oh, diese Midori, die mich einmal zärtlich mit spitzen Lippen auf meine Wangen geküßt hat! Midori, die ich so liebte, daß es mir schwergefallen wäre zu entscheiden, ob sie oder Mama meinem Herzen näher stand. Niemand anderer als Midori hatte mir einen Schulranzen mit rosa Rosenmustern geschenkt, um meinen ersten Schulgang in Ashiya zu feiern! Und als unsere Klasse in ein Sommerlager nach Yura in der Tango-Landschaft fuhr, gab Midori mir einen großen Schwimmgürtel mit, der wie eine Möve aussah. Als ich im zweiten Schuljahr bei einem Schulfest das Grimmsche Märchen vom Däumling aufsagen sollte, übte Midori vorher fast jeden Abend mit mir und belohnte mich, wenn ich meine Sache gut gemacht hatte. Oh, wie viele solcher Beispiele könnte ich aufzählen! Bei jeder meiner Jugenderinnerungen treffe ich auf Tante Midori. Midori, Mamas Cousine und vertrauteste Freundin! Midori, die früher so gut Mahjong und Golf spielte, prachtvoll schwamm und Ski fuhr, während sie heute nur mehr tanzt. Midori hat mir oft Kuchen gebacken, die größer als mein Gesicht waren. Einmal hat sie mich und Mama sogar mit einer Gruppe junger Takarazuka-Tänzerinnen überrascht! Oh, wie brachte sie es nur fertig, wie eine große, strahlende Rose immer fröhlich in mein und Mamas Leben einzudringen!

Nur einmal ahnte ich dunkel Mamas und Dein Geheimnis. Es geschah vor einem Jahr. Ich war mit einer Freundin am Morgen zur Schule fortgegangen, und wir befanden uns bereits am Bahnhof, da entdeckte ich plötzlich, daß ich mein englisches Lesebuch vergessen hatte. Ich bat meine Freundin, auf mich zu warten, und rannte nachhause, um es zu holen. Aber als ich vor dem Tor stand, ergriff mich aus irgendeinem Grunde eine mächtige Hemmung hineinzugehen. Das Dienstmädchen war an jenem Morgen zu Besorgungen weggegangen, und so konnte also nur Mama im Hause sein. Und doch war ich tief beunruhigt. Ich fürchtete mich plötzlich. So stand ich also zögernd vor dem Tor und starrte auf das Azaleen-Gebüsch und verzichtete schließlich darauf, das Buch zu holen. Ich rannte zum Bahnhof Shukugawa zurück, wo meine Freundin auf mich wartete. Ich vermochte mir die seltsame Angst selber nicht zu erklären. Ich hatte das Gefühl, daß Mama, falls ich hineinging, in furchtbare Verlegenheit geriete und sie sehr traurig aussehen würde. Verzweifelt lief ich, Kieselsteine vor mir herstoßend, auf dem am Ashiya-Fluß entlangführenden Weg bis zum Bahnhof. Dort angelangt, setzte ich mich auf eine hölzerne Bank im Wartesaal, lehnte mich zurück und hörte nichts von dem, was mir meine Freundin alles erzählte.

Eine solche unerklärliche Ahnung überkam mich nur dieses eine Mal. Noch nachträglich erfüllt mich tiefes Grauen. Was für furchtbare Dinge gibt es im Leben! Wer weiß denn, ob nicht auch Midori irgendwann einmal die gleiche Vorahnung heimgesucht hat wie mich? Midori, die beim Kartenspielen so stolz darauf war, daß sie die Absichten des Partners messerscharf erspüren konnte! Es ist grauenhaft, darüber auch nur nachzudenken, aber meine Sorge ist ja nun lächerlich und nicht mehr nötig. Heute ist alles vorbei. Das Geheimnis wurde gewahrt. Nein, Mama starb, um ihr Geheimnis zu behalten! Ich bin fest davon überzeugt.

An jenem Unheilstag, bevor noch Mamas Schmerzen begannen, Schmerzen, die zwar nur kurz währten, aber so grauenvoll waren, daß man sie einfach nicht mitansehen konnte – rief mich Mama und sagte mit einer wunderlich glatten Miene, die wie die einer Puppe im Bunraku-Theater aussah: »Ich habe eben Gift genommen. Ich bin es müde. Zu müde, noch länger zu leben.«

Sie schien nicht zu mir, sondern durch mich hindurch zu Gott zu sprechen, und ihre Stimme klang seltsam klar. Sie hörte sich wie Himmelsmusik an. Ich vernahm deutlich, wie die Worte Verbrechen, Verbrechen, Verbrechen, die ich in der Nacht zuvor in ihrem Tagebuch gelesen hatte, Worte, die so hoch wie der Eiffelturm aufeinandergeschichtet waren, nun krachend zu Boden stürzten. Das Gewicht jenes vielstöckigen Gebäudes Verbrechen, das dreizehn Jahre lang bestanden hatte, erschlug meine zu Tode erschöpfte, arme Mama und riß sie für immer aus dieser Welt. Unfähig, irgend etwas zu denken, hockte ich am Boden und folgte ihren Blicken, die auf irgendeinen Punkt in der Ferne gerichtet zu sein schienen, doch plötzlich packte mich ein irrer Zorn. Ja, es war wirklich ein Zorn, eine heiße, aufkochende, unbeschreibliche Wut gegen – ich weiß nicht was. Während ich noch in Mamas schmerzerfülltes Gesicht starrte, sagte ich knapp: »So? Ja, ich verstehe.«

Ich antwortete, als ginge mich das alles nichts an. Kaum waren aber diese Worte aus meinem Mund, da spürte ich, wie mein Herz so kalt wurde, als hätte jemand eisiges Wasser darübergegossen, und ich stand so unfaßlich ruhig auf, daß es mich selber erstaunte. Ich begab mich jedoch nicht durch das Empfangszimmer, sondern schritt wie träumend durch den langen, rechtwinkligen Korridor, – da plötzlich begannen Mamas kurze Schmerzensschreie, die so grauenhaft klangen, als würde sie von den trüben Fluten des Todes verschlungen! Ich rannte ans Telephon und rief Dich. Aber nach fünf Minuten kamst nicht etwa Du, sondern es stürzte, in schrecklicher Verwirrung, Midori ins Haus. Mama starb, während ihre Hand in der Midoris lag, eines Menschen, den sie mehr als irgendeinen anderen geliebt und gleichzeitig gefürchtet hat. Midori legte ein weißes Tuch über Mamas Gesicht, das nun weder Schmerz noch Traurigkeit mehr kannte.

Lieber Onkel Josuke!

Die erste Nacht darauf, während der Totenwache, war so still, daß sie gar nicht mehr wie eine Nacht auf dieser Erde erschien. Das Gehen und Kommen einer Menge von Leuten, des Polizisten, des Arztes und der Nachbarn – all das war mit dem Anbruch der Nacht mit einem Male zu Ende, und nur Du, Midori und ich waren vor Mamas Sarg geblieben. Wir alle schwiegen, als lauschten wir am Strand auf das leise Heranrollen der Wellen. Jedesmal, wenn ein Weihrauch-Stäbchen zu Asche verbrannt war, steckte abwechselnd einer von uns ein neues an, faltete vor Mamas Photo die Hände im Gebet und öffnete dann leise das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Du schienst am traurigsten von uns zu sein. Als Du aufstandest, um ein neues Weihrauch-Stäbchen zu opfern, betrachtetest Du lange das Photo, und es huschte aus irgendeinem Grunde, den wir nicht ahnten, ein leises Lächeln über Deine Lippen. Wie schwer Mamas Leben auch immer gewesen sein mag, vielleicht war es – so mußte ich in jener Nacht immer wieder denken – schließlich doch glücklich.

Etwa um neun Uhr, als ich zum Fenster ging, brach ich plötzlich in lautes Schluchzen aus. Du erhobst Dich, legtest Deine Hände auf meine Schultern und gingst dann wieder zu Deinem Sitz zurück. Aber ich weinte dieses Mal nicht aus Schmerz darüber, daß Mama tot war. Mir war eingefallen, daß Mama, kurz bevor sie starb, nicht ein einziges Mal Deinen Namen gerufen hatte, und ich wunderte mich, warum, als ich Dir telefonierte, Mama liege im Sterben, nicht Du herbeigeeilt kamst sondern Midori. Während ich über all das nachsann, überwältigte mich plötzlich unbeschreibliche Traurigkeit. Ich glaube, ich weinte aus Mitleid mit Dir, weil Ihr, Du und Mama, bis zum letzten Tag ihres Lebens gezwungen wart, Euch zu verstellen, um Eure Liebe zu schützen, und ich erinnerte mich gerührt der Blütenblätter in dem Papierbeschwerer, die in der Glaskugel gekreuzigt waren! Ich stand auf, öffnete das Fenster, blickte zornig zu dem kalten Himmel auf und unterdrückte die Verzweiflung in mir, die sich in lautem Schreien zu lösen versuchte. Aber als mir einfiel, daß eben in diesem Augenblick Mamas Liebe zum Sternenhimmel aufstieg, und diese ihre – niemandem bekannte – Liebe heimlich durch die vereinzelten Sterne hindurch nach oben eilte, konnte ich mich nicht länger beherrschen. Verglichen mit der tiefen Traurigkeit jener zum Himmel emporsteigenden Liebe erschien mir die Traurigkeit über Mamas Tod fast bedeutungslos.

Als ich beim Nachtessen die Stäbchen für den Sushi-Reis aufnahm, brach ich noch einmal in heftiges Weinen aus. Midori sagte zu mir sanft und mit ruhiger Stimme:

»Versuche doch, dich ein wenig zu beherrschen. Ich bin sehr traurig, daß ich nicht weiß, wie ich dich trösten könnte!«

Als ich mir die Tränen aus den Augen wischte und zu ihr aufsah, bemerkte ich, daß auch sie weinte. Während ich ihre hübschen, nassen Augen betrachtete, schüttelte ich stumm den Kopf. Midori bemerkte diese winzige Bewegung gar nicht weiter. Dieses Mal weinte ich, weil mir Midori furchtbar leid tat. Als ich sah, wie sie vier Reis-Schälchen mit Sushi füllte, das eine für Mama als Opfergabe, eines für Dich, eines für mich und das letzte für sich selber, da fand ich, daß Midori am allermeisten zu bedauern war. Und so brach ich erneut in Schluchzen aus.

In der Nacht weinte ich noch einmal. Ich war nebenan schlafen gegangen, weil Du und Midori mir wegen des anstrengenden Tages, der uns bevorstand, das geraten hattet. Ich fiel sofort in Schlaf, aber ich wachte, über und über schweißgebadet, bald wieder auf. Ich schaute auf die Uhr, die auf der Etagère stand: es war nicht mehr als eine Stunde vergangen. In dem Raum neben mir, wo der Sarg war und Ihr beide Euch aufhieltet, herrschte die gleiche Ruhe wie vorher. Das einzige Geräusch entstand, wenn Du dann und wann Dein Feuerzeug gebrauchtest. So verging eine halbe Stunde. Da hörte ich Dich sagen:

»Willst du dich etwas ausruhen, Midori? Ich bleibe auf.«

»Nein, danke. Schlafe du ein wenig«! Ich vernahm diese kurze Unterhaltung zwischen Euch beiden, dann fiel alles wieder in die alte Stille, die fortan auch nicht mehr gestört wurde. Unter der Decke weinte ich bitterlich ein drittes Mal. Du hättest mich auf keinen Fall hören können. Ich weinte, weil mir alles furchtbar und jammervoll erschien. Ihr – Mama, die nun schon zu Buddha geworden war, Du und Midori – waret nun in einem und demselben Raum. Jeder von Euch beiden hatte wohl so seine Gedanken, aber er sprach mit keinem Wort davon. Als ich darüber nachsann, kam mir die Welt der Erwachsenen unerträglich einsam vor.

Lieber Onkel Josuke!

Ich habe hier zusammenhanglos alles mögliche zusammengeschrieben. Ich wollte Dir meinen augenblicklichen Gemütszustand genau schildern, weil ich Dich nun um Deine Zustimmung für etwas bitten will.

Es handelt sich nur um folgendes. Ich möchte Dich und Midori nie wieder sehen. Ich kann Dich nicht so wie bisher, als ich das Tagebuch von Mama noch nicht gelesen hatte, wie ein kleines Mädchen umschmeicheln, und ich will auch bei Midori nicht mehr kindlich eigensinnig meinen Willen durchsetzen. Ich möchte aus der furchtbaren Verworrenheit des Wortes Verbrechen, das Mama getötet hat, endlich herauskommen. Es fehlt mir an Kraft, Dir mehr als dies zu sagen.

Die Sorge für das Haus in Ashiya übertrage ich Herrn Tsumura, einem meiner Verwandten. Ich selber will mich für einige Zeit nach Akashi zurückziehen und meinen Lebensunterhalt durch ein kleines Geschäft für europäische Moden verdienen. Mama hat mir als letzten Willen aufgetragen, immer alles mit Dir zu besprechen, aber sie hätte mir das nicht befohlen, wenn sie ihre Tochter so sähe, wie sie jetzt ist.

Ich verbrannte Mamas Tagebuch heute im Garten. Das große Kollegheft hat sich in eine Handvoll Asche verwandelt, und ein kleiner Wirbelwind wehte sie, während ich einen Eimer holen ging, um Wasser daraufzugießen, mit den vergilbten Blättern fort.

Mit gleicher Post übersende ich Dir einen Brief, den Mama Dir geschrieben hat. Ich entdeckte ihn, nachdem Du schon nach Tokyo abgefahren warst, beim Aufräumen auf ihrem Tisch.