Die letzte Nummer des ›Jägerfreundes‹, einer wenig umfangreichen Zeitschrift des ›Japanischen Jägerclubs‹, hat von mir ein Gedicht mit dem Titel ›Das Jagdgewehr‹ gebracht.

So liegt es vielleicht nahe zu vermuten, ich sei am Jagen interessiert, aber meine Mutter, die mich erzog, hat leidenschaftlich jede Art von Töten gehaßt, und ich hielt bis heute nie auch nur ein Luftgewehr in der Hand. Das Gedicht erschien vielmehr deswegen, weil ein ehemaliger Klassenkamerad aus dem Obergymnasium die Zeitschrift ›Jägerfreund‹ herausgibt und mich, der ich noch immer, auf meine Weise, dichte und in privaten Literatur-Blättchen publiziere, um ein Gedicht für eben diese Zeitschrift gebeten hat. Vielleicht entsprang seine Initiative einer flüchtigen Laune, vielleicht wollte er sich auf diese Weise bei mir entschuldigen, daß er schon lange nichts mehr von sich hatte hören lassen. Es handelt sich hier jedenfalls um eine Fachzeitschrift, mit der ich imgrunde nicht das Geringste zu tun habe. Normalerweise hätte ich, da der Herausgeber wünschte, ich sollte das Thema meines Gedichts aus dem Bereich der Jagd wählen, einen solchen Auftrag gar nicht angenommen, aber dank irgendeines Zufalls hatte damals der Zusammenhang zwischen der Jagd und der Einsamkeit des Menschen mein Interesse als Dichter erregt, und ich spürte den Drang, darüber ein Gedicht zu schreiben. So fand ich diese Zeitschrift nicht ungeeignet, saß Ende November, als man schon die Winterkälte langsam aufsteigen fühlte, bis nach Mitternacht vor meinem Tischchen, schrieb ein Prosagedicht in meinem Stil und sandte es am nächsten Tag ungesäumt an die Redaktion des ›Jägerfreundes‹.

Dieses Prosagedicht ›Das Jagdgewehr‹ steht mit gewissen Vorgängen, die ich hier aufzeichnen will, in Zusammenhang und so möchte ich es hier einmal niederschreiben.

Eine große Matrosenpfeife im Mund,

läßt er Setter-Hunde vor sich her laufen,

stapft mit hohen Stiefeln über die Eiszapfen der Erde

und steigt auf engem Pfad durch das Gestrüpp hinauf zum frühwinterlichen Amagi-Berg.

An seinem Gurt trägt er 25 Schuß Jagdmunition,

seine Lederjacke ist dunkelbraun

und darüber hängt die Churchill-Doppelflinte.

Was bewog ihn wohl, sich so kalt zu bewaffnen

mit diesem schimmernden Stahlrohr, das Leben vernichtet?

Warum bewegt mein Herz so

der Rücken dieses großen, zufällig vorüberschreitenden Jägers?

Seit diesem Tag,

auf Großstadt-Bahnhöfen und spät in der

Nacht in Amüsierlokalen,

überfällt mich unversehens

ach, der Wunsch, wie dieser Jäger dahinzugehen,

gemächlich, ruhig und kalt.

In solchen Augenblicken sehe ich immer,

was hinter dem Jäger sich breitet:

nicht etwa die frühwinterliche Landschaft des Amagi-Bergs,

sondern ein verödetes, weißes Flußbett.

Das schimmernd geputzte Jagdgewehr drückt seine ganze Last

tief in Seele und Leib des einsamen Mannes von mittleren Jahren,

strahlt eine seltsame, blutbefleckte Schönheit aus,

die, wenn das Gewehr auf Lebendes zielt,

niemals erscheint.

Als mir mein Freund die Nummer mit diesem Gedicht zuschickte und ich flüchtig darin blätterte, entdeckte ich in meiner Zerstreutheit nun zum ersten Mal, daß dieses Gedicht trotz seines scheinbar passenden Titels überhaupt nicht in diese Zeitschrift hineingehörte und nur zu offensichtlich mit den dort häufig wiederholten Schlagworten ›Die hohe Kunst des Jagens‹, ›Sportgeist‹, ›Gesunde Liebhaberei‹ in nicht übersehbarem Widerspruch stand. Die Stelle auf der Seite, wo mein Gedicht stand, schien innerhalb der Nummer einen ganz besonderen Bereich zu bilden und war gleich einer Ausländischen Niederlassung von den anderen Beiträgen isoliert. Was ich in meinem Gedicht gesagt hatte oder doch zum Ausdruck bringen wollte, betraf gleichwohl das Wesen der Jagdflinte, so wie ich es intuitiv erschaut zu haben glaubte. Ich brauchte mich dieses Gedichts nicht zu schämen, ich empfand sogar etwas wie Stolz. Wäre es in einer anderen Zeitschrift erschienen, hätte niemand etwas dagegen einwenden können, aber diese hier war das Organ des ›Japanischen Jäger-Clubs‹, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Jagd als einen außerordentlich gesunden und männlichen Sport zu propagieren. In einer solchen Zeitschrift war meine Auffassung vom Jagen geradezu ketzerisch und hätte entschieden zurückgewiesen werden müssen. Kaum war ich mir dessen klar geworden, erkannte ich, in welcher Verlegenheit sich mein Freund befunden haben mußte, und ich war ihm für seine Liebenswürdigkeit, mein Gedicht, wenn auch wohl erst nach einigem Zögern, abzudrucken, von Herzen dankbar, ja, ich fühlte mich fast ein wenig bedrückt. Ich rechnete damit, daß nun ein oder zwei Mitglieder des Jäger-Clubs empört bei mir protestieren würden, allein, diese Angst war unbegründet, und auch noch viel später kam mir nicht eine einzige solche Reaktion zu Gesicht. Mag es ein Glück oder Unglück sein, ich wurde von den Jägern Japans mit stummer Verachtung bedacht, aber vielleicht komme ich der Wirklichkeit am nächsten, wenn ich annehme, daß auch nicht einer von ihnen mein Gedicht gelesen hat.

Es waren etwa zwei Monate vergangen, und ich hatte das Ganze schon beinahe vergessen, da brachte mir der Postbote von einem mir völlig unbekannten Manne namens Josuke Misugi einen versiegelten Brief.

Ein Historiker hat über die in das Steinmonument auf dem Taishan-Berg eingeritzten Schriftzeichen einmal geschrieben, sie sähen wie heller Sonnenschein nach herbstlichen Regenschauern aus. Ich übertreibe vielleicht ein wenig, aber die Schriftzeichen auf dem weißen Umschlag des Briefes von Josuke Misugi machten einen ähnlichen Eindruck auf mich. Wir kennen die wirkliche Schönheit und den Stil jener Schriftzeichen auf dem Taishan-Monument nicht, weil dieser Gedenkstein verfallen und nicht einmal eine Stein-Abreibung erhalten ist. Josuke Misugis riesige Schriftzeichen drohten von dem Umschlag geradezu herabzuspringen. Sie wirkten großzügig, prachtvoll und verrieten erstaunliche Geschicklichkeit, aber ich fühlte, während ich sie betrachtete, aus jedem von ihnen unerwartet eine seltsame Leere dringen, und da fiel mir ein, was jener Historiker über die Steininschrift gesagt hat. Ich hatte das Gefühl, daß Josuke Misugi seinen Pinsel sich mit Tusche hatte vollsaugen und, ihn in der linken Hand haltend, dann schwungvoll über das Papier hat gleiten lassen.

Aber ich entdeckte in dieser Schrift eine seltsam ausdruckslose Kälte und eine Gleichgültigkeit, die mit der Schlichtheit der Reife nichts gemein hat. Mit anderen Worten, ich spürte deutlich, daß er sich auf seine Geschicklichkeit durchaus nichts einbildete, hier vielmehr eine starke Persönlichkeit modernen Stils zum Ausdruck kam, frei von jener banalen und peinlichen Atmosphäre der Schreibkünstler.

Der Brief war jedenfalls so prachtvoll hingepinselt, daß der rohe Holzbriefkasten, in den er eingeworfen war, mir höchst unangemessen erschien. Als ich den Umschlag öffnete, fand ich, daß er auf langes chinesisches Papier geschrieben hatte; jede Zeile enthielt nur fünf oder sechs riesige Schriftzeichen, die genauso wie die auf dem Umschlag aussahen.

»Ich bin ein wenig am Jagen interessiert«, schrieb Misugi. »Und ich bekam neulich ganz zufällig Ihr Gedicht in die Hand. Ich bin kein Mann von erlesenem Geschmack und ich verstehe nichts von Poesie. Verzeihen Sie gütigst, daß mir Ihr Name bis dahin unbekannt gewesen ist. Aber Ihr Gedicht bewegte mich so tief wie kaum irgend etwas je zuvor.«

So also begann der Brief. Während ich seine Worte überflog, fühlte ich bei dem Gedanken an das schon fast vergessene Gedicht, wie sich mein Herz zusammenkrampfte. Zunächst war ich überzeugt, daß dieser Brief endlich den schon lange fälligen Protest brachte, und zwar nicht von einem gewöhnlichen Jäger. Doch als ich weiterlas, entdeckte ich, daß sich der Inhalt sehr von dem unterschied, was ich erwartet hatte. Misugi schrieb mir von Dingen, die ich mir wahrlich nie hätte träumen lassen. Seine Worte waren dabei sehr höflich und wie seine Schriftzeichen ungemein gewichtig, sie zeugten von bedeutendem Selbstvertrauen und einer tiefen, inneren Ruhe.

»Was sagen Sie, wenn ich Ihnen jetzt verrate, daß der Mann, über den Sie Ihr Gedicht ›Das Jagdgewehr‹ geschrieben haben, niemand anderer ist als ich? Sie sahen wohl von hinten meine große Gestalt bei dem Dorf am Fuß des Amagi-Berges, als ich in den ersten Novembertagen dort jagen ging. Mein schwarzer und mein weißer Setter, die auf Fasanenjagd besonders abgerichtet sind, und auch die Churchill-Flinte, die mir mein verehrter Lehrer in London geschenkt hat, ja, sogar meine geliebte Pfeife erregten anscheinend Ihre Aufmerksamkeit. Daß ich, ein Mann von vielen, schweren Fehlern, Sie zu einem Gedicht inspiriert habe, das ehrt und verwirrt mich zugleich. Und ich bewunderte zum ersten Mal in meinem Leben die ungewöhnlich tiefe Einsicht eines Dichters.«

Als ich das gelesen hatte, versuchte ich mir den Jäger ins Gedächtnis zurückzurufen, dem ich vor fünf Monaten auf meinem Spaziergang durch den Kryptomerienwald begegnet war, der, wie Misugi schrieb, nahe einem kleinen Badeort am Fuß des Amagi-Bergs auf der Izu-Halbinsel lag. Aber ich konnte mich nur mehr an den verschwommenen Eindruck erinnern, den der wunderlich einsam wirkende Rücken des Jägers in mir hervorgerufen hatte. Mir fiel ein, daß der Mann von großer Gestalt und mittleren Jahren gewesen war, aber auf sein Gesicht und irgendwelche Details seiner Erscheinung vermochte ich mich nicht mehr zu besinnen.

Natürlich hatte ich ihn damals nicht allzu aufmerksam betrachtet. Er sah, während er mit seiner Flinte über der Schulter und einer Pfeife im Mund auf mich zuschritt, anders aus, als Jäger gewöhnlich sind. Irgend etwas Gedankenvolles war an ihm, und das erschien mir in der kalten Luft des frühwinterlichen Morgens wunderbar reinlich und frisch. Nachdem wir aneinander vorbeigegangen waren, wandte ich mich unwillkürlich um und sah ihm nach. Er verließ den Pfad, den er gekommen war, und schritt den ziemlich steilen Hang gemächlich hinauf, wobei er, als fürchte er, seine hohen Stiefel könnten ausgleiten, sorgfältig Fuß vor Fuß setzte. Als ich seiner entschwindenden Gestalt so nachblickte, kam er mir, wie ich das in meinem Gedicht auch zum Ausdruck brachte, plötzlich unsagbar einsam vor. Ich konnte sofort erkennen, daß die beiden Jagdhunde sehr wertvolle Setter waren, aber da ich mit der Jagd noch nie etwas zu tun gehabt hatte, ahnte ich natürlich nicht, welche Flinte er trug. In der Nacht, als ich das Gedicht schrieb, erfuhr ich aus ein paar Büchern, daß die besten englischen Jagdflinten die Typen Richard und Churchill waren, und daher ließ ich meinen Jäger eine Churchill auf der Schulter tragen. Dies war nun dank eines Zufalls eben die Flinte, die Misugi tatsächlich mitgeführt hatte. Obgleich mir Misugi schrieb, er sei der Held meines Gedichts, blieb er, der eigentliche Kern meiner Idee, doch weiter ein geheimnisvoll unbekanntes Wesen.

In seinem Briefe hieß es weiter: »Vielleicht mißtrauen Sie mir, weil ich Ihnen mit so absonderlichen Dingen komme. Ich habe hier drei Briefe liegen, die man mir geschickt hat. Ursprünglich wollte ich sie verbrennen, aber nachdem ich Ihr wundervolles Gedicht gelesen hatte, war ich plötzlich entschlossen, sie Ihnen zu zeigen. Es täte mir leid, wenn ich die Ruhe Ihres Herzens störte, aber ich will sie Ihnen gleichwohl mit gesonderter Post einmal zugehen lassen. Ob Sie sie nicht in einer Mußestunde lesen könnten? Damit wäre ich zufrieden. Sie sollen doch wissen, wie das ›weiße Flußbett‹ aussieht, in das ein Mann namens Josuke Misugi einmal geblickt hat. Natürlich ist es sehr töricht, um jeden Preis von anderen verstanden werden zu wollen. Mir war das früher auch gleichgültig, aber als ich sah, daß Sie an einem Menschen wie mir doch irgendwie interessiert sind, war ich auf der Stelle entschlossen, Ihnen alles zu zeigen. Bitte, verbrennen Sie die drei Briefe nachher. Ich glaube, Sie sahen mich in Izu, kurz nachdem ich diese Briefe erhalten hatte. Am Jagen finde ich erst seit wenigen Jahren Gefallen. Ich bin zwar heute ein einsamer Mann, aber ich war früher, in meinem öffentlichen wie privaten Leben, sehr erfolgreich und glaubte, die Flinte über meiner Schulter nicht entbehren zu können. Verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen dies alles schreibe, damit Sie mich besser begreifen.«

Am übernächsten Tag trafen die drei angekündigten Briefe ein. Auf dem Umschlag, der sie enthielt, stand ebenso wie auf Misugis erstem Schreiben: »Josuke Misugi, Izu-Hotel«. Jeder der drei Briefe war von einer anderen Frau verfaßt worden. Ich las sie und – nein, ich möchte Ihnen lieber nicht mitteilen, was ich dabei empfand. Ich will diese Briefe nun hier abschreiben, doch vorher noch bemerken, daß ich, da Misugi offenbar eine hohe gesellschaftliche Stellung innehat, im Who’s Who, dann aber auch im Adreßbuch nach seinem Namen suchte, aber ihn nirgends fand. Ohne Zweifel hat er ein Pseudonym benutzt. Beim Abschreiben der drei Briefe füllte ich die vielen Stellen, wo die Tuschstriche seinen wahren Namen offenbarten, mit »Josuke Misugi« aus. Ich verwendete auch Pseudonyme für die anderen in diesen Briefen erwähnten Personen.