Kapitel 5
Eine Sekunde darauf schien die Welt unterzugehen. Keiner verstand es, aber plötzlich fuhr ihnen das Gefühl in den Magen, das jemanden ereilte, wenn man stürzte. Es war wie auf einer Achterbahn, wenn es abwärts ging. Sie stürzten tatsächlich, wenn auch nicht sehr schnell. Plötzlich gab das Dach unter ihnen nach, es senkte sich und fiel. Dabei brach es nicht in sich zusammen oder gar auseinander, sondern blieb mehr oder weniger an einem Stück. Sie stürzten die beiden Stockwerke, wobei sie nicht ganz unten auf dem Boden aufkamen.
Als sie unten aufkamen, riss es sie alle von den Beinen. Plötzlich lagen sie auf dem Dach, das beinahe ebenerdig auf dem Boden aufgekommen war. Eine Staubwolke stieg über ihnen in die Höhe. Holger brauchte einen Augenblick, um er zu verstehen, dann aber schien die Sache klar zu sein. Es schien keine Wände oder zumindest keine aus Stein mehr zu geben.
"Sind alle in Ordnung?", fragte er.
Alle erhoben sich, auch der Junge ohne Name. Auf den ersten Blick schien es allen mehr oder weniger gut zu gehen. Zu ihrer eigenen Verwunderung hatte es sie nur durchgeschüttelt, mehr aber nicht. Alle hatten es unverletzt überlebt. Mit einem Blick herum stellten sie fest, dass sich die Zombies wirklich alle in den Häusern aufgehalten hatten. Keiner von ihnen konnte es überleben.
"Wände. Was verschwindet als nächstes?", fragte sich Anna.
"Steinwände", verbesserte sie Holger.
"Denkst du, jemand mach diesen Unterschied?"
"Hoffentlich."
"Himmel, könnt ihr euch vorstellen, wie es jetzt in den Städten aussieht?", fragte Anna
"Weniger belebt auf jeden Fall", meinte David mit einem schiefen Lächeln. In diesem Augenblick trat Lucy vor ihn. "Hast du mich eben eine Schlampe genannt?", fragte sie ihn.
"Und?", grinste er.
Sie gab ihm eine schallende Ohrfeige, was ihn nicht sonderlich zu beeindrucken zu schien. Sie wandte sich ab, als wollte sie ihn nie wieder anschauen.
"Was ist denn?", fragte er.
"Das verstehst du, wenn dir ein Hirn gewachsen ist", brummte Holger.
Der Bus stand noch genau dort, wo sie ihn abgestellt hatten. Er war mit lauter kleinen Trümmern bedeckt und Staub, hatte aber nichts abbekommen.
"Hey", sagte Anna, plötzlich erschrocken.
"Was?", fragte Lucy.
"Wo ist Jens?"
"Jens? Oh mein Gott."
Jens. Sie hatten ihn nicht mitgenommen, so schnell, wie es gehen musste. Niemand erinnerte sich daran, dass er nach ihnen gerufen oder sich sonst irgendwie bemerkbar gemacht hätte. Er war einfach vergessen worden.
"Mein Gott", sagte Lucy noch einmal.
Auch daran konnten sie nun nichts mehr ändern. Keiner von ihnen wollte sich vorstellen, wie er umgekommen war. Es musste schrecklich gewesen sein. Ohne noch ein Wort darüber zu verlieren, begaben sie sich zum Bus und stiegen ein. Wie zuvor setzte sich Holger hinters Steuer und startete den Motor. Diesmal hatten sie es nicht sehr weit, denn jener Baum lag noch immer dort, wo sie eben bereits aufgehalten wurden. Bis genau zu diesem Punkt fuhren sie, dann mussten sie anhalten.
Das war es, ab hier mussten sie laufen. Einer nach dem anderen stiegen sie aus und sammelten sich vor dem Baum.
"Noch so ein Zufall", stellte Lucy fest.
"Vielleicht ist es gar keiner", vermutete Anna.
"Ja, vielleicht. Ich bin nicht mehr sicher."
"Gehen wir", sagte Holger.
Sie hatten keine Zeit zu verlieren, also machten sie sich auf den Weg. Hinter dem Baum ging es einfach weiter. Der Mond schien hier nur phasenweise, hinzu kam nur noch das Licht der Taschenlampe. Zügig gingen sie durch die Stille, die neben ihren Schritten vollkommen war. Ganz offensichtlich waren sie alle in diesem Heim umgekommen, trotzdem konnten sie nicht ganz sicher sein. Also waren sie so leise wie möglich unterwegs und unterhielten sich nicht. Jeder hing seinen Gedanken nach. Anna musste an Tomas denken, den es schon so früh erwischt hatte. Noch immer hatte sie das Gefühl, dass es mehr um sie ging als um den Untergang der Welt. Woher sie das zu wissen glaubte, war ihr selbst nicht ganz klar, es war mehr eine Empfindung.
Nicht lange und sie erreichten den Waldrand, der praktisch übergangslos in das Städtchen überging. Was sie hier erwartete, war ein wirklich ungewohnter Anblick. Aus dem Ort war eine Art seltsamer Schutthaufen geworden, der aus zahllosen einzelnen Haufen bestand. Beinahe jedes Haus war eingestürzt. Noch immer lag eine leichte Staubwolke über allem, aber man konnte den gesamten Ort überblicken. Ganz deutlich sah man die Straßen, auf denen man immer noch fahren konnte. Nur die Häuser waren in sich zusammengefallen, aber die Haufen hatten sich nicht sehr weit über ihre Abmessungen ausgebreitet.
Um den Platz in der Mitte standen noch immer alle Gebäude, was ganz offensichtlich daran lag, dass sie aus Holz bestanden. Nach wie vor bildeten sie das Rund um die Zisterne.
"Steinwände", sagte Lucy.
"Was machen wir denn jetzt?", fragte David.
"Er lebt noch", antwortete Anna.
"Er? Wer?", wollte Holger wissen. Die ganze Zeit über hielt er seine Tochter an der Hand.
"Vor ein paar Tagen habe ich einen Teenager kennen gelernt, der dabei war, sich zu verändern", erklärte Anna. "Ich bin nicht sicher, vielleicht hat er sich gar nicht verwandelt. Unter Umständen finden wir heraus, wie man sich dagegen schützt. Vielleicht können wir ein Gegenmittel entwickeln."
"Ein Gegenmittel?", lächelte Holger. "Aber du glaubst nicht, dass einer von uns es herstellen könnte."
"Nein, das nicht."
"Aber?"
"Es gibt einen Ort, von dem aus es ausgebrochen ist. Wir waren dort, haben uns aber nicht umgesehen. Als wir ihn verließen, war es schon zu spät. Mit ein bisschen Glück leben die Wissenschaftler noch, ich denke, dieser Ort ist hermetisch abgeschlossen. Wer weiß, vielleicht haben sie verstanden, was sie angerichtet haben und suchen schon nach einem Gegenmittel", erklärte Anna ihren Gedanken.
"Und woher weißt du, dass dieser Teen noch lebt?", erkundigte sich Lucy.
"Es ist ein Empfinden."
Alle fanden, dass man Annas Empfindungen oder Eingaben nicht mehr einfach ignorieren sollte. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte sie mehrfach Ereignisse voraussagen, die danach tatsächlich eintrafen. Sie beschlossen, sich es wenigstens einmal anzusehen, was bedeutete, dass sie in die Stadt zurück mussten. Wie sie das schaffen sollten, wollte David angespannt wissen. Auf einer der engen Straßen, die nun nicht mehr so eng erschienen, stand die Antwort. Die Autos standen noch immer vollkommen unversehrt auf den Bürgersteigen.
"Wir sind zu sechst, geht das?", fragte sich Lucy.
"Wenn Madeleine auf jemandes Schoß sitzt, sollte es gehen. Sie kommt mit mir nach vorne", sagte Holger.
"Der Junge muss allein sitzen", meinte Anna.
Sie fanden, dass es ging, damit allerdings hatten sie noch keinen Wagen für sich organisiert. Es war nicht weiter schwer, in einen der Wagen zu gelangen, denn es gab keine Fenster mehr. Holger setzte sich hinein und suchte nach den Schlüsseln. "Natürlich nicht", sagte er und stieg gleich wieder aus. Er versuchte es mit dem nächsten, aber wieder vergebens. Dann folgte wieder ein Wagen, dann noch einer, wieder, wieder und wieder einer.
"Ich glaube nicht, dass wir einen Schlüssel finden", sagte Lucy anschließend.
"Ja, wahrscheinlich nicht", dachte auch Holger. Aber sie konnten den ganzen Weg zur Stadt schlecht laufen. Theoretisch war auch das zu schaffen, aber sie hatten keinen Proviant mehr, und es war wirklich weit.
"Was ist denn mit dem da?", fragte Lucy.
"Dem?", echote Anna erstaunt.
In dem, was vor kurzer Zeit noch der Innenhof eines kleinen Bauernhofs gewesen war, stand ein Trecker, der an einen Anhänger gekoppelt war.
"Sollen wir es mit dem versuchen?", fragte Anna.
"Warum nicht?", meinte Lucy und lief los. Sie setzte sich in ihn und fand prompt den Schlüssel. Kurz darauf gab die Maschine ein lautes Knattern von sich. Lucy lächelte.
"Okay", sagte Holger.
Er übernahm wieder das Steuer. Da sie mit diesem Ding nicht sehr schnell unterwegs waren, konnte es die Gruppe hinten gut aushalten. Wie immer setzte sich Holger vor das Lenkrad, während Anna neben ihm Platz nahm. Lucy, David, Madeleine und der Junge setzten sich auf die Ladefläche. Für Holger war es das erste Mal, dass er solch ein Gefährt fuhr, aber wie sich herausstellte, war es weniger schwer, als es vielleicht aussah. Langsam fuhren sie vom Hof und auf die Straße hinaus.
"Nicht schlecht", merkte er an.
"Aber sonderlich schnell sind wir damit nicht", sagte Anna.
"Nein, das nicht, aber dafür müssen wir nicht laufen."
Hinten machten es sich die anderen so gemütlich, wie es unter diesen Umständen möglich war. Noch befanden sie sich innerhalb des Städtchens und näherten sich dem Platz, um den herum noch die Häuser standen. Den erreichten sie in kurzer Zeit, dann fuhren sie weiter und verließen auch ihn wieder.
"Ich denke, wir brauchen den Rest der Nacht. Vielleicht schläfst du noch ein bisschen", sagte Holger.
Anna wollte genau das tun, denn bis jetzt war sie durchgehend wach geblieben. Auch hinten kamen sie zur Ruhe. Das Knattern des Motors störte nicht wirklich. Sie legten sich hin und ruhten sich noch ein wenig aus. Die Wahrscheinlichkeit, hier angegriffen zu werden, schien nicht höher, als sie zuvor schon gewesen war. Den ganzen Weg hierher begegnete ihnen kein einziger von ihnen, also konnte es sich in umgekehrter Richtung genauso wiederholen. Sie fuhren über die Landstraße, auf der sie die Autobahn erreichten. Auf der bot sich ihnen genau der Anblick dar, den sie bereits kannten.
"Ich frage mich, wie er es überlebt haben soll", sagte Holger. Anna war noch nicht eingeschlafen.
"Ja, eigentlich kann er nicht überlebt haben. Es kommt darauf an, als ich ihn zum letzten Mal sah, wurde er zum Präsidium gebracht."
"Hat er etwas ausgefressen?"
"Möglich. Das wollten wir herausfinden."
"Aber dann kam etwas dazwischen."
"Richtig. Ich denke, er wurde infiziert, machte jedenfalls den Eindruck", sagte sie und schloss die Augen.
Die Fahrt in die Stadt dauerte wirklich lange, verlief aber ohne jeden Zwischenfall. Noch auf dem Weg ging die Sonne auf, und es wurde noch heißer. Die Leute auf der Ladefläche schliefen tatsächlich noch für eine Weile, aber als sie sich der Stadt näherten, wachten sie einer nach dem anderen auf.
Der Anblick schien unwirklich, denn die Stadt schien verschwunden zu sein. Die Schutthaufen hier waren weit höher als in dem Städtchen, einige sogar sehr hoch. Im Zentrum war es so schlimm, dass der Schutt auch die Straßen bedeckte. Dort konnte man sich auch mit diesem geländefähigen Fahrzeug nur schlecht bewegen. Aber sie waren auch nicht auf dem Weg dorthin.
Eine Gegend gab es noch, die nicht nach einer Trümmerwüste aussah, denn dort war alles mehr oder weniger unverändert.
"Die Geisterstadt", merkte Anna um.
"Die wollten sie planieren, habe ich gelesen", sagte Holger.
"Es gibt Häuser mit Steinwänden dort, aber nur wenige. Wir haben dort ermittelt. Seitdem die Stadtstreicher aus dem Zentrum vertrieben wurden, findet man sie häufig in dieser Gegend."
"Gut", sagte Holger nachdenklich. "Lass mich mal nachdenken. So wie es hier aussieht, ist nicht mehr viel übrig, und wenn er es wirklich überlebt haben sollte, dann nur dort, wo man es auch überlebt haben kann."
"Ja, daran habe ich auch schon gedacht. In seinem Zustand würde er sich aber nicht freiwillig auf der Straße aufhalten", dachte sie weiter.
"Seinem Zustand?"
"Es ging ihm nicht gut", antwortete sie. "Er war ganz sicher nicht draußen, aber in einem Gebäude kann er sich auch nicht aufgehalten haben. Ich tippe auf ein Auto. Also, die Welt geht sozusagen unter, aber er überlebt es. Und wohin würde er sich verkriechen?"
"So viele Möglichkeiten gibt es nicht."
"Das stimmt, aber in diesem Viertel gibt es eine Menge Wellblechhallen."
"Kein Problem", fand Holger.
Es schien wirklich kein Problem darzustellen, denn der Trecker war so laut, dass man ihn in der Stille beim besten Willen nicht überhören konnte. Das allerdings galt nicht nur für Sebastian, sondern auch für alles, was sie sonst noch dort antrafen.
"Zwei Kugeln", merkte Anna an.
"Muss reichen", fand Holger.
Sie fuhren durch eine groteske Landschaft, die wie nach einem flächendeckenden Bombardement aussah. Solch eine Verwüstung konnten sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, nun aber war sie Wirklichkeit. Straße um Straße fuhren sie hinab, bis sie sich durch die Vorstadt durchgearbeitet hatten. Nun war es gleich, wie viele von ihnen es überlebt hatten, denn nun gab es sie nicht mehr. Selbst auf den Straßen waren sie nicht zu sehen. Es musste die meisten von ihnen erwischt haben. Bald gelangten die Menschen in die Nähe des Flusses.
"Gleich", sagte Anna düster.
"Ich denke, sie sind noch da", meinte Holger.
Die beiden waren sich nicht ganz im Klaren darüber, wie sie an den Zombies auf der Brücke vorbei kommen sollten. Bald fuhren sie über die beiden Plätze durch den Kreisverkehr und gelangten auf die Straße, die zur Brücke führte. Schon als sie sich ihr näherten, erblickten sie die Gestalten auf ihr, die immer noch auf sie zu warten schienen. Es waren genauso viele wie auf ihrem Weg aus der Stadt. Holger hielt in einigem Abstand.
"Das schaffen wir nicht", sprach Anna das Offensichtliche aus.
"Ist unter Umständen auch kein Problem", meinte er.
"Denkst du? Wir sind zu langsam."
"Ja, aber ich habe nicht zufällig hier angehalten."
Es war ganz einfach, denn einige der Wagen standen nicht auf der Straße. Alle wunderten sich, dass sie nicht schon auf der Autobahn auf diesen Gedanken kamen. Genau vor ihnen stand ein Familienvan mitten auf der Straße.
"Darauf hätten wir auch früher kommen können", seufzte Anna.
"Schön wird es trotzdem nicht", prophezeite Holger.
Sie stiegen aus und setzten sich in den Van. Hinter den beiden Plätzen vorne gab es zwei Reihen, auf die alle anderen sich setzten. Sie seitliche Tür schloss sich mit dem typischen Geräusch, dann waren sie soweit.
"Habt ihr es bemerkt?", fragte Anna.
"Was denn?", kam es von hinten. Lucy war nichts aufgefallen.
"Es gibt keine Straßenschilder mehr."
"Na ja, braucht ja auch keiner mehr."
Langsam fuhren sie die Seite der Brücke an, die sie zuvor in umgekehrter Richtung genommen hatten. In der Mitte hielten sich noch immer die meisten von ihnen auf, was keinen von ihnen wunderte. Zumindest war auf ihrer Seite nicht so viel los wie auf der anderen. Indem sie sich der Brücke näherten, beschleunigte Holger, denn er wollte diesen Wesen keine Chance geben.
Diesmal passierte es schon, bevor sie sich auf der Brücke befanden. Die Zombies wandten die Köpfe in ihre Richtung und bleckten die Zähne. Sie knurrten bedrohlich, als sie die Menschen sahen. Dann rannten sie los. Drei von ihnen waren auf dem Weg zu ihnen, wobei sie genau auf den Van zuhielten.
"Sieht nicht gut aus", fand Anna und zog ihre Pistole. Drei Kugeln waren es doch noch.
"Spar die Munition, wenn möglich", meinte Holger.
"Natürlich."
Ein ganzes Leben lang war er unfallfrei gefahren, aber jetzt kamen diese drei Gestalten auf sie zu. Als der erste auf dem Kühlgitter aufschlug, prallte er mit dem Oberkörper auf die Motorhaube und brach sich den Schädel. Dann rutschte er ab, und sie überfuhren ihn. Die beiden nach ihm erwischten sie mehr von der Seite. Einer prallte seitlich ab und rollte über den Asphalt. Der andere schlug wiederum auf der Motorhaube ein. Nachdem er hinunter gerutscht war, hüpfte der Van auf der linken Seite, erst vorne und dann hinten.
"Mist", sagte Anna.
Vor ihnen erschien noch einer, der sich mit einem entfesselten Brüllen auf sie stürzte. Holger wich ihm aus, dann aber tauchte wieder einer vor ihnen auf. Diesen erwischten sie mittig. Mit einem brutalen Ruck wurde er umgerissen und begraben. Diesmal wackelte der Van nicht, aber das Wesen blieb hinter ihnen auf der Brücke liegen. Sie rasten weiter und hatten wieder ein paar vor sich. Holger konnte einigen von ihnen ausweichen, aber wieder und wieder schlugen sie auf und wurden überrollt. Vier von ihnen überfuhren sie.
"Es wird dichter", sagte Anna.
Auf der Mitte der Brücke standen zehn, die sich ihnen alle bereits zugewandt hatten. Wenn sie sich jetzt in Bewegung gesetzt hätten, hätte Holger ihnen leicht ausweichen können, denn sie wären alle auf einer Linie in ihre Richtung gelaufen. Das aber geschah nicht, denn zuerst blieben sie alle stehen.
"Nicht gut", sagte Anna.
"Mach dich bereit", gab Holger zurück.
Die Zombies rannten erst in letzten Augenblick los, mit dem Ergebnis, dass sie alle gleichzeitig vor ihnen auftauchten. Zwei von ihnen wurden überfahren, dann die nächsten drei. Einer schlug auf der Motorhaube auf, rutschte dann aber nicht von ihr ab. Mit einem hasserfüllten Schrei hielt er sich an den Seiten fest und versuchte, zu ihnen zu kommen. Anna schoss ihm mitten ins Gesicht, worauf das Brüllen verstummte. Er rutschte nach hinten und riss einen der Seinen um. Der Van machte noch zwei von ihnen platt, dann aber wiederholte es sich. Einer von ihnen brach sich alle Rippen, als er aufschlug. Er schlug auf und rutschte auf Anna zu. Sie schrie erschrocken, gleichzeitig schoss sie. Der Zombie wurde getroffen, aber er schrie immer noch wie ein wildes Tier. Holger konnte nichts unternehmen. Er fuhr einfach weiter. Noch drei von ihnen krachten gegen den Van und wurden überrollt. Einer von ihnen drehte sich seitlich und überschlug sich, während die Reifen über ihn rollten.
Anna stieß einen entsetzlichen Schrei aus, dann spitzte ein Fontäne Blut aus ihrem Hals, der Holger von oben bis unten besudelte. Holger trat auf die Bremse, worauf der Zombie nach vorne rutschte und über die Brücke kegelte. Dann beschleunigte er wieder und überrollte auch ihn.
"Anna!", rief er.
Ihr Schreien wurde zu einem Gurgeln. Das Loch in ihrem Hals war so groß, dass man seine Faust hinein stecken konnte.
"Anna!"
Anna starb noch in den nächsten Sekunden. Erst verlor sie das Bewusstsein, danach hörte ihr Herz zu schlagen auf. Holger bekam nicht die Zeit, sich mit ihr zu beschäftigen, denn noch hatten sie die Brücke nicht verlassen. Nun allerdings waren es nicht mehr so viele von ihnen. Mehrere Male tauchten sie noch vor ihnen auf, aber keiner von ihnen schaffte es noch einmal in den Innenraum. Er überfuhr sie alle, bis sie das Ende der Brücke erreicht hatten. Danach fuhren sie auf die Straße hinab und diese entlang.
"Anna?", rief Lucy von hinten.
Holger warf einen Blick nach hinten und schüttelte den Kopf.
"Oh mein Gott. Nein", flüsterte Lucy. Dann fiel ihr Blick auf Madeleine, die neben ihr saß. Sie nahm die Kleine in den Arm und tröstete sie. Sie weinte und weinte und konnte nicht aufhören.
Holger fuhr sie weiter durch die Stadt. In ihrem jetzigen Zustand benötigte er den Plan nicht, um den richtigen Weg zu finden. Nach einer Weile bog er ab und hielt genau auf das Geisterviertel zu.
"Ich glaube das nicht", sagte Lucy leise.
"So was passiert eben", meinte David lapidar.
"Kannst du nicht mal deine dumme Klappe halten?"
"Warum?"
Nach dieser Frage schwiegen sie alle. Ohne ein Wort zu verlieren fuhren sie weiter. Nach einer Weile genlangten sie in das Viertel, vor dem Holger sie anhielt. Für einen Augenblick musste er nachdenken. Er wollte diesen Jungen unbedingt finden, schließlich war es Annas Plan. Nun gab es sie nicht mehr, aber er wollte diesen Plan nicht aufgeben.
"Hört zu", sagte er nach hinten. Alle sahen nach vorne, nur der Junge ohne Name nicht. "Ich habe vor, diesen Jungen zu suchen, aber ihr müsst nicht alle mitgehen. Wahrscheinlich hat er sich in einer dieser Hallen verkrochen. Um ihn auf uns aufmerksam zu machen, werde ich die ganze Zeit über hupen. Die Frage ist, ob er uns zuerst findet oder diese Kreaturen."
"Ich bin dabei", kam es prompt aus Lucy.
"Du willst hupen?", vergewisserte sich David.
"Du kannst hier bleiben", schlug ihm Holger vor.
"Ja klar", lächelte David kühl. "Ich soll mich um den Floh und diese Ding kümmern, das könnt ihr euch abschminken."
"Du Ekel", zischte Lucy.
"Na und?"
Holger stellte das gleich richtig, denn er ließ seine Tochter ganz sicher nicht zurück. Und was den Jungen anging, fügte er hinzu, er übergab ihn in Lucys Obhut. Was aus David wurde, daran ließ er keinen Zweifel, war im mittlerweile nicht mehr so wichtig. Wenn der junge Mann wollte, konnte er allein zurück bleiben. Er hatte mehr als genug Autos zur Auswahl, um sein Glück zu versuchen.
"Also, was sagst du?", fragte Holger.
"Das mit dem Hupen ist Schwachsinn", fand David.
"Also bleibst du."
"Ihr wollt mich hier allein lassen?"
"Nein, du entscheidest das selbst."
"Also gehe ich mit euch und werde gefressen oder ich muss mich allein durchschlagen."
"Wie ich schon sagte, du musst es selbst entscheiden. Aber wie auch immer du dich entscheidest, wir legen jetzt ab. Also gehst du jetzt oder du hältst dich geschlossen", brachte es Holger auf den Punkt.
"Das ist Erpressung."
"Warum verschwindest du nicht einfach?", zischte Lucy. Sie konnte ihn nicht mehr sehen, nicht mehr hören und nicht mehr ertragen. Er wurde ihr widerlich.
"Bin schon weg", meinte David und erhob sich. In genau dieser Sekunde ging es um ein Stück nach unten. Ein Ruck ging durch den Van, und er kam auf dem Asphalt auf.
"Was war das denn?", fragte David gestresst.
Holger stieg aus und runzelte die Stirn. Das mit dem Hupen konnten sie tatsächlich vergessen. Es gab keine Reifen mehr, also hatte sich die Sache gegessen. Er gab es nach innen, und dass alles aussteigen konnten.
"Pech gehabt", lächelte David.
"Wenn du glaubst, wir suchen nicht nach ihm, hast du dich geschnitten", schnappte Lucy.
"Ach ja? Und wie wollt ihr das schaffen? In jeder Halle nachsehen oder was?"
"Wenn nötig, dann eben auch das."
"Das reicht jetzt", ging Holger dazwischen. "Was ist jetzt, junger Mann, welche Richtung?"
David überlegte für einen Augenblick, dann hatte er sich entschieden. Er blieb dabei, weil sie nicht unnötig auf sich aufmerksam machten.
"Das Viertel ist ziemlich groß", stellte Lucy fest.
"Mehr als bis zum Abend brauchen wir trotzdem nicht", gab Holger zurück.
So machten sie sich auf den Weg. Keiner von ihnen glaubte, die Sache schnell hinter sich zu bringen, doch darin irrten sie sich. In ihrer Nähe fanden sie die Überreste eines Hauses. Es musste das sein, von dem Anna gesprochen hatte, glaubten alle. Nun allerdings war es nichts mehr als ein unansehnlicher Schutthaufen, wie alles andere, das ohne Seitenwände auskommen musste. Sie konnten nicht in den Keller, es sei denn, sie besorgten sich einen Bagger oder so etwas. Holger aber dachte, Anna müsste das gewusst haben. Wahrscheinlich dachte sie, man könnte durch einen anderen Eingang hinein gelangen. Das würde bedeuten, sie mussten in eine der angrenzenden Hallen. Hinter dem Haufen standen noch immer die teuren Autos, die jemandem gehören mussten. Von dem Parkplatz allerdings führten keine Stufen nach unten. Vor dort kamen sie ganz offensichtlich nicht nach unten.
Sie gingen die nächste Straße hinab und wurden beinahe sofort fündig. Die Tür einer Halle stand offen, und über ihr hing ein T-Shirt, das jemand dort erst vor kurzem hinterlassen haben konnte. Scheinbar wollte jemand gefunden werden. Sie blieben vor der Tür stehen. Holger trug Annas Pistole bei sich, wusste aber genau, dass er nur noch eine Kugel hatte.
"Ich gehe", sagte er.
"Aber nicht allein", platzte es augenblicklich aus Lucy.
"Du bist nicht nützlich, so wie du humpelst. Diesmal gehst du nicht mit", erwiderte Holger mit großer Bestimmtheit in der Stimme.
Alle Blicke gingen auf David.
"Was?", fragte der.
"Warum machst du dich nicht zur Abwechslung mal nützlich?", fragte Lucy.
"Wozu?"
"Weil er dann nicht allein gehen muss. Vier Augen sehen mehr als zwei."
"Schwachsinn."
"Du bist ein Feigling" stellte sie mit einem humorlosen Lächeln fest.
"Nenn mich nicht Feigling."
"Du Würstchen."
"Nenn mich nicht so!“
Holger schüttelte den Kopf: "Ich gehe allein. Ihr wartet hier." Nach diesen Worte wandte er sich ab trat durch die Tür ein. Holger fand sich in der Halle wieder, in der früher Metall aus dem Müll geholt wurde. Das Band fuhr nach oben, wo die Arbeiter früher zu beiden standen, um die Stücke nach unten in die Container zu werfen. Die Container standen noch an Ort und Stelle, waren aber leer. Holger wunderte sich, wie groß sie waren, denn selbst er konnte hinter ihnen verschwinden.
Einmal ging sein Blick herum, aber allem Anschein nach war er vollkommen allein hier. Leise ging er zu einem der Container und an ihm vorbei, so dass er sich in dem schmalen Gang zwischen ihnen und der Blechwand befand. Von hier aus fiel sein Blick auf das kleine Häuschen ganz am Ende der Halle.
Gerade wollte er losgehen, als Schritte erklangen. Holger stand gerade hinter einem der Container. Er hielt inne und hörte zu atmen auf. Etwas näherte sich ihm, wenn auch nicht sehr schnell. Es kam zu ihm und würde auf dem Gang erscheinen. Holger richtete die Pistole in diese Richtung und wartete.
"Hey!", sagte David, als er um den Container trat.
"Du? Was hat sie dich genannt?", lächelte Holger.
"Wollen wir schwatzen oder nach diesem Typ suchen?"
"Suchen wir ihn. Du kommst sehr gelegen. Bleib hinter mir."
Die beiden gingen bis zu dem Häuschen, vor dem sie stehen blieben und lauschten. Kein Laut drang zu ihnen, doch wenn die Zombies niemanden sahen, waren sie meist still. Manchmal stöhnten sie leise, aber nicht immer. Holger betrat das Häuschen als Erster. Gleich darauf wussten sie es genau, denn hier oben hielt sich niemand auf. Die Mistgable steckte noch immer in dem Hund. Ein unfassbar giftiger Gestank erfüllte die Luft. Die beiden konnten kaum atmen.
"Was für eine Schweinerei", fand David.
"Nimm dir die Mistgabel."
"Und dann?"
"Dann verteidigst du dich mit ihr."
"Damit?"
"Glaub mir Jungchen, wenn du deine Bälle wirfst, erscheint keine Pokemon. Nimm dir das Teil!"
David trat auf das tote Tier und zog es heraus Der Hund rührte sich ein wenig und gab ein schmatzendes Geräusch von sich. Danach fanden sich die beiden vor der Treppe nach unten wieder. Von unten erklang das Stöhnen zweier von ihnen. Zwei Zombies, eine Kugel, dachte Holger. Ohne ein Wort zu sagen, gab er David die Pistole und nahm die Gabel an sich. Dann gab er ihm zu verstehen, dass er sich hinter ihm halten sollte.
Die beiden setzten ihre Füße so langsam auf, dass sie quasi kein Geräusch damit verursachten. Ganz langsam, Schritt für Schritt, stiegen sie nach unten. Zwei Polizisten standen in dem kurzen Gang und starrten auf die geschlossene Tür. Beide wandten den Menschen den Rücken zu. Die kamen immer weiter nach unten, bis zu dem Punkt, an dem beide die Polizisten sehen konnten. Holger nickte David zu. Der junge Mann zielte genau. Dann erklang das Krachen und einem von ihnen wurde ein Teil des Gesichtsknochens abgerissen. Der andere fuhr herum, doch als er boshaft aufschrie, bohrte ihm Holger die Gabel in den trockenen Bauch und nagelte ihn an die Tür. Das Wesen zappelte und schrie, es fletschte die Zähne und streckte seine Krallen nach ihm. Aber es konnte sich nicht befreien.
"Die Tür!", sagte Holger.
"Was?"
"Du musst sie öffnen."
"Dann erwischt er mich."
"Drück dich flach an die Wand!"
"Was?"
"Los!"
Zu seiner eigenen Überraschung tat David, was von ihm verlangt wurde. Er drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand, streckte eine Hand aus und langte vorsichtig nach der Klinke. Das Wesen tobte, es sah nur Holger und wollte ihn in Stücke reißen. Dann ging die Tür auf, und es bewegte sich rückwärts mit ihr. Holger folgte dieser Bewegung und hielt ihn weiter fixiert. Die Tür schwang auf, und zum Vorschein kam Sebastian, der sich in die vollständige Dunkelheit verkrochen hatte. Er trug nichts mehr über der nackten Brust. Schnell erhob er sich und rannte in den Gang hinaus. David folgte ihm.
"David. Die Pistole", sagte Holger.
David nahm das Ding hoch und richtete es auf den hilflosen Zombie. Dann schoss er ihm in den Kopf, schoss wieder und noch einmal und wieder.
"David!", wurde Holger laut. Sein Blick ging auf den jungen Mann, dem für einen Moment der blanke Wahnsinn in den Augen stand. Er war außer sich und atmete schwer. "Ich mache euch fertig, euch alle, verstehst du, du Scheißer?", kreischte er.
"David!"
"Und weißt du, wie ich das mache, ich reiße allen persönlich den toten Arsch auf!"
"David."
"Ich kriege euch alle", flüsterte er plötzlich. "Alle, verstehst du, alle. Alle Menschen, Zombies, Tauben alle. Ich mach dich kalt, und ich mach euch alle kalt. Alle."
"David?", fragte Holger.
"Was?", sagte er, indem er blinzelte.
"Ist alles in Ordnung?"
"Ja, sicher", sagte er hektisch.
"Beruhige dich, alles ist in Ordnung, du hast ihn erledigt."
"Ja. Ja, habe ich. Erledigt", keuchte er.
Holger bückte sich nach der anderen Pistole. "Geht es wieder?", fragte er anschließend.
David nickte. Holger wandte sich dem anderen jungen Mann zu und sprach mit ihm. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei ihm tatsächlich um den Sebastian, nach dem sie gesucht hatten. Er erinnerte sich gut an Tomas und Anna, sagte er. Nach dem Verhör auf der Wache wollten ihn die beiden Polizisten nach Hause fahren, aber dann veränderten sie sich plötzlich. Sie waren in der Nähe, als es geschah. Nur mit knappen Not war er ihnen entkommen. Eben hörte er einen fürchterlichen Lärm, und die Erde bebte. Er wusste nicht, was sich zugetragen hatte.
"Du kannst dich mit jemandem darüber unterhalten", sagte Holger kurz angebunden. Gleich darauf befanden sie sich wieder oben vor der Halle. Alle anderen waren unversehrt und auf niemanden gestoßen. Alles war ruhig geblieben, und es war so still, als gäbe es nichts mehr, das etwas zu ihren Ohren bringen konnte. So vollständig ruhig war es, es schien nichts mehr zu geben.
"Ihr habt ihn gefunden", sagte Lucy erfreut.
"Ja, er hatte sich versteckt", nickte Holger. "David war übrigens nützlich."
"Sieh einer an. Und du bist Sebastian?"
"Ja", antwortete er.
"Sag mal, ich hörte, du bist krank", erinnerte sich Holger.
"Ja, das war ich auch", gab Sebastian zurück. "Aber es ist vorbei. Ich weiß, ich hatte mich angesteckt. Einer von ihnen hat mich gebissen, okay, ich gebe es zu. Aber jetzt geht es mir gut. Ich wünschte nur, wir könnten herausfinden, wie wir die Immunität auf alle übertragen."
"Genau deswegen sind wir hier", sagte Lucy freundlich. Gleich erklärte sie ihm, was sie vorhatten. Sebastian erklärte sich sofort bereit, ihnen zu helfen. Auf jeden Fall, sagte er. Sie beschlossen aber, sich nicht alle auf die Suche zu machen. Da sie nun einen Ort kannten, an dem man wahrscheinlich sicher war, blieben Lucy, Madeleine und der Junge in der Halle. Lucy bekam eine der Pistolen, Holger behielt die andere. David gefiel es nicht sonderlich, seine Waffe abzugeben, aber schließlich ließ er sich überreden.
"Du willst also mitgehen", wunderte sich Holger.
"Warum nicht?", gab David zurück.
"Woher der plötzliche Sinneswandel?"
"Weiß auch nicht."
Sie hatten nicht mehr die Zeit, sich darüber zu unterhalten. Wenn sie überhaupt eine Chance hatten, in den Keller unter dem eingestürzten Haus zu gelangen, mussten sie sich die umliegenden Keller unter den Hallen ansehen. Sechzehn Kugeln und niemand wusste, wie viele es von ihnen waren.
"Wie geht es dir?"
"Gut."
"Ich habe mich gerade mit deiner Mutter unterhalten, sie sagte, du kommst voran. Stimmt das?"
"Ja."
"Super. Weißt du, ich habe schon viele wie dich getroffen, und immer, wenn es so gegangen ist, hat es auch geklappt."
"Echt?"
"Ja, aber natürlich. Du hältst dich wirklich gut. Hast du Kopfschmerzen?"
"Nein."
"Schwindel?"
"Nein."
"Übelkeit?"
"Auch nicht."
"Hervorragend. Ich bin schon fast davon überzeugt, dass du es schaffst, weil es wirklich gut aussieht. Womit beschäftigst du dich zur Zeit?"
"Womit?"
"Ja, woran denkst du?"
"An nichts."
"Aha. Denkst du daran?"
"Nein, nicht so sehr."
"Ich möchte, dass du dich still verhältst."
"Still?"
"Ja, ganz still sogar. Es muss ja nicht jeder wissen, verstehst du?"
"Ja."
"Sehr gut. Am besten du beschäftigst dich mit etwas, das gar nichts damit zu tun hat. Ah, du malst."
"Ja."
"Vielleicht versuchst du mal etwas anderes. Magst du Tiere?"
"Echte?"
"Ja, natürlich echte."
"Ja, mag ich."
"Welche genau?"
"Hunde. Und Katzen."
"Ihr habt welche."
"Ja, aber die sind nicht echt."
"Na ja, vielleicht spreche ich mal mit deiner Mutter."
"Echt?"
"Ja, ich spreche mal mit ihr."
"Danke."
"Keine Ursache. Wenn es dir wieder besser geht, bekommst du vielleicht eine kleine Katze. Oder einen Hund."
"Toschig."
"Toschig. Früher hieß das cool. Nun, am wichtigsten ist, dass du dich mit etwas beschäftigst, das nichts damit zu tun hat. Wenn ihr euch später einen Hund oder eine Katze aussucht, müsst ihr ja auch wissen, wie sie aussehen soll. Ein Bild wäre da schon hilfreich."
"Das male ich."
"Sehr schön. Eines von einem Hund und das einer Katze. Gut?"
"Ja."
"Sehr schön. Ich bin sicher, es dauert nicht mehr lange. Wenn es so wie immer abläuft, ist es nur noch diese Nacht und vielleicht der nächste Morgen noch. Morgen Mittag wissen wir schon, ob es geklappt hat oder nicht. Bis dahin kannst du es sicher noch aushalten, oder?"
"Ja."
"Sehr gut, junger Mann. Ich habe aber noch eine Frage an dich. Hast du in der letzten Zeit einen Freund verloren?"
"Einen Freund?"
"Ja."
"Nein. Keinen Freund."
Holger, David und Sebastian wurden tatsächlich fündig. Unter einer der Hallen stießen sie auf einen leeren Lagerraum, in dem es wirklich eine Tür gab. Da sie kein Schloss besaß, ließ sie sich leicht öffnen. Holger ging wie immer voraus, während ihm die beiden jungen Leute folgten. Sie gingen durch einen Gang, in dem es stockdunkel war. Nur ihre eine Taschenlampe erleuchtete den Bereich unmittelbar vor ihnen. Hier unten war es weit kühler als oben, wo man es nach wie vor kaum aushalten konnte.
"Gestern hatte ich einen seltsamen Traum. Er war so realistisch", sagte Sebastian, als sie unterwegs waren. Es konnte nicht sehr weit sein, denn dieser andere Keller befand sich in der Nähe.
"Einen Traum?", fragte Holger.
"Ja, es kam ein Junge in ihm vor. Er lag im Bett und sah krank aus. Ich habe aus dem Fenster gesehen, auf die Straße hinaus. Es sah genauso aus, wie es jetzt überall aussieht. Gegenüber sah ich einen Rieshaufen Trümmer, die mal unser Haus waren. Ich habe den Brunnen vor dem Haus erkannt", erzählte Sebastian.
"Du meinst, dieses Haus stand noch?", vergewisserte sich Holger.
"Genau, dabei hatte es auch Steinmauern. Ich weiß gar nichts über die Leute, die da wohnen. Man bekommt sie nie zu Gesicht."
"Nie?"
"Nein, nie. Die Hecken sind so hoch, man kann gar nichts sehen."
"Hat der Junge etwas gesagt?"
"Nein. Aber er hatte nur noch eine Hand."
"Eine Hand?"
"Ja, nur eine."
Wieder gelangten sie an eine Tür und öffneten sie. Ihre Umgebung veränderte sich auf einen Schlag. Sie betraten einen weiß gekachelten Raum, an dessen einer Wand lauter weißer Kittel hingen. An der seitlichen standen silberne Spindschränke nebeneinander. Außer ihnen hielt sich hier niemand auf.
"Was ist das denn? System?", starrte Sebastian die freie Wand an.
"Sieben. Es werden immer weniger", sagte Holger.
"Was ist das?"
"Das wissen wir auch nicht."
"Was für ein System?"
Bevor jemand seine Unkenntnis zu diesem Punkt ausdrücken konnte, vernahmen sie einmal mehr das Atmen des Kindes. Ganz deutlich klang es, wenn auch ganz leise, in ihren Ohren. Und wieder schien es überall gleich laut zu sein und die Luft gleichmäßig auszufüllen.
"Wir müssen uns hier umsehen", sagte Holger und trat vor die einzige Tür, durch die sie den Umkleideraum verlassen konnten. Auf der anderen Seite erwartete sie ein Gang, der seitlich vor ihnen nach links und rechts führte. Holger deutete die Pistole in beide Richtungen, aber wiederum waren sie allein hier.
Zu beiden Seiten gingen mehrere Türen ab. Rechts im Ende gab es einen freien Durchgang, der in einen großen Raum zu führen schien. Alles lag in absoluter Dunkelheit.
Ohne etwas zu sagen, deutete Holger nach rechts und ging selbst voraus. Nach ein paar Schritten warf er einen Blick in den Raum, der sich genau neben der Umkleide befand. Es handelte sich um eine Art Zelle, die ebenso weiß gekachelt war. Drei Männer, die schäbige Kleidung trugen und wettergegerbte Gesichter besaßen, lagen tot auf dem Boden. Sie sahen wie Zombies aus, rührten sich aber nicht.
Die nächste Tür auf derselben Seite barg einen identischen Raum, wobei sie in diesem Fall vier tote Männer fanden. Im Raum hinter diesen fanden sie noch drei und in dem dahinter noch einmal drei.
"Menschenversuche", kam es unheilvoll aus Sebastian.
Zumindest war noch kein Wissenschaftler unter den Toten, dachte Holger hoffnungsvoll bei sich. Unter Umständen lebten sie noch und konnten ihnen helfen. Die Frage war allerdings, wo sie sich aufhielten. Die drei gingen weiter und gelangten ganz nach hinten, wo sie einen Blick in den größeren Raum warfen.
"Die Kantine", sagte Sebastian.
Auf einer Seite gab es eine gläserne Theke, an der man sich frei bedienen konnte. Der bleiche Lichtkegel ging über drei runde Tische, an denen immer vier Stühle standen. Zwei Wissenschaftler erblickte sie, die vor Suppentellern saßen, in denen ihre Gesichter lagen. Es roch süßlich.
"Was ist das?", fragte David.
"Blut", antwortete Holger. Vorsichtig ging er zu diesem Tisch und fand, dass die Wissenschaftler wie Zombies aussahen. "Mist", brummte er enttäuscht. Offenbar hatte es auch sie erwischt, obwohl sie nicht sicher sein konnten, ob das für alle von ihnen galt. Aber es sah wirklich schlecht aus, denn es galt ja für beinahe alle in dieser Stadt.
Holger sah sich das Zeug in der Suppe an, das ihm seltsam vorkam und das vollkommen grau war. Er tippte mit dem Finger durch die verkrustete Oberfläche. Unter ihr befand sich etwas Schleimiges. Er hob den Finger und roch an ihm. "Es ist Blut", sagte er und wischte ihn sauber.
"Sie sehen nicht verletzt aus", stellte Sebastian fest. Seine Stimme vibrierte.
"Nein, aber das gilt auch für die Stadtstreicher", meinte Holger. Sein Blick und damit die leuchtende Scheibe wanderten an der Wand entlang, bis sie auf eine Tür fielen. Es handelte sich um das Büro, wie man auf einem Schild lesen konnte. Das Ü war verschwunden, scheinbar gab es so etwas nun nicht mehr. Holger ging zu der Tür und lauschte an ihr. Von der anderen Seite war etwas zu hören. Für einen Augenblick klang es, als wäre etwas zu Boden gefallen.
"Da ist jemand", sagte David gierig.
"Ja", gab Holger zögerlich zurück.
"Gib mir die Pistole!", forderte David, ebenso gierig.
"Was? Bist du jetzt verrückt geworden? Bleib hinter mir."
Holger zog die Tür mit einem Ruck auf und leuchtete ins Büro. Auf den ersten Blick war niemand anwesend, obwohl das unmöglich zu sein schien. Es klang ganz deutlich, dass sich hier etwas bewegt hatte. Der Lichtkegel ging einmal durch den ganzen Raum, aber es war wirklich niemand anwesend. Vor der gegenüber liegenden Wand stand ein Schreitisch mit einem Stuhl dahinter. Links an der Wand stand ein Schrank mit physischen Akten und Ordnern. Ein alter Laptop war dort abgelegt worden.
Vor allem wollten sie wissen, wie genau sich die Forschungen an diesen Wesen darstellten. Holger verschaffte sich Gewissheit, indem er sich vor den Laptop auf dem Tisch setzte und ihr hochfuhr. Die Taschenlampe legte er neben der Tastatur ab.
"Hier war doch etwas", sagte David misstrauisch.
"Vielleicht ist etwas umgefallen", erklärte es sich Sebastian.
"Hier ist nichts umgefallen", meinte David und schnappte sich die Taschenlampe. Noch einmal leuchtete er alles aus, stieß aber auf nichts, das auf dem Boden lag. In Frage kam nur der Schrank, auf dem etwas umgefallen sein konnte, dort aber standen nur die Akten nebeneinander. Auf die beiden jungen Männer erweckte es nicht den Anschein, als könnte überhaupt etwas umgefallen sein.
"Vielleicht sind ein Teil der Akten verschwunden", regte Sebastian an.
"Du meinst, der Laptop lag auf einem?", fragte David.
"Wäre doch möglich."
"Weiß nicht. Macht nicht den Anschein, finde ich."
"Bin auch nicht sicher."
Holger war unterdessen mit dem Desktop beschäftigt. Zu seiner Überraschung aber fand er es von einem immer gleichen Item eingenommen. Es gehörte zu einer Videodatei, war aber immer dieselbe. Holger klickte sie an und bekam einen Film zu sehen, der irgendwo in der Mitte angehalten worden war. Plötzlich erklangen Schreie von Menschen und Schüssen.
"Was ist das denn?", fragte Sebastian irritiert.
"Ein Zombiefilm", antwortete Holger. Mehr schien auf diesem Rechner wirklich nicht zu finden zu sein. Er suchte, fand aber nichts. Vor allem verwirrte es ihn, dass es auf ihm keine wissenschaftliche Notizen oder desgleichen gab. Wenn dieses Büro lediglich der Verwaltung vorbehalten war, mussten sich wenigstens die Stundenpläne oder Personalakten finden, aber auch dem war nicht so.
In diesem Moment sprang etwas auf seinen Schoß. Beinahe erschrak Holger, dann aber ging sein Blick nach unten auf eine Katze. "Hey", sagte er mit einem Lächeln. "Wer bist du denn?" Behutsam nahm er sie auf und setzte sie vor sich auf den Tisch. Sie gab einen halb kläglichen Laut von sich und ließ sich streicheln.
"Was ist das denn?", murrte David.
"Wonach sieht es denn aus?", gab Holger zurück.
"Sollen wir auf die jetzt auch noch aufpassen? Vielleicht hat sie sich angesteckt."
"Ganz offensichtlich hat sie nichts abbekommen."
"Glaub ich nicht", meinte David in einem feindseligen Ton.
"Was befindet sich auf dem Rechner?", erkundigte sich Sebastian.
"Nichts", antwortete Holger.
"Nichts?"
"Nein, nur dieser Film."
"Warum denn nichts?"
"Das weiß ich auch nicht", sagte Holger. Er versuchte es die ganze Zeit über, konnte aber wirklich nichts finden. Auf ihn erweckte das alles nicht den Eindruck, als wäre dieser Computer schon einmal zu einem anderen Zweck eingesetzt worden, als diesen Film zu zeigen. Wieder etwas, das keinen Sinn zu ergeben schien, dachte er bei sich.
Es krachte so laut, dass sogar Holger zusammenzuckte. Sein Blick ruckte hoch, und David stand vor dem Tisch. Er hatte die Katze mit dem anderen Laptop erschlagen.
"Bist du wahnsinnig geworden?", kam es aus Holger.
"Sie war verseucht. Mistviech", gab David mit einem halb wahnsinnigen Ausdruck in den Augen zurück.
"Was? Bist du jetzt irre?"
"Ich habe uns gerettet."
"Du hast eine kleine Katze erschlagen."
"Sie war ein Monster", sagte David voller Überzeugung.
Holger konnte es nicht glauben, aber ganz offensichtlich verlor David sich mehr und mehr. Scheinbar wurde es zu viel für ihn und begann er, langsam durchzubrennen. Er schien sich nicht mehr unter Kontrollen zu haben.
"Vielleicht möchtest du zurückgehen, David. Wir beide machen allein weiter", schlug Holger vor.
"Nachdem ich euch gerettet habe? Warum das denn?"
"Du hast uns nicht gerettet, du bringst uns in Gefahr."
"Das sagt ja wohl der Richtige. Hast du und gerettet oder ich?"
Holger seufzte: "Du bleibst hinter uns beiden. Gib mir die Lampe!"
David gab die Lampe an, das aber mit einem süffisanten Lächeln. Er schien es zu mögen. Danach kehrten sie alle zusammen in die Kantine zurück. Ihr Blick fiel auf den Tisch, an dem eigentlich noch die beiden toten Wissenschaftler sitzen sollten. Einer von ihnen war verschwunden.
"Den schnapp ich mir", stieß David aus und wollte in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren.
"Warte!", hielt ihn Holger zurück. "Du bist nicht bewaffnet."
"Dann gib mir die Knarre!"
"Nein. Wir gehen den anderen Weg."
"Und wenn er uns angreift?"
"Wir wissen doch gar nicht, in welche Richtung er gegangen ist", gab Sebastian zu Bedenken.
"Sei still, du bist neu hier", zischte David.
"Er hat Recht", sagte Holger gelassen. "Wir wollen herausfinden, ob einer von ihnen überlebt hat. Wenn das überhaupt möglich sein sollte. Gehen wir!"
Die drei setzten sich wieder in Bewegung. Holger ging voraus, während David sich ganz hinten anstellte. Er mochte das nicht besonders und sah immer wieder über die Schulter zurück. Es gab noch eine Tür, durch die man die Kantine verlassen konnte. Wie immer ließ sie sich ohne Probleme öffnen. Im Licht der Taschenlampe erschien ein kahler Korridor, der weiß gekachelt war. Hier roch es immer noch nach einem zitronehaltigen Desinfektionsmittel. In der rechten Wand vor ihnen gab es eine schwere Eisentür, die manuell geöffnet werden konnte und ganz im Ende noch so eine. Als sie zur ersten gelangten, erklang ein durchdringender Schrei hinter ihr, und das Klirren einer schweren Kette erklang.
Sebastian erschrak fürchterlich, als der Schrei erklang, aber David lächelte bei diesem Laut. Für das Wesen sollte es kein Problem sein, die Tür zu öffnen, das aber geschah nicht. Holger trat sie nach innen auf und bekam einen ebenso gekachelten Raum zu sehen. An die hintere Wand war ein Mann angekettet worden. Als er die Menschen erblickte, schrie er wie von Sinne, als sei er wahnsinnig. Er tobte und wollte sie in Fetzen reißen. Schaum bildete sich vor seinem Mund.
Holger glaubte, dass sie an seinem Beispiel herausfinden wollten, wir lange diese Kreaturen ohne das Fleisch der Lebenden durchhalten konnten. Allerdings ließ sich nicht sagen, wie lange dieser hier schon so angekettet war. Für ihn sah es so aus, als hätte er sich gar nicht verändert. Seine Kräfte schienen ihn nicht zu verlassen.
"Lass ihn mich abknallen", wollte David haben.
"Nein, der kann uns nicht gefährlich werden", gab Holger mit einem Kopfschütteln zurück.
"Und was, wenn er sich frei macht?"
"Siehst du die Ketten nicht? Wie dick die sind", warf Sebastian ein.
"Halt die Klappe! Wir müssen ihn umbringen, damit er uns nicht gefährlich wird."
Holger schloss die Tür wieder, und damit war die Sache entschieden. Sie gingen weiter und gelangten zur anderen Tür, ganz im Ende des Korridors. Auch die war geschlossen, verfügte aber wie zu erwarten über kein Schloss mehr. In diesem Augenblick verschwand wieder etwas, das sie alle gleichzeitig wahrnahmen. In ihren Hosentaschen verschwand etwas, die Handys.
"Braucht sowieso keiner mehr", grunzte David unwillig. Ihn schien das alles nicht mehr zu interessieren.
Holger stieß die Tür auf. Der Gestank, der ihnen nun entgegen schlug, war so fürchterlich, dass sogar er glaubte, sich übergeben zu müssen. Es war so ekelerregend, es schien keine Worte dafür zu geben. Vor ihnen lag eine Kühlkammer, die aber schon seit einiger Zeit nicht mehr mit Strom versorgt wurde. In ihr hingen mehrere tote Stadtstreicher wie Rinderhälften von der Decke. In drei Reihen hingen sie und rochen so schrecklich, dass man eigentlich die Luft anhalten musste.
"Scheiße", meinte David.
"Sie sehen tot aus", sagte Sebastian, indem er sich die Hand vor den Mund hielt.
"Ja", sprach Holger nachdenklich. Das konnte man über einen der Wissenschaftler aus der Kantine auch sagen. Diese hier rührten sich ebenso nicht, aber sie waren schon verwandelt worden. Unter dem Hals steckten ihnen große Haken zwischen den Schultern, an denen sie baumelten.
Auf der anderen Seite gab es eine weitere Tür, die die einzige neben der darstellte, in der sie gegenwärtig standen. Für die drei Menschen gab es keinen anderen Weg, also nahmen sie ihn. Sie mussten den ganzen Raum durchqueren und taten dies, indem sie hintereinander blieben. Dicht beieinander gingen die an den hängenden Leichen vorbei. Jeder von ihnen achtete darauf, keine von ihnen zu berühren. Sollte eine von ihnen jetzt nach ihnen schlagen, konnten sie dem Angriff schlecht entkommen. Aber um sie herum rührte sich nichts, und keiner schlug nach ihnen. Nur der Gestank war so entsetzlich, dass ihnen schlecht wurde. Trotzdem erreichten sie die andere Tür. Holger beeilte sich damit, sie zu öffnen, und schon befanden sie sich auf der anderen Seite.
Wieder gelangten sie in einen Korridor, von dem mehrere Türen abgingen. Diesmal waren sie beschriftet, so dass sie halbwegs sagen konnten, was sich hinter ihnen verbarg. Halbwegs, weil die Beschriftungen alle ohne Vokale auskommen mussten. Es schien sich zu beschleunigen, fanden alle. Die Welt löste sich mehr und mehr auf, ohne dass ihnen klar war, wie man es sich erklären sollte. Nach wie vor waren sie alle vollständig ratlos.
"Was machen wir, wenn gar nichts übrig bleibt?" fragte Sebastian furchterfüllt.
"Hast du Angst?", fragte David.
"Ich denke nur nach."
"Dann bleiben wenigstens noch diese Mistviecher übrig."
"Was soll das denn heißen?"
"Na was wohl."
Hinter einer der Türen wartete das Labor auf sie. Holger stieß auch diese Tür auf. Gleich mit dem ersten Blick erkannten sie, dass es wahrscheinlich keiner überlebt hatte. Der Raum maß etwa 20 mal 30 Meter und war mit allen möglichen wissenschaftlichen Geräten vollgestopft. Zentrifugen, Mikroskope und dunkle Monitore standen auf den weißen Tischen. An einer Wand erblickten sie drei Kühlschränke, die alle geschlossen waren. Sechszehn Kugeln, dreiundzwanzig Wissenschaftler, dachte Holger. Die Männer und Frauen lagen mit den Oberkörpern auf den Tischen oder wild verstreut auf dem Boden. Alle waren tot und verwandelt worden.
"So ein Mist", kommentierte es Sebastian.
"Was soll's? Wir machen sie alle platt", fand David.
"Nicht genug Munition", sagte Holger. Ganz hinten, an der gegenüberliegenden Wand, machte er einen Schreibtisch aus, auf dem wieder ein Laptop stand. Hinter dem Tisch fiel der bleiche Lichtkreis auf ein kleines Regal, auf dem physische Aktenordner standen.
Holger war nicht wohl bei der Sache, aber er wollte sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. "Leuchte mir", sagte er und überreichte Sebastian beides, Pistole und Lampe. Dann ging er los. Sein Weg führte ihn an den Tischen mit all den Toten vorbei. An einer Stelle musste er über eine Frau steigen, die auf dem Boden lag. Langsam kam er der anderen Seite näher.
David rupfte Sebastian die Pistole aus der Hand.
"Hey!", kam es aus Sebastian.
"Du kannst damit sowieso nicht umgehen."
"Woher weißt du das denn?"
"Halt die Klappe!"
Holger schaffte es auf die andere Seite. Dort setzte er sich auf den Stuhl, von dem aus er das ganze Labor in seiner Sicht hatte. Nichts rührte sich, und alles blieb still. Er fuhr die Maschine hoch.
"Bist du müde, mein Schätzchen?"
"Ja. Bin ich."
"Schön. Hast du noch Kopfschmerzen?"
"Nein."
"Ja, du klingst auch besser. Geht es voran?"
"Ja. Einigermaßen."
"Einigermaßen, aha. Der Doktor sagt, heute Nacht geht es schnell weiter. Morgen wissen wir, ob du geheilt wirst. Ich glaube, es wird schon klappen."
"Ich auch."
"Wirklich?"
"Ja."
"Wir sind immer bei dir, mein Liebling, das weißt du."
"Ja."
"Wenn du möchtest, bleibe ich in der Nacht bei dir."
"Nein. Es geht schon."
"Wirklich?"
"Ja."
"Du wirst sehen, morgen ist alles anders. Wir lassen dich lange ausschlafen. Heute warst du auch auf, dann kannst du morgen auch nach unten kommen. Was meinst du, würde dir das gefallen?"
"Ja."
"Ja, ich denke, morgen ist es überstanden. Wie wäre das? Morgen kommst du mal zu uns nach unten. Dein Bruder vermisst dich schon die ganze Zeit. Dein Platz ist so leer, hat er gesagt. Wenn es dir morgen besser geht, kommst du nach unten in die Küche und setzt dich mal wieder zu uns. Möchtest du das?"
"Ja."
"Schön. Ich freue mich schon darauf. Kann ich dich jetzt allein lassen?"
"Ja."
"Dann gute Nacht, mein Schatz. Bis morgen, schlaf gut."
"Gute Nacht."
"Schlaf schön."
Was Holger auf dem Rechner fand, konnte ihm nicht gefallen. Anstatt auf wissenschaftliche Resultate zu stoßen, bekam er einen Desktop voller Items, die alle gleich waren, und die er bereits kannte. Auch hier gab es nichts als diesen Film zu sehen. "Nichts", sagte er zu sich selbst.
Etwas veränderte sich. Das regelmäßige Atmen eines Kindes erklang. Holger sah durch den Raum, konnte aber nichts und niemanden entdecken. Wie immer konnte man den Verursacher dieses Geräuschs nicht ausmachen oder auch nur sagen, aus welcher Richtung es zu ihnen drang.
Holger schreckte auf, als ein Knurren aus über zwanzig Kehlen aufkam. Plötzlich bewegten sich alle vor ihm. Die Zombies richteten sich auf und drehten die Köpfe, um sich umzusehen. Holger warf den Tisch um, so dass sie alle in seine Richtung blickten.
"Die in der Mitte. Er braucht eine Schneise", flüsterte Sebastian.
David schüttelte den Kopf: "Zu viele." Gleich darauf wandte er sich ab und ging schnell durch den Korridor zurück.
"Hey!", sagte Sebastian.
"Komm, oder willst du drauf gehen?"
Sebastian folgte ihm notgedrungen. Die beiden entfernten sich, während Holger hinter ihnen in Fetzen gebissen wurde. Die Zombies stürzten sich auf ihn und bissen Stücke aus ihn. Holger bekam gar keine Chance, seinem Schicksal zu entkommen. Sie begruben ihn sprichwörtlich unter sich, zerfetzten ihn und nahmen ihn auseinander. Ihre fauligen Zähne bohrten sich in seine Waden und rissen Stücke heraus. Aus den Waden, den Armen, den Oberschenkeln, sie rissen das blutige Fleisch heraus. Holger schrie entsetzlich hoch, aber niemand konnte ihn mehr retten.
"Warum hast du ihm nicht geholfen?", fragte Sebastian, als sie durch den Korridor liefen.
"Halt die Klappe!"
"Man hätte ihm helfen können."
"Du sollst die Klappe halten!"
Kurz darauf gelangten sie in den Kühlraum, in dem noch immer die Leichen abhingen. Wie zuvor konnten sie nicht anders, als dicht an ihnen vorbeizugehen. Genau das taten sie. Die Leichen reagierten zu langsam, um David, der vorne ging, mit ihren Klauen zu ergreifen. Sebastian schrie erschrocken auf, als einer von ihnen sein Hemd ergriff und es in Fetzen ging. Gleich darauf musste er sich unter zwei Armen durchducken und einem von ihnen ausweichen, indem er um einen anderen ging. Immer wieder schlugen sie nach ihm. Gierig heulten sie nach seinem Fleisch. David erreichte die rettende Tür weit vor Sebastian. Dort drehte er sich um und sah zu, wie der andere zu ihm kam. Beinahe hatte Sebastian es geschafft, als ihn ein Toter genau vor dem Ausgang zu fassen bekam. Der Stadtstreicher riss ihn zu sich, um ihm in den Hals zu beißen. Sebastian aber drehte sich zur Seite. Der Mann versenkte seine Zähne tief in seine Schulter, worauf graues Blut hervorkam.
Sebastian schrie entsetzt und riss sich mit einem kraftvollen Ruck los. Dann kam er schwer atmend zu David und hielt vor ihm inne. Er blutete wie ein Schwein.
"Keine Bewegung", sagte David bedrohlich.
"Was machst du da? Steck die Pistole weg."
"Du hast dich angesteckt."
"Nein, ich bin immun", gab Sebastian zurück. Er presste die Hand auf die Wunde, aber es hörte nicht zu bluten auf. Die graue Flüssigkeit quoll zwischen seinen Finger hervor.
"Du hast dich angesteckt", sagte David, indem er Sebastian genau zwischen die Augen zielte.
"Was? Nein!"
Ein Schuss fiel. Sebastian war tot. Mit einem 'Mistviech' wandte David sich ab und ging weiter. Der angeschlossene Gang führte ihn zurück in die Kantine. Was er dort vorfand, stellte keine Überraschung für ihn dar. Der Wissenschaftler, der noch am Tisch saß, hob den Kopf mit einem Knurren und starrte ihn hasserfüllt an. David schoss ihm mitten ins Gesicht, worauf er wieder in den Teller fiel. Danach ging er zu der Leiche und schoss ihm noch zwei Male in den Hinterkopf.
"Na hast du genug, du Missgeburt? Abschaum!", zischte er hässlich, aber mit einem Lächeln. Gleich darauf vernahm er ein Geräusch hinter sich, fuhr herum und erblickte noch einen vor ihnen. Das Gesicht dieses Wissenschaftlers troff von grauem Blut. David legte in dem Augenblick an, als der Mann brüllte und sich mit ausgestreckten Armen auf ihn stürzen wollte. In der Vorwärtsbewegung schlugen zwei Kugeln in seinem Kopf ein, wodurch dieser in den Nacken gerissen wurde. Der Mann rannte weiter, obwohl ein Teil seines Schädels über den Boden kullerte, stieß gegen den Tisch, an dem sein Kollege saß und schlug auf diesem auf.
David lief los und verließ die Kantine schnell wieder. Der Weg nach draußen stellte keine besondere Herausforderung dar, denn es gab niemanden mehr, der ihm in die Quere kam. Nach kurzer Zeit gelangte er zu der Tür, die in jenen Korridor führte, der nicht mehr zum Laborkomplex gehörte. Durch den gelangte er in den Keller unter der Halle. Hier wurde er vorsichtiger, denn er konnte nicht wissen, ob die anderen nicht mehr von ihnen angelockt hatten oder sogar selbst zu ihnen geworden waren.
Als Madeleine ihn ganz allein zurückkommen sah, stiegen ihr sofort die Tränen in die Augen. Lucy nahm sie in den Arm und drückte sie an sich. Es war zu schrecklich für das kleine Mädchen.
"Wir haben nichts gefunden", sagte David, in einer Weise, als handelte es sich um eine Nebensächlichkeit.
"Was ist mit den anderen?", fragte Lucy.
"Haben es nicht geschafft."
"Beide nicht?"
"Siehst du jemanden außer mir?", erkundigte er sich mit einem unappetitlichen Grunzen. Dann spie er einen satten Klumpen aus.
"Sind sie... du weißt schon?"
"Sind sie. Ich weiß, wohin wir müssen", sagte er und ging voraus. Alle anderen folgten ihnen. Draußen war das Atmen des Kindes nicht mehr zu hören. Sie fanden sich in der gewohnten Umgebung wieder, zwischen all den Wellblechhallen und den gelegentlichen Schutthaufen. David beantwortete ihre Fragen nicht, denn er wollte sich nicht darüber unterhalten, was sie in diesem Keller vorgefunden hatten. Lieber ging er voraus. Er wusste, wo die Reichen in ihren Villen lebten und glaubte, dass sie das intakte Haus schon irgendwie finden würden. Es war ein ganzes Stück, er dachte, so dass sie noch auf welche stoßen konnten. Sicher war er nicht, aber es war gut möglich. Die Stadt war groß, früher war sie ein richtiger Moloch. Nun aber war es so still, dass ihre Schritte auf der festen Erde unnatürlich laut klangen. Es gab keinen Asphalt mehr.
Nach einer Weile gelangten sie zurück zu dem Van, der ganz in der Nähe stand. Hier schien sich nicht viel verändert zu haben. Der Junge ohne Namen blieb vor ihm stehen und zeigte mit dem Finger auf die Beifahrerseite. Anna saß nicht mehr dort. Mit einem Blick hinein stellte Lucy fest, dass sie nicht mehr zu sehen war. "Wo ist Anna?", fragte sie.
"Wer will das denn wissen? Wahrscheinlich sucht sie nach uns", meinte David.
Der Junge ging zur Seite des Wagens und zeigte durch die offen stehende Tür.
"Komm schon, du Viech, wir wollen weiter!", rief David.
"Hör auf, ihn so zu nennen", blaffte ihn Lucy an.
"Ich nenne ihn, wie ich will."
"Er ist kein Viech. Das könnte man höchstens von dir sagen."
"Bin ich abartig?"
"Du meinst entartet, richtig?"
"Und?"
"Du bist ekelhaft!"
Ein schreckliches Brüllen wurde vom Van her laut. Anna stürzte heraus und warf sich auf den Jungen. Ohne dass der Kleine sich wehren konnte, biss sie ihm in den Hals und riss ein großes Stück heraus. Das spie sie aus, legte den Kopf in den Nacken und schrie wie eine Furie.
"Nein!", schrie Lucy.
David zielte genau und schoss Anna in den Kopf. Sie rutschte von dem Jungen und blieb neben ihm liegen. Lucy rannte zu ihm und ging in die Knie. "Nein!" Diesmal beklagte er sich nicht, als sie seinen Kopf behutsam in beide Hände nahm. Blut pulsierte aus der Wunde, er war nicht mehr zu retten. "Nein." Der Junge sah sie an und lächelte. Zum ersten Mal nahm sein Gesicht einen Ausdruck an. Er lächelte, und er lächelte für sie. Dann schloss er seine Augen.
Als noch ein Schuss erklang, zuckte Lucy fürchterlich zusammen. David stand breitbeinig über dem Jungen, die rauchende Pistole auf dessen Kopf gerichtet. Blut war ins Lucys Gesicht gespritzt.
"Mistviech", sagte er und ging einfach weiter. Lucy sah ihm mit offenem Mund nach. Dann ging ihr Blick auf Madeleine, die erstarrt war. Lucy erhob sich und ging zu ihr. Sie ergriff ihre Hand und nahm sie mit. Die beiden toten Körper blieben zurück. Sie sahen sich nicht mehr um.