Kapitel 3

 

"Wie geht es dir, mein Schatz?"

"Gut."

"Hast du geschlafen? Gestern Nacht war es furchtbar kalt."

"Hier nicht."

"Gut. War dir wieder schwindelig?"

"Nein."

"Oder schlecht?"

"Nein."

"Der Doktor sagt, dass es nicht mehr lange dauert. Sag mal, was ist denn das? Hast du das gemalt?"

"Ja."

"Die sehen ja schrecklich aus."

"Das sind Zombies."

"Oh. Bitte sag mir nicht, dass dein Bruder dir einen dieser schrecklichen Filme gezeigt hat."

"Hm."

"Nicht zu fassen. Ich muss mal mit ihm reden. Kannst du etwas essen?"

"Ja."

"Ich bringe dir etwas nach oben."

"Mama?"

"Ja, mein Schatz?"

"Es ist der Zombiehammer."

 

Es war ein traumloser Schlaf, aus dem Tomas viel zu früh wieder erwachte. Die Hitze weckte ihn mit den ersten Strahlen der Sonne. Allem Anschein nach wollte dieser Tag noch heißer werden als der gestern. In der stickigen Wohnung wurden sie alle gleichzeitig wach, nur David schlief noch draußen. Tomas ging ihn wecken und holte ihn ins Wohnzimmer. Sie versorgten sich mit einem nur kleinen Frühstück, denn wirklich Hunger hatte keiner von ihnen.

"Ich hatte einen Traum", sagte Lucy, als sie beieinander saßen.

"Wieder einen dieser besonderen?", fragte Anna.

"Nein, diesmal nicht. Ich erinnere mich an jemanden, den ich nicht kenne. Ein Junge, so um die zehn Jahre alt. Er sagte etwas zu mir und hat es ununterbrochen wiederholt. Das war wirklich seltsam, er sagte: Farben, Farben gibt es nicht, sie führen dich nur hinters Licht. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, es hat das ständig wiederholt", berichtete sie.

"Farben gibt es nicht?", wiederholte Tomas. Das wäre ihm neu.

"Muss was mit meinem Studium zu tun haben. Neurologie. In Wahrheit sind Farben vollkommen virtuell. Das Hirn erfindet sie, es gibt sie nicht wirklich. Licht schwingt auf dem Nanometerband und deswegen stimuliert es die Netzhaut, je nachdem, wo genau es lokalisiert ist. Diese Stimulation hat aber gar nichts mit Farben zu tun. Es ist eher so, dass diese Stimulation in Farbe übersetzt wird. In Wirklichkeit besteht die Welt nur aus Grautönen", erklärte sie es.

"Wirklich? Das wusste ich gar nicht."

"Ist aber so. Er hat es die ganze Zeit wiederholt."

Sie aßen auf, dann gab es keinen Grund mehr, hier unnötig zu verweilen. Tomas und Anna wollten unten nachsehen, ob die Luft rein war und dann klingeln, damit die anderen nachkommen konnten.

"Bis gleich", sagte Tomas und zog seine Pistole. Anna tat es ihm gleich und folgte ihm. Sie verließen die Wohnung und fanden den Gang draußen leer vor. Hinter der Barriere erreichten sie das Treppenhaus, in dem sie nach unten stiegen. Im Erdgeschoss erwartete sie eine Überraschung, denn die Zombies waren verschwunden. Auch auf der Straße war nichts von ihnen zu sehen, obwohl sich der Nebel vollständig verzogen hatte.

Tomas klingelte, und kurz darauf saßen sie alle im Bus. Holger klemmte sich hinter das Steuer, Tomas saß neben ihm, und alle anderen setzten sich hinten auf den Boden. In den schwer beladenen Regalen befand sich nun nicht mehr das frische Gemüse.

"Alles klar da hinten?", fragte Holger.

"Wir können", gab Anna nach vorne.

Der Bus war ein klappernder Blechhaufen, der so laut wurde, dass man ihn in einem weiten Umkreis nicht überhören konnte. Tomas besorgte das, denn diese Wesen waren nicht taub. Wahrscheinlich lockte die Karre sie an, was er eigentlich unter allen Umständen vermeiden wollte.

Sie fuhren mehrere Straßen entlang, ohne jemandem zu begegnen. Alles wirkte wie ausgestorben, wie eine Geisterstadt. Noch immer mussten sie den Autos ausweichen, kamen aber trotzdem gut voran. Fast schien es, als könnte ihre Reise durch die Stadt ohne jegliche Aufregung vonstattengehen.

"Habt ihr auch das Gefühl, dass die Welt sich auflöst?", fragte Anna hinten im Bus.

"Könnte sein", meinte Lucy.

"Stellt euch nur vor, Autos verschwinden plötzlich. Und wir sind mit 100 Sachen unterwegs. Unvorstellbar, was dann mit uns passiert."

"Häuser könnten auch verschwinden", unkte Lucy. "Wenn wir uns in ihnen aufhalten, ganz oben womöglich noch. Oder stellt euch vor, wir liegen irgendwo in den Betten und Bumms!, plötzlich sind wir 50 Meter über dem Boden."

"Oder der Boden verschwindet", sagte Anna unheilvoll. "Ist das überhaupt vorstellbar, die Welt ohne Boden? Was bleibt dann überhaupt übrig? Vielleicht die Straßen, aber vielleicht sind dann auch die Straßen fort. Ist dann der Boden noch darunter oder stürzt man einfach in die Dunkelheit? Das mag man sich gar nicht vorstellen."

"Ja, wenn so etwas wie Bäume oder Straßenschilder weg sind, geht es ja noch, aber es kann auch alles Mögliche sein. Brücken zum Beispiel, wenn wir über eine fahren oder Lenkräder oder Reifen. Das ist alles nicht sehr schön", fand Lucy.

"Meine erste Braut war ein richtiges Klasseweib", tönte Holger von vorne. "Eine rassige Spanierin mit richtig Feuer im Blut. Damals, als junge Leute, ja das war noch was. Wir sind wie wilde Tiere übereinander hergefallen."

"So", lächelte Tomas. "Das klingt aufregend."

"Man braucht so eine Frau, um sich die Hörner abzustoßen. In manchen Nächten glaubte ich, sie will mich umbringen. Das war vielleicht was. Was die mit mir angestellt hat, glaubt einem keiner."

"Es könnte auch die Luft verschwinden", unkte Anna weiter. "Könnt ihr euch das vorstellen, die Luft. Dann ersticken wir, ich will nicht ersticken. Oder wir erfrieren, weil die Wärme geht. Der Wind könnte auch fort sein, aber das ist wahrscheinlich nicht so schlimm. Aber Wasser."

"Wasser?", nahm es Lucy auf. "Ja, dann verdursten wir. Oder das Wasser verschwindet auch aus unseren Körpern, dann bleibt nicht viel von uns. Aber dann sterben wir ganz schnell, würde ich sagen, es geschieht ja scheinbar immer in einem Augenblick."

"Verschwinden kann eigentlich alles. Auch solche Dinge wie Holz. Man muss sich mal vorstellen, wo überall Holz verwendet wird. Oder Papier. Wenn Papier verschwindet, muss man sich auf dem stillen Örtchen wirklich etwas einfallen lassen."

"Iiih!"

"Genau. Bäh, das kann man sich gar nicht ausdenken, ekelhaft."

"Stellt euch vor, Plastik verschwindet. Die halbe Welt besteht aus Plastik. Das ist sozusagen in allem drin. Flaschen, Motoren, Babynuckeln, einfach in allem. Sogar in der Kleidung. Au weia, was machen wir denn, wenn so etwas wie Kleidung verschwindet? Oder Schuhe, was machen wir denn dann? Socken gingen ja noch, aber Schuhe wären ein Problem. Oder Hosen. Na ja, dann kann man sich ja ne Jacke umbinden, aber die dürfen dann nicht auch noch verschwinden", sagte Lucy.

"Ich sehe schwarz", pflichtete ihr Anna bei.

"Als junger Mann war ich mit zwei zweieiigen Schwestern auf Brasilien zusammen. Du weißt schon, die haben sich immer alles geteilt", erzählte Holger ein bisschen. "Das war vielleicht ein Landurlaub, kann ich dir sagen. Die beiden haben das immer so gemacht, sich den Mann geteilt, meine ich. Wir hatten ein paar unvergessliche Nächte. Und Tage. Die beiden waren Jurastudentinnen. Ich meine, kannst du dir das vorstellen, dachte ich damals, die beiden in Talaren? Ist fast so, als wären es Betschwestern oder so etwas."

"Zwei klingt ein bisschen anstrengend", lächelte Tomas.

"Es war eine der aufregendsten Episoden in meinem Leben", zwinkerte Holger.

"Das glaube ich."

"Man konnte sie kaum unterscheiden. Nein, man konnte sie nicht unterscheiden."

"Es könnten auch Zähne verschwinden", überlegte Anna. "Zähne, nicht vorstellbar. Oder Augen, Finger oder die Lungen. Ohne Lungen kann man nicht überleben, dann ersticken wir auch."

"Oder Beine", führte Lucy es fort. "Oder die Innereien. Ohne Magen kann man auch nicht überleben. Oder ohne Darm, ohne den geht gar nichts. Oder alles verschwindet auf einmal, und man fällt in sich zusammen. Oder nur das Hirn ist fort, dann ist auch alles vorbei. Oder es verschwinden bestimmte Funktionen, man könnte auch das Gedächtnis verlieren oder das Sehzentrum. Oder das Kleinhirn, dann kann man sich nicht mehr bewegen."

"Oder Arme und Beine, dann sind wir auch geliefert."

"Ja, oder das. Haare wären jetzt nicht so schlimm oder Fingernägel, das geht noch. Zunge wäre schon schlimmer oder Nase. Oder man verliert eine Eigenschaft, man kann plötzlich nicht mehr schreiben oder lesen oder Farben sehen. Oh Mann."

"Aber meine große Liebe traf ich im heimischen Hafen, die Frau meines Lebens", schwärmte Holger. "Eine nordische Schönheit, ein schwebender Engel mit Mondlandebeinen und einer tollen Figur. Aber das Wichtigste an ihr war ihr goldenes Herz. Alles lebt in unserer Tochter weiter."

"Sie ist großartig", fand auch Tomas.

"Oh ja, das ist sie."

Wie auf Ansage erschien Madeleine bei ihnen.

"Na, mein Herzblatt, möchtest du bei Papa sein?"

"Ja."

Holger streichelte ihren Kopf und gab ihr ein väterliches Lächeln. Gleich darauf ging sein Blick wieder auf die Straße. In diesem Moment bogen sie um eine Ecke und hatten die Brücke vor sich. Holger stieg in die Eisen, worauf sie mit einem Ruck anhielten. "Geh nach hinten, mein Liebes, und setz dich hin", sagte er.

"Mist", sagte Tomas, nachdem die Kleine gegangen war. Die beiden Frauen und David kamen nach vorne und sahen, was vor ihnen lag. Die Brücke, die nach ungefähr 100 Metern Straße begann, verfügte zu beiden Seiten über zwei Fahrspuren. Auf ihr erblickten sie mehr Zombies, als sie zählen konnten.

"Scheiße", kam es aus David. Er hatte schon wieder genug davon und war kurz mit den Nerven. Er wünschte sich einen Flammenwerfer, um die Sache zu klären. Verfluchte Scheißbrut.

"Das ist der einzige Weg". Sonst müssen wir durchs Zentrum", sagte Tomas.

"Was machen die denn hier? Sind die wasseraffin?", fragte sich Lucy. Es schien keinen Sinn zu ergeben, denn wenn sie auf der Suche nach Fleisch waren, würden sie in den Häusern oder auf den Straßen suchen.

"Macht den Eindruck, als kämen wir durch, so dicht stehen sie nicht beieinander. Die Frage ist nur, was sie machen, wenn sie uns sehen. Ich meine, wenn sie nur den Bus sehen, reagieren sie vielleicht gar nicht", überlegte Anna.

"Die Zeitung von gestern. Ganz hinten gibt es einen Werkzeugkasten unter dem Regal, darin findest du ein Klebeband", sagte Holger.

Sie fanden alle, dass die Idee nicht schlecht war. Also benutzten sie Band und Papier, um die Fenster zu allen drei Seiten abzudichten. In der Mitte ließen sie ein kleines Loch frei, damit Holger sehen konnte. Anschließend war das Fenster hinten an der Reihe.

"Gut. Hoffen wir, dass es funktioniert", sagte Holger und legte den Gang ein. Sehr langsam fuhren sie an und näherten sich der Brücke. Die Zombies ganz vorne beachteten sie nicht, obwohl sie den Motor nicht überhören konnten.

"Auf der Brücke stehen ein paar Autos", sagte Tomas.

"Aber nicht viele, da kommen wir leicht herum. Die sind aus der Umgebung zu Fuß hierhergekommen", gab Holger zurück.

"Ergibt das Sinn?"

"Muss es wohl."

Je näher sie kamen, desto mehr von ihnen erschienen. Als sie sich genau vor der Auffahrt befanden, hielt Holger wieder. Die ersten von ihnen standen nur noch wenige Meter entfernt, aber sie sahen alle in ganz unterschiedliche Richtungen, ohne sich von der Stelle zu rühren. Sollten sie sich aus einem bestimmten Grund hier versammelt haben, so galt ihr Interesse nicht einem bestimmten Punkt. Eher schien es, als hätten sie etwas auf diese Brücke getrieben.

"Siehst du irgendetwas?", fragte Tomas.

"Nein", antwortete Holger.

"Etwas muss sie angelockt haben."

"Hier gibt es nichts."

Zwischen ihnen war reichlich Platz, sogar für die Abmessungen dieses Busses. Holger fuhr im Schritttempo an und achtete genau darauf, keinen von ihnen zu berühren. Sie passierten einen, der aber sah nicht einmal in ihre Richtung. Dann folgte wieder einer und wieder und noch einer. Scheinbar wahllos standen sie herum, aber keiner von ihnen rührte sich von der Stelle.

"Es funktioniert", sagte Holger.

"Gestern sprachen wir über diese Filme", merkte Anna an. Alle außer Madeleine standen hinter den beiden Sitzen vorne.

"Was meinst du?", fragte Tomas.

"Wenn wir in einem wären, würde der Motor genau auf der Mitte der Brücke absaufen. Das passiert immer, deswegen kennt man sie alle, wenn man nur einen gesehen hat", erklärte Anna ihren Gedanken.

"Vergessen wir die Filme", meinte Holger. Er steuerte sie behutsam weiter und war, wie die ganze Zeit über, immer darauf bedacht, keinen von ihnen zu berühren. In der Mitte der Brücke standen etwas mehr von ihnen, aber es bestand immer noch ausreichend Platz zwischen ihnen, um in dieser Weise fortzufahren.

"Was ist, wenn wir liegen bleiben?", fragte Anna.

"Er ist noch nie liegengeblieben, da kannst du ganz sicher sein", erwiderte Holger.

"Was, wenn doch?"

"Ich lasse ihn jedes Jahr gründlich durchchecken, und so alt ist er auch noch gar nicht. Jedenfalls nicht so alt, dass der Motor seinen Geist aufgibt. Keine Sorge, wirklich, du musst dir keine Sorgen machen."

"Es ist aber immer so", sagte Anna.

Sie fuhren weiter, ohne angegriffen oder irgendwie aufgehalten zu werden. Die Zombies waren nicht intelligent genug, um zu begreifen, was vor sich ging. Für sie schien es nur ein Ding zu sein, dass sich jemand in ihm befinden könnte, kam ihnen ganz offensichtlich nicht in den Sinn. Im Schritttempo fuhren sie zwischen ihnen entlang.

"Was ist das?", fragte Anna. Sie meinte die vielen hellen Lichtpunkte, die plötzlich auf dem Zeitungspapier von unten nach oben wanderten.

"In der Nähe steht ein Bürogebäude. Die Fenster sind verspiegelt", klärte Holger die Sache auf.

Sie erreichten die Mitte der Brücke wohlbehalten. Dort wurde Holger noch um eine Spur langsamer, weil sie dichter standen. Wie zuvor sahen sie in alle Richtungen. Ihre Augen waren milchig leer, sie atmeten nicht und gaben keinen Laut von sich.

"Wenn ich ein MG hätte, ich würde die alle platt machen", meinte David.

"Halt dich geschlossen!", gab Tomas nach hinten.

"Hab ich was Falsches gesagt?"

"Klappe halten!"

Und plötzlich röchelte der Motor. Solch ein Geräusch hatte er noch nie von sich gegeben. Er keuchte und begann zu stottern.

"Wir bleiben liegen", flüsterte Anna.

"Was ist denn?", fragte Holger, als ob ihm der Bus antworten könnte. Die Geräusche wurden lauter, noch aber fuhren sie.

"Vielleicht ist wieder etwas verschwunden", vermutete Lucy.

Der Motor gab den Geist auf, und schlagartig wurde es still. Sie standen.

"Scheiße", sagte Lucy leise.

Holger versuchte es, aber der Motor gab nur ein krankes Krächzen von sich. Er sprang nicht wieder an. Holger versuchte es wieder, dann noch einmal, wieder und wieder, dann gab er es auf. Es war vergebens.

"Ich glaube das nicht", sagte er.

Um sie herum befanden sich etwa zehn von ihnen, aber bemerkt hatten sie sie immer noch nicht. Holger wusste, dass er sich den verdammten Motor ansehen musste, aber das ging unter diesen Umständen nicht. Er versuchte es noch einmal, aber diesmal krachte es nur metallisch.

"Jemand muss es sich ansehen", sagte er.

"Und wer soll das machen? Das geht doch nicht", meinte Lucy.

Ratlos sahen sie einander an, aber scheinbar wusste keiner von ihnen weiter. Sie konnten nicht hier bleiben, aber nach draußen wollte sich auch keiner wagen.

"Wir sterben hier", flüsterte Anna.

"Noch sind wir in Sicherheit", meinte Holger.

Es war unfassbar heiß im Bus, jeder von ihnen stand im Schweiß. Es war wie in einem Ofen. Die Luft war dick und roch übel, weil alle schwitzten. Die Scheiben waren beschlagen, denn sie konnten die Fenster nicht öffnen.

"Vielleicht funktioniert es", sagte Tomas mühsam. Er hatte Probleme zu denken.

"Es kann nicht funktionieren", fand Lucy.

"Vielleicht doch. Es kommt darauf an, worauf sie wirklich ansprechen. Den Bus bringen sie nicht mit uns in Verbindung. Wer weiß, unter Umständen müssen sie ihre Opfer wirklich sehen."

"Und wie soll uns das weiterhelfen?"

"Man müsste sich verhüllen", sagte Tomas.

"Neben dem Werkzeugkasten liegt eine Decke. Mit ihr decke ich manchmal die Auslage ab", sagte Holger.

"Okay. Ich gehe", beschloss Tomas. Es schien ihre einzige Möglichkeit zu sein, also wollte er es versuchen. Sie gingen nach hinten, wo er es ausprobierte. Die beiden Frauen zogen ihm die Decke über, so dass er vollkommen durch sie verhüllt wurde. Er musste aufpassen, denn  ein guter Teil der Decke lag auf dem Boden. Er konnte auf sie treten, wenn er den Fuß hob. Tomas sagte, er würde schlurfen, um das zu vermeiden. Damit aber war es noch nicht getan. Anna holte die Schere aus dem Kasten und schnitt einen Sichtschlitz aus. Nicht viel mehr als seine Augen kamen nun noch zum Vorschein.

"Du musst die Decke halten, sonst verrutscht sie", riet sie ihm.

"Ich brauche nicht viel", erwiderte er. In seine Hosentasche steckte er einen Schraubenzieher, einen Schraubenschlüssel und den Hammer. Danach schnitt Anna zwei Löcher für seine Arme aus. Er wollte sie aber erst hinausstrecken, wenn er vor dem Motor stand und den Zombies den Rücken zuwandte.

"Bereit?", fragte Lucy.

"Kann losgehen."

Wie sich herausstellte, reagierten sie nicht auf das Geräusch der Tür. Tomas erschien ganz allein in der Tür. Einer von ihnen sah ihn an, rührte sich aber nicht. Ganz vorsichtig, ohne sich hastig zu bewegen, stieg Tomas auf den Asphalt.

Er schlurfte. Ganz langsam, Schritt für Schritt, kam er voran, ohne in Stücke gerissen zu werden. Es waren tatsächlich um die zehn, die jeden Augenblick losspringen und ihn zerfetzen konnten. Aber sie standen nur auf der Stelle. Leise klang ihr Stöhnen in seinen Ohren, das aber schien das Gefährlichste an ihnen zu sein.

"Klingt gut", sagte Lucy im Bus. Die Tür stand noch um den Spalt offen, aber niemand zeigte sich ihnen.

"Vielleicht schafft er es", flüsterte Anna.

Kurz darauf erklang das markante Geräusch, mit dem eine Motorhaube geöffnet wurde. Tomas sah auf den Motor und erkannte das Problem gleich mit dem ersten Blick. Nur ein kleiner Handgriff und die Sache war in Ordnung. Vorsichtig und ganz langsam langte er mit der rechten Hand durch das Loch und erblickte sie vor sich. Er war nicht sicher, ob einer von ihnen es sah, und wenn ja, ob er auf einen einzelnen Arm losging. Kurz darauf wusste er es, denn alles blieb ruhig.

"Scheiße", sagte Anna laut.

"Was?"

"Die Zeitung. Sie brennt!"

"Scheiße."

"Schlag die Flammen aus!"

"Womit?"

"Schlag die Flammen aus!"

"Im Kasten. Das Tuch!"

"Ich gehe."

"Beeil dich!"

"Mach schon!"

"Wo ist es?"

"Unten, man kann den Boden rausnehmen."

"Scheiße, es brennt alles weg."

"Ich habe es."

"Zu spät."

"Nein."

"Scheiße!"

"Mach schon!"

"Scheiße!"

"Mach schon, mach schon, oh mein Gott."

Das Tuch schlug die Flammen aus, doch das Loch vor ihnen war schon sehr groß. Zwei von ihnen konnten sie sehen. Wie in Zeitlupe drehten sie die Köpfe und fixierten sie. Dann öffneten sie gleichzeitig ihre Schlünder und brüllten markerschütternd laut. Tierhafte Laute, die sie im Magen fühlten. Gleich darauf antworteten alle in ihrer Nähe und wandten ihre Blicke auf den Bus. Es schien, als wären sie erwacht.

Tomas wurde mit einem Handgriff fertig, dann drehte er sich ein Stückweit um. Langsam ging er zurück. Um sich herum vernahm er die Schritte der Zombies, die ihn immer noch nicht erkannten. Dann plötzlich rannten vier von ihnen los. Wie hirnlose Tiere prallten sie gegen die Kühlerhaube und streckten ihre Klauen nach den Menschen hinter der Scheibe aus. Dabei schrien sie hasserfüllt.

Tomas wurde nicht angegriffen. Im Bus klebte Holger das Loch wieder zu. Gleich darauf wurden die vier vor ihnen leiser und immer leiser, um bald zu verstummen. Tomas erschien neben dem Spalt und stieg hoch. Als er oben war, zog er die Tür zu und befand sich in Sicherheit.

"Sie sind hirntot", befand er, indem er sich von der Decke befreite. Dann ging er an den Frauen vorbei und setzte sich wieder nach vorne. Holger war gerade damit beschäftigt, sich ein neues Loch zu schaffen, damit er nicht blind fahren musste. "Wir müssen zurücksetzen. Hast du den Schaden behoben?", fragte er.

"Kannst loslegen", gab Tomas zurück.

Der Motor sprang mit dem gewohnten Geräusch an. Um einige Meter rollten sie rückwärts, dann stoppten sie. Holger schlug den Lenker ein, und sie fuhren langsam an den vieren vorbei. "Das war knapp", sagte er.

"Nur gut, dass sie nicht denken können", merkte Lucy an.

"Die wissen wahrscheinlich nicht einmal, dass sie auf einer Brücke stehen", vermutete Tomas.

Vielleicht war es besser für sie, wenn man sie überfuhr, dachten sie, aber sie durften kein unnötiges Risiko eingehen. Außerdem konnte man es niemandem zumuten, es zu tun. So fuhren sie weiter und immer weiter, bis sie das Ende der Brücke endlich erreicht hatten. Hinter ihr gelangten sie wieder auf eine Straße, auf der es schon sehr nach Vorstadt aussah. Hier lag der Hund begraben. Holger fuhr etwas schneller, weil sie hier nur den üblichen Autos ausweichen mussten, aber keinen Zombies mehr.

"Kommt euch das nicht merkwürdig vor?", fragte Anna mit leiser Stimme.

"Was?", fragte Lucy.

"Alles ist auf einmal passiert. Zuerst streikt der Motor und dann brennt plötzlich die Zeitung."

"Eine unglückliche Verkettung", fand Lucy.

"Meinst du? Ich weiß nicht."

Wenn man von den Autos mal absah, befanden sie sich in einer vollkommen normalen Umgebung. Es war die triste Vorstadt, grau und das Gegenteil von pulsierend. Früher war hier nicht viel los, dachten sie alle, jetzt war es gespenstig.

"Wir locken sie nicht an", sagte Tomas. Das stellte eine gute Nachricht dar, denn die Zombies kamen nur, wenn sie einen Menschen zu Gesicht bekamen oder sie hörten. Alles darüber hinaus ließ sie offenbar vollkommen kalt. So gesehen hatten sie sogar Glück, dachten sie.

Die Frauen gingen nach hinten, wo sie sich auf den Boden setzten. David und Madeleine waren die ganze Zeit unter sich, aber sie unterhielten sich nicht miteinander. Man konnte sehen, dass sie seine Aufmachung zu martialisch fand und seinen Ausdruck ebenso.

"Geht es dir gut?", fragte Anna und lächelte die Kleine an. Die nickte. "Gut. Du bist sehr tapfer", sagte Anna. "Und du?"

"Was soll sein?", meinte David kleinlaut.

"Angst zu haben, ist keine Schande."

"Ich hab keine Angst. Gib mir ein MG und ich räume selbst auf."

"Waffen sind keine Stärke."

Er stöhnte unwillig und sah in eine andere Richtung. Diskussionen verursachten ihm schon immer Hirnblähungen. Er hasste das, vor allem, wenn er sich etwas sagen hörte und gleich darauf begriff, dass es Blödsinn war. Aus irgendeinem Grund konnte er das bei sich nicht abstellen, also hielt er lieber die Klappe.

Vorne geschah es diesmal vor den Augen der beiden Männer. Etwas verschwand. Tomas hatte die Zeitung auf der Windschutzscheibe schon entfernt, aber an den Seitenfenstern klebte sie noch. Alles, was schwarz auf den Seiten war, wurde auf einen Schlag grau.

"Schwarz ist verschwunden", stellte Tomas fest.

"Würde ich auch sagen", brummte Holger.

"Bald ist alles grau in grau."

"Es könnte schlimmer sein."

Sie näherten sich einem Platz, auf dem es einen Brunnen gab und eine kleine Grünfläche um diesen herum. Kreisverkehr auf einer sehr engen Straße. Zu ihrem Glück aber befand sich rechts von ihnen nur ein einziger Wagen. Man konnte ihm ausweichen, indem man ein kurzes Stück über den Bürgersteig fuhr.

"Riechst du das?", fragte Tomas.

"Ja", antwortete Holger.

"Ist alles in Ordnung da hinten?"

"Nein. Es gibt keine Dosen mehr. Das ist vielleicht eine Matsche in den Regalen", antwortete Lucy.

"Du hast Recht, es konnte schlimmer sein", stöhnte Tomas entnervt.

Sie verließen den Rundverkehr und fuhren die Straße weiter. Etwa 200 Meter erblickten sie eine Kreuzung, die in vier Richtungen abging. Mitten auf ihr lag ein Zombie. Zwei standen in seiner Nähe, bewegten sich aber nicht.

"Wir hätten die Zeitung nicht abnehmen sollen", fand Holger nun.

"Alles ist frei, fahr einfach schneller", sagte Tomas.

"Okay", meinte Holger, aber bevor er auf das Pedal trat, näherte er sich erst noch für ein Stück. Richtig loslegen wollte er erst, wenn es nur noch 50 Meter waren.

Ein Schuss fiel, und einer der Zombies ging zu Boden. Scheinbar wurde er von hinten in den Kopf getroffen. Der andere sah in dieselbe Richtung, doch selbst der Knall brachte ihn nicht dazu, sich umzudrehen. Holger stieg in die Eisen, und schon standen sie. "Das kam von rechts", sagte er.

"Es hat noch jemand überlebt", sprach Tomas das Offensichtliche aus.

"Was war das?", fragte Lucy, die nach vorne gekommen war und zwischen den beiden Männern nach draußen schaute. "War das ein Schuss?" Wie zur Antwort knallte es wieder, und der andere Zombie stürzte. Wie immer floss kein Blut. Die Kugel riss ein Stück Knochen aus seinem Gesicht, nachdem sie hinten eingedrungen war. Nun lagen drei Leichen auf dem Boden.

Das zornige Röhren einer Kawasaki erklang und näherte sich schnell. Es war ein Bär von einem Mann, der trotz der Temperaturen in einem schwarzen Anzug steckte. Von seinen Schultern flatterte ein ebenso schwarzer Trenchcoat. Der Mann fuhr auf die Kreuzung und hielt vor den Leichen.

Holger hupte, worauf sich das verspiegelte Visier zu ihnen drehte. Der Mann trat das Pedal durch, worauf die Maschine aufbrüllte. Auf ihr schoss er die Straße hinab und blieb mit einem Ruck neben dem Bus stehen. Tomas und Holger erhoben sich und gingen nach hinten, wo sie die seitliche Tür aufschoben. Während sich alle anderen oben auf der Fläche versammelten, stiegen die beiden nach unten. Sie traten vor den Biker.

"Es gibt noch richtiges Leben in der Stadt", sprach eine halb erstickte Stimme.

"Sonst sind wir niemandem begegnet", gab Tomas zurück.

"Ich auch nicht", sagte der Mann und nahm den Helm ab. Er war jemand, den einige von ihnen kannten. Megahoschi, wie auch immer sein richtiger Name war.

"Mein Name ist Jens. Wir kennen uns schon."

Tomas beschloss, einfach nicht darüber zu sprechen. Der Mann hatte die ganze Zeit Recht, er wusste es, und Jens wusste, dass sie beide es wussten. Und gut. Ein Blick genügte, um sich darüber zu verständigen.

"Wir wollen die Stadt verlassen", sagte Tomas.

"Ich nicht", meinte Jens und deutete mit dem Daumen rückwärts auf das Jagdgewehr auf seinem Rücken.

"Es sind Millionen. Du kannst nicht gewinnen", sprach Holger mit seiner Bärenstimme.

"Sicher richte ich keinen Schaden damit an", fand Jens mit einem sehr breiten Lächeln.

"Aber du hilfst auch niemandem damit, auch dir selbst nicht. Wir können jede Hilfe gebrauchen", bot Holger ihm an.

"Aus der Stadt?"

"Genau."

"Und was wollen wir da?"

"Überleben."

"Überleben", wiederholte Jens nachdenklich. Ihm war klar, dass er hier nichts ausrichten konnte, aber er war nicht sicher, ob er sich jemandem anschließen, also sich mit jemandem beschweren sollte. Er war schon immer der Typ Einzelgänger. Seiner Ansicht nach steigerte es seine Überlebenschancen nicht, wenn er sich mit dieser schwerfälligen Truppe abgab.

"Ich wollte die Stadt bald auch verlassen", sagte er.

"Dann haben wir denselben Weg", stellte Holger fest.

"Aber ich bin allein unterwegs."

"Dann sinken deine Chancen."

"Darüber lässt sich streiten", fand Jens. Und mit diesen Worten setzte er den Helm wieder auf. Er war schneller allein, dachte er, und musste auf niemanden Rücksicht nehmen. Das Hinterrad kreischte, dampfte und hinterließ eine graue Spur auf dem Asphalt. Am Ende des Kreises beschleunigte er und schoss davon. Alle sahen ihm nach, wie er schnell wie ein Blitz über die Straße raste. Schon flog er über die Kreuzung und wurde immer kleiner. Sekunden darauf verschmolz er mit dem Hintergrund dieser schier endlosen Straße.

"Was war das denn für einer?", fragte sich Lucy kopfschüttelnd.

"Vollidiot", befand Anna.

David fand die Nummer richtig geil, behielt das aber für sich. Nach außen teilnahmslos ging er nach hinten und setzte sich wieder. Der Starke ist am mächtigsten allein, dachte er.

"Gehen wir", seufzte Tomas. Die Sache war gelaufen.

Die seitliche Tür schloss sich mit dem üblichen unüberhörbaren Geräusch, kurz darauf brummte der Motor. Wie zuvor saßen die Männer vorne, und wie zuvor bekamen sie nichts zu sehen, als die mehr oder weniger graue Vorstadt. Holger ließ sich nicht hetzen, denn sie konnten den Autos auf der Straße nicht wie Slalomstangen hinter sich lassen. Jens war schon auf und davon, ihn konnten sie abschreiben. Die beiden blieben wachsam, doch erst einmal tauchten keine mehr von ihnen auf.

Anna kam zu ihnen nach vorne. "Ist schon seltsam, dass er sich nicht helfen lassen will", sagte sie.

"Er glaubt, wir wollen uns von ihm helfen lassen", drehte es Holger herum.

"Was für ein egoistischer Idiot."

"Egoisten neigen dazu, zu überleben. Das haben sie mit Feiglingen gemein", sagte Holger.

"Trotzdem. Vielleicht waren wir die letzten Menschen, die er je zu Gesicht bekommt. Außerdem kann er keine Nachtwache einrichten, was wir übrigens nicht vergessen sollten. Ich bin das lange Aufbleiben gewohnt", sagte sie.

"Wirklich?", fragte Holger.

"Tomas und ich sind Polizisten."

"Okay."

Die Vorstadt sah immer gleich aus, aber sie näherten sich ihrem Ende und damit auch dem Ende der Stadt. Nach einer Weile wurde die Straße so frei, dass sie endlich schneller werden konnten. Anna stand die ganze Zeit hinter den beiden Männern und blickte die quasi leere Straße hinab. Nach ungefähr fünf Minuten wurden sie noch schneller. Links und rechts von ihnen flogen die immer gleichen Fassaden an ihnen vorüber. Wohnhausfassaden, manchmal Geschäfte, in einer scheinbar endlosen Folge.

Anne schrie erschrocken auf, als es geschah. Sie erschrak, wie sie es nie für möglich gehalten hatte.

"Hey. Nur die Ruhe, es sind nur die Fenster verschwunden", sagte Tomas. Plötzlich wehte ihnen der Fahrtwind um die Ohren.

"Mann!", kam es aus ihr.

Mit einem Blick nach draußen erkannten sie, dass alle Fenster verschwunden waren, sowohl die der verlassenen Autos als auch die in den Häusern. Es schien alle Fenster zu betreffen, ganz gleich, aus welchem Material sie bestanden.

"Keine Panik, das bringt niemanden um", sagte Holger mit ruhiger Stimme.

Anna ging nach hinten und setzte sich wieder. Sie hatte erst einmal genug. Vorne blieb alles wie zuvor, denn sie fuhren einfach weiter. Der Wind kam zu ihnen herein, aber das bedeutete nicht, dass es kühl wurde. Tomas musste sich immer noch den Schweiß aus dem Gesicht streichen.

Nach einer Weile gelangten sie wieder zu einem Kreisverkehr. Der unterschied sich nicht sonderlich von dem zuvor, nur dass sie hier zur Linken gar keinem Auto ausweichen mussten. Der Weg war vollkommen frei. Als sie aber auf den Platz fuhren, ging ihr Blick geradeaus auf den Brunnen. Die Kawasaki lag auf dem Boden, offenbar hatte sie ihn gerammt, als sie über den Boden schlitterte. Jens lag ein Stück abseits, er rührte sich nicht.

"Verflucht", brummte Holger und hielt den Bus an.

"Wenn er noch lebt, trägst du ihn. Anna und ich sind bewaffnet", sagte Tomas und erhob sich. Hinten gab er seiner Kollegin ein Zeichen, worauf auch sie auf die Beine kam.

Draußen stach die Sonne ungemindert auf sie ein. Die drei liefen zu Jens, wobei Tomas und Anna ihre Pistolen bereit hielten und sich in alle Richtungen umsahen. Im Augenblick aber schienen sie allein zu sein. Holger hockte sich neben Jens. Der drehte den Kopf. Das Visier seines Helms war verschwunden. "Mein Bein. Es ist gebrochen", stöhnte er.

Als Holger ihn sich auf die Schulter legte, musste Jens die Zähne aufeinander beißen. Der Hüne trug ihn in den Bus und legte ihn dort auf den Boden.

"Mein Gott", sagte Anna bei diesem Anblick.

"Die Schmerzen", stöhnte Jens.

"Wir müssen in eine Apotheke", sagte Lucy.

Auf dem Weg hierhin waren sie einer begegnet. Die beiden Männer setzten sich wieder nach vorne, während Anna und Lucy bei Jens blieben. Sein Bein war tatsächlich gebrochen, aber zum Glück handelte es sich um einen glatten Bruch und auch um einen, bei dem der Knochen nicht aus dem Fleisch stach.

"Du kannst allen Engeln danken, dass du überlebt hast", sagte Lucy.

"Weiß ich", stöhnte er.

Tomas wusste, dass sie wahrscheinlich keine Chance hatten, denn alles, was unter das Betäubungsmittelgesetz fiel, musste in einem Tresor aufbewahrt werden. Aber sie mussten es trotzdem versuchen, denn unter Umständen war der Apotheker vergesslich und hatte die Kombination irgendwo im Laden notiert. Tomas fand sogar, dass ihre Chancen gar nicht so schlecht standen.

Holger beeilte sich, damit sie schnell ihr Ziel erreichten. Bald erschien das rote Zeichen vor ihnen. Kurz darauf hielten sie vor dem nicht mehr existierenden Schaufenster.

"Du bleibst hier. Wenn es Ärger gibt, fährst du sofort los", sagte Tomas. Er ging nach hinten, wo er die anderen traf. Gleich darauf stiegen er und Anna aus. Von außen erweckte der Verkaufsraum keinen irgendwie ungewöhnlichen Eindruck. Nichts war durcheinander geraten, und keine Leichen lagen herum. Kein Blut auf den weißen Fliesen, und die Regale hinter dem Tresen waren unberührt. Im Tresen erblickten die beiden eine Tür.

Mit den Pistolen im Anschlag betraten sie den Verkaufsraum. Kurz hinter dem Eingang blieben sie stehen und lauschten in die Stille. Leise erklang das beschleunigte Atmen eines Kindes in ihren Ohren. Wie in jenem Supermarkt schien es die ganze Luft vollkommen gleichmäßig und immer in derselben Lautstärke auszufüllen.

"Kein gutes Zeichen", kommentierte es Anna.

Tomas legte den Finger auf die Lippen, sie sollte still sein. Gleich darauf bewegte sich etwas hinter der Theke. Eine tote Frau, die in einem weißen Kittel steckte, erhob sich. Ihr stumpfer Blick ging auf sie, und genau in diesem Moment entblößte sie ihre braunen Zähne. Das bedrohliche Knurren eines gestörten Hundes erklang.

Tomas schoss, erwischte ihren Kopf aber nur seitlich. Ein Teil ihres Schädels platzte ab, aber es kam kein Blut zum Vorschein. Wieder krachte es, und ein Auge verschwand. Gleichzeitig schlug ihr Kopf hart in den Nacken. Er schoss noch einmal. Diese Kugel schlug durch ihr Kinn und trat über der Stirn wieder aus. Die Frau senkte den Kopf und stierte sie mit einem Auge an. Tomas schoss ihr in die Stirn, und endlich brach sie mit einem röhrenden Laut zusammen.

Ihr Ruf wurde aus einem Zimmer hinter dem Verkaufsraum erwidert. Zwei andere von ihnen brüllten. Tomas und Anna richteten ihre Waffen auf den türlosen Rahmen, der nach hinten führte. Niemand kam zu ihnen.

"Sie reagieren unterschiedlich", flüsterte Anna.

Tomas zuckte die Schultern, denn er wusste es auch nicht.

"Gehen wir?", fragte sie.

"Was denkst du denn?"

 

"Bist du erkältet, mein Schatz?"

"Nein."

"Deine Stimme klingt belegt."

"Ich weiß."

"Lass mich mal fühlen. Nein, du bist wirklich nicht heiß. Erkältet bist du nicht. Es ist eine ganz normale Reaktion. Der Doktor sagte das ja auch schon."

"Ja."

"Siehst du? Kein Grund zur Beunruhigung. Geht es dir sonst gut?"

"Ja."

"Das ist wundervoll. Weißt du, wie spät es ist?"

"Ja. Leider."

"Ich weiß, mein Liebling, aber es ist nicht mehr für lange. Sind die Kopfschmerzen dann immer so schlimm?"

"Ja."

"Ich bleibe bei dir, in Ordnung? Wir ziehen die Vorhänge zu, und du schließt die Augen, und alle im Haus sind ganz leise. Vielleicht kannst du sogar ein bisschen schlafen. Es dauert auch nicht so lange."

"Okay."

"Schön. Sieh an, du hast wieder etwas gemalt. Noch mehr tote Leute."

"Das sind Zombies."

"Ja, das sagtest du schon. Ich habe mich mit deinem Bruder unterhalten, er wird dir keinen dieser Filme mehr zeigen. Um genau zu sein, wir haben sie alle gelöscht. Sicher hattest du Alpträume davon."

"Nö."

"Nö?"

"Ich find die cool."

"Cool. Na ja, ich denke, das ist wahrscheinlich ganz normal. Du hast einiges durchgemacht."

"Mama!"

"Oh mein Gott. Entschuldige, mein Liebling. Komm her. Nicht weinen, du musst nicht mehr weinen. Es ist schon lange vorbei. Nicht weinen, mein Liebling, sch-sch."

"Können wir anfangen?"

"Möchtest du das?"

"Dann habe ich es hinter mir."

"Gut. Du bist sehr tapfer. Dein Vater und ich lieben dich."

 

Tomas ging voran, während Anna ihm Deckung gab. Hinter dem Verkaufsraum befand sich ein relativ großer Raum, in dem eine Wand vollständig von einem Schrank mit vielen länglichen Schubladen bedeckt wurde. Auf der gegenüber liegenden Seite stand ein großer Tisch mit einer weißen Fläche.

Der Apotheker sah grauenvoll zugerichtet aus. Sein Gesicht war halb zerfallen. Durch ein ausgefranstes Loch in einer Backe fiel der Blick auf die beiden Zahnreihen. Er fuhr herum, als er sie hörte, und brüllte gierig. Diesmal traf Tomas ihn sofort auf der Stirn. Ein Teil des Schädels platzte hinten heraus und schlug gegen die Wand. Das Gesicht des Mannes verzerrte sich wie durch den Wahn eines Geisteskranken, und gleichzeitig gab er einen winselnden Ton von sich. Einen Augenblick darauf brach er zusammen und rührte sich nicht mehr.

"Wir haben Glück", sagte Anna.

"Wie soll ich das denn verstehen?"

Ihr Finger zeigte auf den Tresor. Allem Anschein nach gab es keine Tresortüren mehr. Tomas holte alles heraus. Er fand eine Plastiktüte, in die er alles stopfte.

"Gehen wir", sagte er.

Gerade wollten sie sich aus dem Staub machen, als ein Geräusch erklang, das sie nicht unbedingt an diesem Ort vermutet hätten. Hinter einer schmalen Holztür ging eine Toilettenspülung.

"Noch jemand", sagte Anna.

"Haben wir Glück oder gibt es derart viele Überlebende?", fragte sich Tomas. Er ging zur Tür und versuchte den Knauf. Er ließ sich drehen. Es war die Apothekerin, was leicht auszumachen war, weil auch sie in einem jener Kittel steckte. Die beiden konnten ihr Gesicht nicht sehen, denn sie kniete vor der offenen Toilette, und ihr Kopf steckte so tief wie nur möglich in dieser. Mit einer Hand drückte sie die Spülung, worauf wieder etwas Wasser kam.

"Hallo?", fragte Tomas.

Die Frau hielt inne, als sie seine Stimme vernahm. Plötzlich bewegte sie sich nicht mehr.

"Wir sind Menschen. Scheinbar hast du auch überlebt. Wir sind auf dem Weg aus der Stadt", sagte er.

Ihre Finger legten sich auf den Rand der Toilette und krampften sich so kräftig um ihn, dass die Knöchel weiß heraustraten.

"Du bist nicht allein. Wenn du möchtest, komm mit uns. Wir suchen einen Ort, an dem sie uns nicht finden. Dann sehen wir weiter", sagte Tomas.

Mit einem entsetzlichen Schrei sprang die Frau auf, warf sich herum und fiel ihn an. Ihre milchigen Augen waren vollkommen ausdruckslos. Tomas fühlte, wie ihre Zähne sich tief in seinen Hals bohrten und ein großes Stück mit einem brutalen Ruck heraus rissen. Eine Fontäne aus grauem Blut schoss heraus.

"Tomas!", schrie Anna. Sie hob die Pistole und schoss der Frau zweimal in den Kopf. Die Tote schlug rückwärts gegen die Wand und glitt bewegungslos an ihr hinab.

Tomas drehte sich und taumelte für zwei wackelige Schritte durch das Zimmer. Blut pumpte unter hohem Druck seitlich aus seinem Hals und spritzte gegen die Wand. Dann gaben seine Knie nach, und er lag auf dem Rücken. Über ihm erschien Annas entsetztes Gesicht. Seine Wunde war riesig groß, und die Fontäne ließ nicht nach. Tomas Blick wurde unscharf, und schließlich wurde es dunkel.

"Nein", sagte Anna. "Tomas? Tomas! Mein Gott, nein!"

Sie brauchte eine Weile, bis sie wieder klar denken konnte. Nach und nach normalisierte sich ihr Atem, obwohl sie immer noch vollkommen außer sich war. Mittlerweile stand sie in einer großen Lache. Tomas war tot. Wie betäubt nahm sie die Tüte und seine Pistole an sich und wandte sich ab.

Als sie das Gebäude verließ, tauchte sie in den dichten Nebel, den sie schon kannte, den sie aber kaum noch zur Kenntnis nehmen konnte. Die Sicht betrug nur wenige Meter. Sie ging um den Bus herum und stieg auf der Fahrerseite ein.

"Wo ist Tomas?", fragte Holger.

"Er ist tot", antwortete sie.

"Mein Gott", entrang es sich ihm.

"Lucy?", rief sie nach hinten. Lucy erschien sofort. Anna gab ihr die tropfende Tüte und sagte ihr, sie solle die Packungsbeilagen lesen. Sollte es eine der Ampullen sein, eine Spritze fand sie auch in der Tüte. Lucy nahm sie und ging nach hinten. Sie benötigte nicht lange, um das richtige Mittel zu finden. Wie sich herausstellte, war es gar nicht so schwer, eine Vene zu punktieren und etwas zu verabreichen. Die Wirkung stellte sich überraschend schnell ein. Jens beruhigte sich, ohne aber das Bewusstsein zu verlieren. Mit einem Lächeln bedankte er sich.

 Während Lucy hinten beschäftigt war, drehte Holger den Bus und wechselte auf die andere Seite. Nun waren sie nicht mehr so schnell unterwegs, denn man konnte nicht mehr so weit sehen. Wenn sich der Nebel wie zuvor verhielt, wurde die Sicht bald weiter, bis er sich schließlich ganz auflöste.

"Bist du in Ordnung?", fragte Holger mit einem väterlichen Blick zur Seite.

"Ich kann es nicht glauben", antwortete Anna leise.

"Unverletzt?"

"Ja. Bin ich."

Lucy erschien nach einer Weile vorne und fragte nach Tomas. Auch sie war vollkommen schockiert. Dann hing sie nach hinten zurück, um mit den anderen zu sprechen. Es war eine Katastrophe, das fand sogar David. Er allerdings zeigte sich wie immer unbeeindruckt. Als er sagte, so etwas könnte eben passieren, sah niemand zu ihm. Lucy tröstete Madeleine und trocknete ihre Tränen.

"Wir sind nicht schnell, aber dafür unsichtbar", merkte Holger vorne an.

"Das ist gut", erwiderte Anna leise.

"Wir müssen jetzt an uns denken."

"Ja."

"Auch wenn es hart ist."

"Ja. Ich weiß."

In diesem Tempo benötigten sie sehr lange, um den Stadtrand zu erreichen. Als sie es taten, betrug die Sicht schon geschätzte zehn Meter. Holger fuhr sie auf die Autobahn, auf der sie wahrscheinlich das vollständige Chaos erwartete, wie alle glaubten. Aber es kam vollkommen anders. Es war nicht so viel los, wie sie alle gedacht hatten. Zum Teil hatten sich die Autos in die Leitplanke gebohrt oder durch sie hindurch, als es geschah. Ein paar Wagen waren ineinander verkeilt, so dass ihr Innenraum auf wenige Zentimeter zerquetscht worden war. Ganz offensichtlich konnten dem auch diese Wesen nicht entkommen.

Eine Stunde fuhren sie langsam über die Autobahn, weil sie fürchteten, dass sie selbst einen Wagen rammen könnten. An einer Stelle lag ein Smart auf dem Dach, aber er war verlassen, und die Fahrertür stand offen. Sie ließen ihn hinter sich und setzten den Weg fort.

Bald löste sich der Nebel wieder auf. Sie alle wurden Zeugen, wie er binnen weniger Sekunden verschwand. Danach erstreckte sich die schier endlose Bahn vor ihnen. Nichts rührte sich, und kein Laut neben dem des Motors drang zu ihnen. Nicht das Rauschen der Büsche und Bäume, keine Vögel, nichts. Alles schien tot zu sein.

"Ich habe überlegt, wo wir uns verstecken können", sagte Holger. "In der Nähe gibt es ein ganz kleines Städtchen, von dem ich mal gelesen habe. Dort gibt es ein verlassenes Heim, in dem wir uns verstecken können. Man sollte annehmen, dass sie das Städtchen nicht verlassen, aber unter Umständen müssen wir nicht durch es hindurch."

"Das klingt besser, als sich in einem dicht besiedelten Gebiet aufzuhalten", fand Anna. Sie war noch immer nicht ganz bei sich."

"Es steht schon lange verlassen."

"Woher weißt du von dem Heim?"

"Es gab eine Geschichte um es, ich erinnere mich nicht mehr richtig."

"Was für eine Geschichte?"

"Es ging um Missbrauch."

Sie fuhren durch eine tote Landschaft, die nichts anderes als ein Friedhof war. Durch eine tote Welt. Mit dem Blick nach draußen erhielt man tatsächlich das Gefühl, die letzten lebenden Menschen auf der Welt zu sein. Je länger sie unterwegs waren, desto deutlicher wurde dieses Empfinden. Dabei war allen immer noch vollkommen unklar, was sich zugetragen hatte. Nun allerdings fühlten sie sich zum ersten Mal nicht mehr unmittelbar bedroht. Nachdem der Nebel sich verzogen hatte, ging der Blick weit, aber neben ihnen hielt sich niemand in der Nähe auf. 

Eine volle Stunde fuhren sie, ohne auf jemanden zu stoßen.

"Mist", sagte Holger und tippte auf die Tankanzeige.

Anna holte den Plan aus der Tür und sah es sich an. "Gleich müsste eine Tankstelle auftauchen", sagte sie. Es war tatsächlich so, denn nach nur wenigen Minuten erschien eine zu ihrer Rechten. Holger wurde langsamer und scherte auf einen großen Parkplatz aus, auf dem vor allem Trucks geparkt waren. Sie überquerten ihn und gelangten zur eigentlichen Tankstelle. Er stoppte den Motor und wieder wurde es still. Der Blick der beiden ging durch die gläserne Fassade des Restaurants, das sich hinter den beiden Zapfsäulen befand. Restaurant stand über dem Eingang, tatsächlich handelte es sich um einen Raum mit ein paar Tischen und Stühlen und einer gläsernen Theke im Rücken. Niemand war anwesend.

"Sieht ruhig aus", fand Holger.

Die beiden kamen überein, dass sie sich noch einmal mit Proviant versorgen mussten, denn mit dem Matsch hinten konnten sie nichts mehr anfangen. Holger wollte sich um den Sprit kümmern, währen die anderen sich im Haus umsahen. David war nicht sonderlich erfreut darüber, aber auch er ging mit. Während Holger beschäftigt war, betraten sie den Raum, in dem es ebenso vollkommen still war.

Lucy machte sich gleich daran, die guten Sachen aus der Auslage einzupacken.

"Wir sollten uns hinten umsehen", sagte Anna.

"Hinten? Wozu das denn?", fragte David.

"Wer weiß, was wir da finden."

"Ja, wer weiß", stöhnte David.

"Du kannst hier bleiben."

David ging mit ihr. Hinten gab es nichts, womit man nicht rechnen konnte. Neben der kleinen Küche stießen sie auf einen Lagerraum, in dem es aber nichts zu finden gab, das ihnen weiter half. Das Gebäude verfügte über ein Stockwerk über diesem, auf das eine enge Treppe führte. Sie befanden sich in die Diele, als sie plötzlich etwas vernahmen. Etwas schien auf das Dach gefallen zu sein, so hörte es sich zumindest an. Die beiden hielten inne, aber es wiederholte sich nicht. Zuerst wiederholte es sich nicht, dann aber schlug wieder etwas auf, dann wieder und wieder. Danach klang es wie ein Regen, der nicht aufhören wollte.

"Was ist das?", fragte David.

"Ich weiß auch nicht."

Für eine Weile trommelte es auf das Dach, dann hörte es auf. Wieder wurde es vollkommen still.

"Scheiße", fand David.

"Es scheint aufgehört zu haben."

"Ja, aber was war es?"

"Keine Ahnung."

Ein Klopfen erklang erneut. Dann wieder und noch einmal und wieder. Ein einzelnes Klopfen, das sich stetig und regelmäßig wiederholte.

"Was soll das denn?", fragte David. Er wünschte sich eine Waffe, dann würde er nach oben gehen und dem Ganzen ein Ende bereiten. Anna hatte ihre nicht einmal gezogen, wie er missmutig feststellte.

"Gehen wir", sagte sie und stieg die Stufen aufwärts. David folgte ihr, bis sie beide oben angekommen waren. Dort gab es einen Korridor, von dem zu beiden Seiten zwei Türen und ganz hinten noch eine abgingen. Die beiden fragten sich, was wohl auf dem flachen Dach lag, aber von hier aus konnten sie es nicht beurteilen. Das Klopfen aber schien nicht von dort zu stammen, sondern aus einem der Zimmer. Die beiden schlichen zu einer Tür und hielten vor ihr inne. Nun zog sie ihre Pistole doch noch und legte die Hand auf die Klinke. Nach einem tiefen Atemzug, stieß sie sie auf und hinein.

Es handelte sich um ein Kinderzimmer, in dem ein etwa zehnjähriger Junge vor einer Wand hockte und seinen Kopf gegen die Bretter schlug. Dies geschah nicht mit solcher Wucht, dass er sich verletzt hätte, aber von ihm stammte das Klopfen. Mit einem Blick durch das Zimmer stellte Anna sicher, dass es außer dem Kind niemanden an diesem Ort gab. Dann trat sie ein, aber der Junge schien sie nicht zu bemerken.

"Hallo?", fragte Anna, aber der Junge reagierte nicht.

"Was ist das denn für einer?", kam es angeekelt aus David.

Anna achtete gar nicht auf ihn, stattdessen hockte sie sich neben den Jungen. "Hörst du mich nicht?", fragte sie ihn. Der Junge aber schien sie immer noch nicht zu bemerken. Anna legte ihre Hand auf die Stelle, auf die er mit der Stirn schlug. Einmal noch wippte er vor und zurück, noch einmal und wieder und wieder. Dann hielt er inne.

"Hallo. Bist du in Ordnung?", lächelte sie.

Der Junge sah sie nicht direkt an, sondern drehte den Kopf soweit, dass er Anna in seinem äußersten Blickfeld hatte. Sein Gesicht wirkte seltsam ausdruckslos, in seinen Augen aber glomm ein tiefes Leuchten, das von einem wachen Verstand zeugte.

"Ich bin Anna. Wie ist dein Name?", fragte sie.

Der Junge antwortete nicht, noch wandte er den Kopf mehr als nötig. Ganz still saß er da und rührte sich nicht.

"Bist du ganz allein hier?", fragte Anna. Sie war nicht weiter verwundert, wieder keine Antwort zu erhalten. "Ich verstehe", sagte sie. "Du bist nicht sicher hier. Wir fahren an einen Ort, an dem dir nichts geschehen kann. Du solltest mit uns kommen, was meinst du?"

Ohne ein Wort zu sagen, erhob sich der Junge und stand aufrecht. Aus einem Reflex wollte sie seine Hand ergreifen, tat es aber doch nicht.

"Du willst den doch nicht mitnehmen", sagte David.

"Wieso, dich nehmen wir doch auch mit", gab sie zurück.

"Aber den?"

"Ja, den. Hast du ein Problem damit?"

"Den?"

Anna schüttelte den Kopf. Sie hatten nicht vor, sich mit ihm darüber zu streiten. David hatte ein Problem damit, nichts konnte offensichtlicher sein. In seinen Zügen stand genau der Ekel, der eben noch aus seiner Stimme klang. Sie wusste, was er fühlte, denn dieser Junge war schwach in seinen Augen. Unterlegen war er, das machte ihn zornig. Er mochte ihn nicht, das war ganz offensichtlich.

"Du bist auch kein Held", merkte sie an.

Anna fuhr herum und richtete die Pistole auf den Ausgang, als sich schnelle Schritte näherten.

"Hey! Nicht schießen!", stieß Lucy aus, als sie in der Tür erschien.

"Mann!", sagte David.

"Wo bleibt ihr denn? Draußen hat es geregnet. Tauben", sagte Lucy.

"Was hat es, es hat Tauben geregnet?", wiederholte Anna.

"Ja, ein ganzer Schwarm. Sie liegen überall herum. Habt ihr das nicht gehört?"

"Doch haben wir. Aber wir wollten uns noch umsehen."

"Wirklich?", fragte Lucy. „Ich glaube, die Inhaber haben hier früher gewohnt, aber hier finden wir bestimmt nichts mehr. Holger wartete schon, wir sind soweit."

Im Gang wurde eine Tür aufgestoßen, und das durchdringende Brüllen eines Toten erklang. Lucy schrie erschrocken auf, stürmte herein und knallte die Tür hinter sich zu. Mindestens zwei von ihnen liefen den Gang hinab und schlugen gegen die Tür.

"Scheiße, seit wann reagieren sie auf Stimmen?", sagte sie.

Die beiden Zombies versuchten, in dieses Zimmer zu gelangen, sie aber drückte sich mit dem Rücken gegen sie und stemmte die Füße in den Boden ein. Ohne lange nachzudenken, kam David zu ihr und tat dasselbe. Zu ihrer eigenen Verwunderung gelang es ihnen, die Tür geschlossen zu halten.

Anna lief zum Fenster und riss es auf. Der Platz unten war über und über mit toten Tauben bedeckt. Von hier aus blickte sie genau auf die Zapfsäulen. Nach unten war es nicht sehr weit, theoretisch konnten sie springen. Ihr Blick ging herum. Dem Brüllen nach waren es nun drei von ihnen, die gegen die Tür drückten. Schon ging sie um ein Stückweit auf.

"Scheiße", stieß David aus.

"Wir springen."

"Springen?"

"Es gibt keinen anderen Weg."

"Springen?"

"Wenn ich das mit dem Jungen kann, könnt ihr es auch."

"Was?"

"Aaah."

"Ihr müsst mit folgen."

"Aaah."

"Ganz ruhig, ich muss dich anfassen."

"Aaah."

"Ihr nach mir."

"Sie ist gesprungen."

"Die Tür! Sie geht auf!"

"Ich springe nicht da runter."

"Wir müssen."

"Nein."

"Du zuerst, ich bin nicht so schnell wie du."

"Nein."

"Los!"

"Bist du irre?"

"Los!"

"Scheiße."

"Dann ich zuerst. Wenn ich Pummelchen das kann, kannst du das auch."

"Wenn du gehst, geht die Tür auf!"

"Die geht sowieso auf. Ich gehe."

"Nein!"

"Jetzt."

"Was machst du denn? Was machst du denn? Scheiße!"

"Worauf wartest du?"

"Nein!"

"Die Tür! Sie kommen."

"Nein!"

Als Lucy unten aufkam, schrie sie auf. Auf einem Bein humpelnd ging sie zum Bus. David folgte ihr. Kurz nachdem es sich abgestoßen hatte, erschienen zwei hassverzerrte Gesichter im Fenster.

"Hilf mir", sagte Lucy.

"Sie kommen uns nach."

"Hey!"

"Beeil dich!"

"Hilf mir!"

"Beeil dich! Sie springen."

"Du Arsch."

"Los, mach, sonst fahren wir ohne dich."

"Halt die Klappe und geh nach hinten! Ich komme!"

"Anna!"

"Ich komme."

"Sie kommen. Oh mein Gott."

"Los!"

"Wir schaffen es nicht, sie sind zu schnell."

"Wir schaffen das."

"Los, beeilt euch!"

"Halt die Klappe, du Mistkerl!"

"Endlich."

"Steig ein!"

"Danke."

"Tür zu, mach dich nützlich!"

"Fahr endlich!"

"Alle drin?"

"Ja, verfluchte Scheiße, alle drin. Fahr!"

Holger trat das Gaspedal durch, und schon fuhren sie los. Mit hoher Geschwindigkeit entfernten sie sich von der Tankstelle und rasten davon. Hinter ihnen folgten drei Zombies, die sie aber nicht mehr einholen konnten. Sie schrien wie wilde Tiere, konnten aber nichts mehr machen.

"Ist alles in Ordnung da hinten?", sagte Holger.

"Wie sind unverletzt", gab Anna zurück. Sie blitzte David an: "Was hast du dir dabei gedacht?"

"Was?", zischte er feindselig.

"Sie einfach zurück zu lassen."

"Jeder ist sich selbst am nächsten."

"Bist du wahnsinnig?"

"Wenn es diesen Typen nicht gäbe, wäre das gar nicht passiert", sagte er und deutete auf den Jungen.

Anna wandte sich mit einem Kopfschütteln ab. "Geht es?", fragte sie in eine andere Richtung.

"Ja. Ich habe mir den Fuß verstaucht, ist nicht so schlimm", antwortete Lucy.

"Gut", sagte Anna und begab sich nach vorne, wo sie sich neben Holger setzte. Wieder fuhren sie über die Autobahn, auf der sie schnell vorankamen. Es gab weniger Autos auf den Bahnen, als man annehmen musste, also konnte sie einigermaßen schnell fahren.

"Was war denn da los?", erkundigte sich Holger.

"Unser Held ist gar kein Held", erwiderte sie.

"Er hat sie hängen lassen."

"Ja, hat er."

"Wir können uns auf ihn nicht verlassen, wie es scheint. Schade."

Laut Plan benötigten sie noch eine volle Stunde, um das Städtchen zu erreichen. Während der ganzen Zeit trug sich nichts weiter zu. Holger musste immer voll konzentriert sein, denn immer wieder stand etwas im Weg, dem sie ausweichen mussten.

"Ich denke, das mit dem Heim ist eine wirklich gute Idee", merkte Anna nach diesem Erlebnis an.

"Ja, das denke ich auch", sagte Holger.

"Wir brauchen einen Unterschlupf, an dem sie uns nicht vermuten. Diese drei haben eben eine Tür aufgestoßen, und die in unserem Zimmer wollten sie aufdrücken."

"Was? Ich dachte, sie sind hirntot."

"Vielleicht lernen sie."

"Wie denn? Glaubst du, sie haben jemandem zugesehen, als eine Tür geöffnet wurde?"

"Wäre zumindest möglich."

"Meinst du?", überlegte Holger nachdenklich. "Ich bin nicht so sicher, was das angeht. In unserem Wohnhaus gab es einige, die gesehen haben, wie ich über den Wall geklettert bin. Die kamen mir nicht nach."

"Stimmt", sagte Anna. "Dann sind sie vielleicht nicht alle gleich."

"Damit könntest Recht haben, aber glaubst du das wirklich?"

"Nein, eigentlich nicht. Aber wir können es auch nicht sicher wissen. Was ist, wenn sie sich entwickeln?"

Holger seufzte. Ja, was wenn sie besser wurden? Besser darin, sie abzuschlachten? Tomas hatten sie schon verloren. Um das zu vermeiden, bot sich das Heim an, in dem sich wahrscheinlich keiner von ihnen aufhielt. Dem Plan zufolge lag es 500 Meter von diesem Städtchen entfernt. Rosengras hieß es und schien recht beschaulich zu sein. Oder gewesen zu sein, fügte er in Gedanken hinzu. Ein einziger Weg führte von ihm zu diesem Heim. Sie mussten den Ort durchqueren, wie es aussah. Holger war nun nicht mehr so sicher, ob sie sich wie zuvor auf der Brücke schützen konnten, nur indem sie ihnen nicht erschienen.

"Wenn sie klüger werden, bekommen wir unter Umständen ein Problem", sagte er.

"Denke ich auch", erwiderte Anna.

"Vielleicht sollten wir uns wirklich bewaffnen."

"Aber sicher nicht in diesem Städtchen."

"Wissen wir nicht. Mit ein bisschen Glück gibt es dort einen passenden Laden."

Holger wurde langsamer, als etwas in Sicht kam, mit dem keiner von ihnen rechnete. Eines der großen blauen Schilder neben der Autobahn zeigte etwas, das ihnen bekannt vorkam. Holger wurde langsamer und hielt.

"Was hat das denn hier zu suchen?", fragte Anna.

System. Neun Punkte waren durch Linien untereinander verbunden.

"Neun", zählte Anna.

"Ich verstehe das immer noch nicht. Sehen wir zu, dass wir Land gewinnen", sagte Holger. Gleich darauf fuhren sie weiter. Es schien keinen Sinn zu ergeben, sich darüber zu unterhalten, denn ganz offensichtlich ergab es keinen Sinn. Wie so Vieles in der letzten Zeit, dachten die beiden.

Als die Stunde voll war, verließen sie die Autobahn und gelangten auf eine Landstraße. Auch hier mussten sie hin und wieder einem Wagen ausweichen, aber es wurde nie so schlimm, dass sie wirklich aufgehalten wurden. Unbeirrbar hielten sie auf ihr Ziel zu.

Auf einer Weide erblickten sie ein Pferd, das sich auffällig verhielt. Sein Hals war über und über von frischem Blut besudelt. Es scheuerte über den Stacheldrahtzaun, indem es langsam an ihm entlang ging. Dabei nickte es unentwegt mit dem Kopf.

"Die Welt wird wahnsinnig", sagte Anna mit unheilvoller Stimme.

Das Städtchen sah aus, als hätte sich jemand den ruhigsten Ort der Welt ausgedacht. Heimelige Häuschen mit dreieckigen Dächern, kleine Straßen, auf denen es niemals laut wurde, und ein Platz in der Mitte. Hier gab es noch die alten Gebäude, die mehr als zehn Menschenleben gesehen hatten und ganz alte Scheunen. Bauern lebten hier, dazu kamen Ferienhäuser. Durch die Mitte floss ein Flüsschen, das fröhlich gluckste.

Langsam passierten sie das Ortsschild und drangen in die Stille vor. Eigentlich sollten wenigstens die Grillen am Wegesrand zu hören sein, hier aber bellte nicht einmal ein Hund aus der Ferne. Sie fuhren bis ins Zentrum auf den Platz, auf dem sie hielten. Im Rund erblickten sie einen Gasthof und zwei Restaurants. Auf einer Seite gab es eine mittelalterlich anmutende Zisterne mit einem dreieckigen Dach. Dahinter erblickten sie einen Reitstall. Neben dessen Eingang stand ein großes, beschriftetes Schild, das den ganzen Ort zeigte. Die Häuser in diesem Rund bestanden ohne Ausnahme aus Holz.

Holger hielt mitten auf dem Platz und stellte den Motor ab. Ihre Blicke gingen einmal herum, aber es schien niemand außer ihnen zugegen. Die Luft flimmerte.

"Kannst du mir mal sagen, wie es noch heißer werden kann?", fragte Lucy, die nach vorne gekommen war.

"Es sollte nur einer gehen", fand Holger und stieg vorne aus. Die beiden Frauen sahen ihm zu, wie er über den Asphalt ging, bis er vor dem Schild stand. Das musterte er eingehend.

"Der Junge spricht nicht", merkte Lucy an.

"Nein."

"Aber er ist in Ordnung, körperlich zumindest."

"Gut."

Nicht lange und Holger war zurück. Er setzte sich zurück hinter das Steuer und startete den Motor wieder. Gleich darauf verließen sie den Platz wieder. "Es gibt einen Laden für den Jagdbedarf. Wir rüsten uns dort aus", sagte er.

"Ich bin das eben mal durchgegangen, wir haben etwa für drei Tage Nahrungsmittel, wenn wir uns ein bisschen einschränken. Das bedeutet, wir müssen bald wieder raus", sagte Lucy.

"Es gibt einen kleinen Supermarkt und eine Bäckerei", wusste Holger.

"Wir sollten so viel mitnehmen, wie nur möglich. Wahrscheinlich stecken sie hier überall. Habt ihr schon mal darüber nachgedacht, dass sie sich unterschiedlich benehmen?"

"Haben wir uns eben drüber unterhalten."

"Wenn sie überall sind, hören sie uns auch, aber sie kommen nicht heraus."

"Dann haben wir Glück", fand Anna.

"Ja, aber wie lange noch? Wenn sie von allen Seiten kommen, ertrinken wir in ihnen", sagte Lucy.

Sie fuhren eine der engen Straßen entlang und gelangten bald zu dem Supermarkt, von dem die Rede war. Mit denen in den Städten ließ er sich nicht vergleichen, vor allem, was die Fläche anging. Auch hier fehlten die Scheiben. Sie hielten und lauschten in die Stille. Nichts rührte sich.