Kapitel 1
"Der Typ ist tot. Lass ihn liegen."
"Red nicht. Der ist nicht tot. Das hätte meine Großmutter weggesteckt."
"Er ist tot. Lass ihn liegen, wir müssen abdampfen!"
"Wie kommst du darauf, dass er tot ist?"
"Sein Hirn!"
Einer der beiden Glatzen drehte den Kopf des Penners auf die Seite, und nun sah es auch sein Kollege. Es quoll aus einem seiner Ohren. "Ekelhaft, Scheiße", fand der.
"Genug gesehen?"
"Scheiße. Wir müssen ihn verschwinden lassen."
"Was? Ich fass den nicht an."
Die beiden waren eigentlich nur auf dem Weg nach Hause, nachdem sie in einem dieser verbotenen Kellern jener verbotenen Musik zugehört hatten. Der Keller lag in einer dreckigen Gegend, in der es all diese schmalen Gassen gab, in denen es nach Urin stank und nach Dingen, nach denen man besser nicht fragte. Keiner hier wusste, warum dieser Chemiekonzern ausgerechnet hier eine Einrichtung unterhielt, aber hinten dem Laden, dessen Fenster immer mit Brettern verrammelt waren, gab es auch eine dieser Gassen. Und genau dort trafen die beiden, besoffen wie sie waren, einen Penner, der auf dem Boden lag und schlief.
"In den Container?", fragte einer von ihnen.
"Mach schon!"
Sie packten den Mann und stellten fest, dass der Container schon viel zu voll war, um ihn ohne Probleme reinzustopfen.
"Warum ist der Typ so steif?"
"Woher soll ich das wissen?"
"Er passt nicht, die Kiste ist zu voll."
"Warte!"
Es ging, aber sie mussten ihm die Beine brechen. Das war nicht geplant, sie wollten sie nur einknicken, aber als sie es versuchten, brachen sie mit einem hölzernen Krachen.
"Was ist denn mit dem?"
"Er ist tot."
"Scheiße!"
Der Penner lag auf dem stinkenden Haufen, nun aber ließ sich der Deckel nicht mehr schließen. Sie versuchten es, aber der Deckel ging nicht zu. Der Mann war im Weg, aber es gab auch nach hinten keinen Platz mehr, um ihn dort zu verstauen.
"Alter, wie das stinkt. Ist das der Scheiß da drin oder der Scheißkerl?"
"Nerv nich! Wir müssen ihn reinstopfen."
"Rein was? Entartet!"
"Fass mit an!"
Seinem Kollegen wurde das zu viel. Demonstrativ trat er zwei Schritt zurück. Sollte er es machen, dachte er, er fasste diesen stinkenden Dreckhaufen nicht mehr an.
"Kameradenschwein!", grunzte sein Kumpel und machte allein weiter. Mit beiden Händen drückte er auf den Brustkorb und versuchte, den ganzen Mann in dem stinkenden Müll zu versenken. Dann plötzlich krachte es wieder, aber viel lauter.
"Scheiße!"
"Was?"
"Ich hab in seine Brust gefasst."
"Was hast du? Willst du mich verarschen?"
Die Glatze drehte sich und zeigte seinem Kumpel die schmierigen Hände. "Zum Kotzen", fand der.
"Du kommst jetzt und hilfst!"
"Was? Arschlecken!"
"Komm jetzt!"
"Lassen wir ihn hier und verschwinden wir!"
Der mit den verschmierten Händen trat zu seinem Kamerad und blitzte ihn feindselig an. Er war nicht mehr zu Scherzen aufgelegt.
"Kamerad, wenn du mich damit anfasst, breche ich dir die Knochen."
"Du hast ihn erschlagen, also setzt deinen Arsch in Bewegung!"
"Der war schon tot, so wie der aussieht."
"Das ist mir egal. Wir verpacken den Typ jetzt und dann Abmarsch."
Die Sache war hoffnungslos. Nur einer von ihnen wollte sich dem Mann im Container noch nähern. Der mit den verschmierten Händen wandte sich von dem anderen ab und versuchte es wieder. Sein Kamerad sah ihm zu, wie er mit beiden Händen drückte. Die Leiche musste erst in dem versifften Dreck versinken und schon konnten sie den Deckel schließen.
"Scheiße!", schrie der, der seinem Kamerad zusah, als der plötzlich aufschrie. Etwas zog an ihm. Er schrie und strampelte und aber seine Füße befanden sich um die zehn Zentimeter über dem Boden. Etwas im Container bewegte sich, aber der mit den sauberen Händen konnte nicht sehen, was es war. Sein Kamerad schrie und schrie, und plötzlich klang er, als gurgelte er mit Wasser.
"Scheiße, Scheiße, Scheiße", hechelte die Glatze, als seine Springer über das Kopfsteinpflaster hämmerten. So schnell war er noch nie gerannt.
"Das Problem mit diesen Fällen ist eindeutig, dass sich absolut niemand dafür interessiert", stöhnte Tomas 'Baldrian' Wenke. Es war viel zu heiß, Hochsommer, um den Tag im Büro zu verbringen.
"Wen interessieren schon ein paar Obdachlose?", pflichtete ihm Anna Bub bei, seine Assistentin. Er war über dreißig, sie deutlich darunter, er Kriminalkommissar, sie wollte es werden. Die beiden gaben gar kein schlechtes Team ab, wie sich mittlerweile herausgestellt hatte. Sie war jung, aber fähig, er war der Michelangelo unter den Kriminalkommissaren, aber nur er wusste davon. Beide warteten auf den einen Fall, der sie beruflich weiterbrachte, aber dieser hier gehörte ganz sicher nicht dazu. Am Ende, das glaubten sie beide, fanden sie einen kleinen Fisch.
"Wer entführt Obdachlose?", stellte sich die alles entscheidende Frage.
"Ein Irrer."
Man konnte sagen, dass die entführten Obdachlosen alle in einem bestimmten Viertel verschwanden, aber auch, dass in genau diesem Viertel die Obdachlosen mehrheitlich anzutreffen waren. In diesem ehemaligen Industrieviertel gab es praktisch nichts als die verlassenen und ausgeräumten Hallen mit den eingeworfenen Fenstern und den unansehnlichen Graffitis auf den Wänden. Es gab keine Jugendbanden dort, die Dealer trafen sich auch nicht auf irgendwelchen Spielplätzen und auch sonst gab es keinen Grund, die polizeiliche Aufmerksamkeit auf diese Gegend zu richten.
"Die Obdachlosen haben dort alle ihren Platz. Sie organisieren sich in kleinen Gruppen, die meist Rivalen sind. Eigentlich sollte die Straße sie zu Verbündeten machen, weil sie sonst niemand will, aber tatsächlich sind sie knallhart zueinander", sagte Tomas.
"Sollte man nicht meinen", fand Anna.
Sie erhielten den Anruf in dieser Stunde noch. Es war gegen Mittag, als er herein kam. Diesmal aber wurde niemand von einem Provisorium als vermisst gemeldet.
"Sie haben einen gefunden", sagte Tomas, als er den Hörer aufgelegt hatte.
"Gut."
"Nein, nicht gut."
Das verlotterte Viertel kannten sie mittlerweile, denn auf diesem Fall kauten sie schon seit über zwei Monaten. Nicht, dass jemand ihnen Auskunft gegeben hätte. In letzter Zeit häuften sich die Gerüchte, die Stadt wollte hier alles platt machen, und es sollte ein neues Gewerbegebiet entstehen. Tomas fragte sich, wohin die Penner ausweichen sollten, da sie in der Stadt keine Platte mehr machen konnten. Einige von ihnen gingen nicht einmal im Winter in die Unterkünfte, wegen all der Diebstähle und mitunter sogar der Gewalt. Draußen war es oft sicherer.
Tomas fuhr einen roten, uralten Toyota. Als sie in dieser Gegend unterwegs waren, fiel ihr Blick auf die immer gleichen Hallen, in denen früher gearbeitet wurde. Eine Wellblechwand folgte auf die nächste, die ganze Welt schien als Blech zu bestehen. Und aus dünnen Hallenwänden, aus rotem Backstein und zerstörten Fensterscheiben und eingetretenen Türen. In der Stadtverwaltung gab es nicht wenige, die von einem Schandfleck sprachen.
Ihre Halle unterschied sich nicht von allen anderen. Als sie ausstiegen, stand die Luft, und die Sonne brannte so heiß, dass es kaum auszuhalten war. Wenn man bei diesen Bedingungen aus der Dusche kam, war man nach spätestens drei Minuten wieder vollkommen verschwitzt. Und es stank, selbst hier, wo die Autos nicht durch die Straßen rollten und die Pollen in etwas verwandelten, das im Hals kratzte oder in den Augen brannte. Aber der ganze Smog zog in diese Gegend, obwohl die Luft sich gar nicht bewegte. Trotzdem breitete er sich aus und lag hier auf der Zunge.
"Unfassbar, wie heiß es ist", stöhnte Anna, als sie zum Eingang unterwegs waren.
In der Halle war es schattig, aber nicht weniger heiß. Im Gegenteil, denn sie befanden sich quasi in einer Getränkedose, die unter einer Höhnsonne lag. Die Luft war so dick, dass man sie schneiden konnte.
"Niemand hier", sagte Anna und wedelte eine grüne Schmeißfliege aus ihrem Gesicht. Das Ding wollte aber nicht verschwinden.
"Das war eine Müllsortierungsanlage. Metallgewinnung", erkannte Tomas. Die Bänder auf der erhobenen Brücke waren noch vorhanden, und unter den Sortierbändern standen noch die Container. Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie es war, hier im Staub zu stehen, mit einer dieser Masken auf, und dieser monotonen Arbeit nachzugehen.
Anna hatte Recht, denn sie bekamen die ganze Halle für sich allein. Ihre Schritte klangen unnatürlich laut auf dem staubigen Boden. Auf der anderen Seite gab es eine Art Häuschen mit einem rechteckigen Fenster aus Plexiglas.
"Scheint niemand da zu sein", sagte sie.
Tomas war vollkommen davon überzeugt, dass sie hier nicht allein waren. Einer ihrer Kollegen bestellte sie genau hierhin, also wartete er auch hier auf sie. In dem Häuschen aber fanden sie ihn nicht. Es gab einen nackten Raum mit einem Tisch und zwei Bänken um diesen. Hinter dem gab es noch einen mit einem Schreibtisch. Papier, kein Rechner. Die beiden Räume wurden durch einen Gang verbunden, von dem eine Treppe in die Tiefe führte.
"Was ist das denn?", sagte Anna halb entsetzt. Es war ein Hund, der aufgeschlitzt und ausgenommen worden war. Seine Gedärme lagen vor ihm auf dem Boden. Hätte er noch sehen können, wäre es ein ungewöhnlicher Anblick für ihn gewesen. Seine Schnauze war aufgerissen, und seine Läufe waren in der Weise abgewinkelt, als hätte es ihn im vollen Lauf erwischt. Die Mistgabel in ihm wurde mit solch einer Wucht durch ihn getrieben, dass der Stiel aufrecht stand.
"Schweinerei", fand Tomas.
Sie hielten den größtmöglichen Abstand zu dem Kadaver und stiegen die Stufen hinab. Unten wurde es endlich ein wenig kühler. Dort erwartete sie ein kurzer Gang, in der eine nackte Birne an einem bloßen Draht hing.
"Brandgefahr", merkte Anna an.
Tomas stieß die Tür nach innen auf. Es war ein kleines Lager, in dem Pappkisten in offenen Metallschränken standen. Handschuhe und grüne Mützen, Atemmasken und Überzieher für die Schuhe. Seife und Desinfektionsmittel in blauen Flaschen. Drei Mistgabeln lehnten gegen eine Wand.
Nobbs wartete tatsächlich auf sie. Er hatte sich bedient und trug eine dieser Masken. Der Gestank war so ungeheuerlich, dass Anna im ersten Augenblick glaubte, sich übergeben zu müssen. Tomas war sicher, ihn für die nächsten Tage in der Nase zu haben.
"Hi", sagte er.
"Hi", gab Nobbs zurück. Es klang, als lächelte er. ""Du glaubst nicht, was wir hier gefunden haben. Ich hoffe, du hast heute noch nichts gegessen."
Nobbs deutete auf eine große Kiste, in der Streusalz aufbewahrt wurde. Daneben stand ein silberner Eimer.
"Dahinter?", fragte Tomas. Es war eigentlich unnötig, diese Frage zu stellen, denn es gab sonst nichts, wo man etwas hätte verstecken konnte. Zwischen dem Kasten und der Wand war ein Stück frei.
Auf den ersten Blick wusste er gar nicht, was er hier vor sich hatte. Er war ein Haufen aus lauter Körperteilen. Jemand war zerstückelt worden, aber in wirklich kleine Teile.
"Oh mein Gott", kam es aus Anna. Sie wandte sich ab und entfernte sich um mehrere Schritte.
Alle Finger waren von den beiden Händen abgeschnitten worden und auch die Daumen. Für die Zehen galt dasselbe. Arme und Beine ergaben ein Puzzle aus jeweils zwanzig Teilen, und sogar die verdammte Hüfte wurde in mehrere Stücke zerschnitten. Eine organische Pyramide aus unzähligen Körperteilen.
"Unfassbar", sagte Tomas.
"Was glaubst du, wie viele sind das?", fragte Nobbs.
"Sieht nach einem aus."
"Jau, würde ich auch sagen. Da war jemand richtig sauer."
"Kein Blut", sagte Tomas. Es stimmte wirklich, denn diese Stücke waren nicht einmal mit getrocknetem Blut besudelt. Auch unter dieser Pyramide gab es keine Lache, wie man es vermuten sollte. Selbst wenn die Leiche an einem anderen Ort zerstückelt worden sein sollte, musste sie gewaschen worden sein, um sie in diesen Zustand zu bringen.
"Gibt es einen Namen für so etwas?", fragte Tomas den Fachmann.
"Grotesk."
Oben vor der Halle war es so heiß wie zuvor. Plötzlich befanden sie sich in einer Sauna. Die beiden verließen die Halle durch den Eingang, durch den sie vorher gekommen waren. Vor dem parkte der Toyota.
"Wer ist denn das?", fragte Anna und meinte einen Mann mit einem schwarzen Vollbart, der auf der gegenüber liegenden Seite stand. Ein bulliger Typ, der ein bisschen an einen Grizzlie erinnerte, mit seinen muskulösen Oberarmen und der breiten Brust.
Tomas überkam der Eindruck, dass der Mann etwas von ihm wollte. Mit einem Blick auf Anna wusste er, dass auch sie ihn nicht kannte. Sie gingen zu ihm.
"Guten Tag", sagte der Mann. Es klang nicht, als meinte er das.
"Sind Sie aus einem bestimmten Grund hier?", erkundigte sich Tomas.
"Wir kennen uns."
"Wirklich? Mir scheint, daran würde ich mich erinnern."
"Sie beantworten meine Mails nicht", lächelte der Mann humorlos.
Tomas brauchte einen Augenblick, bis er verstand. An der mimischen Reaktion des Mannes erkannte er, dass seine mimische Reaktion den Punkt traf. Musste er jemanden ernst nehmen, der sich Megahoschi nannte und Verschwörungstheorien verbreitete und vor allem, sie ihm persönlich zukommen ließ?
"Sie sind das", sagte Tomas.
"Ja, ich bin das."
"Und was möchten Sie mir diesmal Dringendes berichten?"
"Nichts, was Sie nicht schon wüssten. Sicher führt Sie nicht der Zufall in diese Gegend."
Tomas wusste nicht, worauf er hinaus wollte, denn zum einen vertrat der Mann ganz unterschiedliche, aber immer idiotische Theorien, und zum anderen las er das ganze Zeug gar nicht mehr. Er konnte einen dieser Geheimbünde meinen oder eine dieser Verschwörungen gegen das Volk oder was auch immer. Tomas hatte jetzt schon genug davon. Und jetzt tauchte dieser Typ auch noch hier auf und sprach ihn an.
"Ich denke nicht, dass es etwas zu besprechen gibt", sagte Tomas.
"Das denke ich schon", meinte der Mann. Für einen dieser Theoretiker wirkte er wirklich entspannt auf Tomas. Außerdem war er etwas älter. Wenn man ihn so ansah, konnte man den Eindruck gewinnen, er müsste diese Phase längst hinter sich haben.
"Schicken Sie mir eine Mail", sagte Tomas lapidar.
"In dieser Gegend werden Menschenversuche durchgeführt. Ich weiß es, und ich nehme an, dass dieser Konzern Obdachlose entführt. Ich lese den Lokalteil immer mit großem Interesse", sagte der Mann.
"Woher wussten Sie, dass Sie uns hier antreffen?", fragte Anna.
"Ich höre den Polizeifunk ab."
"Was illegal ist."
"Und wenn schon", seufzte der Mann. "Warum lässt sich ein solcher Konzern in dieser Gegend nieder, in dem es nichts gibt, nicht einmal eine intakte Infrastruktur? Lifetech ist ein Milliardenkonzern, der Türme in den Städten und weitläufige Anlagen auf dem Land besitzt. Sie operieren in allen westlichen Ländern und China und sind dort überall sichtbar. Nur hier unterhalten sie einen schäbigen Laden, dessen Fenster von innen mit Zeitungspapier zugeklebt sind. Finden Sie das normal?"
Tomas wusste nicht einmal, ob das alles stimmte, zumal er auch noch nie von diesem Konzern gehört hatte. Aber er wusste ganz genau, dass Typen wie dem die Wahrheit im Zweifel egal waren. Für ihn waren das alles Elefanten auf dem Mond.
"Schönen Tag noch", sagte Tomas. Die beiden gingen über die Straße zurück. Der Mann rief ihnen nach, sie begingen einen Fehler, aber Tomas hörte gar nicht hin. Sie stiegen ein und sahen zu, dass die Fenster unten waren, als sie losrollten.
"Verfluchte Hitze", stöhnte er. Seit gestern war er heiser, weil er vor dem Ventilator geschlafen hatte. Eigentlich mochte er den Winter lieber. In der Kühle konnte er besser denken.
"Wer war dieser Mann?", wunderte sich Anna.
"Ein Spinner."
"Er schickt dir Mails?"
"Er schickt mir Schrott. Das geht alles in der Postabteilung ein, die sind verpflichtet, es mir zu schicken. Sieh mal nach, ob er mir schon wieder auf die Nerven geht."
Anna beschäftigte sich mit dem Handy, schüttelte aber den Kopf. Es war nichts eingegangen.
"Ich erinnere mich an diesen Fall", sagte Tomas. "Es geht um irgendwelche Menschenversuche, bei denen Leute mit irgendeinem Zeug infiziert werden. Ein Virus, das Viren vernichtet und Bakterien. Es fällt keine Körperzellen an, sondern nur die. Und du glaubst nicht, was das Ganze soll. Es geht nämlich nicht nur darum, Krankheiten zu bekämpfen. Sie Leute sollen langlebig werden. Ich glaube, das habe ich mal in einem Film gesehen, wahrscheinlich kennt er ihn auch."
Die Stadt war ein stinkender und wütender Brutkessel. Die Leute waren knapp mit den Nerven, sie hupten und riefen sich Dinge durch die geöffneten Fensterscheiben zu. Alle schwitzten, und wer in einem klimatisierten Büro saß, hatte seit Wochen schon kein Problem mehr mit Überstunden. Die Luft über den Straßen flimmerte, und wenn die Menschen in einer der zahllosen Schlangen die Motoren nicht abstellten, schmeckte man die Abgase wie einen schmutzigen Wattebausch im Mund. Nun war es Mittag, und die Sonne stand senkrecht über den Straßen. Kein Schatten mehr, in dem man sich verstecken konnte.
"Weißt du, was ich am Hochsommer nicht mag?", fragte Anna, als sie mitten im Verkehr steckten. Sie waren auf dem Weg zurück aufs Präsidium.
"Was?", fragte er.
"Im Hochsommer sind die Menschen dem Wahnsinn näher."
In ihrem Büro gab es keine Klimaanlage. Es machte keinen Unterschied, ob sie das Fenster öffneten, denn die Luft war eine unsichtbare Matsche, die sich sowieso nicht bewegte. Vor der Straße her dröhnten die Autos, und immer wieder hupte jemand, der sich nicht mehr beherrschen konnte.
Die Spurensicherung musste zu diesem Zeitpunkt schon am Tatort sein, und wer auch immer von ihnen sich nicht übergeben hatte, er befüllte gerade jede Menge Plastiktüten und beschriftete sie. Anschließend wurde alles ins Labor geschafft und dort untersucht.
"Ich konnte mir das gar nicht ansehen", sagte Anna.
"Es gab kein Blut."
"Ja, das hast du gesagt."
"Die Leiche war frisch, aber vollkommen sauber, wenn man so will. Weißt du, wie lange ein Schwein abhängen muss, damit es wirklich leer ist?"
"Nein."
Sie googelten es und fanden heraus, dass dieser Mann nicht lange genug tot war, um sozusagen leer zu sein. Es waren mehrere Tage. In Tomas Kopf entstand das Bild eines Wahnsinnigen, der die Stückchen in seiner Wanne so lange auswusch, bis kein Blut mehr an oder in ihnen war. Es musste sich um einen vollständig Irren handeln.
"Ich denke, er schlägt wieder zu", sagte sie in die nutzlose Stille.
"Macht den Eindruck", antwortete er missmutig. Immerhin war der Unbekannte auf einen Obdachlosen losgegangen, was unvermeidlich bedeutete, dass ein persönliches Motiv quasi ausgeschlossen war. Jemand suchte willkürlich Opfer, um diese Schweinereien anzurichten.
"Unter Umständen ist das der Fall, auf den wir immer gewartet haben. Leider", sagte Tomas. Wenn sie es mit einem Psychopathen zu tun bekamen, machten sie sich mit ihm wahrscheinlich einen Namen. Wenn sie ihn bekamen, wohl gemerkt.
Am Nachmittag erhielten sie die ersten Ergebnisse aus der Prosektur. Der Mann unten meldete sich übers Telefon. Er verwendete den Begriff Grotesk, wie Tomas mit einem schiefen Grinsen zur Kenntnis nahm. Wie immer beim Telefonieren sah er zum Fenster hinaus. Eine andere, eine schwarze Groteske zappelte geben die Scheibe, obwohl das Fenster geöffnet war. Ein schwarzes hässliches Ding, mit langen Beinen und einem widerlichen Körper, der zappelte und zuckte und zappelte. Eine verfluchte Stechmücke, die scheinbar nicht ganz dicht war. Es war hell, die nächste Blutquelle befand sich nicht in dieser Richtung, und dort ging es sowieso nicht weiter. Sie zappelte und zappelte und es hörte nicht auf.
"Der Patient kam schon tot hier an", meinte der Mann mit dem distanzierenden Humor. So etwas konnte Leben retten, und wenn das nicht, dann zumindest die geistige Gesundheit.
"Komm schon", brummte Tomas. Ihm war nicht nach lustig.
"Okay", seufzte der Mann. "Ich könnte das Puzzle zusammensetzen und bekäme einen ganzen Mann. Fehlen nur ein paar Teile, nichts Wichtiges. Und er ist staubtrocken, ich habe keinen Tropfen Flüssigkeit in seinem Gewebe gefunden. Das ist übrigens beachtenswert, weil er praktisch mumifiziert ist."
"Du machst Scherze."
"Keine Chance, dafür werde ich nicht bezahlt. Du hast mir eine Mumie angeliefert, da kannst du ganz sicher sein, mein Bester. Der Mann war schätzungsweise um die 40 und wahrscheinlich obdachlos. Lässt sich nicht eindeutig bestimmen, Letzteres, aber ich würde ne Kleinigkeit drauf wetten. Unvollständiges Gebiss, Zähne in schlechtem Zustand, schmutzige Fingernägel, reduzierte Leber und die Kleidung. Sieht alles nach einem aus."
"Okay. Sonst noch was?"
"Das kann man wohl sagen. Ich habe neun Kugeln aus ihm geholt, neun. Es gibt ne Besonderheit, denn das Gewebe um die Löcher hat sich nicht zusammengezogen. Es war trocken wie Pergament, als es durchlöchert wurde, das Gewebe ist zerrissen. Und noch etwas, die Kugeln sind auf dem Weg zu dir. Es muss ein verrückter Sammler sein, ein reicher auch, die Kugeln sind aus Gold und besitzen alle dieselbe Gravierung. Ich denke, das wird der leichteste Fall deiner Laufbahn", sagte der Mann aus der Prosektur.
"Sonst noch etwas?"
"Nein, das war's."
"Das war's. Danke."
Die Gravuren auf den nicht mit Blut verschmierten Kugeln lauteten M.M. Tomas glaubte, dass es sich wahrscheinlich um einen jener Jäger handelte, die einen Hirsch nicht von einer Kaffeemaschine unterscheiden konnten. Im Register wurde er fündig. Markus Mering war der Name. Eine polizeiliche Akte gab es nicht, aber das konnte sich demnächst ändern.
Die beiden statteten dem Mann einen unangekündigten Besuch ab. Draußen in der Stadt bullerte er nach wie vor. Es war wie in einem verfluchten Ofen. Im Toyota war es nur zu ertragen, wenn der Fahrtwind herein wehte. Standen sie vor einer Ampel, war es kaum auszuhalten. Aber sie schafften es aus dem Zentrum, hinter dem sich der Verkehr endlich auflockerte. Es ging schneller voran, bis die Straßen so wenig befahren wurden, wie es wohlhabende Menschen in der Stadt gab.
Sie gelangten in einen Bezirk, in dem es für Obdachlose nichts zu holen gab. Hier reihten sich die Villen mit den Gärten davor und den Pools hinten aneinander. Die Gärten wurden ununterbrochen bewässert, aber in einigen Fällen reichte auch das nicht. Die Sonne war so aggressiv, dass sie das Gras tötete, nur durch ihre Intensität. Dass es gut bewässert wurde, rettete das Grün in den überwiegenden Fällen nicht.
"Das ist ein seltsamer Sommer", merkte Anna an, während sie durch die ruhige Gegend fuhren. Hier wirkte alles wie ausgestorben.
"Ja, ist er. Er ist boshaft", fand auch Tomas.
"Hast du so etwas schon mal erlebt?"
"Nein, hab nicht mal meine Altvorderen von so etwas berichten hören."
"Dachte ich mir."
Ihre Adresse war eine Villa, die wie aus weißem Marmor gemacht schien, mit Säulen vor der Fassade, die das Dach zu halten schienen. Der Garten war auffallend groß, aber das Gras in ihm war schon verdorrt. Es gab einen großen Brunnen mit Wasserspeiern, dem keine Funktion zukam, aber ein Heidengeld gekostet haben musste.
"Passt nicht", sagte Anna auf Anhieb.
"Nein, kann gar nicht passen. Muss aber", gab er zurück.
Sie hielten vor dem monumentalen Bau und stiegen aus. Tomas hatte das Gefühl, er hätte sich mit Sonnencreme einschmieren sollen, denn das Licht schien aus Nadeln zu bestehen. Seine Haut wurde regelrecht traktiert. Ihr Blick ging durch den Garten auf den Vordereingang. Es war ein Doppelportal, in dem zwei goldene Ringe hingen. Die waren sicher nicht dazu gedacht, die Tür zu öffnen, trotzdem hingen sie dort.
"Ergibt das Sinn?", fragte Anna.
"Vielleicht ist es die Hitze."
"Das meinst du nicht."
"Frag den da."
Ihr Blick folgte seinem ausgestreckten Finger und gelangte zu einem Hund, der in der prallen Sonne vor der Fassade saß. Ein Rassehund, der damit beschäftigt war, einen seiner Vorderläufe blutig zu beißen.
"Du liebe Güte", stieß Anna aus.
"Armer Kerl", sagte Tomas. Er interessierte sich vor allem für die beiden Mülltonnen, die vor dem Haus standen. Was den Geruch anging, der ihnen aus diesen entgegen schlug, so fanden beide, dass es nicht für alles ein Wort gab. Anna hielt ein bisschen Abstand, während er den Deckel aufmachte. Gleich darauf klappte er den Deckel wieder zu und sah sich den Inhalt des anderen an. In dem entdeckte er etwas, das sich vom gewöhnlichen Hausmüll unterschied.
"Siehst du das? Wer wirft einen Haufen sauberer und vollkommen intakte Handtücher weg? Steigenberger. Warum macht einer mit Geld so was?", murmelte Tomas. Eines von ihnen hielt er demonstrativ hoch, damit auch sie es zu sehen bekam.
"Seltsam", fand sie.
Tomas wühlte und holte ein Tuch nach dem anderen heraus. Jedes sah er sich an, dann ließ er es neben die Tonne fallen. Nach dem X-ten hielt er inne. "Bingo", sagte er.
"Hast du etwas gefunden?"
Mit seinem Kugelschreiber holte er etwas heraus, das ein Loch in der Mitte hatte.
"Oh Gott", sagte Anna.
"Als ihm das abgefallen ist, konnte er sich sowieso keine Klassik mehr anhören. Stehen die Typen auch nicht drauf."
"Dann ist die Sache wohl klar."
Tomas ließ seinen Schatz in einem kleinen durchsichtigen Plastikbeutel verschwinden und behielt ihn gleich in der Hand. Als die beiden durch den Garten gingen, war schon ein Bus auf dem Weg hierhin. Tomas klingelte an der Tür. Die Hitze schien jemanden langsam zu machen, denn es dauerte eine ganze Weile, bis jemand kam und öffnete. Tomas kannte das Gesicht des Mannes aus der Datei. Es war Mering.
"Guten Tag", sagte der Mann mit einem irritierten Blinzeln.
"Kommissar Wenke, das ist Assistenzkommissarin Bub. Wir möchten mit Ihnen über das hier sprechen."
"Oh."
"Ja. Das würde ich auch sagen."
Das Wohnzimmer in dieser Villa war fast so groß, wie Tomas ganze Wohnung. Der Mann hatte es geschafft, man konnte es nicht übersehen. Und er liebte Kunstgegenstände. Einen Elefanten auf sechs Giraffenbeinen aus Gold und Silber zum Beispiel und eine Schnecke, mit einem Reiter aus Diamant auf dieser. Mering führte sie zu einer Sitzlandschaft, die aus weißem Leder und Ebenholz bestand. Alle setzten sich.
"Gibt es irgendeine vernünftige Erklärung, die Sie uns dazu geben können? Sie können sich vorstellen, wo wir das gefunden haben", kam Tomas gleich zur Sache.
"Nein. Darüber weiß ich nichts."
"Es gab einen Leichenfund, in der neun goldene Kugeln gefunden wurden. Ich habe sie eben bekommen, und den Bericht dazu. Es gibt zwei unterschiedliche Fingerabdrücke auf ihnen. Leben Sie mit jemandem zusammen?", erkundigte sich Anna.
"Ich lebe mit meiner Frau zusammen und meinem Sohn. Er ist siebzehn."
"Sie besitzen einen Waffenschrank."
"Ja, das ist Vorschrift. Ich halte mich natürlich daran."
"Und Sie bewahren den Schlüssel an einem Ort auf, von dem nur Sie wissen, nehme ich an. Außer ihrer Frau, aber die würde es Ihrem Sohn nie verraten", sagte Anna ihm auf den Kopf zu. Der Mann musste nicht antworten, sein Gesicht sprach Bände.
"Ist er daheim?", erkundigte sich Tomas.
"Es geht ihm nicht gut."
"Was hat er?"
"Kopfschmerzen, seit Tagen schon. Er bleibt auf seinem Zimmer, die Fenster sind immer abgedunkelt."
"Sie haben das Recht, zugegen zu sein, wenn wir ihn befragen, aber wir würden uns gerne allein mit ihm unterhalten", informierte ihn Tomas in seinem sachlichen Ton.
Darauf verständigten sie sich. Mering führte die beiden nach oben, wo sie an sein Zimmer klopften. Der junge Mann, sein Name war Sebastian, antwortete nicht, also schob Tomas die Tür um einen Spalt auf. "Hallo?", fragte er in das Halbdunkel.
"Was ist denn?", drang eine schwache Stimme heraus. Sebastian klang zehn Jahre älter, als er in Wirklichkeit war. Tomas trat ein und schloss die Tür hinter Anna wieder. Der junge Mann steckte unter der Decke in seinem Bett und trug allen Ernstes eine Sonnenbrille. Seine Haut war bleich und die Augen, die man nicht sah, waren dunkel unterlaufen. Es roch stark nach Schweiß und noch stärker nach zu lange getragener Unterwäsche.
"Guten Tag", sagte Tomas und Anna tat dasselbe.
"Wer sind Sie denn?", fragte Sebastian unendlich müde.
Tomas stellte sie beide vor, aber das Gesicht des Teens blieb dieselbe gummiartige Masse, die schon bei ihrem Erscheinen keinen Ausdruck zeigte. "Polizei", murmelte er wie zu sich selbst.
Tomas hielt nicht viel davon, das Offensichtliche unnötig zu verschleiern. Aber auch bei der Geschichte, die er Sebastian offenbarte, gab es keinerlei Reaktion. Der junge Mann schien kurz davor zu stehen, in den tiefsten Schlaf zu stürzen.
"Was habe ich damit zu tun?", fragte er unter Mühen.
"Das wollten wir gerne dich fragen", spielte Tomas zurück.
"Nichts", kam es als Stöhnen zurück.
"Wo verbringst du deine Freizeit?", fragte Anna.
"Golfclub, Tennisclub, Klavierunterricht."
"Hast du keine Freunde?"
"Golfclub, Tennisclub, Klavierunterricht."
"Verstehe. Und außerhalb der Clubs?"
"Wieso außerhalb? Nein."
"Ich möchte deine Augen sehen."
"Das Licht tut weh."
"Die Sonnenbrille! Jetzt!"
Er hasste es. Widerwillig nahm Sebastian die Brille ab. Seine Augen waren rot, aber nicht nur die Iris, die regelrecht zu leuchten schien, sondern auch das Weiß.
"Was nimmst du?", wollte Tomas wissen.
"Was? Gar nichts."
"Komm schon, das ist wirklich lächerlich. Wenn du damit nicht rausrückst, bringen wir dich auf die Wache und nehmen ein Blutbild. Also?", bohrte Tomas.
"Ehrlich, ich nehme nichts."
"Was sagt denn dein Vater dazu? Und deine Mutter?", fragte Anna.
"Die waren mit mir beim Arzt."
"Und?"
"Der konnte nichts finden. Ich war auch für zwei Tage im Krankenhaus, aber die haben auch nichts gefunden. Wir haben alle Unterlagen da, die haben wirklich nichts gefunden."
"Müdigkeit scheint ein Symptom zu sein, was noch?", versuchte es Anna weiter.
"Kopfschmerzen", stöhnte er. "Mattigkeit und Durst. Ich trinke so viel, aber es kommt nicht wieder heraus, sozusagen. Der Arzt weiß das auch schon. Und Gelenkschmerzen und meine Ohren sind immer beschlagen, und mein Kopf, ich weiß nicht. Als würde er unter Wasser stecken."
"Und die Ärzte im Krankenhaus haben nichts gefunden?", fragte Anna.
"Das sagte ich doch."
"Nur die Ruhe. Du musst dich nicht aufregen."
"Eine Frage noch", hob Tomas an. "Hattest du Kontakt zu einem Obdachlosen in letzter Zeit?"
"Nein. Hatte ich nicht."
"Wir sehen uns diesen Bericht an. Finden wir dort etwas, mit dem wir zu dir zurückkommen müssen?", erkundigte sich Tomas.
Das gefiel ihm nicht. Zum ersten Mal zeigte die Maske einen Ausdruck. Darüber wollte er nicht sprechen. Lieber setzte er die Brille wieder auf. Die Bewegung, in der er es tat, war so langsam, dass man eine Tasse Tee auf seiner Hand abstellen und sie abkühlen lassen konnte.
"Also?", sprach Tomas eines sein Lieblingsworte aus.
"Ein Biss."
"Ach was. von wem?"
"Einer Frau."
"Was du nicht sagst. Wo?"
"Arm."
"Den würden wir uns gerne mal ansehen", stellte Tomas fest.
Viel widerwilliger als zuvor zog Sebastian den langen Ärmel seines Schlafanzugs hoch. Die beiden Polizisten bekamen einen Biss zu sehen, aber er musste mit zehn Stichen genäht werden, fünf oben und fünf unten.
"Das war eine Frau?", fragte Anna mehr als nur ein bisschen erstaunt.
"Ja."
"Im Liebesspiel?"
"Ja."
"Was hatte sie genommen?"
"Sie war dicht."
"Wegen dir?"
"Nein. So etwas mache ich nicht."
Die beiden tauschten einen vielsagenden Blick. Ein Lächeln, das sich einprägte und unter die Haut ging, dachte Tomas. Und endlich mal jemand, der das Werbefernsehen ernst nahm. Wer putzt, hat mehr Biss.
"Du wirst uns den Namen der Dame nicht verraten", vermutete Tomas.
"Auf keinen Fall."
"Gut. Herzlichen Glückwunsch, dass du es überlebt hast."
Sie sahen sich die Unterlagen trotzdem noch an, fanden aber nichts weiter. Im Wohnzimmer unten sprachen sie mit Mering, dem sie klar machten, dass er und jedes Mitglied seine Familie festgenommen waren. Er nahm das erstaunlich gelassen hin.
"Haben sie darüber nachgedacht, dass Ihr Sohn vielleicht Drogen nimmt?", fragte Tomas, als sie wieder in den weißen Sesseln saßen.
"Was glauben Sie? Als er im Krankenhaus lag, haben wir sein Zimmer auf den Kopf gestellt. Nur gefunden haben wir nichts", antwortete Mering.
"Nichts gefunden."
"Nein. Gar nichts."
"Gibt es in dieser Gegend ein Problem mit Obdachlosen?"
"Nein."
"Tauchen solche Leute manchmal hier auf?"
"Nein", wunderte sich Mering.
"Kennen Sie einen?", fragte Anna.
"Wie bitte?"
"Ob Sie einen kennen."
"Nein, woher sollte ich so jemanden kennen? Ein Obdachloser ist ermordet worden? Das ist ja schrecklich", fand Mering.
Gerade saßen sie, da wurde es schon wieder Zeit. Die beiden warteten noch, bis die Kollegen von der Streife hier waren, dann konnten sie gehen. Der Hund draußen biss sich immer noch und konnte nicht damit aufhören, wie es schien.
Die zwei setzten sich in den Toyota und rollten los. Eigentlich fanden sie, sie sollten den ganzen Tag herum fahren, denn der Wind kühlte schon ein wenig. Im Grunde war es anders gar nicht zu ertragen.
"Weißt du, wenn es heute Abend noch regnet, dann müssen die Vögel heute Nacht schwimmen", merkte er an, als sie unterwegs waren.
"Vögel fliegen nur am Tag", meinte sie.
"Meinst du."
"Das ist so."
"Wenn das mal stimmt."
"Es stimmt sicher."
Die ganze Zeit war sie mit dem Handy beschäftigt. Sie suchte, fand aber nicht, worauf sie aus war.
"Ich hoffe, du glaubst jetzt nicht, ich habe einen Sonnenstich", sagte sie nachdenklich.
"Nämlich?"
"Ich würde mir gerne diesen Laden im Geisterviertel ansehen. Ich weiß, das ist eigentlich Unsinn, aber ich finde das auch merkwürdig. Im Netz existiert dieser Ort nicht. Ich habe mich auf ihrer Seite umgesehen, Lifetech, meine ich. Auf der werden alle Niederlassungen aufgeführt, nur diese nicht."
"Dann gibt es dort auch keine", schlussfolgerte Tomas.
"Aber wir könnten mal vorbeischauen."
"Das meinst du nicht."
"Natürlich meine ich das", lächelte sie ein wenig erstaunt. "Ich finde definitiv, dass wir jeder Spur nachgehen sollten. Ja, ich weiß, es ist keine Spur, sagst du, aber vielleicht liegst du nicht richtig. Und wir haben sonst nichts vor. Heute Abend sind die Fingerabdrücke da, das kann jetzt auch warten. In der Zwischenzeit können wir es uns wenigstens man ansehen."
Tomas Hirn brauchte eine Eispackung, denn ihm fiel nichts ein, das er darauf antworten konnte. Also gab er die Antwort, indem er an der nächsten Ecke abbog und das Viertel ansteuerte. Diesmal mussten sie nicht durchs Zentrum, was die Sache sehr viel erträglicher machte.
Tomas glaubte nicht, dass sie dort etwas fanden, wahrscheinlich war es nur ein verlassenes Gebäude, in dem nichts als schlechte Luft auf sie wartete. Er hatte wirklich keine Lust, sich das anzusehen, aber jetzt waren sie schon auf dem Weg. Sie sprachen nicht darüber, denn Fakten ließen sich nicht erquasseln. Tomas träumte von einem Berggipfel auf dem Schnee lag und um den ein richtig hässlicher Wind wehte und seine Eier für die Ewigkeit versteinerte.
Das Gebäude, das Anna sich unbedingt ansehen musste, unterschied sich von den meisten in dieser Gegend, bei denen es sich nicht wirklich um Gebäude handelte, sondern nur um die üblichen Wellblechhallen. Zwei Stockwerke hoch war es, aus rotem Backstein erbaut und schmutzig. Die Fenster waren tatsächlich von innen verklebt worden. Die Tür vorne war noch vorhanden und ein kleiner Plastikkasten mit dem Knopf für die Klingel.
Sie parkten den Wagen auf dem Bürgersteig uns stiegen aus.
"War deine Idee", seufzte er, als sie vor der Tür standen.
"Natürlich", gab sie zurück und klingelte.
Tomas war nicht sonderlich überrascht, dass niemand öffnete. Es überraschte ihn, dass die Klingel noch funktionierte, aber nicht, dass niemand die Tür öffnete. Dann aber geschah genau das, und eine junge Frau erschien.
Sie befanden sich in einem schmutzigen Loch in einer gottverlassenen Gegend, diese Frau aber trug ein adrettes Kleid und sah aus, als arbeitete sie in einem der vollklimatisierten Bürotürme im Zentrum.
"Guten Tag", sagte Anna und stellte sie beide vor.
"Polizei?", fragte die Angestellte erstaunt.
Die beiden wurden herein geführt und fanden sich in einer vollklimatisierten Umgebung wieder. Es gab keine Rezeption, aber mehrere Büros. Die freundliche Dame führte sie in das, in dem sie der Geschäftsführer empfing. Obwohl ihr Besuch so überraschend kam, hatte er Zeit für sie. Sein Büro erinnerte sie an eines, das man in den besagten Türmen fand. Der Blick durch das Fenster hinter dem Schreibtisch war nicht versperrt, ging aber nach hinten auf einen kleinen Parkplatz, auf dem ein paar teure Modelle standen.
"Nicht zu glauben, was der Sommer mit uns macht dieses Jahr", sagte der Mann mit dem immer freundlichen Lächeln. Die beiden setzten sich vor den Schreibtisch und wurden gleich mit einem O-Saft versorgt. Ein verfluchter Kühlschrank stand in diesem Büro, brummte Tomas innerlich. Wenn er das auf der Wache anregte, gab es ein Donnerwetter. Es war angenehm kühl hier, die Luft schmeckte frisch und war wunderbar feucht. Nur seine Eier versteinerten nicht.
Tomas erklärte dem Mann, aus welchem Grund sie hier waren. In dieser Gegend wurden immer wieder Obdachlose entführt und tauchten in der Regel nicht mehr auf. Der Mann gab sich bestürzt, sagte aber gleich, dass er nichts darüber wusste und ihnen ganz sicher nicht helfen konnte.
"Das ist wirklich unfassbar, was die Menschen sich antun", sagte er, nachdem er sich alles angehört hatten.
"Wir würden uns hier gerne ein bisschen umsehen", meinte Tomas.
"Aber natürlich. Kein Problem", lächelte der Geschäftsführer.
Die beiden leerten ihre Gläser und ließen sich ein wenig herumführen. Oben befanden sich nichts als die Büros, in denen zu diesem Zeitpunkt aber niemand arbeitete. Die Zimmer sahen alle gleich aus, immer ein Tisch mit einer Pflanze und einem Monitor. Die Computer waren alle unten. In jedem Büro hing ein Bild, das immer eine Blume zeigte, und in jedem Büro gab es eine Klimaanlage. Die allerdings wurden zu diesem Zeitpunkt nicht betrieben, also war es heiß, und die Luft war stickig. Insgesamt konnte man es nur in zwei der Zimmer aushalten.
"Die Stockwerke über diesem sind vollkommen leer. Nichts als leere Zimmer", sagte der Geschäftsführer, während er ihnen alles zeigte.
Es gab nichts zu entdecken, doch dann stießen sie auf die Treppe in den Keller. Als sie sich dem Absatz näherten, schlug ihnen ein übler Gestank entgegen. Es roch wie auf einer Müllhalde.
"Was ist da unten?", erkundigte sich Tomas.
"Nichts."
"Nichts?"
"Es stinkt, ich weiß."
Tomas wartete nicht auf eine Einladung. Unten war es dunkel, aber im Licht, das von oben einsickerte, erkannte er einen Schalter. Unten legte er ihn um und fand sich in einem kurzen Gang wieder, der an einer rostigen Tür endete. Hinter ihm kamen die beiden anderen nach. Die Tür schwang mit einem quietschenden Geräusch auf und gab den Blick frei. Noch so ein Schalter und eine nackte Birne, die von einem mit Spinnweben verknasten Kabel von der Decke hing, die alles in ein kaltes Licht tauchte. Noch ein Gang, von dem auf der rechten Seite drei Türen abgingen.
"Es ist nur der Keller", sagte der Geschäftsführer von hinten. Tomas aber wollte sich selbst davon überzeugen und versuchte die erste Tür. Sein Blick fiel in einen vollkommen leeren Raum, dessen Boden furchtbar verdreckt war und in dessen Mitte sich ein Ablaufgitter befand.
"Wirklich, hier gibt es nichts zu sehen", beteuerte der Mann.
Tomas ging zur nächsten Tür, hinter der sich aber derselbe Anblick zeigte. Scheinbar gab es hier nichts für sie, dachte er bei sich. Dann aber stand er vor der dritten Tür, die sich von den beiden zuvor unterschied. Sie bestand nicht aus verrostetem Eisen, sondern war silbern poliert und sah viel dicker aus. Anstelle eines Schloss gab es einen kleinen Plastikkasten, auf dem man eine Zahlenkombination eintippen musste.
"Und was haben wir hier?", fragte Tomas.
"Um ehrlich zu sein, ich habe mir das nie angesehen", antwortete der Geschäftsleiter.
"Sie wollen mit nicht erzählen, dass die Vormieter das hinterlassen haben."
"Offenbar haben sie das. Wir benutzen den Keller gar nicht."
"Hören Sie", seufzte Tomas. "Wenn Sie mit diesem Keller nichts anfangen, und es in den oberen Stockwerken auch nichts, dann bleiben nur noch diese merkwürdig verlassenen Büros, die alle gleich aussehen. Also handelt es sich um eine administrative Einrichtung, die nicht in einem Büroturm untergebracht wurde, sondern in einer Gegend, die rufschädigend ist, sollte sich mal jemand hierhin verlaufen. Hinter dem Haus stehen mehrere teure Wagen, aber nur Sie beide scheinen anwesend zu sein. Also. Sie öffnen jetzt diese Tür oder ich rufe jemanden, die sie öffnet."
"Gut", sagte der Mann. Er tippte eine Kombination ein, und die Tür schwang automatisch nach außen auf. Es war ein weiß gekachelter Raum, in dem es keine Möbel gab. Nur der blanke Raum, nichts sonst. Ein Luftgitter unter der Decke und ein Ablaufgitter im Boden. Neben diesem lag ein Mann in schäbiger Kleidung, der offensichtlich tot war. Er sah mumifiziert aus.
"Was zum Teufel", entrang es sich Anna.
Die beiden traten ein. Es war kalt wie in einem Kühlschrank. Tomas bückte sich neben den Mann und berührte seine Haut. Sie fühlte sich wie Pergament an. Die Augen des Mannes waren milchige Scheiben, die keinen Ausdruck mehr besaßen.
"Ihre Handys!", sagte der Geschäftsführer, der hinter den beiden in der Tür stand. Tomas und Anna fuhren herum und starrten in den Lauf einer 18mm.
"Los! Her damit!"
"Machen Sie sich nicht unglücklich", sagte Tomas.
"Los!"
Die beiden gaben ihm ihre Handys. Danach ging der Mann rückwärts auf den Gang. Er drückte eine Taste, und die Tür schloss sich unaufhaltsam. Mit einem Zischen ging sie zu.
"Das glaube ich nicht", entfuhr es Anna.
"Ich auch nicht", stöhnte er. Nicht zu glauben, dieser Spinner hatte wirklich Recht. Zu ihren Füßen lag der tote Beweis für seine seltsame Geschichte.
"Und jetzt?", fragte sie.
"Keine Ahnung."
Die beiden wussten nicht, was mit ihnen geschehen sollte, aber nach den ersten drei Stunden des Wartens kam ihnen der Gedanke, dass sie hier womöglich vergessen werden sollten. Zumindest drehte man ihnen nicht auch noch das Licht ab, dachten sie. Aber er war kalt, und sie konnten sich schlecht aufwärmen. Nach einer Weile konnten sie auch nicht mehr stehen, also setzten sie sich auf den Boden. Anstelle sich aber an die kalten Kacheln zu lehnen, lehnten sie Rücken an Rücken.
Noch eine Stunde verging, in der sie manchmal aufstanden und herum gingen, dann aber wieder beieinander saßen. Niemand ließ sich blicken, und kein Laut drang durch die Tür.
"Deine Idee", merkte er nach einer Weile an.
"Du meinst, ich wusste, dass etwas faul ist."
"Ja, dieser Typ, der ist faul.
"Sag mir lieber, was die hier unten treiben. Meinst du dieser Typ, Megahoschi, hat Recht? Sie führen Menschenversuche durch?", fragte sie.
"Möglich", antwortete er. Möglich war beinahe alles, fügte er in Gedanken hinzu. Aber dieser Mann war sicher nicht freiwillig hier, das stand wohl fest.
"Wie lange behalten sie uns hier?", fragte sie.
Darauf wusste er auch keine Antwort. Die Zeit verstrich, erst bis zu Abend und dann in die Nacht. Tomas trug eine dieser altmodischen Uhren, deswegen wussten sie es genau. Die Mitternachtsstunde rückte näher, aber niemand sah nach ihnen. Zu diesem Zeitpunkt, da sie schon spürbar unterkühlt waren, kam ihnen zum ersten Mal der Gedanke, dass man sie hier unter Umständen sterben lassen wollte.
Sie gingen ein bisschen, vor allem wegen der Kälte. Immer um die Leiche herum, immer im Kreis und sich immer gegenüber. Der Mann in der Mitte war immer ihr Zentrum. Er war immer zwischen ihnen, während sie stetig unterwegs waren. Immer im Kreis und immer rundherum, wieder und immer wieder.
"Die vergessen uns", unkte Anna. "Kannst du dir das vorstellen, die Säcke, die lassen uns einfach hier sterben. Sie suchen uns, aber sie finden uns nie. Kannst du dir das vorstellen, dass Snijder uns hier findet? Der findet doch nicht einmal seine Schnürsenkel."
"Reg dich ab."
"Reg dich ab? Du hast Nerven."
Sie gingen und gingen und immer so weiter, bis sie sich einigermaßen warm fühlten. Dann setzten sie sich wieder Rücken an Rücken.
"Knalltüte", meinte sie.
"Wie bitte?"
"Snijder."
Der Hunger wurde zum Problem. Nach 36 Stunden knurrte ihnen beiden der Magen. Anna wurde müde und legte sich auf die Seite. Bei Tomas dauerte es ein paar Minuten länger, doch dann lag er neben ihr. Sie schliefen für wenige Sekunden, dann wurden sie wach, weil sie froren. Anna glaubte, es sei alles nur ein Traum. Sie murrte, als sie bemerkte, dass es nicht so war. Der leere Magen und die Kälte machten ihr zu schaffen. Nachdem sie zum ersten Mal aufgewacht war, dauerte es nicht sehr lange, bis sie wieder einschlief. Auch Tomas konnte noch einmal schlafen, aber sie beide fühlten sich schlecht.
Zwei Tage vergingen, und mehr noch, denn es wurde wieder Abend. Der Durst war stärker als der Hunger, und die beiden fühlten sich ausgetrocknet und müde. Ihre Kraft verließ sie mit jeder Minute, bis sie fürchteten, aus dem nächsten Schlaf nicht mehr zu erwachen. Es zehrte an ihnen, bis sie sich krank und elend fühlten.
Tomas begann, sich damit abzufinden, dass sie in diesem Loch starben. Etwas in seinem Kopf sagte, er müsste nie wieder Steuern zahlen und hurra, sich nie wieder mit seiner Nachbarin über seine Affinität zu Rammstein streiten, vor allem, wenn er die Zeit vergaß. Sie würden hier elendig zugrunde gehen, hier verrecken, und niemand würde es je erfahren. Mittlerweile war es ihm auch gleich, ob sie hier Obdachlose umbrachten oder Gehirne in Giraffen implantierten oder so was. Egal, egal, egal, sie würden hier sterben.
"Ich wollte dich immer vögeln", meinte er kurz vor dem Schluss. Sein Körper fühlte sich wie drei Tage übernächtigt an, die Finger kribbelten, und in seinem verfluchten Kopf drehte sich etwas. Es konnte nicht mehr lange dauern, also was soll's?
"Was wolltest du?", fragte sie schwach.
"Vergiss es."
"Seit wann denkst du denn schon daran?"
"Erster Tag. Du bist Bombe", fand er eindeutig. Das war nicht übertrieben, er meinte es Wort für Wort. Sie war die absolute Traumfrau, und wenn man sie kannte, war das Aussehen nicht mehr die eigentliche Attraktion.
"Hast du mir nie gesagt."
"Nein."
"Und warum nicht?"
"Selbstzweifel."
"Du meinst, du bist nicht gut genug?"
"So ungefähr."
"Das kannst du auch mir überlassen."
"Ach."
"Ja, ach."
"Und?"
"Was?"
"Wie wäre deine Antwort gewesen?"
"Können wir das auf später verschieben?"
"Später?", lächelte er bitter. "Welches später?"
Nach diesem Gespräch schwiegen sie wieder, Rücken an Rücken, wie sie die ganze Zeit schon auf dem Boden saßen. Scheinbar gab es nichts mehr zu besprechen. Später. Später war schlecht, dachte er, denn Engel besaßen keinen Unterleib, das hatte er mal in einem Film mit diesem Tänzertypen gesehen. Wie hieß der noch? War auch egal. Tomas schloss die Augen, aber es wurde nicht dunkel. Auch das noch.
Die beiden wussten nicht, wie viel Zeit vergangen war, dann aber veränderte sich etwas. Eigentlich lag ihre Stadt nicht in einem Erdbebengebiet, aber plötzlich wackelte der Boden unter ihnen.
"Was war das?", fragte sie.
"Erdbeben."
"Das Licht ist ausgegangen."
"Bei mir nicht."
"Was?"
"Meine Augen sind zu."
"Mann!", entfuhr es ihr. "Das Licht ist aus!"
Tomas öffnete die Augen und sofort wurde es dunkel. Das musste ihm mal einer erklären. Aber das Licht war wirklich aus. Er fühlte, wie sie aufstand, dann hörte er ihre Schritte auf den Kacheln.
"Komm her! Hilf mir!", kam ihre Stimme von der Tür.
Mit einer sehr umständlichen Bewegung kam er auf die Beine und ging zu ihr. Seine ausgestreckten Hände fanden die kalte Metalltür.
"Bin da", sagte er.
"Dann los!"
Es funktionierte, denn die Tür gab langsam nach. Draußen war es ebenso dunkel, aber die Tür öffnete sich, und es wurde augenblicklich wärmer. Die beiden traten in den Gang hinaus.
"Oh mein Gott", flüsterte sie dankbar.
Die beiden fanden den Weg durch die Dunkelheit und mit ihm die Stufen, die sie nach oben führten. Mitten in der Nacht war es, aber oben gab es ein Fenster nach hinten, durch das der Mond silbern schien. Schwarze Schlieren wurden an ihm vorbei gerissen. Der Wind heulte wie eine sterbende Katze
"Los, wir müssen verschwinden", sagte Anna.
"Nein nein, komm", gab er zurück. Es war Nacht, also waren sie allein in diesem Bau. Sie gingen in das Büro des Geschäftsführers und machten sich über den Kühlschrank her. Wer brauchte bei diesen Temperaturen Energiedrinks? Egal, runter damit. Und diese Sandwichs? Runter damit. Und die Frikadellen und die beiden Tortenstücke? Runter damit, los! Sie schlangen und schmatzten und scherten sich nicht.
"Oh mein Gott", seufzte sie, als der Kühlschrank geplündert war. Sie musste sich erst einmal setzen.
"Nicht zu glauben, dass wir das überlebt haben", wunderte sich Tomas. Er ging zum Fenster des Büros und sah noch einmal hinaus. Die schwarzen Schlieren im Himmel stammten von einem Brand, wie es schien, denn über den Dächern quoll eine riesige Rauchsäule in den nächtlichen Himmel.
"Weißt du, was passiert ist?", fragte er.
"Nein", gab sie schlapp zurück. Plötzlich fühlte sie sich überfressen.
"Das Kraftwerk muss explodiert sein, so wie das aussieht."
"Was? Wirklich?"
"Macht ganz den Anschein."
Anna griff nach dem Telefon, denn sie wollte die Sache sofort in die Wege leiten. Hier fanden sie sicher die Adressen der Leute, die hier arbeiteten. Die Beamten sollten sie jetzt noch aus den Betten zerren, fand sie. Eigentlich wollte sie ihnen selbst die Köpfe abreißen, aber sie schluckte den Zorn runter. Für eine Weile ließ sie es klingeln, aber es hob niemand ab. Eigentlich sollte sich zumindest die Warteschleife melden, aber auch das geschah nicht.
"Stimmt etwas nicht?", fragte er.
"Warte", sagte sie und versuchte den Notruf. Wieder verstrich eine Weile, aber es nahm erneut niemand ab. Dann versuchte sie die Zentrale für die Polizisten und dann probeweise den Notruf der Feuerwehr.
"Nichts", sagte sie und legte auf.
"Die Leitung ist tot?"
"Nein, es geht niemand ran."
Tomas Blick ging auf sie, Anna aber erlaubte sich keinen dummen Scherz mit ihm. Sie hob das Telefon hoch, und siehe da, es war kein Festnetzanschluss. Das Ding lief mit einem Akku. Die beiden beschlossen, dass sie hier nichts erreichen konnten, und dass sie dieses Loch endlich verlassen sollten. Im Augenblick war ihnen nicht mehr nach Recherchen an diesem Ort, das konnten sie auch den Kollegen überlassen, die einen normalen Tag hinter sich hatten.
Etwas hinderte sie daran, die Tür zur Straße zu benutzen. Es sah aus, als hätte jemand einen Wasserballon mit roter Farbe an die Tür geworfen, wo er zerplatzte.
"Das war vorher nicht da", stellte sie fest.
"Du hast dich umgedreht?"
"Ja."
"Sieht nach einem Streich aus."
"Hier?"
"Stimmt, kommt mir auch seltsam vor."
Ein Geräusch drang durch eine der Türen zu ihnen. Neben dem Büro für den Geschäftsführer gab es nur noch eines, das einen genutzten Eindruck auf sie machte. Aus dem kam das Geräusch. Tomas ging zur Tür und legte die Hand auf die Klinke, hielt dann aber für einen Moment inne.
"Warum ist noch jemand hier?", flüsterte Anna.
Tomas zuckte mit den Schultern, woher sollte er das wissen? Es stellte ein Wagnis dar, denn sie beide waren nicht mehr bewaffnet. Tomas drückte die Tür auf.