Kapitel 4
Die Sache ging recht schnell vonstatten. Holger und Anna gingen in den Laden und kamen kurz darauf mit zwei Tüten zurück. Dosenfutter gab es hier ohnehin nicht, dafür aber Chips und Salzstangen und solche Dinge. Schwer mit dem Inhalt eines ganzen Regals beladen, stiegen sie zurück in den Bus, gleich darauf fuhren sie weiter. Auf einer anderen Straße fanden sie die Bäckerei, die sie ebenfalls ohne Probleme plünderten. Als sie anschließend zum Bus zurückkehrten, fanden sie die Türen verändert vor.
"Auch das noch", stöhnte Anna.
"Musste wahrscheinlich irgendwann passieren", kommentierte es Holger. Es gab keine Schlösser mehr und Klinken ebenso nicht. Um ganz sicher zu gehen, ging er noch einmal in den Verkaufsraum zurück und sah sich die Tür dort an. Aber auch sie besaß keine Klinke mehr und ließ sich einfach so öffnen. Nachdem er sich dessen versichert hatte, kam er zu den anderen und setzte sich wieder in den Bus. Danach ging es gleich weiter.
"Jetzt noch die Waffen", sagte Anna.
"Richtig", meinte Holger. Ihm gefiel das auch nicht sonderlich, sich zu bewaffnen, aber in ihrer Situation war das wirklich das Beste. Jeden Augenblick konnten sie über sie herfallen, dann wären sie vollkommen hilflos. Wenn es zu einem Kampf mit mehreren von ihnen kam, waren sie in jedem Fall unterlegen, aber so hätten sie zumindest eine Chance.
Das Geschäft befand sich auf der anderen Seite des Städtchens. Auch hier war alles still und nichts rührte sich. Lucy kam nach vorne, um die beiden mit Wasser zu versorgen. Unter diesen Bedingungen fühlte man sich immer wie ausgetrocknet, daran hatten sie sich mittlerweile gewöhnt. Nach wie vor floss ihnen der Schweiß von der Stirn, und ihre Kleidung klebte an ihnen.
Der Waffenladen war recht klein geraten und machte von außen nicht viel her. Ausgestellt wurden scheinbar nichts als die teuren Jagdgewehre. Wieder hielten sie und warteten für einen Moment.
"Wir sind allein", sagte Holger.
"Gehen wir", meinte Anna.
Wie zuvor bereits stiegen die beiden aus und begaben sich durch den Eingang in den Verkaufsraum. Schon hier fanden sie mehr Gewehre, als sie tragen konnten. Sie beschlossen, eines für jeden mitzunehmen, was ihnen ausreichend erschien.
"Ich bin mit diesen Dingen nicht vertraut", gestand Holger.
"Waffen sind idiotensicher", versicherte sie ihm.
"Sicher?"
"Was denkst du, für wen sie gemacht sind?"
Darüber musste er lächeln. Probeweise nahm er eines der Gewehre in die Hand und wog es. Ja, es fühlte sich nicht schlecht an, es anzulegen und mit ihm zu zielen. Man konnte sich damit beschützen.
"Verdammt", sagte sie.
"Was ist denn?"
"Weißt du, warum der Laden 'Der Karabiner' heißt?“, fragte sie.
"Warum?"
"Weil hier nichts sonst verkauft wird."
Was das bedeutete, erklärte sie allen, als sie wieder zusammen im Bus waren. Wie man so eine Waffe nachlud, und das man immer nur eine Kugel abfeuern konnte und anschließend nachladen musste. Das gefiel keinem von ihnen, aber es gab keine anderen Optionen. Dabei konnten sie noch von Glück sagen, dass sie hier überhaupt an Waffen kamen.
David fühlte sich endlich in seinem Element, als er sein Gewehr in den Händen hielt. Ein unübersehbares Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit. Er liebte es.
"Bevor ihr wild herumschießt, müsste ihr euch immer erst davon überzeugen, wen ihr im Visier habt. Wir sind vielleicht nicht die Einzigen, die überlebt haben. Sonst kann ich nur jedem raten, immer in den Kopf zu schießen, sonst könnte ihr sie nicht aufhalten", schloss Anna ihre Einweisung ab.
Damit konnten sie endlich weiter. Wie zuvor verteilten sie sich auf den Bus und fuhren los. Holger brachte sie auf den Platz zurück, auf dem noch immer nichts los war. Von hier bogen sie in eine andere Richtung ab und entfernten sich erneut von ihm. Nach wie vor war alles ruhig.
Bald gelangten sie zum Rand des Städtchens und fanden sich fast auf der Stelle in einem Waldstück wieder. Es war, als wechselten sie von einer Welt in die andere. Mit einem Mal befanden sie sich im Schatten, was aber nichts an der Hitze änderte. Es sollte kühler sein, aber das wurde es nicht. Sie fuhren auf einem sehr schmalen Weg, so dass man sich fragen musste, wie die Autos aneinander vorbei kamen. Zu ihrem Glück war auf diesen 500 Metern niemand liegen geblieben.
Nach einer Biegung schob sich ein graues Gebäude ins Bild, dass schon immer grau gewesen sein musste. Ein hässlicher Bau, zwei Stockwerke hoch und mit schwarzen Löchern, die die Fenster darstellten. Während es draußen Tag war, und die Sonne stach und brannte, schien drinnen Nacht zu herrschen. Sie wussten es besser, aber wenn man nun auf dieses Gebäude blickte, drängte sich sofort der Eindruck auf, dass es in ihm fröstelnd kalt sein musste.
Vor dem abweisenden, sogar feindseligen Bau gab es eine freie Fläche, auf der ein PKW abgestellt worden war. Es war ein silberner BMW, der nicht vermuten ließ, dass es sich um jemanden handelte, der Hartz 4 bezog.
"Ich dachte, der Laden steht leer", sagte Anna.
"Sollte er eigentlich", meinte Holger.
"Dann hat noch jemand überlebt."
"Ist nicht automatisch gesagt. Es gibt Leute, die das mögen."
"Was mögen?"
"Solche Bauten. Sie übernachten an solchen Orten und gruseln sich ein bisschen. Oder, wie heißt das noch? Geocaching. Jemand versteckt etwas n einem bestimmten Ort, wo es von anderen Geocachern gefunden werden kann. Die nehmen es an sich und hinterlassen selbst etwas."
"Kann sein. In jedem Fall sind wir hier nicht allein", sagte sie.
Holger parkte den Bus genau neben dem BMW. Sie waren angekommen, aber bevor sie den Bau bezogen, mussten sie erst sicherstellen, dass sie ihn wirklich für sich hatten. Alle glaubten, dass das nicht der Fall war.
"Ihr bleibt alle hier", beschloss Holger und nickte Anna zu.
"Nein, ich gehe mit", sagte Lucy.
"Das wird nicht nötig sein", fand er.
"Doch, wird es unter Umständen. Ihr habt nur zwei Schuss, mit mir sind es drei."
"Nein, das stimmt nicht", gab Anna zurück und hielt ihre Pistole hoch. Noch hatten sie mehr als einen Schuss pro Waffe, auch wenn sie nicht wussten, wie lange das noch so blieb. Anna hielt auch nicht so viel davon, mehr als sie beide in Gefahr zu bringen. Lucy aber sagte, dass sie in jedem Fall mit dabei war, und dass sie nichts dagegen unternehmen konnten, was immer sie auch sagten. Damit mussten die beiden abfinden, also ging Lucy mit ihnen. Kurz darauf stiegen sie aus und fühlten zum ersten Mal nicht die nadelspitze Sonne auf ihrer Haut. Heiß war es trotzdem, wobei alle glaubten, dass es sogar noch drückender war als zuvor.
"Es ist nicht auszuhalten", stöhnte Lucy.
"Von hier an wollen wir so leise wie möglich sein", ermahnte Anna sie.
"Sorry."
Holger zog die Tür auf, während die beiden Frauen auf sie zielten. Hinter ihr eröffnete sich eine breite und recht lange Diele, an der zu einer Seite mehr Haken hingen, als man mit dem ersten Blick zählen konnte. Jacken hingen von diesen, und unter ihnen standen immer ein paar Schuhe. Es war ein Kinderheim, wie nun alle erfuhren. Die drei traten ein und hörten die Bohlen unter ihrem Gewicht knarzen. Links gab es einen offenen Durchgang, der in einen großen Speisesaal führte, in dem Stühle an langen Tischen standen. Hier gab es ausreichend Platz, so dass sie ihr Lager einrichten konnten. Keiner von ihnen dachte auch nur im Traum daran, sich aufzuteilen, nur weil es hier womöglich auch Betten in kleineren Zimmer gab. Es musste sie geben, aber sie waren nicht interessiert. Lieber blieben sie zusammen.
Auf der anderen Seite gab es auch einen Durchgang, der aber führte in die Küche, die sie ebenso verlassen vorfanden. Ganz am Ende der Diele betraten sie einen kleinen Raum, von dem ein Gang zu zwei großen Schlafsälen führte, und von dem aus eine Treppe nach oben führte.
Sie beschlossen, planmäßig vorzugehen und sich einen Raum nach dem anderen anzusehen. Erst suchten sie im Erdgeschoss, anschließend waren die Zimmer oben dran. In den beiden oberen Stockwerken befanden sich vier Personen Zimmer mit immer zwei Stapelbetten. Den Kleidern zufolge, die hier noch herumlagen, schliefen die kleineren Kinder in den beiden Sälen unten, während die größeren oben untergebracht worden waren.
"Warum sind ihre Kleider noch hier?", fragte sich Lucy.
"Vielleicht gab es für sie keine Verwendung mehr", unkte Anna leise.
"Was soll das denn heißen?"
"Von was für einer Art Missbrauch sprechen wir hier?"
Holger zuckte die Schultern: "Das ist alles schon sehr lange her. Das Heim wurde geschlossen und nie wieder neu bezogen. Soweit ich mich erinnere, war es nur eine dieser Randnotizen in einer Zeitung. Das ist jetzt mindestens fünf Jahre her. Ich glaube, es ging nicht wirklich durch die Medien. Ich hatte damals den Eindruck, etwas sollte vertuscht werden."
"Für die Kleidung der Kinder hatten sie aber wirklich keine Verwendung mehr, wie es aussieht", merkte Lucy an.
Sie gingen weiter und sahen sich alle Zimmer in der ersten Etage an. Aber sie fanden nichts, vor dem man sich fürchten musste oder das Licht ins Dunkel gebracht hätte. Was immer sich hier zugetragen hatte, sie konnten es nicht wissen. Nach diesem Stockwerk gingen sie die einzige Treppe nach oben. Ganz oben unterschied sich der Grundriss nicht von dem des ersten Stockwerks. Noch ein langer Gang, zu dessen beiden Seiten Türen zu den Zimmern abgingen. Die Zimmer aber unterschieden sich von denen, die für die Kinder und Jugendlichen vorgesehen waren. In ihnen wohnten der Heimleiter und die Pflegerinnen. Sie sahen sich auch diese Zimmer an, fanden aber heraus, dass die Erwachsenen nichts zurück gelassen hatten. Neben der Möblierung war hier nichts zu finden.
"Es wird immer seltsamer", fand Lucy.
"Als hätten die Kinder diesen Ort nie verlassen. Macht das Sinn?", fragte sich Anna.
Auf die anderen wirkte es genauso. Die Kinder schienen diesen Ort nie verlassen zu haben, obwohl sie offenkundig nicht mehr anwesend waren. Über allem lag eine dicke Staubschicht und nichts sah danach aus, als wäre es in letzter Zeit benutzt worden. Der Bau stand mit Sicherheit schon seit Jahren leer, davon waren sie alle überzeugt. Trotzdem drängte sich der Eindruck auf, dass sie hier nicht vollkommen allein waren.
"Es ist, als könnten man sie noch spüren", sprach Holger aus, wofür den beiden Frauen die Worte fehlten.
"Ja, genau, genau so fühlt es sich an", stimmte Lucy zu.
"Richtig. Ich fühle es auch", schloss sich Anna an.
Lucy ging zu einem kleinen Tisch, der vor einem Fenster stand. Zuerst glaubte sie, es handelte sich um ein Schachbrettmuster auf ihm, aber das war es nicht. Quadrate waren es schon, aber in ihnen standen Buchstaben und Zahlen. In jedem Abschnitt gab es Spuren, als hätte jemand etwas mit einem stumpfen Messer hinterlassen. Scheinbar wurde dieser Tisch häufig benutzt, denn es sah wirklich abgenutzt aus.
"Was ist das?", fragte Anna.
"Ich weiß, was das ist", antwortete Lucy. "Alektryomantie. Man verzaubert einen Hahn, dem die Augen ausgestochen wurden, und setzt ihn auf dieses Brett. In den Quadraten liegen immer drei Körner."
"Und dann?", wunderte sich Anna.
"Dann stellt man ihm Fragen."
"Fragen?"
"Über die Vergangenheit oder die Zukunft."
"Du meinst, es ist ein okkultes Ritual."
Lucy nickte: "Satanisten machen so etwas, habe ich gelesen."
"Satanisten?", wiederholte Anna schockiert.
"Ja, aber nicht nur sie. Es müssen keine gewesen sein", antwortete Lucy.
Das alles änderte an ihrem momentanen Problem nichts. Holger warf einen Blick aus dem Fenster, um sicher zu gehen, dass vor dem Haus alles in Ordnung war. Der Bus stand still da, und um ihn herum, und soweit man sehen konnte, hielt sich niemand auf.
"Wir müssen uns noch alles ganz unten ansehen", sagte er.
"Du meinst im Keller", sagte Anna.
"Richtig. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass die Person sich nicht doch im Haus aufhält", meinte er und ging voraus.
Auf dem Weg nach unten begegnete ihnen wie zuvor schon niemand. Der Gang, der zwischen den beiden Sälen entlang führte, mündet hinter diesen in einen weiteren kleinen Raum, der über kein Fenster verfügte. Hier gab es nichts weiter als die Treppe, die nach unten führte. Steinstufen führten nach unten. Holger setzte sich an ihre Spitze. Im Lichtkegel ihrer einzigen Taschenlampe erschien der graue Boden. Gleich anschließend befanden sie sich von vollständiger Finsternis umgeben. Wie zu erwarten, funktionierte das Licht hier nicht. Holger drückte den Kopf zwei Male, aber nichts passierte.
Der bleiche Kegel floss über einen Gang, der zehn Meter von ihnen entfernt endete. Zu beiden Seiten gab es zwei Türen aus Metall. Sie mussten sich in jedem Raum umsehen, um nachher keine üble Überraschung zu erleben. Hinter der ersten Tür links von ihnen fanden sie den Waschraum. Hier wurde nicht nur die Wäsche gewaschen, sondern auch aufgehängt. Nun aber war alles leer, und die Waschküche barg keine Geheimnisse vor ihnen.
"Glaubt ihr, er ist hier unten?", fragte Anna mit leiser Stimme.
"Er muss es wohl. Es sei denn, er ist in den Wald gegangen. Wahrscheinlich ist es besser, wenn wir ihn finden und erledigen", fand Holger.
Die Waschküche brachte keine Erleuchtung, also traten sie vor eine Tür, die ebenso aus Metall bestand, aber viel dicker als die im Gang war. Das Schloss, das es nun nicht mehr gab, war sehr groß, und neben der Tür steckte ein großer Nagel in der Wand.
"Kein Schlüssel", sagte Lucy.
"Muss auch nicht", meinte Holger und drückte die Tür einfach auf.
Dieser Raum stand vollkommen leer, zumindest schien es auf den ersten Blick so. Es gab keine Möbel oder auch nur Schränke, in denen etwas aufbewahrt wurde. Auf den zweiten Blick entdeckten sie etwas auf dem Boden, das kaum auffiel, weil es beinahe genauso grau war wie der Boden selbst. Etwas wurde auf ihm aufgezeichnet, ein Stern mit fünf Ecken, der vorher wahrscheinlich rot gewesen war. An jeder Ecke befand sich ein Zeichen, das seltsam auf Holger und Anna wirkte.
"Die fünf Schlechten", sagte Lucy.
"Fünf Schlechten?", echote Anna.
"Fünf schlechte Eigenschaften, aus denen ein Dämon besteht. Er frisst dein Wissen, er frisst deine Erfahrung, dein Herz, deine Seele, und er frisst deinen Leib. Diese fünf Schlechten", sagte Lucy und bückte sich, um mit den Fingern über den Boden zu streichen. "An den Spitzen werden Kerzen aus rotem Wachs aufgestellt, die das Opfer symbolisieren. Das Opfer selbst kommt erst um, wenn der Dämon erscheint", sagte sie.
"Dämon?", wiederholte Holger.
"Ja, dieses Pentagramm dient der Dämonenbeschwörung. Das Opfer soll ihn besänftigen, weil er gegen seinen Willen beschworen wurde. Er frisst es, aber es muss ein unschuldiges Herz besitzen."
"Wie kommt es, dass du so viel darüber weißt?"
"Ich? Na ja, ich fand das früher mal sehr spannend."
"Verstehe."
"Ja, Blümchen trage ich noch nicht so lange."
"Aber ein Dämon?", fragte Anna.
"Ja, sie haben versucht, einen in diese Welt zu rufen", nickte Lucy.
"Sicher können wir uns darauf einigen, dass das vollkommener Blödsinn ist", sagte Holger.
"Ist es", antwortete Lucy. "Aber es gibt Menschen, die das absolut ernst nehmen, glaubt mir. Ich gehörte übrigens nicht zu denen."
Lucy erhob sich und ging zur Wand, die dem Zeichen am nächsten war. Dort fanden sie noch so eines, auch wenn es wieder schwer zu erkennen war. Dort musste das Opfer angebunden worden sein, sagte sie. Und tatsächlich fanden sie Spuren im Gemäuer. Zwei Mal vier Schrauben steckten einmal in ihm, in der Höhe, in der ein Kind seine Hände haben würde, würde man es hier anbinden.
"Nicht zu fassen", kam es aus Holger. Das also war mit jenen Andeutungen in dem Artikel gemeint, der so spärlich ausgefallen war, und an den er sich kaum noch erinnerte. "Was haben sie ihnen angetan?", fragte er.
"Sie haben es ausgepeitscht, das gehört dazu. Wenn ein Kind seinen Schmerz herausschreit, das ist die Musik in der Welt der Dämonen. So wie bei uns der Wind heulte, so hört man dort das Wehklagen", erklärte Lucy.
"Wer denkst sich so etwas aus?", schüttelte sich Anna.
"Christen, was dachtest du denn?", lächelte Lucy humorlos.
"Sie haben die Kinder hier gefoltert?", vergewisserte sich Holger fassungslos.
"Ja, das haben sie wohl", antwortete Lucy.
"Nicht zu fassen", brummte er.
Den Gang betraten sie wieder durch eine der normalen Türen, die früher aber sicher immer abgeschlossen waren. Auf ihm war alles unverändert. Der Lichtkegel floss nach vorne zur Treppe, aber auch dort hielt sich niemand auf. Sie gingen zu der Tür, die dieser genau gegenüber lag. Holger öffnete sie, während die Frauen ihre Waffen bereit hielten. Aber auch in diesem Fall wurden sie nicht angegriffen.
Wieder handelte er sich um einen leeren Raum, wenn man von dem Steinblock einmal absah, der sich in der Mitte erhob und allen bis zur Hüfte reichte. Früher war er mit roten Zeichen bedeckt, die man nun nur noch bei genauerem Hinsehen feststellen konnte.
"Und was ist das?", fragte Anna unheilvoll.
"Hier vergewaltigen sie das Opfer", antwortete Lucy.
"Wie bitte, vergewaltigen? Aber nicht die Kinder."
"Macht ganz den Anschein."
"Mein Gott."
Sie fanden an den Block montierte Eisenfesseln, die auch für ein Kind geeignet wären. Der Block wirkte, als dürfte man nicht sehr groß sein, um auf ihm Platz zu finden. Holger zum Beispiel konnte auf ihm nicht richtig liegen. Er konnte nicht glauben, was sie hier vorfanden.
"Seht euch diese Wand an, die Farbe ist sogar noch frisch", sagte Anna plötzlich. Das Licht der Lampe folgte ihrem ausgestreckten Finger und erleuchtete ein Bild, wie sie es bereits kannten. System stand unter den miteinander verbundenen Punkten. Neun waren es, wie zuvor. Die Farbe war tatsächlich ganz frisch.
"Wir sind nicht allein hier", stellte Anna fest.
"Ja, aber es gibt nur einen Raum, in der er oder sie sich aufhalten kann", meinte Holger und deutete auf die Tür, die in das einzige Zimmer führte, das sie noch nicht zu Gesicht bekommen hatten. Sie beschlossen, wie die ganze Zeit schon vorzugehen. Holger stellte sich seitlich der Tür und machte sich bereit, sie nach innen aufzustoßen. Die beiden Frauen hielten fünf Meter Abstand ein und zielten. Alle erwarteten, gleich einem von ihnen zu begegnen. Als sie Tür aufschwang, hielten alle die Luft an. Ein Augenblick verstrich, doch niemand kam zum Vorschein.
"Was seht ihr?", fragte Holger.
"Nichts, es ist dunkel", gab Anna zurück.
"Hallo?", rief Holger.
Wieder vergingen einige Sekunden, aber es kam niemand zu ihnen. Holger wagte es und leuchtete den Raum aus, ohne dass mehr als nur seine Hand in der Tür erschien. Hin und her schwenkte er sie, aber die beiden schüttelten nur die Köpfe.
"Da ist keiner", sagte Lucy.
Holger nahm das Gewehr hoch und trat selbst hinein. In der einen Hand hielt er es, in der anderen die Lampe. Einen Augenblick darauf war er sicher, allein zu sein. Hier gab es nichts als einen offenen Schrank, in dem lauter Teufelsmasken aufbewahrt wurden.
"Wo ist er, wenn nicht hier?", fragte sich Anna, als sie herein kam.
"Er ist nicht hier?", wunderte sich Lucy.
"Nein, ist er nicht. Was ist das?", erkundigte sich Holger.
"Teufelsmasken."
"Das sehe ich."
"Sie stellen die Dämonen dar, die gerufen werden sollen."
"Und werden dem Opfer aufgesetzt."
"Genau."
"Abscheulich", brummt Holger. Er hatte genug davon. Hier gab es nichts mehr, was sie sich ansehen konnten. Um sich aber nicht überflüssig in Gefahr zu bringen, blieben sie bei ihrer Strategie. Wieder öffnete er die Tür, worauf die Frauen in die Dunkelheit blickten. Diesmal erklang das bedrohliche Knurren. Aus dem Dunkeln kam es zu ihnen. Einen Moment darauf brüllte ein Mann und stürmte ins Licht. Anna und Lucy schossen gleichzeitig. An zwei Stellen platzte das Gesicht des Mannes auf. Im vollen Lauf fiel er und blieb auf dem Bauch liegen. Durch das Loch in seinem Hinterkopf sah man auf ein verschrumpeltes Etwas, das einmal ein Gehirn gewesen war.
"Ein Problem weniger", nannte Holger das.
"Es tut mir leid, mein Schätzchen."
"Ist ja nicht deine Schuld, Mama."
"Du bist so tapfer. Geht es dir denn schon besser?"
"Ein bisschen."
"Ein bisschen nur?"
"Ja."
"Na ja, das ist wenigstens schon etwas. Ein bisschen."
"Die Kopfschmerzen waren nicht mehr so schlimm."
"Oh, das ist wundervoll. Wirklich?"
"Ja."
"Das ist wundervoll. Weißt du, was der Doktor sagt? Wenn es so weiter geht, braucht es nicht mehr so lange. Er ist dafür, dir jetzt mehr davon zu geben."
"Wovon?"
"Von beidem."
"Ach so."
"Oh, mein Schätzchen. Ich weiß, du magst das nicht, aber es ist das Beste für dich."
"Ich weiß."
"Ja. Machen wir es so?"
"Ja."
"Tut mir leid, dass es schon wieder soweit ist."
"Gut."
"Hach. Du bist so tapfer, mein Junge."
"Fertig."
"Es schmeckt nicht, oder?"
"Nein."
"Sehr schlimm?"
"Nein."
"Gut. Beim letzten Mal hat es dich nicht müde gemacht. Macht es dich nicht mehr schläfrig?"
"Ein bisschen schon."
"Ich bleibe bei dir, auch wenn du eingeschlafen bist."
"Mama?"
"Ja?"
"Wie lange dauert es noch?"
"Nicht mehr lange."
"Wie lange denn?"
"Das weiß der Doktor auch nicht genau."
"Ach so."
"Aber er sagte, es kann nicht mehr lange dauern. Du musst dich erst daran gewöhnen, dann geht es sehr schnell."
"Sehr schnell?"
"Ja. Wer weiß, vielleicht ist es morgen schon vorbei."
"Morgen schon?"
"Ja, aber nur vielleicht. Es dauert höchstens drei Tage, länger braucht es nie."
"Ach so. Gut."
"Solange hältst du es noch aus, nicht wahr, mein Schätzchen?"
"Ja."
"Möchtest du etwas lesen?"
"Nein."
"Wirklich nicht? Dein Pad liegt auf dem Tisch. Du magst doch die Pastnotes. Die heißen die so, oder?"
"Ja."
"Weißt du, das ist schon eine merkwürdige Vorstellung, dass sie früher selbst gefahren sind. Das muss man sich mal vorstellen, kein Wunder, dass es immer Unfälle auf den Straßen gab."
"Die Menschen sind sogar geritten."
"Geritten? Worauf denn?"
"Auf Pferden."
"Na ja."
"Auf echten."
"Wirklich? Du weißt eine ganze Menge darüber, aber jetzt ruh dich ein bisschen aus. Möchtest du die Augen nicht schließen?"
"Ja."
"Schön. Ich bin bei dir, mein Schatz, du bist nicht allein."
Der Nebel setzte ein, sowie sie sich alle im Speisesaal befanden. Gerade noch bekamen sie die Zeit, den ganzen Proviant dorthin zu schaffen. Der Matsch im Bus begann schon derart zu stinken, dass man es kaum noch ertragen konnte. Alle waren froh, sich endlich wieder an einem halbwegs normalen Ort aufzuhalten. Neben den Nahrungsmitteln hatten sie mehrere Packungen Kerzen dabei, von denen sie nun einen Teil anzündeten. Sie rückten die Tische zurecht, so dass sie alle beieinander schlafen konnten. Um nicht auf dem nackten Boden zu liegen, holten sie mehr als zehn Matratzen von oben und verwandelten einen Teil des Saals in eine weiche Landschaft. Dazu kamen Decken, für jeden eine.
Der Junge, dessen Namen sie nicht kannten, setzte sich auf einen Punkt und rührte sich nicht von diesem. Sein Gesicht war wie immer bar jeden Ausdrucks, ganz im Gegensatz zu den Augen, die hellwach und klug schienen. Er sprach nicht und reagierte kaum auf Ansprache. Aber er trank und aß etwas, als Anna ihm etwas brachte.
David setzte sich mal wieder von allen ab. Er saß lieber an einem der Tisch und wandte ihnen den Rücken zu, während er in die bleiche Suppe nach draußen starrte. Auf seinem Schoß lag sein Gewehr, ohne das er keinen Schritt mehr ging. Er wollte es im Arm halten, wenn er sich schlafen legte.
"Was ist mit der Nachtwache?", fragte Holger, als sie fast alle zusammen saßen.
"Ich übernehme die erste. Vier Stunden, dann bekomme ich auch noch was von der Nacht", bot sich Anna an.
"Gut, dann übernehme ich die zweite Hälfte", machte es Holger rund.
Damit war die Sache geregelt. Sie beschlossen, dass die Wache sich vor einem Fenster postieren sollte. Wahrscheinlich löste sich der Nebel schon bald wieder auf, so dass man einen freien Blick vor das Haus bekam. Wenn sich etwas nähern sollte, mussten sofort alle geweckt werden.
Es dauerte nicht mehr lange, dann stellte sich die Nacht ein. In diesem Fall bedeutete, sich bettfertig zu machen, sich einfach unter die Decke zu legen und die Augen zu schließen. Einige von ihnen schliefen auch ganz ohne, weil es so heiß war. In dem Fall drehten sie sich einfach auf die Seite und versuchten, etwas Schlaf zu finden. Nur Anna blieb auf dem Posten. Der Nebel löste sich tatsächlich nach einer Weile auf. Wieder verschwand er so schnell, dass man es nicht glauben wollte, und plötzlich war sie Sicht frei. Der Mond schien bleich und tauchte alles in eine Leichendecke. Aus dem Fenster ging ihr Blick über den Platz, auf dem noch immer die beiden Autos standen.
Alle befanden sich auf dem Weg in den Schlaf, als es plötzlich so laut, dass sie alle aufschreckten. Holger und David griffen nach den Gewehren und sahen sich um. Es war ein durchdringender Krach, den sie sich nicht erklären konnten, und der nach einer Sekunde schon wieder verstummt war.
"Scheiße. Was war das?", sagte David feindselig.
Das war eine wirklich gute Frage, denn keiner von ihnen war in der Lage, dieses Geräusch richtig einzuordnen. Schwer war es und laut und seltsam. Und es erklang von allen Seiten gleichzeitig, als wäre es überall um sie herum.
"Was war das?", fragte David noch einmal. Gleich flippte er aus und schoss wild um sich.
"Ganz ruhig", sagte Holger.
"Hier ist jemand."
"Klang das wie ein Schritt für dich?"
"Was soll es sonst sein?"
"Ich weiß auch nicht, aber ganz sicher war es keine Person", sagte Holger. Gleich darauf gab er Anna ein Zeichen, so dass sie auf ihrem Posten blieb. Dann ging er zum Ausgang und fand sich in die Diele wieder. Hier aber hielt sich neben ihm niemand auf. Er ging in den kleinen Raum und sah sich dort um. Danach sah er in den beiden Schlafsälen nach, konnte aber auch in denen nichts finden. Anschließend kam er zurück.
"Was?", fragte David angespannt.
"Nichts."
"Nichts?"
"Nein, hier unten hat sich nichts verändert."
"Kann aber nicht sein, verdammte Scheiße."
Holgers Blick ging auf den Jungen ohne Namen. Der Kleine zeigte mit dem Finger in eine Richtung, in der nichts als die Wand zu sehen war.
"Die Wand?", fragte Holger, erhielt aber keine Antwort. Er ging zu genau dieser Stelle, um es sich anzusehen. Es hatte sich doch etwas verändert, obwohl Holger es nicht gleich verstand. Die Tapete war merkwürdig gewellt. Einen Moment darauf hatte er es begriffen.
"Es gibt keinen Mörtel mehr", sagte er.
"Keinen Mörtel?", wiederholte Lucy.
"Ja, es gibt keinen mehr. Aber ganz offensichtlich macht es keinen Unterschied", sagte Holger und legte sich wieder hin.
"Und wenn dieser Scheißbau über uns zusammenbricht?", fragte David.
"Das wird er nicht", versprach ihm Holger. Damit drehte er sich auf die Seite und schloss endlich die Augen.
David brauchte eine Weile, bis er sich abgeregt hatte und selbst zur Ruhe kommen konnte. Er schlief als Letzter ein. Übrig blieb nur Anna, die vier lange Stunden vor sich hatte. Das alles erinnerte sie an ihre Zeit als Streifenpolizistin. Wenn man in der Kälte in einem Bus vor einem Haus stand, in dem jemand ein Treffen abhielt, auf den nicht jeder in diesem Land Wert legte. Nur dass es nicht so kalt war. Die Hitze war allerdings auch nicht besser. Was das Wachbleiben anging, so bekam sie keine Probleme damit. Das wunderte sie selbst ein wenig, denn die Zeiten im Streifendienst waren lange vorüber und dauerten auch nicht wirklich lange.
Anstrengend war es trotzdem, weil ihre Konzentration in keinem Augenblick nachlassen durfte. Sie behielt alles von dem Haus im Auge, aber wie man vermuten konnte, ließ sich niemand blicken. Sie überlegte, wie viele Überlebende es überhaupt noch waren. Das war die eine Frage, die andere war, was aus der Welt wurde. Wenn es nicht aufhörte, was blieb dann überhaupt noch?
Ihre Wache war beinahe vorüber, als sie etwas zu sehen glaubte. Hinter einem der Bäume erschien ein Kopf. Jemand beobachtete sie. Anna wartete, ob er sich bewegte, aber der Kopf blieb genau dort, wo er herausgekommen war. Dabei lag er soweit im Dunkeln, dass sie nicht richtig sagen konnte, um wen es handelte. Es konnte ein Mann oder eine Frau sein oder gar ein Kind. Sie konnte es nicht bestimmen.
Anna schaltete die Taschenlampe an und sah ihn für einen kurzen Augenblick. Ein Junge, zehn Jahre etwa, der erschrocken seinen Kopf zurückzog. Dann war er verschwunden. Anna lief zu Holger und rüttelte ihn wach. Der glaubte, seine Wache hätte begonnen, sie aber sagte ihm, dass sie nach draußen musste, sie hätte jemanden gesehen. Er verstand nicht, aber sie war schon auf dem Weg.
Draußen war der Junge nicht zu sehen, aber sie wusste, hinter welchem Baum er sich versteckt hatte. Zu dem lief sie und sah hinter ihm nach. Aber er war verschwunden. Ihr Blick ging herum, doch er war nicht mehr zu sehen. Anna ging geradeaus, weil sie glaubte, er würden diesen Weg genommen haben. Scheinbar fürchtete er sich vor ihr, obwohl sie alle Menschen waren. Niemand konnte wissen, was er erlebt hatte, unter Umständen stand er unter Schock. Sie ging durch den Wald zwischen den eng beieinander stehenden Bäumen entlang. Ihre Schritte knirschten auf dem Untergrund, aber sonst konnte sie nichts hören. Zügig kam sie voran, doch der Junge schien nicht mehr aufzutauchen. Dann aber hörte sie doch etwas genau vor sich.
"Hallo?", sagte sie, nicht allzu laut. "Du musst keine Angst haben, ich bin keiner von ihnen. Ich bin ein Mensch, genau wie du." Sie glaubte, er stand hinter dem Baum, den sie genau vor sich hatte, aber er antwortete nicht. "Niemand wird dir etwas antun", sprach sie weiter. "Ich komme jetzt herum, aber ich werde dir nichts tun. Ich möchte nur mit dir sprechen", sagte sie. Dann trat sie in einigem Abstand um den Baum und sah ihn vor sich. Ein Junge mit femininen Zügen. Er starrte sie aus runden, erschrockenen Augen an.
"Du musst dich nicht fürchten", sagte Anna noch einmal. Das aber schien ihn nicht zu beruhigen. Der Junge zitterte vor Angst.
"Kommst du aus dem Städtchen?", fragte sie.
Er nickte, blieb aber stumm.
"Dort haben sich alle verwandelt."
Noch ein Nicken.
"Auch deine Eltern."
Er nickte.
"Das ist schrecklich. In diesem Haus sind noch andere wie du. Zwei von ihnen haben ihre Eltern auch verloren. Wir haben uns zusammengetan, weil es so sicherer ist. Weißt du was? Du solltest auch in Sicherheit sein", schlug Anna vor.
"Nein", schüttelte er den Kopf.
"Du musst dich nicht fürchten, wir sind alle wie du."
"Nein, ich möchte nicht."
"Aber du solltest", lächelte sie. "Du bist ganz allein, und diese Wesen sind überall."
"Ja, sie sind auf dem Weg hierhin", sagte er.
"Hast du sie gesehen?"
"Sie kommen, ich habe sie gesehen", prophezeite er.
"Wie viele sind es?"
"Alle."
"Alle? Du meinst, aus dem Städtchen."
Er nickte.
"Komm! Wir müssen zurück", sagte Anna. In genau diesem Augenblick warf er sich herum und rannte, so schnell es zwischen den Bäumen ging. Und schon war er verschwunden. Anna brauchte nur einen Moment, um ihre Prioritäten zu ordnen. Auch sie lief, so schnell es unter diesen Bedingungen ging, aber in die andere Richtung. Als sie den Platz erreichte, war noch alles unverändert. Sie rannte über ihn und kam zu den anderen. Sie rief, alle sollten aufwachen. Ihr Schlaf war so oberflächlich, dass sie alle sofort wach waren. David schlief wirklich mit dem Gewehr im Arm, er richtete es gleich irgendwohin, weil er annahm, dass sie angegriffen wurden.
"Keine Zeit für Erklärungen. Sie sind auf dem Weg hierher", sagte Anna.
"Hast du mit jemandem gesprochen?", wunderte sich Lucy, noch halb verschlafen.
"Wir sprechen später. Nehmt eure Waffen, für alles andere ist keine Zeit mehr. Los, in den Bus!", gab sie zurück.
Holger verstand nicht, warum sie auf dem Weg hierhin sein sollten. Immerhin konnten sie sich nicht denken, dass jemand sich hier verkrochen hatte, denn denken konnten sie überhaupt nicht. Er nahm nicht an, dass sie einem Instinkt folgten. Er legte sich Jens auf die Schulter.
"Ich wusste es", sagte Anna, indem sie den Jungen ohne Namen hochhob und auf den Arm nahm.
"Aaah!", kam es aus ihm.
"Tut mir leid, aber es geht nicht anders", sagte ihn und trug ihn zum Ausgang hinaus. Alle anderen folgten ihr. Keiner wusste genau, was sich zugetragen hatte, aber sie beeilten sich. Draußen war noch alles ruhig, aber das musste nicht so bleiben. Es gab nur den einen Weg, den sie nehmen konnten. Sie stiegen in den Bus, und gleich darauf startete Holger den Motor. Sie rollten los und fuhren den engen Weg entlang. Es war noch immer dunkel, so dass sie nichts als den Weg selbst und den Waldsaum zu beiden Seiten sahen. Die Bäume wurden zu einer unscharfen Masse, die in ständiger Bewegung war.
"Du hast mit jemandem gesprochen", sagte Holger.
"Natürlich", gab sie zurück. Wie immer saß sie vorne neben ihm.
"Mit wem?"
"Ein Junge."
"Wo ist er?"
"Er ist weggelaufen."
"Warum?"
"Keine Ahnung, wahrscheinlich hatte er Angst", sagte sie. Anna war schon wieder im Augenblick. In diesem Moment fuhren sie ihnen entgegen, falls sie nicht alle auf dem Weg durch den Wald waren.
"Bist du sicher, dass man diesem Jungen glauben kann?", erkundigte sich Holger.
"Nein", gab sie zurück.
"Welcher Junge?", fragte Lucy, die in diesem Augenblick zu ihnen kam.
"Später", sagte Anna.
Holger fuhr so schnell wie möglich, obwohl das bedeutete, dass sie durchgeschüttelt wurden. Der Weg war nicht asphaltiert und das Gegenteil von eben. Auf diese Weise verursachte das Klappergestell mehr Lärm, als es sonst der Fall wäre. Alle erwarteten in jedem Moment, dass sie vor ihnen auftauchten, doch es ließ sich niemand blicken.
Anna hatte ein richtig schlechtes Gefühl bei der Sache. Ihr war, als konnte ihre Flucht nicht gelingen. Dabei wusste sie selbst nicht genau, warum ihr das so erschien, aber ihr war so. Ein Gefühl, das sich wie eine Gewissheit anfühlte. Als stünde es bereits geschrieben, aber sie wussten es noch nicht.
"Es geht nicht gut", sagte sie mit leiser Stimme.
"Bis jetzt ist nichts passiert", erwiderte Lucy.
"Wir schaffen es nicht", beharrte Anna.
"Warum bist du so sicher?"
"Ich weiß nicht. In diesen Filmen ist es immer so. Man kann nicht entkommen."
"In diesen Filmen?", lächelte Holger. Das konnte jetzt aber nicht ihr ernst sein, dachte er.
"Man kann nicht entkommen", wiederholte Anna.
Holger war ganz sicher, dass sie entkommen konnten, denn wenn jetzt einer oder seinetwegen auch mehrere von ihnen auftauchten, überfuhr er sie einfach. Ganz sicher wollte er es nicht auf einen Kampf ankommen lassen, aber das war auch nicht nötig. Er wollte sie einfach platt machen, das sollte mit dem Bus gar kein Problem darstellen.
Hinter der nächsten Kurve mussten sie so abrupt stoppen, dass es gut war, dass alle hinten saßen. Plötzlich standen sie und starrten auf einen Baum, der mitten auf dem Weg lag.
"Was ist das denn?", kam es verdattert aus Holger.
"Wir entkommen ihnen nicht", sagte Anna leise und unheilvoll.
"Mist", sagte Holger und legte den Rückwärtsgang ein. Auf diesem Weg konnten sie unmöglich wenden, das kam unter keinen Umständen in Frage. Nun aber mussten sie rückwärtsfahren, um zurück ins Heim zu gelangen. Ein Stück fuhren sie, als die ersten Zombies sich aus dem Dunkel vor ihnen schälten. Sie waren tatsächlich auf dem Weg zu ihnen. Diesmal rannten sie aber nicht los, als sie die Menschen erblickten, sondern gingen ruhig ihren Weg. Sie kletterten über den Stamm und gingen weiter auf dem Weg.
Holger hatte alle Hände zu tun, sie rückwärts über diese geschlängelte Buckelpiste zu manövrieren. Zum Glück gab es Rückspiegel noch, sonst hätten sie jemanden nach draußen schicken müssen, um sie zu dirigieren.
"Warum lag dieser verfluchte Baum im Weg?", brummte Holger.
"So was passiert eben", sagte Lucy gepresst.
"Nein. Wir können nicht entkommen", flüsterte Anna.
"Wir sollten nicht in diesen Bau zurück. Wenn wir ihn erreicht haben, laufen wir in die andere Richtung durch den Wald", sagte Lucy.
"Das geht nicht", sprach Anna wie zu sich selbst.
"Was? Warum geht das nicht?", fragte Lucy.
"Weil wir nicht entkommen können. Sie kommen von allen Seiten."
"Was? Warum bist du so sicher?"
"Ich habe es durchschaut, Lucy. Wir sollen sterben."
"Was?", kam es aus Lucy. Sie verstand kein einziges Wort.
Holger schaffte es in einer halbwegs guten Zeit, eine Weile, bevor ihre Verfolger auch zum Heim gelangten. Sie stellten den Bus ab und rannten zurück. Wenn die Zombies wirklich von allen Seiten kamen, konnten sie das Haus niemals effizient verteidigen, solange sie unten waren. Sie versammelten sich im Speisesaal, machten sich aber bereit, ihn gleich wieder zu verlassen. Mit den Gewehren postierten sie sich vor den Fenstern und sahen über den Platz.
Draußen war es totenstill und nichts rührte sich. Sie waren auf dem Weg, aber noch kamen sie nicht hervor.
"Das Licht!", sagte Holger.
Lucy und David gingen einmal schnell herum und löschten die letzten Kerzen. Danach kamen sie zurück und nahmen ihre Positionen ein.
"Der arme Junge", sagte Anna leise.
"Wir können nichts mehr für ihn tun", gab Holger zurück.
"Sie haben ihn gefressen. Er kann es nicht geschafft haben."
"Du hast Recht. Jetzt konzentrieren wir uns auf diese Kreaturen."
"Ja."
Nach diesem kurzen Wortwechsel wurde es still. Keiner sprach mehr, alle starrten nach draußen.
"Er schläft jetzt."
"Das ist gut. Es muss viel für ihn sein."
"Ja, aber es ist gut, dass Sie bei uns sind, Doktor."
"Wir stehen noch ganz am Anfang. Wir lernen viel aus diesem Fall."
"Natürlich."
"Um ehrlich zu sein, es funktioniert nicht in jedem Fall. Es ist ein Rätsel, aber manchmal können wir nicht helfen. Bei ihm stehen die Vorzeichen allerdings ausgesprochen gut. Wenn es gelingt, stellt sich der Verlauf immer genau in dieser Weise dar."
"Also kommt er durch."
"Bitte. Es ist noch zu früh, um es mit Bestimmtheit zu sagen. Die Chancen stehen gut, aber ich kann mich in dieser Sache nicht festlegen."
"Natürlich."
"Es ist wichtig, dass er sich nicht fürchtet. Er darf nicht das Gefühl haben, dass die Welt untergeht, sollte es fehlschlagen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass das den Verlauf ungünstig beeinflusst."
"Ich verstehe."
"Er muss wissen, dass in jedem Fall jemand da ist, der ihn festhält.
"Das weiß er."
"Sehr gut."
"Sie sagten, er sei anders als alle anderen vor ihm."
"Ja, aber damit habe ich nicht direkt ihn gemeint. Mehr seine Situation, die Umständen, das macht ihn besonders. Was ihn angeht, ist er nicht weiter auffällig. Ich hatte es schon mit vielen wie ihm zu tun und meist ist es gut ausgegangen."
"Ich hatte immer den Eindruck, bei ihm ist es besonders hartnäckig. Das treibt mich regelrecht um."
"Das verstehe ich, aber Ihre Sorge ist unbegründet."
"Er sagte, es hätte nur ein bisschen geholfen."
"Das ist vollkommen normal. Wirklich, es beginnt immer eher verhalten. Dann aber geht es relativ schnell. Ich denke, auf diesen Anfangserfolg können wir aufbauen."
"Ich mache mir solche Sorgen."
"Das verstehe ich, aber vielleicht hilft ihnen eine Einsicht. Der Prozess läuft jetzt, und wir können ihn nicht mehr wesentlich beeinflussen, wenn man von der psychologischen Ebene einmal absieht. Ihre Sorgen ändern nichts."
"Ja, das dachte ich mir schon. Ich wünschte nur, ich könnte etwas für ihn tun."
"Das können Sie. Geben Sie ihm das Gefühl, dass er nicht allein ist. So viele gute Geister sind auf seiner Seite, ich hoffe, er weiß das."
"Er weiß es."
"Gut. Dann haben Sie alles getan, was möglich ist."
"Gut. Er hat mich gefragt, wie lange es noch dauert."
"Ein Tag, höchstens zwei. Länger dauerte es nie."
"Das habe ich ihm gesagt."
"Das ist gut. Sie wissen, warum es die Stauschau in den Großstädten gibt. Wenn man weiß, dass es ein Ende hat, wird man nicht verrückt."
"Ich verstehe."
"Sie machen es gut, aber wollen Sie sich nicht auch ein wenig Ruhe gönnen? Es wäre gut, wenn Sie wach wären, wenn wir in die entscheidende Phase eintreten."
"Ja. Danke, Doktor."
Sie schossen auf die tote Brut, als sie zwischen den Bäumen erschien. Die meisten Schützen hatten vor wenigen Stunden erst erfahren, wie man richtig zielte, also trafen sie nicht immer. Das Ziel war immer der Kopf. Anna schoss einem von ihnen in die Stirn, worauf er mit einem Stöhnen zu Boden ging. Noch musste sie nicht nachladen. Sie zielte wieder und ließ einen der Köpfe platzen. Die anderen benötigten meist zwei Anläufe, um einen von ihnen zu erledigen. Die Toten strömten immer weiter aus dem Dunkel und kamen zu ihnen. Was aus dem Brüllen und den rennenden Bestien geworden war, konnten die Überlebenden nicht sagen, aber in diesem Fall gingen sie langsam. Dabei hielten sie alle vor einer unsichtbaren Linie an. Die Menschen schossen in ihre Reihen, doch wann immer einer von ihnen niederging, erschien ein anderer an seiner Stelle. Auf diese Weise konnten sie sie nicht aufhalten, aber noch kamen sie nicht näher.
Einhundert Zombies in etwa waren aufgebrochen, die sich aus allen Richtungen näherten und einen undurchdringlichen Kreis um das Heim bildeten. Indem sie diesen Kreis bildeten, hielten sie inne und blieben vollkommen still. Keiner brüllte, keiner schrie, und keiner von ihnen verzog sein Gesicht zu einer kranken Maske. Die Menschen schossen noch mehr von ihnen nieder, das aber schien sie überhaupt nicht zu stören. Vor ihnen stand eine tote Wand, die sie niemals überwinden konnten.
Nach einer Weile stellten sie das Feuer ein, denn es schien keinen Unterschied mehr zu machen.
"Was machen die denn da?", fragte Lucy.
"Sammeln für den Generalangriff", fand Holger.
"Die können wir nicht aufhalten, Scheiße", kam es aus David.
Die graue Wand aus milchigen Augen und knöchernen Gestalten, knöchernen und stinkenden Gestalten setzte sich überall gleichzeitig in Bewegung. Jetzt brüllten sie und rannten so schnell, wie es Menschen nicht möglich war.
"Rückzug!", rief Holger.
"Abmarsch!"
"Nach hinten, los."
"Aaah!"
"Los, los, los!"
"Nach oben, nicht drängeln!"
"Sie sind im Flur."
"Nicht umdrehen, los, nach oben!"
"Ich gebe euch Deckung."
"Schneller!"
Der erste Zombie rannte durch die Diele, dann fiel ein Schuss. Sein Kopf ruckte zurück, als ein Stück aus seiner Stirn herausspritzte. Staub und Kochen spritzten heraus, aber keine Flüssigkeit.
"Los weiter!"
"Kommt, macht schon."
"Wir sind oben."
"Nein, ganz nach oben, ins zweite Stockwerk."
"David, gib mir dein Gewehr und lade meines nach!"
"Was?"
"Lad meines nach!"
"Na klar."
"David!"
"Arschloch."
"Lucy. Dein Gewehr!"
"Hier."
Der zweite von ihnen wurde mitten ins Gesicht getroffen. Die Kugel riss ein Stück seines Hinterkopfs heraus. Er stürzte neben den ersten, doch der dritte war schon auf dem Weg.
"Wir sind oben!"
"Los, wir gehen auch."
"Schnell!"
"Wo sind sie?"
"Ganz oben."
"Mist. Da stecken wir in der Falle."
"Sie sind hinter uns."
"Mach schon."
"Da sind Sie!"
"Hinlegen!"
"Sie sind genau hinter uns."
"Scheiße!"
"Hinlegen, verflucht!"
Holger und Lucy warfen sich auf den Boden, und sofort wurde das Feuer eröffnet. Zwei von ihnen schlugen hart auf, aber von unten hörte man schon das Kreischen und die schnellen Schritte. Mehr von ihnen waren auf dem Weg.
"Los, kommt zu uns!"
"Aufstehen, was ist denn?"
"Mein Fuß. Er ist verstaucht."
"Komm schon."
"Geh vor, Holger.“
"Bist verrückt geworden?"
"Sie kommen."
"Sieh dich nicht um!"
Holger sah den nächsten kommen und schoss ihm in den Kopf. Der Zombie kam gerade erst die Stufen hinauf und war noch nicht ganz erschienen, da schlug die Kugel in seiner Stirn ein. Er kippte rückwärts und verschwand aus ihrem Sichtfeld. Holger stand noch immer auf der Stelle, während Lucy auf dem Weg zu den anderen war, die eine Linie bildeten und bereit waren, das Feuer zu eröffnen. Lucy humpelte mühsam in ihre Richtung. Holger warf sein Gewehr fort und nahm sich das, das Lucy für ihn zurück gelassen hatte. Mit dem schoss er dem nächsten Zombie in den Kopf, dann erst drehte er sich um und rannte zurück.
"Kommt schon, beeilt euch."
"Ich kann nicht schneller."
"Beiß die Zähne aufeinander!"
"Ich versuche es."
"Noch nicht schießen!"
"Sie kommen!"
"Scheiße, da sind sie."
"Komm schon."
"Ich schieße."
"Du schießt nicht, du Schwachkopf!"
"Die kriegen uns."
"David!"
"Wir sind gleich da."
"Macht zu!"
"Gleich."
"Los, du dämliche Schlampe, beweg deinen fetten Arsch!"
"Noch nicht schießen!"
"Los!"
"Nicht schießen!"
"Los doch!"
"Jetzt! Alle!"
Ein mehrfaches Krachen erschütterte die Luft. Gleich darauf wurde es still.
"Heilige Scheiße."
"Nachladen, Beeilung!"
"Da kommen sie. Ich höre sie."
"Nachladen!"
"Den entkommen wir nie."
"Kannst du nicht endlich mal die Klappe halten?"
"Wir gehen drauf."
"Mach dich nützlich, du Enterhaken, hinten, die Falltür in der Decke!"
"Sie kommen."
"Keine Panik. Keiner darf durchkommen."
"Fertig."
"Da!"
"Lass sie kommen."
"Scheiße, stinken die."
"Langsam, noch nicht."
"Jetzt!"
Gleich vier von ihnen gingen zu Boden, doch von unten waren schon die nächsten auf dem Weg.
"Nachladen!"
"Scheiße, Munition."
"Hier."
"Danke."
"Mach zu!"
"Ich finde das Ding nicht, mit dem man die Falltür runter holt."
"Dann streck dich halt!"
"Fertig."
"Feuer!"
Ein paar Köpfe platzten und wenn das nicht, wurden Stück aus ihnen gerissen.
"Nicht nachlassen!"
"Geht nicht mehr lange so."
"Nicht reden, machen!"
"Die Falltür ist unten, die Falltür ist unten."
"Lucy zuerst, alle anderen halten die Stellung."
"Da sind sie schon wieder. Hässliche Söhne."
"Worauf wartet ihr?"
"Lucy zuerst!"
"Scheiße, ich bin weg."
"Lucy?"
"Ich bin auf den Stufen. Eine Sekunde."
"Feuer!"
"Boah, habt ihr das gehen?"
"Weiter! Nicht nachlassen!"
"Bin oben."
"Anna und der Junge! Schnell!"
"Aaah!"
"Da kommen sie."
"Jetzt!"
Wieder krachte es, und zwei von ihnen rollten über den Boden. Zwischen ihnen und der Treppe lagen sie.
"Sind oben."
"Feuer!"
"Scheiße."
"Du hast ihn getroffen."
"Ekelhaft."
"Jetzt wir!"
"Alle?"
"Schaffen wir. Los los!"
"Ja."
"Schnell, du zuerst, los."
"Scheiße."
"Was?"
"Munitionsschachtel. Hab sie liegen lassen."
"Toll. Los, mach schon!"
"Sie kommen."
"Los."
"Worauf wartest du, du auch!"
Sie schafften es, stellten oben aber fest, dass sie die Treppe nicht wieder einklappen konnten. Unten trampelten die Schritte, die sich ihnen schnell näherten. Holger zielte auf den Ausgang. Als der erste Kopf erschien, verpasste er ihm eine Kugel. Der Zombie rutschte nach unten, aber sofort war noch einer auf dem Weg nach oben. Es war abzusehen, dass sie es auf diese Weise nicht schaffen konnten. David erschoss einen, dann bekam Holger Madeleines Gewehr und immer so weiter.
"Kacke. Das überleben wir nicht", stieß David gepresst aus. Vom Dach gab es kein Entkommen mehr. Es gab keine Leiter, auf der sie nach unten kommen konnten. Die Zombies befanden sich nun alle im Gebäude, sie mussten überall sein. Noch einer stieg nach oben, den Anna erledigte. Danach blieben noch zwei Kugeln im Ganzen. Es war vorüber.