16

 

 

 

Eine überraschend große Anzahl von Menschen war auf der Straße, doch Boyd widmete ihnen kaum Aufmerksamkeit. Er nahm kaum zur Kenntnis, wenn er von kleinen Grüppchen zur Seite gedrängt wurde. Im Falle von Gewalt gegen seine Person hatte Buckel-Pete ihm einige wirksame Verteidigungsmaßnahmen beigebracht. „Männer wie ich müssen lernen, auf sich aufzupassen“, hatte er gesagt. „Wir können uns nicht wie andere auf unsere Kraft verlassen.“ Boyd hatte schnell gelernt, und seine gestärkten Muskeln gaben ihm eine zusätzliche Beruhigung. Er war zwar gegen Smith unterlegen, doch hier waren Messer und Knüppel die einzigen Waffen, ein paar Galgenvögel verwendeten Stricke. Boyd bewegte sich fast so ungezwungen, wie er das auf einer marsianischen Straße getan hätte. Ein- oder zweimal fühlte er abschätzende Augen auf sich ruhen, doch er schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit; und diese Augen wandten sich, vielleicht wegen seiner Selbstsicherheit, leichteren Zielen zu. Es war ein Gefühl der Überlegenheit, das Boyd immer genoß, wenn er daran dachte.

Schließlich wurde die Menge so dicht, daß er kaum noch passieren konnte. Es handelte sich um den Zustrom zu einer weiteren Veranstaltung des Blinden Stephan, wobei dieser Zustrom offensichtlich gerade seinen Anfang nahm. Er drehte sich um und suchte nach einem Weg, der ihn um die Ansammlung herumführen könnte. Hinter sich hörte er schlurfende Schritte und ein klopfendes Geräusch.

„Guten Abend“, sagte er leise. Das Klopfen hatte seinen Verfolger identifiziert.

Der Blinde Stephan stellte sich vor ihn hin und wartete. Sein kahler Schädel schimmerte im Licht der Straßenlaternen, und er schien einen Heiligenschein um den Kopf zu haben. „Guten Abend, Boyd Jensen“, antwortete er mit ebenso leiser Stimme. „Nun kennen wir einander. Sie gehen nicht wie jemand, der auf der Erde aufgewachsen ist, und mich verrät mein Stock. Gut. So kennen der alte, blinde Moses und der leichtfüßige Joshua einander endlich – aber dieses Mal haben wir uns wohl mehr zu sagen. Nein, nein, keine falsche Eile. Ich kann warten. Ich kann warten, bis Sie gegen die vergebliche Rebellion rebellieren und nicht mehr gegen die Sache eingestellt sind, die Sie eigentlich suchen. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, werden wir Zeit haben für ein größeres Verständnis. Aber sagen Sie mir nur eines: Kann die Pest bezwungen werden?“

„Ich arbeite nicht an Ihrer australischen Pest“, protestierte Boyd.

Der große Kopf verbeugte sich und nahm dann wieder seine vorherige Position ein, die blicklosen Augen musterten Boyds Gesicht. Das Lächeln wurde tiefer. „Ich habe nicht nach Ihrer Arbeit gefragt, Boyd Jensen. Kann die Pest bezwungen werden?“

Einen Augenblick lang wollte Boyd bestreiten, jemals Berichte über die Pest und das benötigte Serum gehört zu haben. Aber das war zwecklos. Der Fehler in der Theorie über das Serum war so offensichtlich, daß man es nur noch seinem eigenen Hintergrundwissen zuschreiben konnte, weshalb nur er ihn sah und die anderen nicht.

„Ich glaube ja – vielleicht sogar vollkommen“, antwortete er.

„Dann habe ich nicht länger Furcht. Wir werden triumphieren, sowohl über die Pest als auch über die Asiaten“, sagte Stephan. Er wollte sich gerade abwenden, verharrte jedoch, als Boyd ihm Epsteins Botschaft übermittelte. Er nickte lächelnd, dann hob er seinen Krummstab ein wenig. „Gute Nacht.“

Boyd sah zu, wie die Gestalt langsam weiter die Straße hinabschritt, gemächlich, aber festen Schrittes, während die Menge beiseite wich, um ihn durchzulassen. Irgendwie war er selbst im dichtesten Gewühl deutlich sichtbar.

Erschauernd und doch mit einem seltsamen Hochgefühl, wandte Boyd sich seines Weges. Warum nicht? Er konnte sich dem Kreuzzug anschließen und alldem entkommen. In ein neues Land mit genügend Platz gehen. Und wenn es zum Krieg mit den bereits Anwesenden kam, dann war das ein Krieg des Geschicks und der Muskelkraft gegen einen persönlichen Widersacher. Oder ein Krieg gegen die Pest, ein Krieg für zukünftige Generationen.

Er riß sich brutal von diesem Gedanken los. Es wäre auch ein Land, wo das elfte Gebot vorherrschend sein würde, mehr sogar als sonstwo, regiert von einem Fanatiker, der die Saat des Katholizismus noch weitaus mehr über das Land ergießen wollte, als das hier der Fall war.

Er war fast bei seiner Tür angekommen, als er die Rikscha sah, daneben Harry und Buckel-Pete, die sich über irgend etwas beugten. Die Nachricht vom Erscheinen des Blinden Stephan hatte die Straßen fast leer gefegt, die beiden Männer waren deutlich zu erkennen. Boyd eilte ihnen entgegen, und in diesem Moment hoben sie gerade eine schlaffe Gestalt aus der Rikscha. Es war die Gestalt Ellen Serkins, wenn auch fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Ihr Gesicht war schmal, das, was von dem Kleid noch übrig war, hing lose herab. Ein Ärmel war abgerissen, am Rücken hatte sie einen langen Kratzer. Sie war schmutzig, ihr Haar halb offen und klebte an ihrem Gesicht. Doch noch im Vorwärtsstürzen sah er, daß sie atmete.

Er fing sie aus Harrys Armen auf und wandte sich zur Treppe. „Was ist denn geschehen?“

Harrys Stimme echote in der weitläufigen Halle. „Ich fuhr von einem späten Ausflug nach Hause zurück und nahm gegen meine Gewohnheit einen anderen Weg. Ungefähr drei Blocks weiter sah ich eine taumelnde Gestalt. Sie fiel, versuchte wieder aufzustehen und wollte schließlich auf den Knien kriechen. Dachte zuerst, sie wäre überfallen und niedergeschlagen worden, aber sie hat nur ein paar Kratzer. Als ich sah, wer es war, stieß ich einen Schrei aus, wonach sie aufblickte. ‚Hallo, Harry’, sagte sie. ‚Ich bin auf dem Heimweg’. Dann kippte sie um, daher habe ich sie hierhergebracht und mich nach Ihnen umgesehen. Sie sieht hungrig aus, wenn ich das mal so sagen darf.“

Sie sah wirklich hungrig aus und außerdem vollkommen erschöpft. Buckel-Pete schnappte das Geld, das Boyd ihm gab, nachdem sie das Mädchen auf eine Couch gelegt hatten, und rannte sofort los, um das nächste Geschäft zu suchen, das nachts offen hatte. Harry fand Wasser und einen Stoffetzen und begann, ihr sanft wie eine Krankenschwester Gesicht und Arme zu reinigen. Boyd ging nervös auf und ab, bis das Essen kam.

„Wird sie wieder gesund werden?“ fragte Harry zum fünfzigsten Mal.

Boyd löffelte Brühe und ein heißes, süßes Getränk zwischen ihre Lippen. Er fühlte ihr noch einmal den Puls „Sie wird wieder gesund werden. In einer Stunde wird sie wieder laufen können.“ Es war mehr ein Wunsch als eine Vorhersage, doch Harry nahm es als unausweichliche Tatsache.

„Los, kommen Sie, Pete“, sagte er. „Ich muß heim, und Sie machen sich besser auch auf die Socken. Kommen Sie schon.“

Boyd sah nicht auf, als sie gingen. Er hätte noch etwas trinkbaren Alkohol aufheben sollen, doch so mußte er sich eben auf das Essen und das warme Getränk beschränken.

Ein paar Minuten später hustete sie und öffnete die Augen. Er hob ihren Kopf an und hielt die Tasse an ihre Lippen, während sie trank. Dann nahm er etwas von dem Algenbrot und bröckelte es in die Brühe.

Sie beobachtete ihn, doch er war nicht sicher, ob ihr völlig bewußt wurde, wer er war. Er hoffte, nicht. Dies war kaum der geeignete Augenblick für eine Szene.

Sie erkannte ihn trotzdem. „Wo bin ich, Boyd?“

Es war zu offensichtlich, als daß er es hätte verheimlichen können. „In meinen Zimmern.“

Sie dachte darüber nach, während sie aß, dann nickte sie. „Gut. Hab’ Harry gebeten, mich herzubringen.“

„Still. Iß“, befahl er. „Ärztliche Anweisung. Ich gehe rasch weg, bin aber gleich wieder zurück.“

Pete wartete am Fuß der Treppe, Boyd schärfte ihm ein, das Mädchen auf keinen Fall gehen zu lassen. Petes hastige Suche hatte lediglich das schnellsterreichbare Essen erbracht. Sie benötigte aber mehr Zucker zum raschen Energieaufbau und später Proteine, wenn sie sie aufnehmen konnte. Außerdem eine größere Dosis von B-Vitaminen, wenn er etwas Geeignetes finden konnte.

Er hatte Glück. Der Eigentümer des Restaurants ließ sich nicht lange mit inständigen Bitten nötigen, als er hörte, daß das Mädchen, mit dem Boyd schon hier gegessen hatte, krank war. Er durchsuchte persönlich seine Vorratskammer nach dem Benötigten und lehnte eine Bezahlung ab.

Ellen saß aufrecht, als er zurückkam, das Essen war verschwunden. Sie hatte seinen alten Mantel gefunden und diesen mit ihrem Kleid vertauscht. Er war ihr viel zu groß, doch er bedeckte sie völlig. Sie hatte sogar ihr Haar gelöst und glattgestrichen. Sie war noch immer mager und ausgezehrt vom Hunger, doch im großen und ganzen sah sie gut aus.

Er futterte sie mit den Vitaminen und ein paar Süßigkeiten, die er mitgebracht hatte. Ihre Augen folgten ihm, während er sich bewegte, doch sie sagte kein Wort. Nun, da er wußte, daß es ihr besser ging, wuchs sein Ärger. Welches Recht hatte sie, sie alle wochenlang in Sorge zu stürzen? Wie konnte sie sich nur selbst in diesen Zustand bringen …?

„Also gut“, sagte er barsch, als seine Zunge die Worte nicht länger zurückhalten konnte. „Wohin bist du gegangen und wo bist du gewesen? Warum das alles? Wenn du mit einem Mann zusammengelebt hast, der dir das alles angetan hat, dann werde ich ihm eine Lektion erteilen. Wo warst du?“

„Das ist meine Sache, Dr. Jensen“, sagte sie.

„Nein, nicht mehr. Du benötigst medizinischen Beistand und du hast Harry gebeten, dich hierherzubringen. Also los.“

Ihre großen Augen sahen ihn einen Augenblick an, dann senkte sie ihren Blick wieder. „Nun gut“, sagte sie leise. „Ich habe mein Baby gefunden, und ich wollte zu ihm gehen.“

Zunächst vermutete er eine Erschöpfungsphantasie, doch sie machte einen ganz vernünftigen Eindruck. Ihr Gesicht verdüsterte sich, die Linien traten schärfer hervor, doch sie weinte nicht. Sie saß ruhig auf der Couch, die Hände im Schoß, und starrte zu Boden, lediglich ihre Lippen bewegten sich.

„Es war in den Karten, die Dr. Morrow hatte – in den Fallgeschichten. Die meisten Leute können sich keine langen Nummern merken, aber ich kann das. Daher wußte ich es sofort. Es war mein Baby, und es lag krank im Domizil der Barmherzigen Mutter. Es brauchte mich, und ich brauchte es. Ich brauchte es. Er war das einzige Kind, das ich jemals haben werde. Nach dem, was Sie mir angetan haben, wußte ich, ich konnte … ich konnte keinen anderen Mann mehr berühren. Nein, lassen Sie mich ausreden. Sie wollten die Geschichte doch hören. Daher habe ich mein ganzes Geld genommen und bin hingegangen. Ich wollte irgendwohin weglaufen mit ihm. Sie ließen mich ein. Ich hatte ihre Karte und meine Arbeitsbescheinigung. Ich sagte ihnen, sie hätten einen Fehler gemacht. So kam ich hinein. Die Schwester mußte mir das Kind auf der Karte zeigen, um zu beweisen, daß der Bericht seine Richtigkeit hatte – oder auch nicht. Danach ging sie zur Oberschwester, ich griff mir mein Baby und rannte mit ihm los, so schnell ich konnte. Aber sie haben mich geschnappt. Drei große Nonnen schlugen mich, bis sie mein Baby wieder hatten, dann rannten sie mit ihm zurück. Ich konnte nichts tun. Sie wußten, wer ich war. Daher lief ich weg und versteckte mich. Und seitdem laufe ich unaufhörlich weg und verstecke mich. Ich habe mein ganzes Geld während des Kampfes verloren. Das war’s.“

Sie hörte auf zu reden, noch immer still sitzend wie zuvor. Eine Traurigkeit erfüllte Boyd, die die Worte zurückhielt, die ihm auf der Zunge lagen. Sie sah zu ihm auf und dann wieder zu Boden. Schließlich hob sie den Kopf und sah ihm direkt in die Augen.

„Das ist alles, was ich Ihnen erzählen werde. Sie können warten und machen, was Sie wollen, mehr sage ich nicht.“

Er hatte nicht mehr erwartet, doch nun wartete er geduldig. Schließlich sprach sie doch wieder, dieses Mal in Bruchstücken, zwischen denen sie sich immer wieder zur Ruhe zwingen mußte. Es klang unglaublich. Sie hatte ihr Baby deutlich gesehen, ebenso wie die Nummer auf seinem Arm. An der Identität konnte kein Zweifel bestehen. Aber es war nicht mehr wirklich ihr Baby. Es war ein Monster. Alles war falsch und in Unordnung geraten. Die chaotische Beschreibung hörte sich nicht nach einem natürlichen Monster, einer Mißgeburt an, denn sie schwor, das Baby sei bei der Geburt gesund gewesen. „Sie haben das getan. Sie haben mir mein Baby gestohlen und damit herumexperimentiert. Sie haben ein Monster daraus gemacht. Und mit vielen anderen Babys sind sie genauso umgesprungen. Ich habe noch andere gesehen …“

Einen Augenblick bedeckte sie ihre Augen mit den Händen, bevor sie diese wieder in ihren Schoß sinken ließ. Dann begann sie zu weinen, still und fast bewegungslos.

Es gab nichts, das Boyd hätte sagen können. Die Geschichte klang einfach unglaublich. Wenn das Kind normal auf die Welt gekommen war, dann konnte es nur durch eine Drüsenfehlfunktion in diesem Ausmaß verändert worden sein. Doch er hatte noch nie von einem drüsenbedingten Ungleichgewicht dieser Art gehört. Es hörte sich nicht wie das Produkt einer natürlichen Degeneration an. Aber der Vorwurf, daß Menschen in dieser Gesellschaft vorsätzlich Kinder für wilde Experimente verwendeten, klang vollkommen verrückt. Andererseits war auch der Kult der Sterilität unter den Priestern, verbunden mit dem elften Gebot für alle anderen Menschen, vollkommen verrückt. Die Geschichte, die sie ihm erzählt hatte, konnte teilweise ein Phantasiegespinst sein, doch sie enthielt kaum jene Art von Abnormalität, die von der Phantasie ersonnen wurde. Eine andere Möglichkeit war, daß ihr Kind schon immer deformiert gewesen war. Aber das war ebenfalls nur schwer zu glauben.

„Wie hast du nach deiner Flucht gelebt?“ fragte er.

„Ich weiß es nicht. Ich habe mein Essen gestohlen und in einem Loch unter einem Zementboden gelebt. Da lief nur immer das Wasser hinein, wenn es geregnet hatte. Ich glaube, ich habe nicht viel gegessen. Müssen Sie wirklich alles wissen? Schon gut, eines Nachts versuchte ich, einen Mann mitzunehmen – aber ich konnte es nicht. Als er mich berührte – ich konnte einfach nicht. Aber er war freundlich und gab mir trotzdem zwei Kilars. Es war mir gleichgültig, was geschah. Ich – ich habe sogar versucht, ins Ausland zu entkommen. Ich dachte an Selbstmord. Ich wollte sündigen – furchtbar sündigen. Aber ich konnte es nicht. Ich konnte überhaupt nichts tun.“

Sie breitete die Arme aus. „Ich kann noch nicht einmal zur Beichte gehen. Sie würden mich fangen, davor fürchte ich mich. Dabei habe ich so sehr gesündigt. Mit Ihnen bei dem Treffen. Das war eine Sünde, heute sehe ich es ein. Ich wußte, daß es falsch war, aber ich dachte, mit einem Priester dabei wäre es in Ordnung – fast wie eine Heirat. Damit hat alles angefangen. Ich habe versucht, Sie zu töten. Oh, ich war voller Mordlust …“

„Du bist auch voller Worte, die du eigentlich gar nicht ernst meinst. Wenn es dir besser geht, dann wirst du mich wieder hassen, und es wird dir leid tun, was du gesagt hast.“ Boyd fand noch weitere Süßigkeiten und gab sie ihr. „Hier, iß das. Und dann wirst du zu Bett gehen.“

Sie knabberte an der Nahrung. „Sie wollten alles von mir wissen“, erinnerte sie ihn. „Ich habe die Schwestern angelogen – das ist fast so schlimm, wie einen Priester anzulügen. Ich habe gestohlen. Ich habe versucht, eine unlizenzierte Prostituierte zu sein, mit einem verheirateten Mann, also war es versuchter Ehebruch. Und ich habe versucht, mich umzubringen. Das war, als ich herausfand, daß ich noch degenerierter war als Sie. Also gab es keinen Grund, nicht zu Ihnen zurückzukommen.“

Sie stand auf und stieß den langen Mantel von ihren Füßen weg. Ihre Zehen schauten hervor, sie griff hinunter und nahm den Saum in die Hand, hob ihn höher über ihren Knöchel, bis hinauf zu ihrem Knie. Sie war noch immer zittrig, doch sie schaffte es, auf einem Bein stehen zu bleiben, während sie das andere ausstreckte, wie zum Inspizieren, als habe sie es noch nie zuvor gesehen. Boyd wandte ihr peinlich berührt den Rücken zu, und sie lachte.

„Ich muß bestraft werden“, sagte sie. Ihre Stimme klang noch immer leise, doch die Worte sprudelten zu rasch aus ihr heraus. „Ich haßte Sie. Und nun sollten Sie mich hassen, das macht es einfach, mich zu bestrafen.“

„Ich hasse dich nicht, verdammt!“ brüllte er. Er drehte sich um und schlug ihr den Mantelsaum aus der Hand, bis das Kleidungsstück sie wieder ganz bedeckte. „Es tut mir leid, daß es dir so schlecht ging, mehr nicht.“

Wieder lachte sie. „Nein. Ich bin hierhergekommen, um bestraft zu werden.“

Mit einer einzigen Bewegung öffnete sie den Reißverschluß ganz und ließ den Mantel zu Boden fallen; vollkommen nackt blieb sie vor ihm stehen. Dann zwang sie sich, sich zu entspannen. „Ich bin schmutzig. Wir beide sind schmutzig. Komm schon, nimm mich. Du wolltest mich doch in deinem Zimmer haben, hier bin ich. Also los, nimm mich, benutze mich, verdammt!“

Er hob den Mantel auf und warf ihn um sie, doch sie rannte lachend davon. Er stellte fest, daß ein Mann eine Frau entweder halten oder anziehen kann – beides zusammen ist unmöglich.

„Du hast gewonnen“, gab er schließlich zu. „Bleib, wo du bist. Ich gehe mit Pete, du kannst beide Zimmer für dich haben.“

Er war schon zur Tür draußen, als sie ihn zurückrief. Ihr Lachen war erstorben, und sie schloß langsam wieder den Reißverschluß, als er eintrat.

„Vielen Dank, Dr. Jensen“, sagte sie ruhig. „Sie sind sehr klug, nicht wahr? Ich dachte an alle Arten von Wegen, bestraft zu werden, aber ich war nie klug genug, daran zu denken, nach allem zurückgewiesen zu werden. Oder gefällt Ihnen Marian besser? Ich wette, die haben Sie nicht so erniedrigt.“

„Sie hat auch keine Närrin aus sich gemacht!“

Sie machte einen Knicks. „Nochmals vielen Dank, Dr. Jensen. Wo soll ich schlafen? Oder wollen Sie, daß ich gehe?“

Er holte seine zweite Decke und schickte sich an, das Bett für sie zu machen, doch sie nahm sie ihm sofort aus der Hand. „Ich fühle mich bereits viel besser, Doktor“, versicherte sie ihm. Ihr Gesicht war noch immer gerötet, doch sie richtete das Bett viel besser, als er dies je gekonnt hätte, schließlich schlüpfte sie unter die Decke, den Mantel noch immer um sich geschlungen. „Er kratzt. Darf ich ihn jetzt ausziehen?“

Es war eine denkbar ungünstige Zeit für Scham nach der vorhergegangenen Exhibition, dachte er. Doch er bemühte sich rasch, das wieder zu vergessen. Sie begann, unter der Decke den Mantel auszuziehen, was sie voll in Anspruch nahm, während er sich an der Couch zu schaffen machte. Glücklicherweise hatte er nun zwei Zimmer. Die Tür zwischen beiden würde ihr eine ausreichende Privatsphäre sichern, doch sie konnte gleichzeitig weit genug offengelassen werden, damit er hören konnte, ob ihr Zustand sich verschlechterte.

Als er alles erledigt hatte, nahm er ein Glas Wasser und ging wieder in ihren Raum hinüber. „Schließen wir einen Pakt ab“, schlug er vor. „Du wirst eine Weile hierbleiben. Du kannst ohne Kleid nicht hinausgehen, auch dann nicht, wenn keiner nach dir Ausschau hält. Und ich kann so schnell kein anderes Zimmer finden. Lassen wir es also vorerst so, wie es ist. Einverstanden?“

Sie sah ihn aus ihren dunklen Augen an. „In Ordnung. Gute Nacht, Dr. Jensen.“

Er schaltete das Licht aus und entkleidete sich hastig. Dann erst fiel ihm ein, daß er seine Kleider besser ordentlich hingelegt hätte. Endlich schlüpfte er unter die Decke, völlig erschöpft.

Er hörte ein Rascheln, dann erklang ihre Stimme hinter der Tür. „Ist Marian hübsch?“

„Du hast eine viel bessere Figur“, antwortete er. Dann erst erkannte er, daß diese Frage nur eine weitere Falle gewesen war.

„Dreckiges Schwein!“

Er drehte sich um und dachte über praktischere Probleme nach. Er hatte zwar Platz genug, doch er hatte nur eine Nahrungsration. Einige Dinge konnte man zwar auch ohne Karte kaufen, doch sie benötigte solide Nahrung, die aufbaute. Das bedeutete: Proteine, Vitamine, Fette – alles Dinge, die rationiert waren und die zu horrenden Preisen unter der Hand verkauft wurden, was obendrein die Gefahr einer Lebensmittelvergiftung erheblich vergrößerte.

Er hätte den Blinden Stephan doch beim Wort nehmen sollen.

„Ich bin trotzdem froh, daß du wieder da bist, Ellen“, rief er hinüber. Aber sie schien bereits zu schlafen.