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Samstagmorgen wurde er in aller Hergottsfrühe von Buckel-Pete geweckt. Trübes Morgenlicht sickerte eben erst durch das Fenster ins Zimmer herein. Er schlug die Decke zurück und langte nach dem Umhang, den er jetzt als Hausmantel benutzte. Er wollte Mrs. Branahan informieren, daß er nicht zur Arbeit gehen mußte – außerdem war es ja noch beinahe Nacht! Dann erst sah er das Gesicht von Pete an der Tür.

„Unten auf der Treppe ist’n Mädel für Sie“, meldete Pete. „Sagte ihr, sie soll raufgehen, sie wollte aber nicht. Hat keinen Namen gesagt. ‚Soll ich ihm Ihren Namen sagen?’ frag’ ich. Sie sagt:, Sicher’ – aber dann hat’sen doch nicht gesagt.“

Boyd lachte. „Sie heißt Serkin, Pete – es kann nur sie sein. Sagen Sie ihr bitte, ich käme gleich herunter.“

„Wie wär’s, wenn Sie einfach ein bißchen langsamer machten“, schlug Pete vor. „Vielleicht kommt sie dann rauf.“

„Und was sagt der Moralkodex dazu, Pete?“ hielt Boyd dagegen. Er hatte schon bemerkt, daß Pete – im Unterschied zu Gordini und Ellen – nicht besonders prüde war. Womöglich hatte seine lebenslange Tätigkeit als Hotel- und Mietshausverwalter all sein Zartgefühl abstumpfen lassen.

„Über ein bißchen Liebe am Morgen sagt der Moralkodex nichts – höchstens darüber, wie man es überhaupt anstellt“, erwiderte Pete.

Seltsamerweise fand Boyd Petes Vorschlag gar nicht so schlecht. Die gegenwärtigen Anstands- und Sittenrichter, die den Moralkodex bestimmten, schienen genau zu wissen, daß der Reiz zunahm, wenn man etwas mit Hindernissen versah, ohne es undurchführbar zu machen.

In Windeseile zog er sich an und eilte nach unten, wo Ellen auf ihn wartete. Er war unsicher gewesen, ob das vereinbarte Treffen noch galt, und hatte nicht gewußt, wie er es herausfinden sollte. Wie er sich jetzt überzeugen konnte, hatte sie Wort gehalten.

„Mort bestand darauf, Sie zu sehen“, begrüßte sie ihn. Ihre Lippen verzogen sich, und sie seufzte. „Ich kam früher, weil ich nicht die feierliche Messe in unserer Kirche versäumen wollte. Im Anschluß daran gibt es noch die Prozession zum Tag der Mutter von St. Bonaforte zu sehen. Sie haben doch nichts dagegen, oder?“

Er hatte nicht einmal etwas dagegen, als er merkte, daß sie zu Fuß dorthin gehen wollte. Boyds Beine wurden zunehmend kräftiger, und er hatte inzwischen keine Mühe mehr, mit ihr Schritt zu halten. Obendrein war es ein wunderschöner Morgen, ungetrübt von den Menschen und dem Elend, in dem sie lebten. Der Himmel strahlte klar und tiefblau, gekrönt von einer goldenen Morgensonne. Als sie an der Ecke anlangten, an der Ellen aus der Rikscha gestiegen war, schüttelte sie den Kopf, weil er in die Straße einbiegen wollte.

„Ich wohne in Wahrheit nicht hier“, erklärte sie ihm. „Ich wollte einfach nicht, daß Harry mich dorthin fuhr, wo ich wirklich wohne. Es wäre für uns alle nicht sicher gewesen, bevor man nicht gewußt hätte, daß ich Morts Schwester bin. Boyd, wenn Sie nicht wollen, müssen Sie nicht mitkommen, ja?“

Er faßte sie am Arm und sie kamen in ein Fabrikviertel, dessen Gebäude ziemlich alt und einst mit großen Zwischenräumen gebaut worden waren. Jetzt waren diese Zwischenräume mit heruntergekommenen Baracken und spärlich abgedeckten Erdhöhlen ausgefüllt.

Hinter der Ecke eines der größeren Gebäude schossen eine Handvoll Halbwüchsiger hervor und jagten mit viel Geschrei hinter einem Geschöpf her, das Boyd schließlich als eine fette graue Ratte identifizierte. Das Tier verkroch sich unter einem Treppenabsatz, flitzte auf der anderen Seite wieder heraus, und weiter ging die Jagd. Sie sausten hinein in eine schmale Lücke zwischen zwei Fabrikgebäuden, aus der begeisterte Schreie erschollen. Einer der Jungen tauchte wieder auf, in den Händen die erschlagene Ratte. Plötzlich drangen Schmerzensschreie aus der Passage hervor.

„Da sind noch mehr! ’ne ganze Menge!“

Die Schreie brachen ab und wurden von einem hohen Gekreische ersetzt. Das waren keine Ratten! Boyd stürzte los, als im selben Moment zwei Jungen herauskamen, die aus mehreren Wunden bluteten. Sie schnappten sich herumliegende Trümmerteile, um sie als Schlagwerkzeuge zu benutzen, aber Boyd war schon bei ihnen. Das eindringende trübe Licht zeigte ihm, daß die schmale Passage in einer Sackgasse endete, abgeschlossen mit einer hohen Ziegelmauer. Am Boden vor dieser Mauer lag, immer noch kreischend, der kleinste der Jungen, umzingelt von grell quiekenden und nach ihm schnappenden Ratten.

Boyd wußte aus alten Geschichten, daß in die Enge getriebene Ratten gefährlich werden konnten, aber jetzt war keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Er stürmte nach vorn und trat wild mit seinen festen Schuhen um sich, schleuderte die Tiere beiseite und trampelte auf ihnen herum. Er merkte, wie sich die Biester gegen ihn wandten, aber er war für sie ein weitaus zäherer Gegner als ein schwacher, barfüßiger kleiner Junge. Quiekend zogen sie sich widerstrebend zurück und verschwanden irgendwo durch ein Loch.

„Holt einen Arzt!“ rief er den anderen Jungen zu.

„Quatsch!“ widersprach ein Bengel, der sich wieder herangewagt hatte und sich seinen Kumpanen ansah. „Is’ zwecklos. Der is’ mausetot, braucht höchstens ’n Priester. Hab’s ihm oft genug gesagt: Schnappen und – rums eins aufs Dach. Denkste! Umgekehrt – hat’s ihn selbst erwischt. – Sagen Se mal, was lungern Se eigentlich hier rum? Prügel haben?“

Er wollte gerade antworten, als ihn ein Warnruf Ellens verstummen ließ. Im selben Augenblick ging auch schon der ziemlich kräftig gebaute Junge mit einem dicken Knüppel auf ihn los.

„Werd’s Ihnen geben – ankommen und sich einmischen! Wär’n genug Grauviecher für uns alle gewesen – verjagen mußte ’r se!“ Er hieb mit dem Knüppel auf ihn ein, stockte aber mitten im Schwung und sackte auf die Knie. Ein schwerer Steinbrocken hatte ihn mitten im Kreuz getroffen. Boyd verlor keine Zeit und machte sich aus dem Staube. Als er wieder auf die Straße zurückkam, wischte Ellen sich eben die Hände ab.

„Danke für die Hilfe“, sagte er. „Warum tun die das?“

„Hunger“, erklärte sie. „Sie haben ihnen ihr Essen verjagt.“

Der Gedanke verschlug ihm den Atem. „Aber der Junge am Boden starb dabei!“

„Ich weiß.“ Entschlossen schüttelte sie dann den Kopf. „Lassen Sie uns besser über Ihr Erlebnis hier schweigen, Boyd. Wir befinden uns eben nicht an der Kathedralenallee.“

Morts Wohnung befand sich im nächsten Block. Eine Ecke, übriggeblieben von einem völlig ausgebrannten Gebäude, war zu einem einzelnen schmutzigen, fast lichtlosen Raum von weniger als drei Quadratmetern wiederhergerichtet worden. Eine Raumecke war durch einen Trennvorhang abgeteilt worden und diente als Quartier für die Frauen.

„Hier wohne ich nun also“, sagte Ellen und begann damit, ihn vorzustellen. Mort war im Augenblick nicht anwesend, wohl aber seine Frau, ein verhärmtes Wesen, höchstens dreißig Jahre alt, die wie fünfzig aussah. Die sich um sie scharenden Kinder konnte man deutlich in zwei Altersgruppen unterscheiden – älter als zwölf und jünger als sechs. „Die Größeren leben bei Morts erster Frau“, flüsterte Ellen ihm zu. „Die anderen sind von Sue, jedenfalls diejenigen, die noch leben. Dann gibt’s Onkel El, aber der ist gerade ausgegangen.“

Die Kinder standen umher und glotzten ihn an, während die Frauen trotz seines Protests geschäftig einen Platz für ihn freimachten. Eine Minute später watschelten Schritte die Treppe abwärts, und ins Kinderzimmer herein kam Mort. Die beiden Frauen mitsamt Kindern verzogen sich augenblicklich hinter den Trennvorhang.

Mort stellte sich als derart häßlich heraus, daß er, sah man mal von seinem alles andere als muskulösen, schlaffen Fettwanst ab, ohne weiteres als Gorilla hätte durchgehen können. Den breiten Mund zu einem Grinsen verzogen, kam er, eine schmuddelige Hand vorgestreckt, auf Boyd zu. „Junge, sieh an, der Marsianer! Hab’ schon allerhand von Ihnen gehört. Schwesterherz redet über nichts anderes mehr. Ich … also, ich bin Mort. Für meine Freunde bloß Mort, den Mr. Maine können Sie vergessen. Wie geht’s so? Hörte, Sie sind rausgeflogen?“

Was Boyd zugab, worauf Mort loslachte. „Machen Sie sich deswegen mal keine Sorgen. Findet sich immer eine Möglichkeit des Auskommens – erst recht für eine Frau. Nehmen Sie Ellen: Wenn sie jetzt schwanger würde, käm’ sie auf den vordersten Platz der Warteliste beim Arbeitsamt. Außerdem gibt’s ein Büro extra für Schwangere. Und wenn ihr beide hier wohnen wollt, ich hätte nichts dagegen. Na, was halten Sie davon?“

„Sie irren sich“, versuchte Boyd klarzustellen. „Zwischen Ihrer Schwester und mir ist bisher nichts vorgefallen.“

Mort feixte ungläubig, wenngleich in seinen Augen sekundenlang eine Spur echter Unruhe auftauchte, die aber gleich wieder von Gerissenheit verdrängt wurde. In Boyd stieg Ärger angesichts dieser fast unverhohlenen Plumpheit auf.

Mort schien diese Reaktion zu spüren. „Ähem, ja. Wo Rauch ist, gibt’s auch Feuer, sag’ ich immer. Aber ich wollte Sie eigentlich wegen was anderem sprechen. Ich hätte da einen Vorschlag zu machen. Sie sind doch vom Mars, wo es gewisse Dinge gibt, wie ich von andern Burschen gehört hab’, die auch von dort kamen. Ich wollte Sie fragen, wieviel Bremser Sie mir besorgen könnten.“

„Was bitte!“

„Bremser. Sie wissen schon: Kontras, na, dieses Hormonzeugs. Gibt mordsmäßig viele, die danach hinterher sind. Ich selbst gebrauche sie zwar nicht, wie man sieht, haha! Würde mit Ihnen halbe-halbe machen – und es springt ’ne Menge für jeden dabei heraus.“

Er sah Boyd mit einem stechenden Blick an. „Na, wie steht’s damit?“

Boyd schüttelte den Kopf, wohl wissend, daß Ellen jedes Wort dieses Gesprächs hören mußte. Wenn er sich recht entsann, war Mort nur ihr Halbbruder. Kaum zu glauben, daß sie mit ihm verwandt war.

„Ich fürchte, Sie sind falsch informiert worden“, sagte er. „Hormonale Verhütungsmittel werden auf dem Mars seit langem nicht mehr verwendet. Ich habe nicht eine einzige Kapsel.“

Mort glotzte ihn einen Moment erstaunt an, schien ihm aber dann zu glauben. „Nun gut, versuchen wird man’s ja noch dürfen, oder? He, Sue, her mit dem Spülwasser! Sie und Ellen bleiben doch noch auf einen Happen, ja?“

Ellen kam mit kreidebleichem Gesicht und scharf dagegen abgegrenzten hochroten Wangen aus dem Verschlag heraus. „Nein“, sagte sie. „Wir wollen in die Messe.“

Mort hatte das Interesse an Boyd verloren. Er nickte. „Schon gut, schon gut. Bis später dann.“

Draußen auf der Straße trat Ellens Ärger offen zutage und brach aus ihr heraus. Boyds Blick meidend, erklärte sie: „Mort hat sich nach dem Tod meiner Mutter um mich gekümmert. Er war wirklich gut zu mir und hat sogar für meine Erziehung bis zu Ende bezahlt.“

Boyd faßte sanft ihren Arm und verkniff sich jeden Kommentar. Und als sie das Viertel verließen, schienen sie aller Ärger und die Scham wieder verlassen zu haben. Sie richtete sich gerade auf und begann wieder, den Weg zu bestimmen.

Die Kirche zur Gesegneten Mutter unterschied sich stark von der Kathedrale – sie war ein rein religiöses Bauwerk, das sich zwar von den umliegenden Häusern abhob, aber dennoch nicht derart ehrfurchteinflößend wirkte. Im Innern umgab sie Kühle, und das Licht von den Buntglasfenstern legte sich gleichsam wie ein Segen auf Boyd. Selbst der Weihrauchgeruch schien ihn irgendwie freundlich zu stimmen. Er fand ihn einfach köstlich.

Jemand sprach Ellen an, dem sie Boyd vorstellte. Erstaunte Blicke ruhten auf ihm, die in ein Strahlen übergingen. „Sie sind wirklich zum erstenmal in einer Kirche, Herr Jensen? Welch ein Glück für Sie! Das bedeutet, daß Sie sich vor dem Altar etwas wünschen können.“

Boyd war wirklich noch niemals in einer Kirche gewesen. Er war fasziniert. Dieser beeindruckenden Umgebung fast erliegend, ahmte er unwillkürlich Ellens Kniebeuge nach.

Der Gottesdienst wurde nach einem altertümlichen Zeremoniell abgehalten. Die Amerikanische Katholische Eklektische Kirche war zum traditionellen Latein zurückgekehrt. Boyd fühlte sich, angefangen vom Eingangslied Introitus bis hin zum Credo, gleichzeitig eigenartig besänftigt und dennoch emotional aufgewühlt. Als dann der Priester die althergebrachte Formel zum stillen Gebet mit den Worten „Orate fratres“ aussprach, bedauerte er fast, nicht zu wissen, wie man betete. Vom Gesang zum Meßopfer bis hin zum abschließenden „Sanctus, sanctus, sanctus“ plagte ihn sein Unwissen über deren Bedeutung, aber er versuchte wenigstens, Ellens Erleben nachzuvollziehen, als sie sich dem Gang zum Altar angeschlossen hatte und mit einem feierlichen, geisterfüllten Gesicht zurückgekehrt war.

Danach entstand Bewegung unter den Teilnehmern des Gottesdienstes. Die Lichter leuchteten hell auf, und die Gemeinde begann sich zu teilen: Die Frauen rückten alle an die Außenseiten der Kirchenbänke vor. Die Orgel setzte mit einer aufrüttelnden Melodie ein, in die die Priester mit einem Gesang, in dem das Wort „Mater“ zu überwiegen schien, einstimmten. Jetzt erschienen zwei Priester, die Boyd bisher nicht gesehen hatte, ganz in Weiß gekleidet, und schritten zum Altar hin. Dort vollzogen sie ein kompliziertes Ritual, wobei sie einen Schrein aufschlossen, in dessen Innern eine großartige Figurine, anscheinend aus Silber gefertigt, sichtbar wurde, geschmückt mit einem kunstvoll verschnörkelten, blitzenden Strahlenkranz.

Nun verstand Boyd nichts mehr von dem Zeremoniell, das in keinem Punkt mehr seinem Wissen vom althergebrachten Ritual ähnelte. Offensichtlich wurde die Figurine von den Priestern gesegnet und von der Gemeinde angebetet. Zum Schluß hoben die beiden weißgekleideten Priester die Statue aus dem Schrein und schritten mit ihr vom Altar aus das Hauptschiff abwärts.

Die Frauen schienen in Raserei zu verfallen. Sie drängelten zur Außenseite der Bänke hin, stießen sich gegenseitig beiseite, blieben aber immer innerhalb der vom Mittelläufer abgesteckten Grenze. Sie streckten die Hände aus, öffneten und schlossen sie im Bemühen, die Figur zu berühren. Boyd blinzelte und sah erneut hin: Die Punkte auf dem silbernen Kleid verfärbten sich rot!

Die Prozession passierte auf ihrem Weg auch die Stelle, an der Ellen sich gemeinsam mit anderen Frauen drängelte, durchmaß die Seitenschiffe und endete schließlich wieder am Altar. Es folgten eine abschließende Segnung und Gebete, bis die Statuette wieder in den Schrein zurückgestellt wurde. Damit war die Messe zu Ende, und die Teilnehmer strömten aus der Kirche hinaus.

Ellen blickte bestürzt auf ihre Handflächen. „Es wollte nicht bluten“, beteuerte sie. „Ich habe es immer wieder versucht, aber es hat nicht geblutet.“

„Ich verstehe nicht“, sagte Boyd. „Meinen Sie etwa, Sie wollten, daß es blutet?“

Sie nickte entschieden. „Aber ja, natürlich. Wenn es blutet, bedeutet das, daß die Mutter diejenige, von der sie das Blut empfängt, segnet. Und ich wünsche mir doch so sehr noch in diesem Jahr einen Jungen!“

„Aber Sie sind doch gar nicht verheiratet! Wissen Sie, Ellen, ich will zwar nicht meine Nase in Ihre Angelegenheiten stecken, aber wie Sie es schaffen wollen, dennoch ein Kind zu empfangen, müssen Sie mir schon verraten.“

„Darauf gibt es eine Antwort. Um die aber zu verstehen, müßten Sie an einem Beisammensein der Evangelisten teilnehmen“, erwiderte sie. Kummervoll sog sie an der trockenen Schramme in ihrer Handfläche und zuckte dann die Schultern. „Tja, was soll man machen, mein Glaube ist wohl nicht tief genug. Du liebe Güte, Boyd, ich glaube, wir müssen uns jetzt aber beeilen, wenn wir noch einen guten Zuschauerplatz entlang der Kathedralenallee haben wollen. Die Prozession sollten Sie sich wirklich nicht entgehen lassen.“

Dessen war sich Boyd nach allem, was er eben erlebt hatte, nicht mehr so sicher. Er folgte jedoch ihrer Führung. Menschen strömten schon in Massen über die Straßen hin zur Kathedrale. Mehrfach hörte Boyd den Ruf „Achtung, Taschendiebe!“, worauf sich Männer in dunkelblauen Uniformen mit erhobenen Schlagstöcken ins Getümmel stürzten. Einmal sah er sie einen kläglich dreinschauenden, mickrigen Kerl abfuhren, der vehement dagegen protestierte.

„Er hat heute Glück“, erzählte ihm Ellen. „Man wird ihm nur eine Hand abhacken. Selbst die Justiz zeigt Gnade am Festtag zu Ehren von St. Bonaforte. Gewöhnlich verliert ein Dieb beide Hände.“

„Ich denke, es gibt auch noch die Möglichkeit der wiedereingeführten Auspeitschung und Prügelstrafe?“ meinte Body sarkastisch.

„Klar“, antwortete sie. „Verbrecher müssen abgeschreckt werden. Das sehen Sie doch auch ein, nicht wahr?“

Da war Boyd völlig anderer Meinung, aber offenbar gab es hier weder Einrichtungen, um Kriminelle einzusperren, noch die Möglichkeit einer Behandlung ihrer psychischen Defekte. Die Häufigkeit von Taschendieben in der Menge bewies allerdings, daß die vorgesehene Strafe sie offenbar nicht von der Tat abschreckte.

Sie erreichten noch rechtzeitig die Kathedralenallee, um einen guten Zuschauerplatz innerhalb eines mit weißen Linien abgegrenzten Bereichs zu finden, worüber Ellen sich sehr freute. Fliegende Händler mit Eßwaren und Getränken zogen vorüber, und Modeschmuck und Andenkenartikel wurden überall feilgeboten. An verschiedenen Stellen spielten Musikgruppen, und Akrobaten führten ihre Kunststücke vor und ließen danach den Hut herumgehen. Über allem lag die Atmosphäre eines einzigen Karnevals. Ellens Augen funkelten im fieberhaften Glanz eines kleinen Mädchens, welchem die unglaublichen Mengen an matschigen Pilzbrötchen mit gepanschter Fischmassefüllung unfaßbar erschienen.

Da erklang von weitem auf der Allee Beifallsgeschrei, und alle Leute lehnten sich vor, um zu sehen, was dort los war. Boyd konnte nicht mehr als einen Wirrwarr aus Farben und Bewegung ausmachen, der sich langsam, mit einer Geschwindigkeit von kaum mehr als einem Kilometer in der Stunde, vorwärts schob. Dennoch brandete die Begeisterung zu fast unerträglicher Lautstärke hoch. Und dann sah er, was dort ankam.

Großartige Festwagen, prächtig bemalt mit Szenen aus der Schrift und dem Leben Bonafortes, von denen eine, die vermutlich die Atomkatastrophe darstellte, besonders ins Auge fiel. Die Wagen schienen auf riesigen Transportgestellen zu rollen, die so schwer waren, daß sie nur von langen Reihen von Männern vorwärts bewegt werden konnten.

„Dort … sehen Sie nur … das blausilberne Füllhorn, das sich von der Kirche her ergießt – das kommt aus unserem Viertel!“ schrie Ellen begeistert.

„Das mit den Ratten?“ fragte Boyd.

Sie nickte. „Dies Jahr können sie’s schaffen. Im letzten Jahr konnten die Männer den Wagen nicht bis zum Ende der Strecke ziehen, um in die Weitung zu kommen. Gewinnen können wir nicht – das tut immer ein reicher Stadtteil. Aber es ist eine Ehre, den Wagen von einem Ende der Kathedralenallee bis zum anderen zu ziehen. Sehen Sie – sehen Sie nur, Boyd!“

Ein Festwagen mit Aufbauten, die offensichtlich Engel zeigten, die Bonafortes Leib zum Himmel hoben, war in Schwierigkeiten geraten. Eines seiner Räder mußte lose gewesen sein, da es vom Kurs ausscherte. Eine Seilreihe von Männern an dessen Seite war hingestürzt, und zwei davon waren, bevor die anderen sich erheben konnten, unter die Achse geraten. Ein Stöhnen ging durch die Zuschauermenge. Verschiedene Menschen sprangen vor und schnappten wild nach den Seilen. Ein weiterer Mann ging zu Boden, wurde überrollt, war aber sofort durch jemand anders ersetzt. Die Menge jubelte, als der Festwagen, in dessen Spur drei zermalmte Körper lagen, weiterfuhr. Niemand schien sich um sie zu kümmern, ausgenommen mehrere Geistliche, die schnell vorsprangen und ihnen, nachdem sie sie vor den folgenden Festwagen aus dem Weg geräumt hatten, die Letzte Ölung gaben.

„Blutrünstiger Götzendienst!“ schrie Boyd zornig.

Ellen erhob sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können, ließ sich sofort danach aber wieder zurückfallen. „Ein Glück, daß genügend Leute aus dem Stadtteil einspringen konnten, als es passierte.“

„Ich dachte, Selbstmord wäre eine Todsünde“, wandte Boyd ein. „Die schlimmste aller Sünden.“

„Sicher, aber das ist doch kein Selbstmord. Sie versuchen doch nicht sich selbst umzubringen – sie nutzen nur eine Chance, Ehre zu erwerben, und daran ist nichts Falsches.“

Es ereigneten sich noch weitere, allerdings nicht derart schwerwiegende Zwischenfälle … Boyd zitterte bei jedem vorüberziehenden Festwagen, aber schließlich endete der Zug mit einem Plattformwagen, von dem aus mehrere Geistliche die Menge segneten.

Ein Mädchen schrie Ellen etwas zu, worauf diese zurückschrie. Die beiden Mädchen kämpften sich durch die Menge, fielen sich in die Arme und zeigten ihre Freude, sich nach langer Zeit einmal wiederzusehen. Durch das Pressen und Drücken der Masse wurde Boyd von den beiden abgedrängt und verlor sie aus den Augen. Auf der Suche nach ihnen irrte er durch die sich langsam auflösende Menge, aber ohne Erfolg.

Niemand jedoch ging nach Hause, wie er bemerkte, als er von der Allee abbog. Von in dunkle Hauseingänge gedrückten Pärchen ertönte erregtes Gekicher herüber, und einige knutschten sich sogar in aller Öffentlichkeit. Niemand schien Anstoß daran zu nehmen. Die Priester waren wohl absichtlich wie vom Erdboden verschwunden. Boyd sah ein Mädchen, das auf der Suche nach jemandem die Straße herabging. Als sie mit einem jungen Mann zusammenstieß, umschlang sie dieser und ließ sie erst nach einigen Minuten Gegenwehr wieder frei. Als Boyd sich ihnen näherte, tauschten sie gerade unter Küssen ihre Namen aus. Für jemanden, der mit dem Sinn der Prozession vertraut war, mußte all dies wie ein berauschendes Stimulans wirken; er jedoch empfand es schlimmer als all jene Dinge, die er über die ausgelassensten Folgeereignisse bei Evangelistenzusammenkünften in früheren Zeiten gelesen hatte.

Es war dunkel, als er schließlich die Suche nach Ellen aufgab. Im stillen stieß er Rüche aus, daß er sie überhaupt von seiner Seite fortgelassen hatte. Vermutlich schmiegte sie sich zu diesem Zeitpunkt längst an einen anderen Mann, um nach besten Kräften das Fehlen von Blut in der Handfläche zu korrigieren. Andere Paare verfuhren jedenfalls so. Boyd erlebte zum erstenmal eine Orgie von Angesicht zu Angesicht, und sie machte ihn krank; er war sich jedoch nicht sicher, ob seine Abscheu Widerwillen oder Neid entsprang.

Aber nicht überall befanden sich Liebespärchen. Als er an einer Toreinfahrt vorüberging, hörte er plötzlich hetzende Schritte hinter sich. Es war schon zu spät, sich umzudrehen. Ein Arm schlang sich um seinen Hals, und ein harter Schlag streckte ihn zu Boden.

 

 

Als er wieder zu sich kam, fand er sich auf dem Rücken liegend in einem durch Seile abgesperrten Bereich, der durch Fackeln beleuchtet war. Ein Arzt ging herum und beugte sich über die einzelnen Körper. Als Boyd sich aufsetzte, fuhr eben ein Lastwagen vor, und weitere Menschen wurden in den abgesperrten Bereich geschleppt. Dem Gestank zufolge waren viele von ihnen hauptsächlich betrunken. Boyd erkannte schlagartig, daß etwas in die Menschenmassen gefahren sein mußte, das mehr als Raserei war. Auf seiner Zunge lag ein Geschmack, der verriet, daß der vor einigen Stunden getrunkene Saft leicht alkoholhaltig gewesen sein mußte, obwohl der Alkohol von süßen Geschmacksstoffen überdeckt wurde.

„Betrunken oder überfallen?“ richtete ein junger Priester an ihn die Frage. Boyd sah auf und rieb sich den Hinterkopf. „Sind wohl niedergeschlagen worden, was? Seien Sie froh, daß Sie noch leben. Wissen Sie nicht, daß es nicht empfehlenswert ist, abseits der Hauptstraßen während der Feiertage allein herumzustreunen? Wegen Leuten wie Ihnen geraten schwache Menschen in Versuchung. Fühlen Sie sich besser, oder brauchen Sie ärztliche Behandlung?“

Nach einem Schlag auf den Schädel hielt er das Argument von der menschlichen Schwäche für höchst unpassend. Er entdeckte an sich jedoch keinerlei Zeichen einer Gehirnerschütterung, so daß er entschlossen sagte: „Nein danke, von Kopfschmerzen abgesehen, fühle ich mich wieder ganz in Ordnung.“

„Dann stellen Sie sich dort an“, wies ihn der Priester an. „Und ich schlage vor, Sie warten bis zum Hellwerden, bevor Sie nach Hause gehen. Das nächste Mal führen Sie aber gefälligst Ihre Mitmenschen nicht wieder in Versuchung!“

Boyd reihte sich in die Schlange derjenigen ein, die auf medikamentöse Behandlung warteten. Schließlich war er an der Reihe und erhielt sein Kopfschmerzpulver, woraufhin er sich unverzüglich aufmachte, das abgesperrte Gebiet zu verlassen. In diesem Moment rief ihn ein Mann aus der Wartereihe an. Als er sich umwandte, erkannte er Harry, den Rikschafahrer, der gerade eine Injektion, vermutlich eine Vitaminspritze, bekam.

„Wenn Sie noch ein bißchen in der Nähe bleiben, Mister, kann ich Sie nach Hause fahren. Menschenskind, habe ich einen hängen. Hab’s gerade noch bis hierher geschafft, um mich aufzunüchtern.“

Boyds Geldbörse war natürlich weg. Keine völlige Katastrophe, da er das meiste seines Geldes zu Hause gelassen hatte, aber er konnte es sich nicht leisten, noch mehr zu verschwenden. Harry mußte seine Lage erraten haben.

„Geht auf meine Rechnung, Mister“, sagte er. „Darf sowieso am Sabbath nicht arbeiten, aber bei Ihnen wär’s mir ein Vergnügen. Sie haben mir Glück gebracht, ehrlich. Nachdem ich mit den anderen Jungen geteilt hatte, haben wir noch ein kleines Spiel gemacht – und was glauben Sie, da hab’ ich doch ’n Hunderter gewonnen. Am nächsten Tag hat sich dann meine Schwester wieder mit ihrem Mann versöhnt und ist ausgezogen. Glück muß der Mensch haben. Hier, setzen Sie sich schon hin. Eine Hand wäscht die andere.“

Boyd war es nur recht. Harry lief auf seinen unermüdlichen Beinen los, unberührt von seinem Kater, falls er überhaupt einen hatte. Währenddessen brach der Morgen an. Die kleinen Kirchen waren bereits geöffnet und schienen Rekordbesuch zu haben … Bestimmt die halbe Bevölkerung war auf den Beinen, um Vergebung für ihre Sünden zu erbitten.

Plötzlich rief Harry ihm über die Schulter zu: „Sieht so aus, als ob Ihr Mädchen auf Sie wartet.“

Und richtig – Ellen saß auf den Treppenstufen. Während Boyd aus der Rikscha kletterte, erhob sie sich gelassen. Sie war ruhig, kühl und gefaßt.

„Wo sind Sie gewesen?“ verlangte sie zu wissen. „Ich war bereits in der Kirche. Sie hatte ich längst aufgegeben – was wohl nicht mehr als recht war, nachdem Sie mich im Stich gelassen haben.“

„Ich Sie im Stich gelassen?“ Er war nicht in Stimmung, es mit weiblicher Logik bei der Erklärung von Ereignissen aufzunehmen. „Gut, ich habe Sie also im Stich gelassen. Aber Sie sehen nicht so aus, als ob Sie lange in diesem Zustand geblieben wären.“

Sie lächelte kühl. „Mag sein. Aber ich erwartete eigentlich eine Erklärung von Ihnen. Jetzt klingen Sie genau wie Mort.“

„Sachte, Miß“, mischte Harry sich ein, der sich gegen die Rikscha lehnte und alles mit gutmütiger Belustigung verfolgte. „Er ist überfallen und niedergeschlagen worden und erst vor kurzem wieder bei Besinnung.“

Schlagartig verlor sich ihr Hochmut, und sie beugte sich herüber, um seine Beule zu begutachten. Von der Kathedrale her läutete das große Glockenspiel eben die sechste Stunde ein. Bei dessen Klang fuhr sie schuldbewußt zusammen.

„Ich muß sofort heim, Boyd. Ihnen geht’s doch gut, oder?“

Er nickte verdrossen. Zwar blieb sein Argwohn gegen sie weiterhin bestehen, aber eigentlich ging es ihn ja auch nichts an. „Harry, erstreckt sich Ihre Gunst auch auf die Dame?“

„Aber sicher“, erwiderte Harry. „Soll mir eine Freude sein.“

Sie beugte sich vor und gab ihm erneut einen flüchtigen Kuß. „Tut mir leid, Boyd. Ich vergaß, daß Sie nicht an Menschenmengen gewöhnt sind. Und ich wäre wirklich gern mit Ihnen zusammengewesen.“

Das war keine besonders befriedigende Bemerkung. Er hätte gern gewußt, warum.

Als er in den Hausflur kam, rief Pete ihn an. „War gestern ’n Knabe da, Boyd, der zu Ihnen wollte. Der Bursche, der das Dreirad dieses Priesters fährt. Sagte, der Bischof wollte Sie sehen – irgendwas über ’ne Aussicht auf ’ne Stellung als Logiker oder so. Ha’m Sie Schwierigkeiten?“

„Keine Ahnung“, erklärte ihm Boyd wahrheitsgemäß. Allem Anschein nach bedeutete das unklare Wort Zytologe. Vielleicht hatte die kleine von Vater Petty eingeräumte Ehre eine Reaktion bewirkt – vielleicht auch, daß man tatsächlich eine neue Arbeitsstelle für ihn hatte.

„Sagte, er will Sie Montagmorgen abholen“, rief ihm Pete hinterher.

Boyd murmelte einen Dank und stampfte in sein Zimmer. Er mochte nicht einmal seine Träume.