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Seine Chancen hätten sich noch weiter verringert, wenn nicht Mrs. Branahan an seine Tür geklopft hätte, um ihn zu wecken. Sein Körper hatte die harte Matratze und die irdische Schwerkraft fast unerträglich gefunden, so daß er lange nicht hatte einschlafen können. Als er endlich schlief, geschah dies wie im Zustand der Betäubung. Ihre Rufe brachten ihn schließlich hoch, aber bevor er sich bei ihr bedanken konnte, war sie bereits selbst zur Arbeit fortgegangen.

Er brauchte eine Viertelstunde, um mit der fremdartigen grauen Kleidung fertig zu werden. Bluse und Jackett waren noch verhältnismäßig einfach zu handhaben, und schließlich bekam er auch heraus, welche Seite der hautengen Hosen vorn war. Eine Einzelheit hielt ihn besonders auf, bis er erkannte, zu welchem Zweck die gepolsterte Fläche die Hose an dieser Stelle leicht wölbte. Merkwürdige Anstandssitten! Er war aber gezwungen, dieses Polster zu tragen, da die Hose ohne es schlimm aussah.

Beim Weggehen traf er auf Buckel-Pete. Er mußte von Gordini bestens instruiert worden sein, da er ihn auf ein empfehlenswertes Eßlokal hinwies. Boyd hatte mit seiner Lebensmittelrationierungskarte Anspruch auf zweimal wöchentlich Fisch oder Krill, aber er entschied sich für das trockene, brotartige Zeug mit Namen Chlorellabrot. Es schmeckte zwar fad, aber er hätte ohnehin nicht viel gegessen. Das Restaurant war vollbesetzt mit Gästen, von denen er sich eingeengt fühlte. Andererseits fühlte er sich aber auch durch das ihm fremde Verhalten, das er nicht einmal genau zu beschreiben wußte, von ihnen isoliert.

Auf der Straße wimmelte es von Männern, Frauen und Kindern, die sich alle in die Richtung der Fabrikgegend bewegten. In der Masse befand er sich anscheinend in Sicherheit, denn niemand machte einen besorgten Eindruck. Er schritt flott aus, soweit es seine protestierenden Muskeln zuließen. Das Laboratorium befand sich drei Kilometer von seinem Wohnquartier entfernt, aber ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß er noch vor sieben Uhr und damit rechtzeitig dort eintreffen würde.

Plötzlich ergriff ein zotteliger Mann von finsterem Äußeren sein Handgelenk. Er wich zurück, aber der Mann versuchte zu lächeln.

„Verstecken Sie bloß Ihre Uhr, Mensch!“ raunte ihm eine tiefe Stimme eindringlich zu. „Oder wollen Sie, daß man Ihnen auflauert und Sie umlegt? Sie befinden sich in New City – und nicht in einer Kleinstadt auf dem Land!“

Boyd wollte ihm gerade danken, aber der Mann nickte ihm nur zu und verschwand. Einen Moment lang empfand er dennoch ein Gefühl der Wärme. Es war für Boyd der erste sichtbare Beweis, daß alle Äußerlichkeiten dieses Planeten keine Rückschlüsse auf das Wesen seiner Bewohner zuließen. Diese Geste, einschließlich der Aufmerksamkeit von Mrs. Branahan, halfen wesentlich mehr als die ziemlich herablassende Hilfsbereitschaft eines Gordini.

 

 

Firculo fand bei seinem Eintreffen Boyd bereits in der winzigen Laboratoriumskabine vor. Er begann damit, im Raum herumzugehen und die verschiedenen Geräte zu bezeichnen und ihren Zweck zu erklären: Thermostat und Regulierungsvorrichtung für den Brutschrank, Gefäße mit Lösungsmitteln und Nährstofflösungen, Pipetten, Uhren, Bechergläser.

„Sie werden sowieso nicht alles gleich am ersten Tag verstehen“, sagte er mechanisch. „Verflixt, Sie trifft zwar keine Schuld, aber man hätte mir keinen Grünschnabel als Gehilfen schicken sollen. Hier, wissen Sie, was das ist?“

„Ja, eine Hefepilzkultur. Ich weiß zwar nicht, welcher Typus es ist, aber die Kultur stirbt offenbar ab.“ Boyd nahm eine Pipette, sog einen Teil der Kultur auf und praktizierte ihn in eine frische Lösung. „Na ja, kein Wunder, wenn sie sich in zwanzig Prozent Alkohol befindet.“

Firculo stand sekundenlang mit offenem Mund da. „Ach, Sie haben bereits mit Hefepilzen gearbeitet?“ wunderte er sich dann. „Ich denke, Sie kommen vom Mars?“

„Da gibt’s auch Hefepilze“, erwiderte Boyd. Immerhin hatte er fast ein Jahr lang mit Hefe- und Schimmelpilzkulturen gearbeitet und dafür seinen Magistergrad erhalten.

Firculo wurde freundlicher. „Nicht zu glauben! Prima. Wenn das so ist, brauchen Sie nur diese Anweisungen hier durchzulesen und alle Ergebnisse, die Sie erhalten, aufzuschreiben. Das Hauptproblem besteht darin, zu Ergebnissen zu kommen. Das von Branahan benutzte Mikroskop muß hier irgendwo in einer Schublade sein – ja, hier ist es schon. Hallo, Ellen, wie geht’s?“

Sein Anruf erregte die Aufmerksamkeit einer jungen Frau, die daraufhin in die kleine Kabine kam und sich bei Boyds Anblick leicht verneigte.

„Ahem. Dies ist Boyd Allen Jensen, Ellen“, stellte Firculo sie einander vor. „Das ist, so scheint es, sein ganzer Name. Jensen, dies ist Ellen St. Catherine Mary June Williams Beth Maine Serkin. Magister Boyd, Ellen, ist der Ersatz für Branahan. Er kennt soweit die Grundlagen, also besorgen Sie ihm alles, was er braucht.“

Das Mädchen verbeugte sich erneut. Boyd starrte sie an, weil sie die erste junge Frau auf der Erde war, die er aus der Nähe sah. Das dunkelbraune Haar, ungewöhnlich glatt für eine irdische Frau, trug sie straff nach hinten gekämmt, wo sie es im Nacken zu einem festen Knoten zusammengesteckt hatte. Große, dunkle Augen blickten ihm aus einem Gesicht entgegen, das trotz hoher Wangenknochen und ziemlich voller Lippen überraschend anziehend auf ihn wirkte. Ihre exzellente Figur wurde von dem bodenlangen, langärmligen und hochgeschlossenen Kleid bloß bedeckt, verbarg sie aber nicht. Der graue Stoff schien sie zu modellieren. Selbst durch das grobe Material hindurch war offen zu erkennen, daß sie weder Büstenhalter noch Hüftgürtel trug. Als sie fortging, verfolgte er das Schwingen ihrer Hüften und das sanfte Wippen ihrer Brüste. Dies mochte jungfräulicher Sittsamkeit entsprechen – aber zugleich war es unbeschreiblich verführerisch.

Vielleicht, dachte er, wußten diejenigen, die Sittsamkeits- und Schicklichkeitsnormen festlegten, genau, was sie taten. Schließlich wurde alles vom elften Gebot bestimmt.

„Ellen ist ein prima Mädchen. Sie wird sich um Sie kümmern“, sagte Firculo. „Ich habe jetzt zu tun. Sie werden doch allein mit den Anweisungen fertig, oder? Wenn es auch ein paar Tage dauert, so sind sie doch immer noch am besten geeignet, um einen Neuling einzuarbeiten. Lassen Sie sich Zeit, und prägen Sie sich alles genau ein, bevor Sie mit irgend etwas anfangen. Ich schaue zwischendurch öfter mal wegen der Kulturen herein. Alles klar?“

Allein gelassen, nahm sich Boyd die auf billigem, dünnem Papier vervielfältigten Anweisungen vor. Die alte, nichtphonetische Schreibweise und der schlechte Druck verursachten ihm einige Mühe, aber er kam nun mal nicht darum herum. Jeder Student im ersten Semester an einer marsianischen Universität – und Boyds Studium hatte sechs Jahre gedauert – hätte nicht mehr als einen Tag dazu benötigt, das darin enthaltene Wissen zu beherrschen. Sein geistiges Rüstzeug hingegen befähigte ihn, fast jede Tätigkeit auszuführen, die im Rahmen der Kompliziertheit von Säugetierzellen und darunter lag.

Hefepilzzellen wie diese hier bedeuteten für ihn nichts als eine nebensächliche Spielerei. Gelegentlich schienen sie vermehrungs- und gärungsfähig zu sein, wenn das alkoholische Nebenprodukt eine Konzentration von fast fünfzig Prozent erreicht hatte – was das Maximum dreifach überstieg. Als weitere positive Eigenschaft vermochten diese speziellen Kulturen – im Unterschied zu normalen anderen – Zellulose und Stärkemischungen aufzuspalten, in denen sie sonst verhungerten. Für eine Technologie, die Alkohol statt der erschöpften Ölreserven als Energie benutzte, würde dieser Hefepilz, falls es gelang, ihn zu stabilisieren, eine erstrangige Entdeckung bedeuten.

Unglaublicherweise schien die Arbeit bloß eine Reihe von Versuchen mit dem Zweck, den Hefepilz mit verschiedenen unterschiedlichen Methoden wachsen zu lassen, zum Gegenstand zu haben, um auf diese Weise irgendein Mittel zur Stabilisierung zu finden. Irgendwo anders mußten sie mit Strahlen experimentieren, um ihn zur Mutation zu bringen, und das hiesige Labor hatte hauptsächlich die Aufgabe, mit Hilfe der quantitativen Überlebenskontrolle Ergebnisse unter allen möglichen Lebensbedingungen zu analysieren.

Er schüttelte den Kopf. Klar, daß Firculo unter diesen Bedingungen seine Sorgen haben mußte. Mit dieser unentwickelten Technik liefen sie stets Gefahr, alle mutierten Arten zu verlieren, bevor sie sie stabilisiert hatten. Dafür legten die Anweisungen und Vorsichtsmaßregeln der Dienstvorschriften Seite für Seite ein beredtes Zeugnis ab.

Er unterbrach sein Studium, um einen Mann in der angrenzenden Zelle zu beobachten, der eben schrittweise nach einer gedruckten Tabelle eine Lösung abmaß. Offenbar schien er keine Ahnung von Pilzkulturen selbst oder überhaupt von Biologie zu haben, da er ausschließlich Routinearbeit verrichtete.

Zur Mittagspause war Boyd planmäßig mit der Arbeit fertig und unsäglich gelangweilt. Mit ein paar andern zusammen begab er sich in den Versandraum hinunter, in dem Bänke aufgestellt waren und eine kleine Küche Essen austeilte. Es wurden verschiedene Menüs angeboten, mit denen Boyd jedoch nichts anzufangen wußte.

„Ist es wirklich wahr, daß Sie vom Mars kommen?“ fragte eine sanfte Stimme neben ihm. Als er den Kopf zur Seite drehte, sah er Ellen Serkin neben sich stehen. Auf sein Nicken hin bekam sie kugelrunde Augen. „Ich habe es von anderen gehört. Sie haben Angst vor Ihnen.“

„Sie auch?“ fragte er.

Sie kräuselte die Lippen zu einem geringschätzigen Lächeln. „Ich bin nicht abergläubisch, Magister Boyd. Meine Mutter hat mich anders erzogen. Ich habe mehrere Bücher über den Mars gelesen, und soviel ich von den Menschen dort weiß, werden sie einfach niemals in den Stand der Gnade gelangen. Sie wissen nicht, was das für ein Essen ist, nicht wahr? Dachte ich mir jedenfalls, so wie Sie gucken. Ich werde es für Sie aussuchen.“

Sie bestellte nicht nur für ihn mit, sondern besorgte auch für beide einen Platz auf einer leeren Bank, wo niemand saß. Die Blicke der übrigen ignorierte sie einfach. „Sehr freundlich von Ihnen, Miß Serkin“, bedankte er sich bei ihr. Das von ihr ausgesuchte Gericht war zum Teil flau, zum Teil zu sehr gewürzt – die Künste des Kochs der Kathedrale wären hier willkommen gewesen –, aber es war sicher noch das Beste aus dem Angebot. Die übrigen Gerichte kennenzulernen würde er noch genügend Zeit haben.

„Mrs. Serkin“, berichtigte sie ihn. „Ich war verheiratet.“

„War?“

Sie nickte, und ein kurzer Schein von Trauer trübte ihr Gesicht. „Ganz recht, war. Bitte hören Sie nicht auf das, was andere Ihnen erzählen. Er war gut zu mir, bevor – ach, ich mag nicht darüber sprechen! Wie ist es, Boyd, werden auf dem Mars überhaupt noch Kinder geboren?“

Er versicherte ihr, daß alle anderslautenden Gerüchte unwahr seien. Die Menschen auf dem Mars würden genau wie anderswo Kinder bekommen. Rechtzeitig fiel ihm noch ein, ihr zu verschweigen, daß dies dort nicht in der freien Wahl des einzelnen stand.

Die kleine Kiste mit pflasterartigen Gegenständen hatte zwar keine Hormonpräparate enthalten; hormonale Verhütungsmittel waren schon seit langem nicht mehr in Gebrauch. Das Pflaster auf Boyds Schulter aber ließ in genügender Menge eine Substanz durch seine Haut hindurchdringen, um einen Monat lang seine Unfruchtbarkeit zu gewährleisten. Er verfügte über genügend Ersatz, um sein Leben lang damit auszukommen. Er mußte grinsen: Lag es doch in seiner Absicht, es überhaupt nicht erst zur Gelegenheit kommen zu lassen, die Bevölkerungszahl dieses Planeten, der ohnehin schon von einer Überflut von Geburten überschwemmt war, um ein weiteres Kind zu vermehren.

Als er in sein Labor zurückkehrte, fand er Vater Petty vor, dessen Miene jetzt keinerlei salbungsvolle Liebenswürdigkeit mehr zeigte: Er wirkte verkniffen, hatte die Lippen zusammengepreßt und schnauzte barsch los: „Wer hat Ihnen gestattet, mit der Behandlung von Kulturen zu beginnen? Es scheint an der Zeit zu sein, Ihnen klarzumachen, daß der Hefepilz nicht einfach eine bloße chemische Substanz ist – sondern ein lebendiges Wesen! Kein Widerspruch, Jensen! Schließlich habe ich dreißig Jahre damit verbracht, ihn zu studieren, und ich sage Ihnen, er lebt! Man muß sorgfältig mit ihm umgehen. Und was tun Sie? Wollen Sie unsere ganze Arbeit hier gefährden?“

„Immer mit der Ruhe, Vater“, meldete sich Firculo, der leise herangeschlichen war. „Ich habe alles überwacht. Daß der Pilz lebt, weiß der junge Mann sicher. Wie er mir erzählte, hat er sogar einen Magistergrad von einer marsianischen Universität.“

„Gilt hier nicht!“ wies der Priester ihn schroff zurück. „Und wenn auch – wissen Sie, ob es stimmt? Ich brauchte zehn Jahre mehr, als er jetzt alt ist, nur um die Philosophie vom Leben seelenloser Geschöpfe zu erlernen. Es darf einfach nicht sein, daß er schon jetzt mit richtiger Forschung beginnt! Und außerdem: Sind Sie sicher, wirklich zu wissen, was er tut?“

Firculo schaffte es dennoch, den Alten zu beruhigen und abzuwimmeln. Danach seufzte er tief auf und rieb sich die Stirn. „Er hat einfach Angst, die Forschungen hier könnten sich möglicherweise als nicht so wichtig herausstellen, so daß ein weiterer Priester hierher versetzt werden muß. Ich hätte besser Ihr Studium nicht erwähnen sollen, da er nur den kleinen Abschluß in Naturwissenschaft hat. Na, wie sieht’s aus? Haben Sie schon einen Ansatzpunkt?“

„Vielleicht. Jedenfalls sollte man sich keine unnötigen Hoffnungen machen“, erwiderte Boyd.

„Aha.“ Firculo stand die Sorge auf dem Gesicht geschrieben. „Zwar gehört mir dieses Projekt hier, aber falls die Gordinis ihren Kredit zurückfordern, muß ich aufhören. Hab’ schon schwer genug dafür bluten müssen, alles mühsam auf die Beine zu stellen. Wenn wir es aber schaffen, diese Spezies zu stabilisieren, kann ich mich zur Ruhe setzen und mir ein Grundstück mit Villa anschaffen. Meistens aber kommt es anders als man denkt. Die eine Zelle zu entdecken, nach der wir suchen, ist ein reines Glücksspiel.“

Er ging seiner Wege und überließ Boyd wieder seiner langweiligen Tätigkeit. Wahrscheinlich war es für jemanden, der genauestens die Anweisungen befolgte, eine mühselige Arbeit. Boyd ertappte sich jedoch dabei, daß er die meiste Zeit mit dem Ausschauen nach Ellen verbrachte. Sie schien eine Art Mädchen für alles zu sein. Zu sehen, wie sie herumflitzte und große Behälter mit Flüssigkeiten transportierte, die er vermutlich nur eben anzuheben vermochte, ließ ihm angst und bange werden. Die Arbeit machte ihr offenbar aber keine besondere Mühe. Nebenbei wurde damit noch die Enge des Kleids betont, und die Kurven darunter traten deutlicher hervor. Boyd hatte infolge seiner Krankheit viel von den sonst normalen Erfahrungen mit Mädchen entbehren müssen, und seine Großmutter hatte die wenigen Mädchen, mit denen er angebändelt hatte, noch verjagt – wegen seines verdorbenen Bluts, wie er jetzt bitter erkannte.

Und doch konnte er sich, verflixt noch mal, nicht mit einer Erdenfrau einlassen! Er wollte ja unbedingt zum Mars zurück.

Drei Tage Langeweile bei der Arbeit und Alleinsein in seinem Zimmer – mehr konnte er nicht ertragen. Mrs. Branahan lächelte ihm immer im Flur zu und weckte ihn regelmäßig, aber darüber hinaus bot sie keinerlei Freundschaftsbeweis an, und er wollte sich auch nicht aufdrängen. Anders Buckel-Pete, der wortreich wertvolle Hinweise über gesellschaftliche Verhältnisse auf der Erde gab, währenddessen geschäftig die wasserlosen Klosetts leerte oder einfach den Flur fegte. Boyd aber genoß keine wahre Gesellschaft außer seinen Büchern. In ihnen befand sich das komprimierte, kurz zusammengefaßte Wissen, zu dessen Studium er bisher nicht gekommen war – die Theorie der Genstruktur nach dem neuesten Wissensstand, aber auch graphische Darstellungen und Erklärungen der, seltsamen DNA-Ketten in den menschlichen Genen. Ohne Doktortitel war er eigentlich nicht befugt gewesen, sie zu besitzen, aber es war ihm gelungen, sie vor der Abreise einem Studenten abzukaufen. Der marsianische Zoll hatte sie nicht beanstandet – vermutlich deshalb, weil dort niemand wußte, was in ihnen stand.

Sie waren jedoch kein Trost für seine Einsamkeit und Langeweile. Meistens hielt er die Büffelei nicht länger als eine halbe Stunde aus. Er entdeckte, daß es eine Zeitung gab, aber der größte Teil des Inhalts sagte ihm nicht viel. Das Hochwasser des Missouri war in diesem Jahr schlimm gewesen und hatte sogar die vierte Terrasse überschwemmt. Siebzehn Millionen Menschen wurden dadurch obdachlos. Das wurde als unbedeutend hingestellt, und Boyd begann seine Vorstellungen dahingehend zurechtzurücken, daß siebzehn Millionen Menschen wenig bedeuteten.

Schließlich wandte er sich an Firculo. „Man könnte schnellere Ergebnisse durch verstärkte Anregung der Zellen erreichen“, führte er aus. „Warum gehen wir nicht auf die Zellen, die überlebt haben, zurück und bauen sie neu auf?“

Firculo hatte offenbar niemals ganz verstanden, worum es Boyd ging, aber er ließ jetzt erkennen, daß etwas in dieser Art schon von Priester-Wissenschaftlern sowie von Medizinern unternommen worden war. Solche Leute zu engagieren, lag außerhalb seiner Möglichkeiten. Die Priester verrichteten ihre eigene Arbeit, für die sie ohnehin zuwenig Personal besaßen, während ein Mediziner es nicht für den Lohn tun würde, den er zahlen konnte. Außerdem käme er nicht an die Ausrüstung heran, die vermutlich sogar vom Mars importiert werden müßte.

„Angenommen, ich hätte die Ausrüstung und könnte es tun?“ schlug Boyd vor. „Es würde die Routinetätigkeiten, die ich hier verrichte, kaum beeinträchtigen.“

Wahrscheinlich bot sich ihm nur so die einzige Gelegenheit, aus diesem trostlosen Technikerjob herauszukommen. Wenn es ihm gelang vorwärtszukommen, bestand die Möglichkeit, eine Position zu erreichen, die es ihm ermöglichte, herauszufinden, wie er zum Mars zurückkehren könnte.

Firculo kratzte sich, nicht restlos überzeugt, am Kopf. Andererseits mußte er jede sich bietende Chance beim Schopfe fassen. Schließlich zuckte er die Achseln. „Schauen Sie, Boyd, extra was bezahlen könnte ich Ihnen dafür aber nicht. Selbst unter der Voraussetzung, daß es klappt, käme ich in den nächsten fünf Jahren nicht mehr aus den roten Zahlen heraus. Außerdem darf ich von Ihren Versuchen nichts wissen. Meine Aufgabe ist es, daß Sie die zugeteilte Arbeit erledigen, und sonst nichts weiter. Wenn ich aber nicht sehe, was Sie da treiben, und solange Vater Petty nichts davon aufschnappt, soll’s mir egal sein. Tut mir leid, aber es geht nun mal nicht anders. Und glauben Sie nicht, Petty sei ein kompletter Idiot.“

Boyd hätte es vorgezogen, seine Versuche zu Hause ausführen zu können, aber dort gab es keine Elektrizität. Das kleine Mikroskop konnte leider nicht mit gewöhnlichen Batterien betrieben werden. Also verpackte er es sorgfältig und beförderte es am nächsten Morgen ins Laboratorium, wo er es an einem Platz hinter dem Brutschrank aufstellte. Zu seiner Befriedigung funktionierte es mit irdischer Spannung, so daß er sich unverzüglich auf die mühevolle Jagd nach der gesuchten Hefepilzmutation machen konnte.

Das Mikroskop arbeitete auf der Basis einer Modifikation des Feldwellenprinzips, das zuerst als Antrieb für interplanetarische Schiffe Verwendung gefunden hatte. Selbst mit Hilfe verstärkter Elektronenstrahlen war es nicht möglich gewesen, das Innere einer Zellstruktur ausreichend zu vergrößern, und Lichtmikroskopie war ohnehin nicht leistungsfähig genug. Dieses Instrument aber analysierte das Studienobjekt durch seine direkte Einwirkung auf den Raum und schuf ein Bild, das ohne Verletzung der Zelle mehrere Millionen Male auf den ursprünglichen Durchmesser vergrößert werden konnte. Um zu vermeiden, daß die Zellbewegungen gleichzeitig mit übertragen wurden, verfügte es über eine Kammer, in der dem Objekt die Wärme so rasch entzogen werden konnte, daß die darauffolgende Abkühlung bis fast zum absoluten Nullpunkt zu schnell geschah, um Zellbeschädigungen zu verursachen. In ihr konnte eine Zelle untersucht und bis zu einem gewissen Grad manipuliert werden, um sodann wieder zu normaler Funktionsfähigkeit zurückgeführt zu werden.

Diese Zelle jedoch, so entdeckte er gleich auf den ersten Blick, verfügte über eine recht seltsame Struktur. Sicher hatte er noch einen Hefepilz vor sich – aber einen, der Veränderungen aufwies, die nur durch Hunderte von Mutationen hervorgerufen worden sein konnten. Meistens handelte es sich dabei erkennbar um solche, die nichts mit dem Abbau von Stärke zu Alkohol und der dazu benötigten Energie zu tun hatten. Gern hätte er sie im Detail untersucht, jede Veränderung analysiert und darüber einen gelehrten Artikel über terrestrische Hefepilze für das Zytologische Journal geschrieben. Dazu aber hatte er jetzt keine Zeit. Stets hatte er ein Auge auf den Priester zu haben und weiterhin seine normale Arbeit zu tun und Berichte zu liefern.

Ellen erwischte ihn am vierten Tag bei seinen heimlichen Studien – das heißt, eigentlich am fünften, da der Sonntag dazwischen gelegen hatte, an dem ohne besondere Erlaubnis Lohnarbeit untersagt war. Er hörte sie nach Luft schnappen, zog seinen Kopf zurück und sah sie, wie sie ihm über die Schulter auf den Bildschirm starrte.

„Sie vergreifen sich an lebendigen Wesen!“ klagte sie ihn an.

Er fluchte innerlich. „Genau diesen Sinn, Ellen, verfolgen alle Experimente hier. Zu diesem Zweck werden die Pilze überhaupt bestrahlt. Ich benutze lediglich eine andere Methode.“

„Das ist mir alles klar“, wehrte sie ungehalten ab. „Ganz ungebildet bin ich schließlich nicht. Wenn Vater Petty Ihnen jedoch auf die Schliche kommt, wird er Sie mit dem Kirchenbann belegen. Sie kennen die Geistlichkeit nicht, Boyd – im Gegensatz zu mir. Lassen Sie es also!“ Ihre Aufmerksamkeit wurde von einer auffälligen Stelle auf dem Bildschirm im Zentrum zweier sich kreuzender haarfeiner Stränge geweckt. „Da liegt die Ursache des Problems, nicht wahr?“

Er bejahte dies und versuchte ihr die Abbildung zu erklären. Zu seinem Erstaunen schien sie seiner Darstellung folgen zu können. Seiner Erkenntnis nach ließ der dort sichtbare Ausschnitt des Zellkerns, der die beiden Desoxyribonukleinsäure-Stränge – kurz DNS genannt – zeigte, klar erkennen, daß einige dazwischenliegende Brücken nicht ausreichend verkettet waren. Bei normaler Vermehrung in Nährlösung entstanden die störenden Instabilitäten gewöhnlich in den eine Kette bildenden Strängen – und eben diese Kette in ihrer Gesamtheit bestimmte die ungewöhnliche Leistung der Verwandlung von Abfallprodukten in verwertbaren Alkohol. Falls es ihm nun gelänge, etwa dreißig dieser Kettenteile durch einen Eingriff ohne Veränderung ihrer Eigenschaften funktionsfähig zu verketten, wäre gleichzeitig die gesamte Kette stabil und verfügte auch über die erwünschten Eigenschaften. Nicht zu erreichen war dieses Ergebnis jedoch unter Einsatz von Bestrahlung, denn dadurch würde mit Sicherheit die gesamte Zelle an dieser Schwachstelle vernichtet. Das Problem bestand darin, daß er verschiedene Chemikalien benötigte, die er zur Anregung der Zelltätigkeit ins Zellinnere praktizieren mußte.

„Kann ich besorgen“, ließ sie ihn wissen. „Wir haben im Lager eine ganze Menge Chemikalien. Ich denke schon, daß der Verwalter mir sie überläßt.“

„Ihr Freund?“ fragte er.

Sie schüttelte verbittert den Kopf. „Ich habe keine Verehrer, Magister Boyd. Nicht, nachdem … nachdem er das getan hat. Man hält mich für … verseucht.“ Zorn zeigte sich auf ihrem Gesicht. „Und Sie Marsianer, seien Sie bloß still! Oder glauben Sie etwa, ich würde meine Mittagspause mit Ihnen zusammen verbringen, wenn es einen anderen gäbe?“

„Was hat Ihr Mann denn getan, Ellen?“ fragte er. Ihre Worte hatten ihn verletzt, besonders deshalb, weil er um deren Wahrheit wußte. Nun schlug er zurück, mit Bedacht, obwohl er das haßte. „Oder haben Sie Angst, es mir zu sagen?“

Alles Blut wich aus ihrem Gesicht, und ihr Nacken versteifte sich. Sie ballte eine Hand zur Faust wie jemand, der sich anschickt loszuschlagen. Dann lachte sie kurz und rauh auf. „Warum nicht, Boyd? Alle anderen wissen es, und vielleicht wollte ich es so haben. Er war immer schon ein bißchen seltsam. Aber nachdem man uns unser Kind weggenommen hatte, brütete er nur noch herum. Eines Tages – er kam gerade von einem Gespräch mit dem Priester unserer Gemeinde zurück – tat er sich etwas an, wonach er nicht mehr als Mann bezeichnet werden konnte! Danach verblutete er. Allerdings wurde es nicht eigentlich als Selbstmord gewertet. Man glaubt, ich hätte ihn dazu gebracht oder so ähnlich. Also gut, nun wissen Sie es. Wollen Sie immer noch Chemikalien haben?“

Er fühlte sich scheußlich, was nicht nachgelassen hatte, nachdem sie wenig später mit mehreren kleinen Flaschen zurückkehrte. Aber sie schien seine Grobheit ebenso wie ihre bitteren Erinnerungen schon wieder vergessen zu haben. Beim Mittagessen saß sie wieder bei ihm, als ob nichts geschehen wäre, und gab sich alle Mühe, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Sie schien davon überzeugt zu sein, daß Vater Petty seine Augen überall hatte. Boyd lachte über ihre Ängste.

Als er jedoch in seine Kabine zurückkehrte, fand er den Alten über den Bildschirm seines Mikroskops gebeugt.