Die Kathedrale von St. Bonaforte war das Nervenzentrum Amerikas. Sie bestand aus einer Reihe von miteinander verbundenen Gebäuden, wobei das Hauptgebäude der Administration vorbehalten blieb. Dieses Gebilde hatte die vierfache Größe jeder anderen Kathedrale, und viele der angrenzenden Bauwerke waren nur unwesentlich kleiner. Es handelte sich um eine häßliche Zusammenballung von Stein und offenen Räumen, aber fast jede Architektur, die der Notwendigkeit und nicht der Planung entspringt, ist häßlich. Doch von hier aus wurde effektiv das Leben von fünf Milliarden Menschen kontrolliert, und die Organisation funktionierte mit einer geradezu beispiellosen Effizienz.
Boyd erhaschte nur einen flüchtigen Blick darauf, während sie mit einem großen Lastwagen zu den Laboratorien der Lebenswissenschaften gebracht wurden. Auch diese entpuppten sich als ein großer Klotz aus Beton und Stein. Da die irdische Gesellschaft letztlich von dem maximalen Nutzen aller existierenden Lebewesen abhing, wurde gerade auf die Kontrolle dieses Lebens große Aufmerksamkeit gerichtet. Vielleicht, weil die anfallenden Arbeiten zum Großteil Routine waren, gab es hier weitaus mehr durchschnittliche Mediziner als wirklich gute, wenn man ihnen auch zugute halten mußte, daß die Idee, das Leben gehöre zum Einflußbereich der Kirche, ihre berufliche Weiterbildung mit einer Unzahl theologischer und philosophischer Kurse behinderte. Trotzdem gab es noch sehr viele begnadete Männer in dem Feld, und die meisten waren hier konzentriert.
Boyd selbst wurde einem Laboratorium zugeteilt, das sehr gut ausgerüstet und mit zwei Mönchen und einem Priester als seinen Assistenten besetzt war. Auch Ben kam in dieses Laboratorium. Es waren große Tanks installiert, was Boyd zu der Vermutung brachte, sie würden es mit irgendeiner Algenform zu tun bekommen. Er hatte kaum seinen Koffer ausgepackt, als sie auch schon zum Konferenzraum beordert wurden. Das war ein Amphitheater, das gut und gerne einige hundert Leute fassen konnte, ausgestattet mit Projektoren, Modellen und allem, was sonst noch für Demonstrationen erforderlich war. Ungefähr einhundert Leute hatten sich eingefunden.
Ein Mann in der Robe eines Bischofs, doch mit dem intelligenten, kalten Blick eines administrativen Wissenschaftlers, trat auf Boyd zu, um ihn zu begrüßen. „Ich bin glücklich, Sie bei uns zu haben, Dr. Jensen. Ich habe Ihre Abhandlung gelesen, und ich glaube, dies ist ein Zeitpunkt, in dem wir den unterschiedlichen Standpunkt eines Mannes vom Mars benötigen. Ich bin Markoff, Sie werden mir direkt verantwortlich sein.“
Markoff war ein Name, der für Boyd eine gewisse Bedeutung hatte. Dieser Mann hatte eine der gebräuchlichsten Methoden zur Gen-Transformation entdeckt, doch Boyd hatte bisher nicht gewußt, daß es sich um einen irdischen Wissenschaftler handelte.
Markoff stimmte einer diesbezüglichen Frage mit einem erfreuten Lächeln zu. „Die Beschäftigung damit hat mir damals viel Spaß gemacht. Es freut mich, daß meine Methode auch auf dem Mars als nützlich angesehen wird; das wußte ich bisher nicht. Aber seitdem habe ich mich zurückgezogen. Ich überlasse das Experimentieren nun den jüngeren Forschern.“
Eine leichte Unruhe kam auf, als die Begrüßungszeremonie begann. Der Mann auf der Plattform war nahezu einen Meter neunzig groß, und seine Haartracht stand noch einmal zwei oder drei Zentimeter in die Höhe. Er war schlank und knochig, dennoch lag in seinen Bewegungen eine animalische Gewandtheit. Seine Stirn war zu hoch für sein Gesicht, dieses selbst war hager und zerfurcht.
„Der Heilige Vater selbst“, murmelte jemand, doch das hatte Boyd bereits vermutet. Eine selbstverständliche und einzigartige Macht schien von dem Mann auszugehen.
Seine Stimme war trocken, fast dünn. Ökonomisch und präzise umriß er ihr Problem. Eine Algenform war entdeckt worden, und zwar von der Antarktisflotte, die man zu Anfang nur als eine Kuriosität betrachtet hatte. Es schien sich um das bekannte Dinoflagellat zu handeln, das zusammen mit der Kieselalge den Löwenanteil der Planktonvegetation des Meeres ausmachte. Doch der Fund war keine Pflanze, sondern verhielt sich wie ein Tier. Das machte ihn zwar zu einer außergewöhnlichen Kuriosität, war aber nichts Überraschendes. Euglena viridis, das war schon seit Jahrhunderten bekannt, war auch in der Lage, in eine tierische Lebensform überzugehen und dann wieder ins Pflanzenstadium zu schlüpfen. Doch wie die Rotten berichteten, hatte diese neue Form sich so rasch ausgebreitet, daß sie bereits ernsthaft das gesamte Plankton gefährdete. Wenn es nicht schnell gelang, die Natur dieser Bedrohung zu erkunden und die neue Lebensform auszurotten, dann konnte es in diesem Jahr zu einer ernsthaften Mißernte kommen. Und das hätte den Hungertod von Milliarden allein in dieser Hemisphäre zur Folge.
„Sie haben höchstens drei Wochen Zeit, um dieses Problem zu lösen – optimistischen Schätzungen zufolge“, endete Bonaforte. „Möge Gottes Hilfe Sie begleiten.“
Markoff übernahm die technische Einführung und unterrichtete sie über den bisherigen Wissensstand, der sehr niedrig war. Die Zellen hatten sich so schockierend rasch ausgebreitet, daß man davon vollkommen überrumpelt worden war.
Die kleine Kreatur schien für das Leben als Tier ausgezeichnet ausgestattet zu sein. In seiner normalen, pflanzlichen Form bewahrte es sich selbst durch Schwimmbewegungen mit kleinen, haarähnlichen Auswüchsen vor dem Absinken. Nach der Metamorphose entwickelte es einen Schlund und war in der Lage, sich von pflanzlichen Zellen zu ernähren. Es war eine sehr komplexe Zelle, und Boyd zweifelte daran, in drei Wochen auch nur das Grundwissen darüber erwerben zu können.
Sein Interesse konzentrierte sich hauptsächlich auf verschiedene Formen subzellularer Viren, die die Algen befallen hatten, denn schon früher hatte er seine Zeit hauptsächlich mit dem Studium von Viren verbracht. Etwas, das ihn ganz besonders faszinierte, war ein Teil des Nukleus jenes Dinoflagellates, der aussah, als wäre er von einem Virus angegriffen worden, das nun irgendwie zu einem variablen Teil der Zellstruktur geworden war. Doch er konnte keinen Unterschied dazu in einer tierischen Modifikation entdecken. Noch weniger fand er heraus, wie die Tiere es anstellten, sich so rasch zu vermehren. Er landete immer wieder in Sackgassen.
Das volle Ausmaß der Notlage wurde ihm erst am Ende des ersten Tages bewußt. Er hatte zwar erwartet, daß das Essen in dem Gebäude gereicht würde, doch zu seiner Überraschung hatte man auch eine ganze Etage in einen Schlafsaal umgewandelt. Offensichtlich wollte man keine Zeit verschwenden. Normalerweise würde eine solche Situation auf lange Sicht die Leute unnötig auslaugen, doch für einen kurzen, intensiven Arbeitsaufenthalt konnte man es aushalten.
Ben deutete zu der legendären Halle der Geheimnisse hinüber. Es war ein Bauwerk am Kopf des Hauptgebäudes der Kathedrale, eine unerschöpfliche Quelle der wildesten Gerüchte, denn man sagte von ihr, sie enthalte alles, vom Geheimnis der Antigravitation über Sternenschiffe, die direkt zu den fernsten Sternen fliegen konnten, bis zu einem Fusionskraftwerk, so klein, daß man es in einer Armbanduhr unterbringen konnte. Die Erde war voller Träume, ihre Führungsrolle in der Technik zurückzuerlangen, und die meisten dieser Träume richteten sich auf diese Halle. Doch es war alles haltloser Humbug, da war er sicher.
Sämtliche Laboratorien waren mit Haustelefonen verbunden, um einen möglichst raschen Informationsaustausch zu gewährleisten. Am dritten Morgen summte dieses Telefon, und Boyd nahm den Hörer ab, um die erfreute Stimme von Markoff zu hören.
„Sie haben ein Kühlfach an Ihrem Mikroskop“, sagte er. „Wie schnell und über welchen Bereich können Sie die Temperatur kontrollieren?“
„Von flüssigem Wasserstoff bis Raumtemperatur in dreißig Sekunden“, antwortete Boyd. Die älteren Modelle, mit denen die anderen arbeiteten, hatten keine eigenen Kühlfächer; sie waren gezwungen, ihre Proben in speziellen Kühlkammern abzukühlen, und mußten dann eben rasch arbeiten, bevor die Isolation der Mikroskope nicht mehr ausreichte und die Proben wieder warm wurden.
„Ist es frei?“ Doch dann schien Markoff seine Meinung zu ändern. „Egal. Machen Sie es frei! Ich glaube, wir haben des Rätsels Lösung, und mit Ihrem Mikroskop können wir das am schnellsten nachprüfen.“
Bonaforte erschien in Begleitung Markoffs und eines kleinen Priesters namens Jiminez, der dem Labor permanent unterstellt war, gerade in jenem Moment, als Boyd sein eigenes Projekt beiseite geräumt und das Mikroskop vorbereitet hatte. Der Erzbischof übernahm die Kontrolle des Mikroskops, als Boyd kaum seine Erklärungen beendet hatte. Eine Sekunde lang schien ihm das verkehrt zu sein – Markoff war ein richtiger Wissenschaftler, er hätte die Tests durchführen sollen, dachte er. Dann sah er, wie die alten Hände Bonafortes die Proben nahmen, die Jiminez ihm gab, wonach er begann, die Kontrollen zu manipulieren.
Bonaforte war ein unglaublicher Meister! Die Meinung, daß er ein ausgezeichneter Zytologe war, stellte sich als durchaus richtig heraus; sie hatte nichts mit dem manchmal fragwürdigen legendären Ruf gemein, der eine große Persönlichkeit immer umgibt. Seine Geschicklichkeit stellte wirklich alles in den Schatten, was Boyd bisher gesehen hatte. Mit einer durch die fremdartigen Kontrollen verursachten ganz geringen Verzögerung stellte er die Vergrößerung auf einen mittleren Wert ein, brachte seine Probe gewandt in ihre Position und stellte den Fokus auf Nadelschärfe ein. Er hatte die Temperaturkontrolle noch nicht berührt, und das Mikroskop war also noch immer auf Zimmertemperatur eingestellt, nun aber führte er eine Temperatursenkung herbei und nickte zufrieden, als die Bewegungen der Zelle des Dinoflagellates mit sinkender Temperatur langsamer wurden.
Ganz sachte, unter Einsatz der feinsten Manipulatoren, führte er ein Virus an die Zelle heran. Dieses durchdrang die Zellmembran sofort und bewegte sich ohne Zögern auf den Nukleus zu. Ein weiteres Virus wurde herangeführt – doch das erste hatte irgendwie die Zellwand verändert, das zweite konnte ganz offensichtlich nicht eindringen.
Bonaforte hob den Vergrößerungsfaktor weiter an. Boyd registrierte bewundernd, daß er gleichzeitig die Temperatur noch etwas senkte, um die nun deutlicher wahrnehmbaren Zellbewegungen weiter zu verlangsamen. Nun konnte er die Verhaltensmuster des Virus im Zelleninneren studieren. Dieses machte sich sofort an die Aufgabe, die für ein Virus natürlich ist – es begann ein neues Virus aus den Nukleinsäuren der Zelle zu bilden. Doch der Pflanzenzelle schien dabei nichts Ernstes zuzustoßen. Das Virus schlüpfte hinaus in die Flüssigkeit, um sich nach einem neuen Wirt umzusehen, doch das Dinoflagellat existierte weiter, als sei nichts geschehen. Boyd rätselte darüber lange, bis er bemerkte, daß Bonaforte an einer neuen Probe arbeitete.
Dieses Mal manipulierte er zwei Viren zusammen an die Zellwand. Er hatte dazu die Vergrößerung wieder ein wenig zurückgestellt. Sie berührten die Membrane – und beide drangen ein und näherten sich rasch dem Nukleus.
Nun begann sich eine Veränderung der Zelle abzuzeichnen. Zuerst bildete sich eine Vertiefung in der Membrane, die sich nach innen faltete. Schon nach Sekunden hatte sich ein Schlund gebildet, und sie hatten eine typische Tierzelle vor sich!
Bonaforte erhob sich zu voller Größe, er wischte sich die Hände achtlos an einem Stück Stoff ab. „Sehr gut. Das ist Beweis genug. Natürlich müssen wir alle davon unterrichten“, sagte er zu dem kleinen Priester. Sein Arm ruhte sanft auf den schmächtigen Schultern, als er sich der Tür näherte. Dort drehte er sich noch einmal zu Boyd um. „Vielen Dank, daß ich Ihr Mikroskop benützen durfte, Dr. Jensen. Es ist ein ausgezeichnetes Instrument. Passen Sie immer gut darauf auf.“
Jiminez war in diesem Augenblick des Triumphs kaum in der Lage, sich zu artikulieren, daher mußte Markoff größtenteils die Erklärungen abgeben. Nun wußten sie zwar, was die Veränderung in der Zelle herbeiführte, doch noch kannten sie keine Methode, um den Prozeß zu verhindern. Sie konnten schließlich unmöglich dieses Virus in vielen Kubikmeilen Wasser vollkommen ausrotten.
Er hatte eine vage Idee entwickelt, als er die letzte Demonstration beobachtet hatte, und nun versuchte er, sie weiter auszubauen. Schließlich ging er zu Markoff und erklärte ihm alles, so gut es ihm möglich war. Es war schon erfreulich, einen Vorgesetzten zu haben, der auch tatsächlich etwas von dieser Wissenschaft verstand.
„Das hört sich ja wie ein ganz wilder Geistesblitz an“, meinte Markoff, „aber ich setze bei diesem ganzen Projekt keine große Hoffnung auf die Routine. Machen Sie ruhig weiter – niemand anders arbeitet daran. Aber wie wollen Sie in der Zeit, die uns noch verbleibt, eine Lösung finden?“
Boyd war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt gewesen, um den Zeitfaktor zu berücksichtigen, doch nun mußte er zugeben, daß der Bischof gar nicht so unrecht hatte. Nichtsdestotrotz, er hatte es ja selbst so gewollt. „Ich fürchte, ich werde eine doppelte Schicht einlegen müssen“, sagte er reuevoll. „Vielleicht kann ich es auf diese Weise schaffen.“
„Sie sind ein guter Mensch“, sagte Markoff anerkennend. „Beordern Sie Ihren Freund Muller von seiner Arbeit ab, er soll Sie unterstützen. Wie ich weiß, haben Sie schon früher mit ihm zusammengearbeitet. Und vielleicht habe ich auch genügend Freizeit, um ein paar Routineaufgaben zu erfüllen, wenn Sie sich ausruhen müssen. Aber führen Sie auf alle Fälle lückenlose Aufzeichnungen über Ihr Projekt. Bruder Emmett kann mitschreiben, damit Sie Ihre Arbeit nicht unnötig unterbrechen müssen.“
Seine Theorie fußte auf einer langen und fraglichen Serie von Schnappschüssen dessen, was er gesehen hatte – die Ähnlichkeit des neuen Virus mit der älteren Form, die sich im Zellkern eingenistet hatte, der offensichtliche Metamorphoseprozeß in der Zellmembrane nach Eindringen eines einzelnen Virus und nach der gefährlichen Aufnahme von zwei Viren sowie eine nur lose verknüpfte Kette von Nukleinsäuremolekülen, die er in dem Virus entdeckt hatte. Wenn all seine Vermutungen korrekt waren und wenn jede Manipulation möglich war, dann konnte seine Idee vielleicht tatsächlich zu einer endgültigen Ausschaltung des Virusproblems fuhren.
Es bedeutete, Teile des degenerierten Virus im Nukleus zu nehmen und diese mit anderen Teilen des eindringenden Virus zu koppeln, zusätzlich noch mit Fragmenten der Dinoflagellatzelle. Teile, die die Zelle selbst akzeptieren würde, auch nach der Veränderung, damit die ganze Struktur eindringen konnte. Seine gesamte Konstruktion mußte hinterher aus lose verknüpften Ketten bestehen, die sich mit den Ketten des gefährlichen Virus verbinden konnten; solche Reaktionen waren unter verschiedenen Virusformen relativ häufig, doch seine Reaktion mußte wesentlich wahrscheinlicher sein, als es der üblichen Norm entsprach.
Wenn alles glattging, dann würde er ein Virus schaffen, das in die tierische, nicht aber in die pflanzliche Form der Zelle eindringen konnte und das dort das gefährliche Virus neutralisierte. Aber da er gerade daran dachte – der Teilaustausch brauchte nicht hundertprozentig zu sein, da das synthetische Virus sich häufiger reproduzieren mußte, als es einen Eindringling neutralisieren mußte, um einen Überschuß zu erzeugen, der seine Verteilung über das gesamte befallene Areal gewährleistete. Das vereinfachte das Problem ein klein wenig.
Natürlich würde er so die tierische Form nicht ausrotten können, doch er konnte die Produktion neuer Tierzellen verhindern, so daß die Pflanzen sich normal vermehren konnten.
Ben machte sich mit großem Eifer an die Arbeit, und er bemühte sich, alle Informationen über das Virus zu bekommen, die Boyd benötigte. Es gab keine Möglichkeit, das Schema vor seiner endgültigen Fertigstellung zu testen, doch es fiel eine Menge peripherer Arbeit an, die ohne weiteres von anderen erledigt werden konnte.
Boyds Arbeit beinhaltete die höchsten Anforderungen, denen er sich jemals gegenübergesehen hatte. Geradezu phantastische Fähigkeiten und ein Höchstmaß an Koordination waren nötig, um die Reagenzien und Chemikalien, die Fraktionen des Nukleus separierten und manipulierten, zu handhaben. Und diese Fraktionen dann in noch kompliziertere Strukturen überzuführen, erwies sich als noch wesentlich schwieriger. Er zwang sich ständig, so lange es ihm möglich war durchzuhalten, bevor er sich eine Ruhepause genehmigte und entspannte, und in diesen kurzen Pausen las er dann meistens noch die Reports, die angelegt wurden, um die ganze Operation besser zu koordinieren, und überprüfte Bens Arbeit. Er zwang sich aber immer, seine Mahlzeiten nicht hastig hinunterzuschlingen und dann an seine Aufgabe zurückzukehren, denn er wußte, er benötigte ab und zu eine kurze Unterbrechung, in der er vollkommen abschalten konnte.
Zweimal traf er den Blinden Stephan, der sich in den Laboratorien aufhielt. Ben versicherte ihm, daß er sich nicht getäuscht hatte. „Er ist sehr interessiert an allem hier. Er kam, um von Seiner Heiligkeit die Erlaubnis für eine nationale Radiosendung zu erbitten – ich schätze, diese Erlaubnis wurde ihm auch erteilt. Doch nun hofft er, er könnte dieses ganze Team zur Lösung des Problems der australischen Pest heranziehen. Ich glaube, die Chancen stehen nicht schlecht für ihn. Er hat vorausgesagt, daß Sie Ihr Problem lösen werden.“
Boyd lachte. Ben schüttelte zweifelnd den Kopf. „Halten Sie ihn nicht für einen Narren, mein Freund. Auch ich bin etwas skeptisch, aber ich weiß nicht so recht. Ich werde das Gefühl nicht los, als gäbe es tatsächlich etwas, das wir nicht verstehen. Man kann Männer wie Moses und Petrus, den Einsiedler, nicht erklären. Religiöse Menschen sagen, sie seien von Gott inspiriert worden, Mystiker schwafeln üblicherweise über außersinnliche Wahrnehmungen, was auch immer sie darunter verstehen. Vielleicht ist es nur eine Art von übertriebenem Fanatismus, der in ihnen bestimmte Geistesgaben weckt, so daß sie nur ganz wenige Fingerzeige brauchen, um die Beschaffenheit eines Problems zu durchschauen. Und dieser Mann ist inspiriert, im wahrsten Sinne des Wortes, ganz egal, ob von Gott oder wie Sie es sonst nennen wollen.“
Boyd hatte das unbehagliche Gefühl, als ob Ben recht hätte, doch er verdrängte diese Gedanken und machte sich wieder an seine Arbeit.
Beim drittenmal wartete der Blinde Stephan vor der Tür des Laboratoriums. Die blicklosen Augen wandten sich Boyd sofort zu, als er herauskam. Die Intensität des Ausdrucks glich einem inneren Feuer, obwohl der Mann sich sichtlich bemühte, ein freundliches Gesicht zu machen.
„Ich benötige Sie, Meister Boyd Jensen“, sagte er leise. Es gab keinerlei Zweifel mehr, nur noch vollkommene Bestimmtheit. „Erbitten Sie alles, was Sie wollen, doch unterstützen Sie mich bei der Aufgabe, zu deren Erfüllung ich gesandt wurde.“
Boyd fühlte, wie es ihm kalt über den Rücken lief. Er fragte sich, woher der Mann gewußt hatte, wer zur Tür herausgekommen war. „Ich gehöre überhaupt nicht Ihrem Glauben an“, sagte er endlich.
Der Blinde Stephan schien ihn durch seine geschlossenen Lider anzustarren. Schließlich senkte er den Kopf in einer demütigen Geste und trat zurück. „Ich glaube doch, mein Sohn. Ich glaube, der Gott, dem wir dienen, ist derselbe Gott. Und wenn Sie das herausgefunden haben, dann werde ich Sie erwarten.“
Markoff konnte Boyd nur wenig bei seinem Unternehmen helfen. Schon zu lange hatte er nicht mehr an derart spezialisierten Aufgaben gearbeitet. Er studierte die Noten und Notizen über das Projekt, machte einige nützliche Vorschläge und gab alles weitere in Boyds Hände. Es schien unmöglich, in den noch vorhandenen zehn Tagen zu einem Ende zu kommen, doch Boyd war erstaunt, wieviel er bislang schon erreicht hatte.
Am nächsten Nachmittag betrat Bonaforte geräuschlos das Labor und beobachtete, wie Boyd gerade zwei verschlungene Ketten trennte. Er blätterte die Aufzeichnungen durch, dann setzte er sich hin und las sie sorgfältig. Von Zeit zu Zeit sah er auf und beobachtete Boyds Arbeit am Mikroskop.
„Sie haben exzellente Hände, Dr. Jensen“, kommentierte er, als Boyd sich schließlich streckte und entspannte. „Besser als meine jemals waren.“ Als er Boyds verblüfftes Gesicht sah, bekräftigte er seine Worte noch einmal. „Ja, zweifellos viel besser als meine zu meinen besten Zeiten. Alles was Ihnen noch fehlt, ist die nötige Erfahrung, damit Sie mehr Vertrauen in sie gewinnen.“
Danach ging er wieder, doch am nächsten Morgen sah Boyd, daß einige besonders schwierige Transformationen beendet worden waren, während er geschlafen hatte. Zusätzlich fand er neue Notizen in seinem Buch, die mit einer seltsamen, eckigen Schrift eingefügt worden waren. Er hatte überhaupt keinen Zweifel, wer in der Nacht für ihn gearbeitet hatte, doch Markoff bestätigte ihn nur sehr indirekt in seiner Meinung.
„Seine Heiligkeit verbringt hier mittlerweile soviel Zeit wie möglich. Er setzt seine Fähigkeiten für viele Projekte ein.“
Auch in den beiden darauffolgenden Nächten wurde die Arbeit fortgeführt, während Boyd schlief. Und er benötigte diese Hilfe dringend, denn die Zeit zerrann ihm unter den Fingern. Zwei weitere Forschungsobjekte existierten mittlerweile noch, die eine gewisse Hoffnung versprachen, doch Boyd mißtraute beiden, ohne recht zu wissen, weshalb. Vielleicht, weil sie viel zu sehr Routine waren und, wie Markoff schon gesagt hatte, dieses Problem nicht mit Routine gelöst werden konnte. Denn dieses lag an der Grenzlinie zwischen tierischem und pflanzlichem Leben, wo sogar die besten Theorien noch unvollständig waren.
Doch endlich konnte er sich über sein Mikroskop beugen und die winzigen Bänder der Nukleinsäuren betrachten, die sein Virus waren, geschaffen nach seinen eigenen Theorien. Es gab kein zweites Exemplar, das existierte, und er konnte niemandem außer sich selbst vertrauen, als er es der einzigen Nahrungsquelle zuführte, die er hatte auftreiben können. Er konnte es auch nicht auf eine Tierzelle ansetzen, denn es bestand immerhin die Gefahr, daß es Partikel mit einem gefährlichen Virus austauschen könnte und dadurch vollkommen verlorenging. Ben hatte einige Pflanzenzellen präpariert, indem er ihre äußeren Membranen geschwächt hatte, damit Fremdkörper leichter eindringen konnten. In eine dieser Zellen führte Boyd das Virus sorgfältig ein.
Es wuchs wundervoll und überwand das erste Hindernis bereits mit wehenden Fahnen. Boyd war sich nicht einmal sicher gewesen, ob er sich überhaupt würde reproduzieren können. Somit war ein Teil seiner Ideen also richtig gewesen. Nun konnte er sich an einen wirklichen Test machen.
Doch er wartete damit, bis Markoff Bonaforte unterrichten konnte. Schließlich hatte der Erzbischof selbst einen Teil der Arbeit erledigt und wollte sicherlich auch die Resultate selbst sehen.
Sie beobachteten gespannt, wie das Virus in eine Lösung mit normalen Pflanzenzellen gegeben wurde. Nichts geschah. Die Pflanzen schwammen umher, stießen mit dem Virus zusammen, doch die chemische Zusammensetzung der Membranen ließ das Virus nicht eindringen. Es konnte also ohne jegliches Risiko für die Pflanzen angewendet werden. Schließlich wurde eine Lösung mit Tierzellen infiziert, Boyd selbst näherte ein Viruspartikel einer größeren Zelle.
Das Virus schlüpfte mühelos durch die Zellwand. Es schien zu verschwinden, dann tauchte es im Nukleus wieder auf. Langsam begann das winzige Tierchen Anzeichen von Unbehagen zu zeigen. Es schwamm wie unsinnig hin und her, wobei es heftig mit seinen Schwimmhärchen ruderte. Stirnrunzelnd beobachtete Boyd, wie die Zelle unmerklich anschwoll. Schließlich ließen die wilden Bewegungen nach, auch die Schwellung ging wieder zurück. Zuletzt war die Zelle vollkommen still. Beim näheren Hinsehen erkannte Boyd eine letzte, konvulsivische Zuckung an der Oberfläche; etwas begann, aus der Zelle hervorzugehen. Ein Virus war in die Zelle eingedrungen, aber mindestens ein Dutzend kamen wieder hervor, um den Kampf mit anderen Zellen aufzunehmen.
Nach einer Stunde gab es keinen Zweifel mehr. In einer Mixtur aus pflanzlichen und tierischen Zellen fuhren die Pflanzenzellen glücklich mit ihrer Photosynthese fort, ohne sich weiter in Tierzellen zu verwandeln. Und die Tiere starben eines nach dem anderen, von den Viren angegriffen. Auf Bonafortes Befehl wurde die Arbeit in allen Laboratorien eingestellt, die sich nun einer endlosen Überprüfungsroutine zuwandten und mit der Produktion des Virus begannen. Nun seufzte er leise und lächelte, als er sich Boyd zuwandte.
„Wir werden hier nicht mehr benötigt, Boyd. Schlafen Sie nun ein wenig; das werde ich auch tun.“ Er hob seine Hand in einer Geste stummen Segens, als er ging.
Markoff ging mit Boyd in den Korridor hinaus. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, wandte er sich dem jungen Mann zu. „Sie haben ein Wunder vollbracht, ich sollte daher vielleicht keine Fragen stellen. Aber sollte das Virus eigentlich nicht den anderen neutralisieren, ohne die Tiere zu töten? So ist es jetzt natürlich besser, aber was ist geschehen?“
„Gottes Wege sind immer unerforschlich“, sagte Boyd. „Ich bin selbst überraschter, als Sie das sind. Entweder waren einige meiner Theorien falsch, oder ich habe einen Fehler gemacht.“
Markoff öffnete überrascht den Mund, schließlich brach er in Gelächter aus. Einen Augenblick später wurden beide Männer von einem Lachen geschüttelt, das aber mehr Müdigkeit als Humor enthielt.
Als er endlich ins Bett taumelte, war Boyd gar nicht mehr so belustigt. Milliarden Menschenleben waren von seinen Fähigkeiten und seinen Theorien abhängig gewesen. Und die Resultate hätten auch katastrophal anstatt hilfreich sein können. Eine einzige, winzige Zelle hatte über das Schicksal einer Population entschieden, die so sehr in die Grenzen der Ressourcen des Planeten gepreßt war, daß kein Raum für solch folgenschwere Fehler mehr blieb. Betrachtete man diese Risiken, wie konnte dann eine geistig gesunde und verantwortungsbewußte regierende Gruppe nach noch mehr hungrigen Mäulern, die nach Nahrung schrien, streben? Das war eine schäbige, entsetzliche Art und Weise, eine Welt zu führen.