»Nein. Aber wir können die Niederlage so lange hinausschieben, dass sie nicht zu sehr schmerzt.« Mumm wandte sich den anderen zu. »In Ordnung, Jungs, zurück an die Arbeit. Wir hatten ein bisschen Spaß, doch bis zur Morgendämmerung dauert es noch eine Weile.«

Die Neuigkeiten hatten sich herumgesprochen, noch bevor er von der Barrikade heruntergeklettert war. Die Menge jubelte, und in den Bewaffneten regte sich Stolz. Wir haben es ihnen gezeigt. Es gefällt ihnen nicht, wenn sie kalten Stahl zu spüren bekommen, diese… äh… anderen Bewohner von Ankh-Morpork! Wir zeigen es ihnen!

Es waren nur einige Holzkeile, etwas frischer Ingwer und viel Glück erforderlich gewesen. So etwas geschah bestimmt nicht zweimal.

Vielleicht brauchte es das auch nicht. Mumm erinnerte sich, dass er von der Ermordung gehört hatte. Es war alles sehr geheimnisvoll. Man hatte Winder in einem Raum voller Leute umgebracht, ohne dass jemand etwas gesehen hatte. Man spekulierte über Magie, doch das wiesen die Zauberer energisch zurück. Manche Historiker meinten, es wäre geschehen, weil die Truppen den Befehl bekamen, die Barrikaden anzugreifen, doch das beantwortete die Frage nicht. Für jemanden, der einen Mann in einem hell erleuchteten Raum voller Leute erstechen konnte, waren einige Wächter in der Dunkelheit sicher kein Problem…

Mit Schnappüber als neuem Patrizier hatte sich niemand sehr bemüht, den Fall aufzuklären. Man sagte: »Wahrscheinlich werden wir nie die Wahrheit erfahren«, was nach Mumms persönlichem Wörterbuch bedeutete: »Ich kenne die Wahrheit oder glaube sie zu kennen, und hoffentlich kommt sie nicht ans Licht, denn jetzt läuft alles glatt.«

Angenommen, wir verlieren nicht.

Keel hatte die Große Marie nicht erledigt. In der anderen Gegenwart war sie nicht eingesetzt worden. Die Soldaten waren nicht so dumm gewesen, es damit zu versuchen. Eine solche Vorrichtung mochte ihren Zweck erfüllen, wenn man sie gegen kleine, von Zivilisten errichtete Barrikaden einsetzte, aber sie war ein Witz gegen robuste Verteidigungsanlagen, an denen Profis Widerstand leisteten. Jetzt war die Große Marie ein Trümmerhaufen, die Angreifer mussten sich in aller Eile etwas Neues einfallen lassen, und: die Zeit verstrich…

Angenommen, wir verlieren nicht.

Sie brauchten bloß durchzuhalten. Die Leute ganz oben hatten ein sehr kurzes Gedächtnis. Winder hat unter geheimnisvollen Umständen den Tod gefunden, lang lebe Lord Schnappüber! Und plötzlich werden die Rebellen zu glorreichen Freiheitskämpfern. Und es gibt sieben leere Gräber auf dem Friedhof…

Konnte er in einem solchen Fall in seine Zeit zurückkehren? Angenommen, Madame hatte Recht und man bot ihm den Posten des Kommandeurs an, nicht als Bestechung, sondern weil er ihn sich verdient hatte. Das würde die Geschichte verändern!

Mumm holte das Zigarrenetui hervor und blickte auf die Gravur.

Mal sehen, dachte er. Wenn ich Sybil nie begegne, können wir wohl kaum heiraten, und dann gibt es keinen Grund für sie, mir dieses Etui zu kaufen, und dann kann ich es nicht in der Hand halten und betrachten…

Er starrte auf die schnörkelige Gravur und wünschte sich fast, dass sie verschwand. Aber sie blieb da.

Andererseits Der alte Mönch hatte gesagt, was geschehen ist, bleibt geschehen. Und vor Mumms innerem Auge gab es ein geistiges Bild von Sybil, Karotte, Detritus und all den anderen. Es zeigte sie eingefroren in einem Moment, der keinen anderen Moment haben würde.

Mumm wollte nach Hause. Er wollte es so sehr, dass er beim Gedanken daran zitterte. Aber wenn der Preis dafür darin bestand, gute Männer der Nacht zu überlassen, jene Gräber zu füllen und nicht mit jedem Trick zu kämpfen, den er kannte… dann war der Preis zu hoch.

Er begriff, dass er eigentlich gar nichts entschied. Dies geschah tief unter den Bereichen des Gehirns, die Entscheidungen trafen. Es war etwas Eingebautes.

Nirgends gab es ein Universum, in dem Sam Mumm nachgeben würde, denn dann wäre er nicht mehr Sam Mumm gewesen.

Der Schriftzug blieb in dem Silber erhalten, aber er war jetzt verschwommen, wegen der Tränen in Mumms Augen. Er weinte die Tränen eines Zorns, der größtenteils ihm selbst galt. Er konnte überhaupt nichts tun. Er hatte keine Fahrkarte gekauft, um hierher zu kommen, aber jetzt war er hier und musste alles bis zum Schluss durchstehen.

Was hatte der alte Mönch sonst noch gesagt? Dass die Geschichte einen Weg fand? Sie musste sich etwas einfallen lassen, denn jetzt trat sie gegen Sam Mumm an.

Er sah auf und stellte fest, dass ihn der junge Sam beobachtete. »Alles in Ordnung, Oberfeldwebel?«

»Ja, ja.«

»Ich meine, du sitzt da seit zwanzig Minuten und starrst auf deine Zigarren.«

Mumm hüstelte, steckte das Etui ein und riss sich zusammen. »Vorfreude ist die beste Freude«, sagte er.

Die Nacht dauerte an. Nachrichten trafen ein, von Barrikaden auf Brücken und an Toren. Es gab Angriffe, die aber nur dazu dienten, die Entschlossenheit der Verteidiger zu testen. Und es kamen weitere Deserteure an.

Ein Grund für die vielen Desertionen bestand darin, dass praktisch veranlagte Menschen über gewisse ökonomische Prinzipien nachdachten. Der Republik der Sirupminenstraße fehlten alle wichtigen Gebäude in der Stadt, genau jene, die Rebellen eigentlich unter ihre Kontrolle bringen wollten. Sie hatte weder Regierungsbüros noch Banken und nur wenige Tempel. Sie war fast völlig ohne die bedeutsame Architektur der Stadt.

Dafür hatte sie all den unwichtigen Kram: den ganzen Schlachthausdistrikt, den Butter- und Käsemarkt, die Tabakhändler und Kerzenmacher und fast alle Obst- und Gemüselager. Zwar mussten die Republikaner auf wichtige Dinge wie Regierung, Bankdienste und Seelenheil verzichten, aber sie waren unabhängig in so banalen und alltäglichen Dingen wie Essen und Trinken.

Menschen sind bereit, lange Zeit auf ihr Seelenheil zu warten, aber sie erwarten, dass das Essen in spätestens einer Stunde auf dem Tisch steht.

»Ein Geschenk von den Jungs drüben bei den Schlachthäusern, Oberfeldwebel«, sagte Dickins und kam mit einem Karren. »Sie meinen, sonst würde es nur verderben. Kann ich den Kram an die Feldküchen verteilen?«

»Was hast du?«, fragte Mumm.

»Größtenteils Steaks«, erwiderte der alte Feldwebel und lächelte. »Aber ich habe im Namen der Revolution einen Sack Zwiebeln befreit!« Er sah, wie sich Mumms Gesichtsausdruck veränderte. »Nein, Oberfeldwebel, der Mann hat ihn mir gegeben. Die Jungs müssen was essen, meinte er.«

»Was habe ich euch gesagt? In der Volksrepublik wird jede Mahlzeit ein Festmahl sein!« Reg Schuh näherte sich und hielt ein Klemmbrett in der Hand. Leute wie Schuh können sich einfach nicht davon trennen. »Wenn du die Ladung bitte zum offiziellen Lagerhaus bringen könntest, Feldwebel…«

»Zu welchem Lagerhaus?«

Reg seufzte. »Alle Lebensmittel müssen ins volkseigene Lagerhaus gebracht werden. Dort kümmern sich meine Funktionäre um die gerechte Verteilung…«

»Herr Schuh«, sagte Dickins, »hinter mir kommt ein Wagen mit fünfhundert Hähnchen, und der nächste hat Eier geladen. Wir können sie nirgends hinbringen, verstehst du? Die Schlachter haben die Kühlhäuser und Räucherkammern gefüllt. Der einzige Ort, wo wir diese Sachen unterbringen können, ist unser Bauch. Und deine Funktionäre sind mir wurscht.«

»Im Namen der Republik befehle ich dir…«, begann Reg, und Mumm legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Verteil den Kram, Feldwebel«, sagte er und nickte Dickins zu. »Wenn ich dich kurz sprechen könnte, Reg…«

»Ist dies ein Militärputsch?«, fragte Reg Schuh und hielt sein Klemmbrett fast wie einen Schild.

»Nein, es ist nur so, dass wir hier belagert werden, Reg. Für solche Sachen haben wir keine Zeit. Soll sich Dickins darum kümmern. Er ist ein gerechter Mann und mag nur keine Klemmbretter.«

»Aber angenommen, jemand geht leer aus«, sagte Reg.

»Wir haben so viel, dass sich alle voll stopfen können, Reg.«

Reg Schuh wirkte unsicher und enttäuscht. Die Vorstellung, dass ungeplant mehr als genug da war, schien ihm weniger zu gefallen als die Idee von sorgfältig rationiertem Mangel.

»Aber ich sag dir was«, sagte Mumm. »Wenn diese Sache weitergeht, wird die Stadt den Nachschub durch andere Tore empfangen. In dem Fall müssen wir wahrscheinlich hungern. Und dann brauchen wir dein Organisationstalent.«

»Du meinst, dann entsteht eine Notsituation?«, fragte Reg mit dem Licht der Hoffnung in den Augen.

»Wenn nicht, könntest du bestimmt eine organisieren, Reg«, sagte Mumm und begriff, dass er ein wenig zu weit gegangen war. Regs Dummheit beschränkte sich auf bestimmte Bereiche, und jetzt schien er den Tränen nahe zu sein.

»Ich finde es nur wichtig, gerecht zu sein…«

»Ja, Reg, ich weiß. Aber es gibt für alles die richtige Zeit und den richtigen Ort. Vielleicht kann man derzeit am meisten zu einer schönen neuen Welt beitragen, indem man Kartoffeln schält. Geh jetzt! Gefreiter Mumm, du hilfst ihm…«

Mumm kletterte noch einmal auf die Barrikade. Die Stadt jenseits davon war wieder dunkel. Nur hinter wenigen Fenstern sah er Licht. Im Vergleich dazu war es in den Straßen der Republik taghell.

In einigen Stunden würden die Läden dort draußen Lieferungen erwarten, die nicht eintrafen. Die Zeit arbeitete gegen die Regierung. Eine Stadt wie Ankh-Morpork war selbst unter den besten Umständen nur zwei Mahlzeiten vom Chaos entfernt.

Jeden Tag starben etwa hundert Kühe für Ankh-Morpork. Dazu zahllose Schafe, Schweine, Enten, Gänse und Hühner. Mehl? Mumm hatte gehört, dass achtzig Tonnen täglich gebraucht wurden, und ebenso viele Kartoffeln und etwa zwanzig Tonnen Heringe. Eigentlich wollte er gar nicht über diese Dinge Bescheid wissen, aber wenn man versuchte, das Dauerproblem des Verkehrs zu lösen, stieß man auf solche Fakten.

Jeden Tag wurden vierzigtausend Eier für die Stadt gelegt. Jeden Tag kamen Hunderte, Tausende von Wagen, Booten und Kähnen zur Stadt, um sie mit Fisch, Honig, Austern, Oliven, Aalen und Hummern zu versorgen. Und dann die Pferde, die die Wagen zogen, und die Windmühlen… und auch Wolle wurde jeden Tag gebracht, Tücher, Tabak, Gewürze, Erz, Holz, Käse, Kohle, Fett, Talg, Heu, JEDEN VERDAMMTEN TAG…

Und das galt für das Jetzt. Daheim in der Zukunft war die Stadt doppelt so groß…

Vor der dunklen Leinwand der Nacht hatte Mumm eine Vision von Ankh-Morpork. Es war keine Stadt, sondern ein Apparat, ein Gewicht auf der Welt, das das Land im Umkreis Hunderter von Meilen verzerrte. Menschen, die Ankh-Morpork nie in ihrem Leben zu sehen bekamen, arbeiteten doch dafür. Endlose Grünflächen gehörten ebenso dazu wie weite Wälder. Die Stadt zog alles an und fraß…

… und gab Dung aus den Ställen zurück und Ruß aus den Schornsteinen und Stahl und Kochtöpfe und all die Werkzeuge, mit denen ihre Nahrung produziert wurde. Und auch Kleidung und Mode, Ideen, interessante Laster, Lieder, Wissen und etwas, das man Zivilisation nannte, wenn man es im richtigen Licht betrachtete. Die Stadt war das, was die Zivilisation bedeutete.

Gab es dort draußen sonst noch jemanden, der darüber nachdachte?

Viele Lieferungen kamen durch das Zwiebeltor und das Latschende Tor – beide waren nun republikanisch und fest verschlossen. Bestimmt gab es militärische Vorposten in ihrer Nähe. Derzeit waren Wagen unterwegs, die die Tore nicht passieren konnten. Ganz gleich, wie es um die Politik stand: Küken schlüpften aus Eiern; Milch wurde sauer; Vieh musste in Pferchen untergebracht, mit Futter und Wasser versorgt werden. Wo sollte all das geschehen? Würde sich das Militär darum kümmern? Wie verhielten sich Soldaten und Offiziere, wenn die Karren heranrollten und nicht umkehren konnten, weil hinter ihnen weitere Karren kamen? Was würden die Truppen unternehmen, wenn überall Schweine und Kühe herumliefen?

Dachten irgendwelche wichtigen Leute daran? Plötzlich geriet die Maschine ins Stocken, doch Winder und seine Kumpane dachten nicht an die Maschine, sondern an Geld. Essen und Trinken kamen von Bediensteten; sie waren einfach da.

Vetinari dachte permanent an solche Dinge, begriff Mumm. Die Stadt in der Zukunft war doppelt so groß und viermal so verwundbar. Vetinari hätte nicht zugelassen, dass so etwas passierte. Kleine Räder müssen sich drehen, damit sich die Maschine dreht, hätte er gesagt.

Und in der Dunkelheit drehte sich alles vor Mumm. Nimm Vetinari fort, und alles bricht zusammen, dachte er. Die Maschine bricht auseinander, und niemand bleibt davon verschont. Alles bricht zusammen, und es zerbrechen auch die Leute in der Stadt.

Er hörte, wie hinter ihm ein Ablösetrupp durch die Heldenstraße ging.

»… wie fliegen sie nach oben? Mit den Knien! Mit den Knien! Mit den Knien nach oben fliegen die kleinen Engel empor…«

Mumm spähte durch eine Lücke zwischen den Möbelstücken und dachte über Freds Idee nach, die Barrikaden immer weiter nach vorn zu schieben. War es möglich, sie wie ein Sieb zu benutzen, Straße für Straße? Lasse die anständigen Leute passieren und schiebe die anderen fort, die Mistkerle, die reichen Rüpel, die Abzocker, die Skrupellosen, die das Schicksal anderer Personen manipulierten, die Blutsauger und Kletten, die Arschkriecher und Höflinge und kriecherischen plumpen Narren in teuren Klamotten, all jene Leute, die nichts von der Maschine wussten oder sich nicht um sie scherten, aber ihre Schmiere stahlen. Mumm stellte sich vor, sie immer weiter zu schieben und in einem kleinen Bereich zusammenzudrängen. Vielleicht konnte man jeden zweiten Tag Proviant über die Barrikaden werfen, die sie auf der anderen Seite gefangen hielten. Oder man überließ sie sich selbst. Sollten sie das tun, was sie immer getan hatten: auf Kosten anderer leben.

Die dunklen Straßen waren still. Mumm fragte sich, was dort draußen geschah. Und er überlegte, ob sich irgendjemand um die Maschine kümmerte…

 

Major Sitzgut-Stehschnell starrte mit leeren Augen auf die verdammte Karte.

»Wie viele?«, fragte er.

»Zweiunddreißig Verletzte«, antwortete Hauptmann Wrangel. »Und zwanzig weitere Fälle von wahrscheinlicher Fahnenflucht. Und die Große Marie ist nur noch als Feuerholz zu gebrauchen.«

»Bei den Göttern…«

»Willst du auch den Rest hören, Stefan?«

»Es gibt noch mehr?«

»Leider ja. Bevor die Reste der Großen Marie die Heldenstraße verließen, schlug sie zwanzig Schaufenster ein und zertrümmerte mehrere Wagen. Der geschätzte Sachschaden…«

»Kollateralschäden des Krieges. So was lässt sich leider nicht vermeiden.«

»Nein, leider nicht.« Der Hauptmann hüstelte. »Möchtest du wissen, was als Nächstes geschah, Stefan?«

»Es geschah noch etwas?«, fragte der Major.

»Äh… ja. Sogar eine ganze Menge. Äh. Die drei Tore, durch die die meisten landwirtschaftlichen Produkte in die Stadt gelangen, wurden auf deinen Befehl hin blockiert. Deshalb bringen die Fuhrleute und Viehtreiber ihre Sachen über die Kurze Straße herein. Glücklicherweise sind um diese Zeit in der Nacht nur wenige Tiere dabei, aber der Zug bestand aus sechs Müller-Wagen, einem Wagen mit getrockneten Früchten und Gewürzen, vier Milchmann-Wagen und drei Eirer-Karren. Sie wurden alle zerstört. Diese Ochsen waren sehr aggressiv.«

»Eirer? Was zum Teufel sind Eirer?«, fragte der Major verdutzt.

»Leute, die Eier verkaufen. Sie reisen von Bauernhof zu Bauernhof, holen die Eier ab…«

»Ja, schon gut! Und was sollen wir jetzt machen?«

»Wir könnten einen großen Kuchen backen, Stefan.«

»Ich bitte dich, Thomas!«

»Entschuldigung. Aber das Leben in der Stadt geht weiter. Sie eignet sich nicht als Schlachtfeld. Der beste Ort für den Straßenkampf ist draußen auf dem Land, wo nichts in den Weg gerät.«

»Es ist eine verdammt große Barrikade, Thomas. Und sie wird gut verteidigt. Wir können das Ding nicht einfach in Brand setzen – die ganze Stadt würde in Flammen aufgehen!«

»Ja«, bestätigte der Hauptmann. »Und die Leute dahinter… Eigentlich tun sie gar nichts. Sie sind einfach nur da.«

»Wie meinst du das?«

»Sie setzen sogar alte Omas auf die Barrikaden und lassen sie auf unsere Jungs schimpfen. Der arme Feldwebel Franklin. Seine Oma sah ihn und rief, wenn er nicht sofort zu Bett ginge, würde sie allen erzählen, was er als Elfjähriger angestellt hat.«

»Die Männer sind doch bewaffnet, oder?«, fragte der Major und wischte sich die Stirn ab.

»O ja. Aber wir haben ihnen geraten, nicht auf unbewaffnete Omas zu schießen. Wir wollen schließlich keinen zweiten Zwischenfall wie bei den Tollen Schwestern.«

Der Major starrte auf die Karte und suchte nach einer Lösung. »Und was hat Feldwebel Franklin als Elfjähriger angestellt?«, fragte er geistesabwesend.

»Das hat seine Oma nicht gesagt.«

Plötzliche Erleichterung erfasste den Major. »Weißt du, was aus dieser Situation geworden ist, Hauptmann?«

»Du wirst es mir sicher gleich sagen, Stefan.«

»Das werde ich, Thomas. Etwas Politisches ist daraus geworden. Wir sind Soldaten. Politik geht weiter nach oben.«

»Du hast Recht, Stefan. Ausgezeichnet!«

»Nimm einen Leutnant, der in letzter Zeit ein wenig nachlässig gewesen ist, und beauftrage ihn, den Kommandeuren Bericht zu erstatten«, sagte der Major.

»Ist das nicht ein bisschen grausam, Stefan?«

»Ja. Aber so ist das eben mit der Politik.«

 

Lord Albert Selachii hielt nicht viel von Partys. Dabei war immer zu viel Politik im Spiel. Und von dieser Party hielt er besonders wenig, denn sie verlangte von ihm, sich im gleichen Zimmer aufzuhalten wie Lord Winder, den er tief in seinem Innern für einen »üblen Mann« hielt. In seinem persönlichen Vokabular gab es keine größere Verurteilung. Und was alles noch schlimmer machte: Während er versuchte, Lord Winder zu meiden, musste er auch darauf achten, Lord Venturi aus dem Weg zu gehen. Ihre Familien verachteten sich höflich. Lord Albert wusste nicht, welches Ereignis in der Geschichte den Zwist ausgelöst hatte, aber es musste sehr wichtig gewesen sein, sonst wäre es dumm, die gegenseitige Verachtung fortzusetzen. Als Bergklane hätten sich die Selachii und Venturi hingebungsvoll befehdet und bekämpft. Aber da sie zwei der führenden Familien in Ankh-Morpork waren, brachten sie sich eisige, von Bosheit erfüllte Höflichkeit entgegen, wenn die Umstände sie zu einer Begegnung zwangen. Lord Alberts vorsichtiger Kurs durch die weniger gefährlichen politischen Bereiche der verdammten Party führte ihn unglücklicherweise direkt zu Lord Charles Venturi. Es war schon schlimm genug, dass er mit diesem Burschen an einem Feldzug teilnehmen musste, fand Lord Albert. Er wollte nicht auch noch gezwungen sein, mit ihm über den nicht besonders guten Wein zu reden. Aber leider boten die aktuellen Gezeiten der Party keine Möglichkeit zu fliehen, ohne unhöflich zu sein. Erstaunlicherweise erlaubte es die Etikette der Oberschicht von Ankh-Morpork, einen guten Freund zu brüskieren; aber es war der Gipfel des schlechten Benehmens, zum ärgsten Feind unhöflich zu sein.

»Venturi«, sagte Lord Albert und hob sein Glas um den sorgfältig berechneten Bruchteil eines Zentimeters.

»Selachii«, erwiderte Lord Venturi und erwiderte die Geste.

»Dies ist eine Party«, sagte Albert.

»In der Tat. Wie ich sehe, stehst du aufrecht.«

»In der Tat. So wie du, wie ich sehe.«

»In der Tat. Da wir gerade dabei sind: Viele andere stehen ebenfalls aufrecht.«

»Was keineswegs bedeutet, dass die horizontale Position nicht gewisse Vorzüge hat, zum Beispiel beim Schlafen«, sagte Albert.

»Das lässt sich kaum leugnen. Allerdings kommt so etwas hier nicht in Frage.«

»Oh, in der Tat.«9

Eine recht munter wirkende Frau in einem prächtigen violetten Kleid tänzelte durch den Ballsaal. Das Lächeln ging ihr voraus.

»Lord Selachii?«, sagte sie und bot ihm die Hand an. »Wie ich hörte, hast du ausgezeichnete Arbeit geleistet, uns vor dem Pöbel zu schützen!«

Seine Lordschaft hatte den sozialen Autopiloten eingeschaltet und verbeugte sich steif. Er war nicht an direkte Frauen gewöhnt, und Madame war ganz Direktheit. Andererseits waren alle sicheren Themen mit einem Venturi erschöpfend behandelt.

»Ich fürchte, du bist mir gegenüber im Vorteil, Madame…«, murmelte er.

»Das will ich hoffen!«, erwiderte Madame und bedachte ihn mit einem so strahlenden Lächeln, dass er ihre Worte nicht analysierte. »Und wer ist dieser beeindruckende militärische Herr? Vielleicht ein Waffenbruder?«

Lord Selachii zögerte. Er war mit dem Wissen aufgewachsen, dass man Männer Frauen vorstellte, und diese lächelnde Dame hatte ihm nicht ihren…

»Lady Roberta Meserole«, sagte sie. »Für die meisten Leute, die mich kennen, bin ich Madame. Meine Freunde nennen mich Bobbi.«

Lord Venturi schlug die Hacken zusammen. Er war schneller von Begriff als sein »Waffenbruder«, und seine Frau hatte ihm von den neuesten Gerüchten erzählt.

»Ah, du bist die Lady aus Gennua«, sagte er und nahm ihre Hand. »Ich habe viel von dir gehört.«

»Auch etwas Gutes?«, fragte Madame.

Lord Venturi sah durch den Ballsaal. Seine Frau schien in ein Gespräch vertieft zu sein. Aus unangenehmer Erfahrung wusste er, dass ihr Ehefrauenradar ein Ei auf eine Entfernung von einer halben Meile braten konnte. Doch der Sekt war sehr gut gewesen.

»Nur das Beste, Teuerste«, erwiderte er, was allerdings nicht ganz so witzig klang, wie er gehofft hatte. Madame lachte trotzdem. Vielleicht war er witzig. Dieser Sekt war wirklich hervorragend…

»Eine Frau muss in der Welt so gut zurechtkommen, wie sie kann«, sagte Madame.

»Darf ich mir die Kühnheit gestatten zu fragen, ob es einen Lord Meserole gibt?«, fragte Lord Venturi.

»So früh am Abend?«, erwiderte Madame und lachte erneut. Und Lord Venturi lachte mit ihr. Donnerwetter, das mit dem witzigen Kram ist viel leichter, als ich dachte!

»Nein, ich meinte natürlich…«, begann er.

»Ja, da bin ich sicher.« Madame berührte ihn mit ihrem Fächer am Arm. »Nun, ich will dich nicht mit Beschlag belegen, aber ich möchte euch beide einigen meiner Freunde vorstellen…«

Sie ergriff Lord Venturi an einem bereitwilligen Arm und führte ihn fort. Selachii folgte mürrisch und war der Ansicht: Wenn sich ehrbare Frauen Bobbi nannten, stand das Ende der Welt unmittelbar bevor, und das zu Recht.

»Herr Kartlich kommt aus der Kupferbranche, und Herr Jaujon hat mit Gummi zu tun«, flüsterte Madame.

Die Gruppe bestand aus sechs Männern, die sich leise unterhielten. Als sich Lord Venturi und Lord Selachii näherten, hörten sie: »… muss man sich in Zeiten wie diesen wirklich fragen, wo die eigene Loyalität liegt… oh, guten Abend, Madame…«

Auf ihrem nur scheinbar zufälligen Weg zum Büfetttisch begegnete Madame einigen anderen Herren und dirigierte sie wie eine gute Gastgeberin zu einer anderen kleinen Gruppe. Nur jemand, der hoch oben auf einem der großen Balken unter der Decke gelegen hätte, wäre imstande gewesen, ein Muster zu erkennen – vorausgesetzt, er kannte den Code. Hätte der Beobachter einen roten Punkt auf den Köpfen der Leute gesehen, die nicht zu den Freunden des Patriziers zählten, und einen weißen auf den Köpfen seiner Spezis und einen rosaroten auf den Köpfen der ewigen Zweifler, so hätte er eine Art Tanz erkannt. Es gab nicht viele weiße Punkte.

Hier und dort bildeten rote Punkte Gruppen. Weiße Punkte wurden ihnen beigefügt, einzeln oder zu zweit, wenn die Gruppen groß genug waren. Wenn ein Weißer eine Gruppe verließ, wurde er oder sie mühelos aufgenommen und zu einer anderen Gruppe geführt, zu der ein oder zwei Rosarote gehören mochten, die jedoch größtenteils aus Roten bestand.

Gespräche zwischen Weißen wurden mit einem Lächeln oder einem sanften »Oh, ich muss euch unbedingt jemanden vorstellen…« unterbrochen. Gelegentlich gesellten sich ihnen auch einige Rote hinzu. Unterdessen wurden die Rosaroten vorsichtig von einer roten Gruppe zur nächsten gereicht, bis ihr Rosarot dunkler wurde, und danach durften sie mit anderen Dunkelrosaroten sprechen, unter der Aufsicht eines Roten.

Die Rosaroten begegneten so vielen Roten, dass sie die Existenz der Weißen praktisch vergaßen. Und die Weißen waren entweder ständig allein oder den Roten und Rosaroten gegenüber so sehr in der Minderzahl, dass sie aus Verlegenheit oder dem Wunsch, nicht mehr so sehr aufzufallen, rot wurden.

Lord Winder war vollkommen von Roten umringt, ohne eine Möglichkeit, die wenigen noch verbliebenen Weißen zu erreichen. Er sah aus wie alle Patrizier nach einer gewissen Zeit im Amt: auf unangenehme Weise pummelig, mit den rosigen Hängebacken eines Mannes, der normal gebaut war, aber zu viel gutes Essen bekam. Er schwitzte leicht im eigentlich recht kühlen Ballsaal, und sein Blick huschte hin und her, hielt ständig nach verräterischen Anzeichen Ausschau.

Schließlich erreichte Madame das Büfett, wo Doktor Follett die scharf gewürzten Eier probierte und wo sich Rosemarie Palm fragte, ob die Zukunft sonderbare Teigwaren mit grünen Füllungen, in denen etwas an Garnelen denken ließ, bereithalten sollte.

»Und wie kommen wir zurecht?«, fragte Doktor Follett. Er schien zu einem Schwan aus Eis zu sprechen.

»Wir kommen gut zurecht«, teilte Madame einem Obstkorb mit. »Aber es gibt vier Personen, die uns noch immer Probleme machen.«

»Ich kenne sie«, sagte Follett. »Sie werden sich fügen, glaub mir. Was bleibt ihnen anderes übrig? Wir sind an dieses Spiel gewöhnt und wissen: Wenn man verliert und sich zu laut darüber beschwert, kann man vielleicht nicht an der nächsten Runde teilnehmen. Aber ich werde einige kräftige Männer in ihrer Nähe platzieren, für den Fall, dass ihre Entschlossenheit ein wenig… Unterstützung benötigt.«

»Er ist argwöhnisch«, sagte Frau Palm.

»Wann ist er das nicht?«, erwiderte Doktor Follett. »Geh und sprich mit ihm!«

»Wo ist unser neuer bester Freund, Doktor?«, fragte Madame.

»Herr Schnappüber speist in untadeliger Gesellschaft, ein ganzes Stück von hier entfernt und der Öffentlichkeit präsent.«

Sie drehten sich um, als die große Doppeltür geöffnet wurde. Auch einige der anderen Gäste sahen zur Tür und wandten dann rasch den Blick von ihr ab. Aber es war nur ein Bediensteter, der zu Madame eilte und ihr etwas zuflüsterte. Sie deutete zu den beiden Kommandeuren, und der Mann eilte zu ihnen. Einige Worte wurden gewechselt, und dann verließen die drei Männer den Saal, ohne Lord Winder auch nur zuzunicken.

»Ich gehe und sehe nach, wie es um die Vorbereitungen steht«, sagte Madame und schritt zur Tür, ohne dabei den Eindruck zu erwecken, dass sie den Männern folgte.

Als sie in den Flur trat, nahmen die beiden Bediensteten, die neben dem Kuchen an der Wand lehnten, Haltung an. Ein im Korridor patrouillierender Wächter warf ihr einen fragenden Blick zu.

»Jetzt, Madame?«, wandte sich einer der Bediensteten an sie.

»Was? Nein! Wartet noch!« Sie ging zu den Kommandeuren, die ein lebhaftes Gespräch mit einem jungen Offizier führten, und griff nach Lord Venturis Arm.

»Oh, mein lieber Charles, willst du uns schon so früh verlassen?«

Lord Venturi fragte sich nicht, woher Madame seinen Vornamen kannte. Er hatte ziemlich viel Sekt getrunken und sah keinen Grund, warum attraktive Frauen eines gewissen Alters nicht seinen Vornamen kennen sollten.

»Oh, es sind noch ein oder zwei Widerstandsnester übrig«, sagte er. »Nichts, um das du dir Sorgen machen müsstest, Madame.«

»Es ist ein verdammt großes Widerstandsnest«, brummte Lord Selachii in seinen Schnurrbart.

»Sie haben die Große Marie zerstört, Herr«, sagte der glücklose Kurier. »Und sie…«

»Kann Major Sitzgut-Stehschnell keinen Haufen aus dämlichen Wächtern, Zivilisten und einigen Veteranen mit Gartengabeln überlisten?«, fragte Lord Venturi, der keine Ahnung hatte, welchen Schaden eine Gartengabel anrichten konnte, wenn man sie aus einer Höhe von sechs Metern warf.

»Das ist es ja, Herr. Es sind Veteranen, und sie kennen alle…«

»Und die Zivilisten?«, fragte Venturi. »Unbewaffnete Zivilisten?«

Der Kurier war ein Oberleutnant und sehr nervös. Er fand nicht die richtigen Worte, um zu erklären, dass der Ausdruck »unbewaffnete Zivilisten« nicht genau den Kern der Sache traf, wenn damit hundert Kilo schwere Schlachter gemeint waren, die einen Fleischerhaken in der einen Hand und ein großes Messer in der anderen hielten. Junge Leute, die zum Militär gegangen waren, um eine Uniform und ein eigenes Bett zu bekommen, erwarteten keine solche Behandlung.

»Bitte um Erlaubnis, ganz offen sprechen zu dürfen, Herr«, sagte der Oberleutnant.

»Lass hören!«

»Die Männer bringen es einfach nicht übers Herz, Herr. Sie wären sofort bereit, einen Klatschianer zu töten, Herr, aber… Einige der alten Soldaten kommen aus dem Regiment, Herr, und sie rufen alle möglichen, äh, Dinge. Viele unserer Soldaten kommen aus diesem Teil der Stadt, und es widerstrebt ihnen, gegen Leute aus der eigenen Straße zu kämpfen. Und was einige Omas rufen… So etwas habe ich nie zuvor gehört. Die Sache bei den Tollen Schwestern war schlimm genug, Herr, aber dies ist einfach zu viel. Tut mir Leid, Herr.«

Die beiden Kommandeure sahen aus dem Fenster. Ein halbes Regiment war auf dem Palastgelände stationiert, Männer, die seit einigen Tagen nichts anderes zu tun hatten, als Wache zu stehen.

»Etwas Rückgrat und ein rascher Vorstoß«, sagte Selachii. »Das ist nötig, bei Io! Man muss die Eiterbeule anstechen! Dies ist nichts für die Kavallerie, Venturi. Und ich nehme die Männer dort. Frisches Blut.«

»Wir haben unsere Befehle, Selachii…«

»Wir haben alle Arten von Befehlen bekommen«, sagte Lord Selachii. »Aber wir wissen, wo der Feind steht. Sind nicht genug Wachen hier? Wie viele Wachen braucht ein Narr?«

»Wir können nicht einfach…«, begann Lord Venturi, aber Madame sagte: »Charles sorgt bestimmt dafür, dass Seiner Lordschaft nichts zustößt.« Sie nahm seinen Arm. »Immerhin hat er sein Schwert…«

Einige Minuten später sah Madame aus dem Fenster und beobachtete, wie die Soldaten das Palastgelände ohne großes Aufhebens verließen.

Nachdem sie eine Weile Ausschau gehalten hatte, bemerkte sie auch, dass der im Flur patrouillierende Wächter verschwunden zu sein schien.

 

Es gab Regeln. Wenn eine Assassinengilde existierte, brauchte man Regeln, die alle kannten und immer befolgten.10

Ein Assassine, ein wahrer Assassine, musste wie ein Assassine aussehen: schwarze Kleidung, Kapuze, Stiefel und so weiter. Wenn sie jede beliebige Kleidung tragen und sich tarnen durften… Was blieb einem dann anderes übrig, als den ganzen Tag in einem kleinen Zimmer zu sitzen, mit einer schussbereiten Armbrust, die auf die Tür gerichtet war?

Und Assassinen durften niemanden töten, der sich nicht verteidigen konnte. (Obwohl ein Mann, der mehr als zehntausend Ankh-Morpork-Dollar im Jahr verdiente, automatisch als jemand galt, der sich verteidigen konnte oder zumindest in der Lage war, jemanden in seine Dienste zu nehmen, der ihn verteidigte.) Und dann mussten sie dem Ziel eine Chance geben.

Aber einigen Leuten war einfach nicht zu helfen. Viele Herrscher der Stadt waren von den Männern in Schwarz inhumiert worden, weil sie eine Chance nicht als solche erkannten, weil sie nicht wussten, wann sie zu weit gingen, weil sie sich nicht darum scherten, wie viele Feinde sie sich machten, weil sie gewisse Hinweise nicht zu deuten vermochten und weil sie nicht wussten, wann man besser gehen sollte, nachdem man eine bescheidene, akzeptable Summe veruntreut hatte. Sie begriffen nicht, wann die Maschine anhielt, wann die Welt für eine Veränderung reif war, wann es Zeit wurde, der Familie mehr Zeit zu widmen, um zu vermeiden, die Zeit bei den Vorfahren zu verbringen.

Natürlich inhumierte die Gilde einen Patrizier nicht für sich selbst. Das verbot eine Regel. Ein entsprechender Assassine war einfach nur zur rechten Zeit am rechten Ort.

In ferner Vergangenheit hatte es einmal eine Tradition gegeben, die »König der Bohne« genannt wurde. An einem bestimmten Tag im Jahr wurde allen Männern des Stammes eine besondere Mahlzeit serviert. Sie enthielt eine kleine hart gekochte Bohne, und wer auch immer diese bekam, wurde zum König (manchmal mit Zahnproblemen). Es war ein sehr preiswertes System, das gut funktionierte, vermutlich deshalb, weil die cleveren kahlköpfigen Männer, die sich um alles kümmerten, rechtzeitig nach geeigneten Kandidaten Ausschau hielten und sich ausgezeichnet darauf verstanden, eine hart gekochte Bohne in der hohlen Hand zu verbergen und sie in den richtigen Napf zu legen.

Und während das Getreide reifte und der Stamm gedieh und der Boden fruchtbar war, ging es dem König gut. Aber wenn, zur gegebenen Zeit, die Ernte missriet, das Eis kam und das Vieh unerklärlicherweise ohne Nachkommen blieb… dann schärften die cleveren kahlköpfigen Männer ihre langen Messer, die fast nur dazu dienten, Mistelzweige zu schneiden.

Und in der richtigen Nacht ging einer von ihnen in die Höhle und kochte eine kleine Bohne, bis sie hart wurde.

Das war natürlich, bevor die Menschen zivilisiert wurden. Heutzutage musste niemand mehr Bohnen essen.

 

Die Leute arbeiteten noch immer an der Barrikade. Das hatte sich zu einer Art allgemeinem Hobby entwickelt. Das Ganze lief auf kollektives Renovieren hinaus. Feuereimer tauchten auf, manche mit Wasser gefüllt, andere mit Sand. An einigen Stellen war die Barrikade undurchdringlicher als die Stadtmauer, wenn man berücksichtigte, wie oft Letztere geplündert worden war, um Baumaterial zu gewinnen.

Gelegentlich erklangen Trommelschläge in der Stadt, und Geräusche deuteten auf Truppenbewegungen hin.

»Oberfeldwebel?«

Mumm sah nach unten. Ein Gesicht erschien am oberen Ende der Leiter, die zur Straße hinabführte.

»Ah, Fräulein Battye. Ich wusste gar nicht, dass du bei uns bist.«

»Ich wollte es gar nicht, aber plötzlich gab es diese große Barrikade…«

Sie kletterte ganz nach oben, mit einem kleinen Eimer in der Hand.

»Dr. Rasen lässt dir einen schönen Gruß ausrichten und fragt, wieso du noch niemanden zusammengeschlagen hast«, sagte sie und setzte den Eimer ab. »Er hat drei Tische geschrubbt, hält zwei Eimer mit heißem Pech bereit, und sechs Frauen rollen Verbände für ihn. Aber bisher hatte er nur einen Fall von Nasenbluten. Er meint, du enttäuschst ihn.«

»Sag ihm ha, ha, ha«, erwiderte Mumm.

»Ich habe dir das Frühstück gebracht«, sagte Sandra. Mumm bemerkte einige der Jungs, die unten standen und ohne großen Erfolg versuchten, im Verborgenen zu bleiben. Sie kicherten leise.

»Pilze?«, fragte er.

»Nein«, antwortete die junge Frau. »Ich soll dir ausrichten: Da es Morgen ist, bekommst du alles, was du dir gewünscht hast…«

Mumm zögerte und war nicht sicher, wohin ihn die Welt brachte.

»Ein hart gekochtes Ei«, sagte Sandra. »Und Sam Mumm meinte, vermutlich möchtest du es nicht zu hart gekocht, das Eigelb soll noch flüssig sein, und er schlug auch in Streifen geschnittenes Brot vor.«

»Was seinen eigenen Vorlieben entspricht«, sagte Mumm leise. »Hat gut geraten, der Mann.«

Mumm warf das Ei in die Luft und wollte es wieder auffangen. Doch es ertönte ein Geräusch wie von einer sich schließenden Schere, und es regnete Eigelb und Schalenstücke. Und dann regnete es Pfeile.

 

Der Geräuschpegel der Konversation war gestiegen. Madame näherte sich der Gruppe um Lord Winder. Wie durch Magie dauerte es nur zehn Sekunden, bis sie mit ihm allein war – alle anderen sahen plötzlich irgendwo jemanden, mit dem sie dringend sprechen mussten.

»Wer bist du?«, fragte Winder und musterte sie mit der Aufmerksamkeit eines Mannes, der fürchtet, dass eine Frau versteckte Waffen bei sich hat.

»Madame Roberta Meserole, Euer Exzellenz.«

»Die Frau aus Gennua?« Winder schnaubte, was bei ihm auf ein höhnisches Kichern hinauslief. »Ich habe Geschichten über Gennua gehört.«

»Ich könnte dir vermutlich weitere erzählen, Euer Exzellenz«, sagte Madame. »Aber es wird jetzt Zeit für den Kuchen.«

»Ja«, sagte Winder. »Wusstest du, dass wir einen weiteren Assassinen geschnappt haben? Sie versuchen es immer wieder. Elf Jahre, und sie geben nicht auf. Aber ich erwische sie jedes Mal, auch wenn sie noch so heimlich herumschleichen.«

»Ausgezeichnet, Euer Exzellenz«, sagte Madame. Es half, dass er eine unangenehme Person war, ganz offensichtlich bis ins Mark verdorben. Das machte es einfacher. Madame drehte sich um und klatschte in die Hände. Erstaunlicherweise bewirkte dieses kleine Geräusch, dass es still wurde.

Die Doppeltür am Ende des Ballsaals schwang auf, und zwei Trompeter erschienen. Sie bezogen zu beiden Seiten der Tür Aufstellung…

»Haltet sie auf!«, rief Winder und duckte sich. Seine beiden Leibwächter eilten durch den Saal und rissen den erschrockenen Männern die Trompeten aus der Hand. Sie untersuchten sie sehr vorsichtig, als erwarteten sie eine Explosion oder das Ausströmen von sonderbarem Gas.

»Giftpfeile«, sagte Winder zufrieden. »Man kann nicht vorsichtig genug sein, Madame. In meinem Amt lernt man, auf jeden Schatten zu achten. Na schön, lasst sie spielen. Aber ohne die Trompeten. Ich mag keine Rohre, die auf mich zielen.«

Am anderen Ende des Ballsaals gab es ein leises, verwundertes Gespräch. Dann traten die beiden Trompeter zurück und pfiffen, so gut sie konnten.

Lord Winder lachte, als der Kuchen hereingeschoben wurde. Die einzelnen Lagen reichten bis in eine Höhe von fast zwei Metern und waren von einer dicken Glasur überzogen.

»Prächtig«, sagte Lord Winder, als die Ballgäste klatschten. »Mir gefällt ein wenig Unterhaltung bei einer Party. Und ich schneide ihn.«

Er wich einige Schritte zurück und nickte den Leibwächtern zu. »Also los.«

Schwerter stachen mehrmals in die oberste Lage. Die Leibwächter sahen zu Winder und schüttelten den Kopf.

»Es gibt so etwas wie Zwerge, wisst ihr«, sagte er.

Die Wächter stachen in die zweite Schicht von oben, und ihre Schwerter stießen auf keinen größeren Widerstand, als man von getrockneten Früchten, Teig und einer Marzipankruste mit Zuckerguss erwarten durfte.

»Vielleicht kniet er«, sagte Winder.

Die Ballgäste beobachteten den Vorgang mit erstarrtem Lächeln. Als kaum mehr ein Zweifel daran bestehen konnte, dass sich niemand in dem Kuchen verbarg, wurde der Vorkoster gerufen. Die meisten Gäste kannten ihn. Sein Name lautete Schleckschlecht. Angeblich hatte er im Lauf seines Lebens so viel Gift gegessen, dass er praktisch gegen alles immun war. Es hieß, dass er jeden Tag eine Kröte verspeiste, um in Form zu bleiben. Man sagte auch, dass ein Atemhauch von ihm genügte, um Silber zu schwärzen.

Er nahm ein Stück vom Kuchen, kaute nachdenklich und blickte dabei nach oben.

»Hmm«, sagte er nach einer Weile.

»Nun?«, fragte Winder.

»Tut mir Leid, Euer Exzellenz«, erwiderte Schleckschlecht. »Nichts. Ich dachte zunächst, ein wenig Zyanid entdeckt zu haben, doch leider waren es nur die Mandeln.«

»Überhaupt kein Gift?«, fragte der Patrizier. »Du meinst, der Kuchen ist essbar?«

»Ja. Mit einer Kröte wäre er besser, aber das ist nur meine bescheidene Meinung.«

»Können die Bediensteten jetzt servieren, Euer Exzellenz?«, fragte Madame.

»Traue niemals Bediensteten, die etwas servieren«, sagte Lord Winder. »Schleichen umher und könnten einem was unterjubeln.«

»Hast du etwas dagegen, wenn ich serviere, Euer Exzellenz?«

»Äh, nein«, erwiderte Lord Winder und behielt den Kuchen im Auge. »Ich nehme das neunte Stück.« Aber er schnappte sich das fünfte und triumphierte wie jemand, der etwas Kostbares aus einem Trümmerhaufen gerettet hatte.

Der Kuchen wurde geschnitten. Lord Winders Einwände in Bezug auf servierende Bedienstete galten für andere Leute nicht, und so breitete sich die Party ein wenig aus, als die Gäste über die uralte Frage nachdachten, wie man einen Teller in der einen und ein Glas in der anderen halten und trotzdem etwas essen konnte, ohne einen der albernen Glashalter an den Teller zu stecken, mit dem man wie ein Vierjähriger aussah. Das erfordert hohe Konzentration, was der Grund dafür sein mochte, dass plötzlich alle so sehr mit sich selbst beschäftigt waren.

Die Tür öffnete sich. Eine Gestalt betrat den Raum. Winder sah auf und blickte über seinen Teller hinweg.

Es war eine schlanke Gestalt, mit Kapuze und Maske. Und sie trug Schwarz.

Winder riss die Augen auf. Um ihn herum schwoll das Geräusch der Gespräche an, und der hypothetische Beobachter auf dem Balken weit oben hätte vermutlich bemerkt, dass sich die Gezeiten der Party auf subtile Weise verschoben und einen breiten Weg frei ließen, der von der Tür bis zu Winder reichte, dessen Beine sich nicht bewegen wollten.

Die Gestalt näherte sich und griff mit beiden Händen über die Schulter. Als die Hände wieder zum Vorschein kamen, hielt jede von ihnen eine kleine Armbrust. Es klickte zweimal, und die Leibwächter sanken zu Boden. Dann warf die Gestalt die Armbrüste fort und näherte sich weiter. Ihre Schritte waren völlig lautlos.

»Brw?«, fragte Winder. Sein offener Mund steckte voll Kuchen. Um ihn herum unterhielten sich die Gäste. Irgendwo hatte jemand einen Witz erzählt. Gelächter erklang, vielleicht ein wenig schriller als sonst. Der Geräuschpegel stieg erneut.

Winder blinzelte. Assassinen verhielten sich nicht auf diese Weise. Sie schlichen umher. Sie blieben in der Dunkelheit. Dies hier geschah nicht im wirklichen Leben.

Und dann stand die Gestalt vor ihm. Winder ließ seinen Löffel fallen, und dem Klappern auf dem Boden folgte plötzliche Stille.

Es gab noch eine andere Regel. Der Inhumierte sollte, wann immer möglich, erfahren, wer der Assassine war und wer ihn geschickt hatte. Die Gilde hielt das nur für gerecht. Winder wusste nichts davon, und die Assassinengilde hatte das alles nicht an die große Glocke gehängt, aber in seinem Entsetzen stellte er dennoch die richtigen Fragen.

»Wer hat dich geschickt?«

»Ich komme von der Stadt«, sagte die Gestalt und zog ein dünnes, silbriges Schwert.

»Wer bist du?«

»In gewisser Weise bin ich… deine Zukunft.«

Die Gestalt holte mit dem Schwert aus, aber es war bereits zu spät – der Dolch des Entsetzens stieß zu. Winders Gesicht war scharlachrot, und seine Augen starrten ins Leere. Aus seinem Hals und durch den Kuchen im Mund drang ein Geräusch, das ein Quietschen mit einem Seufzen vereinte.

Die dunkle Gestalt ließ ihr Schwert sinken, beobachtete den Patrizier in der wartenden Stille und sagte: »Buh.«

Sie hob eine Hand in einem schwarzen Handschuh und gab Lord Winder einen kleinen Stoß. Der Mann kippte nach hinten, und sein Teller zerbrach auf den Fliesen.

Der Assassine hielt sein blutloses Schwert auf Armeslänge und ließ es neben der Leiche auf den Boden fallen. Dann drehte er sich um, ging langsam zurück, verließ den Saal und schloss die Tür hinter sich.

Madame zählte in aller Ruhe bis zehn, bevor sie schrie. Das schien lange genug zu sein.

 

Lord Winder stand auf und sah eine ganz in Schwarz gekleidete Gestalt.

»Noch einer? Woher kommst du denn gekrochen?«

ICH KRIECHE NICHT.

Winder fühlte sich noch benommener und verwirrter als während der vergangenen Jahre, aber in einem Punkt war er sicher: Kuchen. Er hatte Kuchen gegessen, und jetzt gab es keinen mehr. Er sah ihn durch den Dunst, ganz nahe, doch als er danach greifen wollte, war er sehr weit entfernt.

Eine Erkenntnis reifte in ihm heran.

»Oh«, sagte er.

JA, erwiderte Tod.

»Es blieb mir nicht einmal genug Zeit, den Kuchen aufzuessen?«

NEIN. ES GIBT KEINE ZEIT MEHR, NICHT EINMAL FÜR KUCHEN. FÜR DICH IST DIE KUCHENPLATTE LEER. DU HAST DAS ENDE DES KUCHENS ERREICHT.

 

Ein Haken bohrte sich neben Mumm ins Holz. Rufe erklangen auf der Straße, und weitere Haken erreichten die Barrikade.

Wieder regnete es Pfeile auf die Dächer der Häuser. Die Angreifer wollten es nicht riskieren, die eigenen Leute zu treffen, aber einige Pfeile prallten ab und fielen auf die Straße. Mumm hörte erschrockene Stimmen und das Klappern von Pfeilen an Helmen und Brustharnischen.

Ein Geräusch veranlasste ihn, sich umzudrehen. Ein Helm kam empor, und das Gesicht darunter erbleichte entsetzt, als es Mumm erkannte.

»Das war mein Ei, du Mistkerl!«, schrie er und hieb dem Mann die Faust auf die Nase. »Von dem in Streifen geschnittenen Brot ganz zu schweigen!«

Der Mann fiel zurück, und es hörte sich an, als stürzte er auf weitere Kletterer. Überall an der Barrikade erhoben sich Stimmen.

Mumm griff nach seinem Schlagstock. »Knöpft sie euch vor, Jungs!«, rief er. »Mit den Stöcken! Lasst den anderen Kram! Haut ihnen auf die Finger und überlasst der Schwerkraft den Rest! Nach unten mit ihnen!«

Er zog den Kopf ein, presste sich ans Holz, suchte nach einem Guckloch…

»Sie benutzen große Katapulte«, sagte Sandra, die knapp zwei Meter entfernt einen schmalen Spalt entdeckt hatte. »Da ist ein…«

Mumm zog sie weg. »Was machst du noch hier oben?«, donnerte er.

»Hier ist es sicherer als auf der Straße!«, erwiderte sie fast ebenso laut, Nase an Nase mit Mumm.

»Nicht wenn du von einem der Haken getroffen wirst!« Er holte sein Messer hervor. »Hier, nimm das! Wenn du ein Seil siehst – schneid es durch!«

Mumm eilte hinter der wackligen Brustwehr über die Barrikade und stellte fest, dass die Verteidiger gute Arbeit leisteten. Es war auch keine Magie dazu nötig. Die Leute ganz unten auf der Straße feuerten durch alle kleinen Öffnungen, die sie in der Barrikade fanden. Sie konnten kaum zielen, aber das war auch nicht nötig. Das Zischen und Surren umherfliegender Pfeile genügte, um Nervosität zu verbreiten.

Und die Kletterer drängten sich zusammen. Ihnen blieb keine Wahl. Wenn sie auf breiter Front angriffen, kamen drei Verteidiger auf jeden von ihnen. Und so behinderten sie sich gegenseitig, und jeder Fallende riss zwei mit sich, und die Barrikade war voller kleiner Öffnungen, durch die man mit einem Speer nach denen stoßen konnte, die an der Außenseite emporzuklettern versuchten.

Dies ist dumm, dachte Mumm. Tausend Männer wären nötig, um durchzubrechen, und sie würden den Durchbruch auch nur dann schaffen, wenn die letzten fünfzig über den Hang laufen würden, den die Körper aller anderen bildeten. Jemand dort draußen denkt in den alten Bahnen von »Wir greifen sie an ihrer stärksten Stelle an, um ihnen zu zeigen, dass wir es ernst meinen«. Meine Güte, haben wir auf diese Weise unsere Kriege gewonnen?

Wie wäre ich mit dieser Sache fertig geworden? Ich hätte einfach nur »Detritus, beseitige die Barrikade« gesagt, und zwar laut genug, so dass die Verteidiger es gehört hätten. Dann wäre das Problem gelöst gewesen.

Ein Schrei erklang auf der Barrikade. Ein Haken hatte einen der Wächter getroffen und ihn fest gegen das Holz gezogen. Mumm erreichte ihn und sah, wie die Metallspitze Brustharnisch und Kettenhemd durchstoßen hatte. Ein Angreifer zog sich am Seil hoch…

Mit einer Hand blockierte Mumm den Schwertarm des Soldaten, mit der anderen schlug er ihm ins Gesicht. Der Mann fiel in das Durcheinander weiter unten.

Der verwundete Wächter war Nimmernich. Mumm sah sein blauweißes Gesicht, den Mund, der sich lautlos öffnete und schloss. Blut sammelte sich zu seinen Füßen und tropfte durch die Bretter.

»Ziehen wir das verdammte Ding heraus…«, sagte Wiggel und griff nach dem Haken. Mumm stieß ihn zurück, als mehrere Pfeile über sie hinwegschwirrten.

»Das könnte noch mehr Schaden anrichten. Ruf einige der Jungs herbei. Bringt ihn vorsichtig nach unten und zu Rasen.« Mumm nahm Nimmernichs Schlagstock und schmetterte ihn auf den Helm eines weiteren Kletterers.

»Er atmet noch, Oberfeldwebel!«, sagte Wiggel.

»Gut«, erwiderte Mumm. Es war erstaunlich, wie viel Bereitschaft die Leute zeigten, in der Leiche eines Freunds noch Leben zu erkennen. »Also mach dich nützlich und bring ihn zum Doktor!« In Gedanken fügte er hinzu wie jemand, der viele Verwundete gesehen hatte: Wenn Rasen in der Lage ist, ihm zu helfen, kann er eine eigene Religion gründen.

Ein glücklicher Angreifer schaffte es tatsächlich, an der Barrikade bis ganz nach oben zu klettern, und dort musste er plötzlich feststellen, dass er schrecklich allein war. Mit dem Mut der Verzweiflung schlug er nach Mumm, der sich daraufhin wieder dem Kampf widmete.

 

Ankh-Morpork war gut darin und sogar immer besser geworden, ohne dass jemand darüber sprach. Die Dinge geschahen nicht, sie flossen. Manchmal musste man sehr genau hinsehen, um den Punkt des Übergangs von »muss erst noch erledigt werden« zu »darum habe ich mich bereits gekümmert, alter Knabe« zu erkennen. So ging das. Man kümmerte sich um die Dinge.

Zwanzig Minuten nach dem Ableben von Lord Winder traf Herr Schnappüber ein. Fünf Minuten später – und das schloss eine Schweigeminute für Lord Winder ein, um dessen Leiche man sich gekümmert hatte – war er als Patrizier vereidigt und auf magische Weise zu Lord Schnappüber geworden, der im Rechteckigen Büro saß.

Einigen Bediensteten wurde nicht zu unfreundlich die Tür gewiesen, und Schleckschlecht bekam ausreichend Zeit, seine Krötenzucht in aller Ruhe zu entfernen. Doch diejenigen, die das Feuer im Kamin anzündeten, Staub von den Möbeln wischten und fegten – sie blieben, so wie sie auch zuvor geblieben waren, weil sie nur selten darauf achteten und vielleicht nicht einmal wussten, wer gerade das Amt des Patriziers bekleidete. Sie waren zu nützlich und wussten, wo die Besen aufbewahrt wurden. Menschen kommen und gehen, aber Staub sammelt sich immer an.

Und so begann ein neuer Tag. Von unten betrachtet, sah er genauso aus wie die alten.

Nach einer Weile stellte jemand die Frage nach dem Kampf, um den man sich zweifellos kümmern musste.

 

Überall entlang der Barrikade flammten Nahkämpfe auf, aber sie waren eher einseitiger Natur. Die Angreifer setzten Sturmleitern ein, und an einigen Stellen gelang es ihnen, die Brustwehr zu erklimmen. Aber es waren immer zu wenige. Es gab viel mehr Verteidiger, und nicht alle von ihnen trugen Waffen. Erstaunt nahm Mumm die natürliche Rachsucht von Großmüttern zur Kenntnis, die nicht den geringsten Sinn für Fairness hatten, wenn es darum ging, gegen Soldaten zu kämpfen. Gib einer Oma einen Speer und ein Loch, durch das sie damit stoßen kann – und alle jungen Männer auf der anderen Seite gerieten in große Schwierigkeiten. Und dann hatte Reg Schuh die gute Idee, Steaks als Waffe zu verwenden. Die Angreifer stammten nicht aus Familien, wo Steaks sehr häufig auf dem Teller lagen. Fleisch war in den meisten Fällen das Gewürz, nicht die Mahlzeit. Nun geschah es immer häufiger, dass Soldaten in der Dunkelheit hochkletterten, begleitet vom Stöhnen und Ächzen derjenigen weiter unten, und am Ende der Leitern von gut genährten früheren Kameraden in Empfang genommen wurden, die ihnen recht höflich die Waffen abnahmen und sie auf die andere Seite der Barrikade führten, wo sie Steaks, Eier und gebratene Hähnchen erwarteten – und das Versprechen, dass nach der Revolution jeder Tag so sein würde.

Mumm wollte nicht, dass sich diese Art der Abwehr herumsprach, denn es hätte leicht zu einem Ansturm von Soldaten geführt, die sich ergeben wollten.

Aber die Omas… Viele Soldaten stammten aus den Wohnvierteln der Republik. Dort gab es große Familien mit Matriarchinnen, deren Wort Familiengesetz war. Es war Hinterlist, sie während ruhiger Phasen auf die Barrikade zu bringen, ihnen ein Sprachrohr zu geben und sie rufen zu lassen:

»Ich weiß, dass du da draußen bist, unser Ron! Hier spricht deine Oma! Wenn du noch einmal hochzuklettern versuchst, bekommst du meine flache Hand zu spüren! Unsere Rita schickt dir einen lieben Gruß und möchte, dass du so bald wie möglich nach Hause kommst. Mit der neuen Salbe geht es Opa viel besser! Hör jetzt auf, ein dummer Junge zu sein!«

Es war ein gemeiner Trick, und er gefiel Mumm. Solche Mitteilungen dämpften den Kampfgeist eines Mannes besser als Pfeile. Und dann bemerkte Mumm, dass keine Soldaten mehr an den Seilen und Leitern hingen. Er hörte Rufe und Stöhnen weiter unten, aber die Männer, die noch stehen konnten, wichen in sichere Entfernung zurück.

Ich würde in die Keller der Häuser rechts und links von dieser Straße gehen, dachte Mumm. Ankh-Morpork ist voller Keller. Ich hätte dünne Wände durchbrochen, um meine Leute unbemerkt in die Keller auf dieser Seite der Barrikade zu bringen.

Aber gestern Abend habe ich die Anweisung gegeben, alle Kellereingänge zuzunageln und zu versperren, und deshalb habe ich gar nicht die Möglichkeit, gegen mich selbst anzutreten.

Er sah durch eine Lücke in den Brettern der Brustwehr und stellte erstaunt fest, dass ein Mann vorsichtig an Trümmern und Stöhnenden vorbeitrat. In der einen Hand hielt er eine weiße Fahne, und gelegentlich blieb er stehen, um damit zu winken. Allerdings verkniff er sich dabei ein »Hurra!«

Als er der Barrikade ganz nahe war, rief er: »Hallo?« Hinter den Brettern schloss Mumm kurz die Augen. Bei den Göttern, dachte er.

»Ja?«, rief er nach unten. »Können wir dir helfen?«

»Wer bist du?«

»Oberfeldwebel Keel von der Nachtwache. Und du?«

»Oberleutnant Harrap. Äh… wir bitten um einen kurzen Waffenstillstand.«

»Warum?«

»Äh… damit wir uns um die Verwundeten kümmern können.«

Die Regeln des Krieges, dachte Mumm. Das Feld der Ehre.

»Und dann?«, fragte er.

»Wie bitte?«

»Was geschieht danach? Kämpfen wir weiter?«

»Äh… hat dir niemand davon erzählt?«, fragte der Oberleutnant.

»Wovon?«

»Wir haben es gerade erfahren. Lord Winder ist tot. Lord Schnappüber ist der neue Patrizier.«

Die Verteidiger auf der Barrikade jubelten, und die anderen unten auf der Straße stimmten mit ein. Mumm fühlte Erleichterung in sich emporsteigen. Aber er wäre nicht Mumm gewesen, wenn er die Dinge ruhen gelassen hätte.

»Möchtest du, dass wir die Seiten wechseln?«, rief er dem Oberleutnant zu.

»Äh… wie bitte?«

»Ich meine, habt ihr Lust, die Barrikade zu verteidigen, damit wir versuchen können, sie zu stürmen?«

Mumm hörte das Gelächter der Verteidiger.

Der junge Mann zögerte. »Äh… warum?«, fragte er schließlich.

»Wenn ich mich nicht sehr irre, sind wir jetzt die loyalen Anhänger der offiziellen Regierung, und ihr seid der rebellische Rest einer verrufenen Verwaltung. Habe ich Recht?«

»Äh… ich glaube, wir hatten, äh, legitime Befehle…«

»Hast du von einem gewissen Hauptmann Schwung gehört?«

»Äh…ja.«

»Er glaubte ebenfalls, legitime Befehle erhalten zu haben«, sagte Mumm.

»Äh… ja?«

»Mann, war er überrascht. Na schön. Ein Waffenstillstand. Wir sind einverstanden. Braucht ihr Hilfe? Wir haben hier einen guten Doktor. Bisher sind mir noch keine Schreie zu Ohren gekommen.«

»Äh… danke, Herr.« Der junge Mann salutierte. Mumm erwiderte den militärischen Gruß.

Dann entspannte er sich und sah zu den Verteidigern. »In Ordnung, Jungs«, sagte er. »Ich schätze, das war’s. Ihr könnt ausruhen.«

Er kletterte die Leiter hinunter. Vorbei. Alles überstanden. Glockengeläut, Freudentänze in den Straßen…

»Oberfeldwebel, sollen wir den Soldaten wirklich bei ihren Verwundeten helfen?«, fragte Sam, der unten neben der Leiter stand.

»Es ergibt ebenso viel Sinn wie alles andere«, erwiderte Mumm. »Es sind Leute aus der Stadt, genau wie wir. Es ist nicht ihre Schuld, dass sie die falschen Befehle bekommen haben.« Und es bringt in ihren Köpfen alles durcheinander, dachte er. Sie fragen sich, warum dies alles geschehen ist…

»Aber… Nimmernich ist tot, Oberfeldwebel.«

Mumm atmete tief durch. Er hatte es gewusst, dort oben auf dem wackligen Wehrgang, aber es laut zu hören war trotzdem ein Schock.

»Ich schätze, es gibt auch einige Soldaten, die den Morgen nicht überleben werden«, sagte er.

»Ja, aber sie waren der Feind, Oberfeldwebel.«

»Es lohnt sich immer, darüber nachzudenken, wer der Feind ist«, sagte Mumm und zog an der Barrikade.

»Zum Beispiel ein Mann, der versucht, einem sein Schwert in den Leib zu stoßen?«, fragte Sam.

»Das ist ein guter Anfang«, erwiderte Mumm. »Aber manchmal sollte man seine Aufmerksamkeit nicht zu sehr auf einen Punkt konzentrieren.«

 

Im Rechteckigen Büro presste Lord Schnappüber die Hände aneinander und klopfte mit den Zeigefingern gegen seine Zähne. Ziemlich viele Papiere lagen vor ihm.

»Was tun, was tun«, sagte er nachdenklich.

»Normalerweise gibt es eine Amnestie, Euer Exzellenz«, meinte Herr Schräg. Als Oberhaupt der Anwaltsgilde hatte Herr Schräg viele Patrizier beraten. Er war ein Zombie, was seiner beruflichen Laufbahn keineswegs zum Nachteil gereichte. Er war ein lebender Präzedenzfall und wusste, wie die Dinge laufen sollten.

»Ja, natürlich«, sagte Schnappüber. »Ein sauberer Anfang. Natürlich. Zweifellos gibt es traditionelle Worte.«

»Ja, Exzellenz. Ich habe den Text hier…«

»Ja, ja. Erzählt mir von der Barrikade! Von der, die standgehalten hat.« Er sah zu den anderen Personen im Büro.

»Du weißt davon, Herr?«, fragte Follett.

»Ich habe meine Informanten«, erwiderte Schnappüber. »Hat für ziemlich viel Unruhe gesorgt. Irgendein Bursche hat eine recht gute Verteidigungsgruppe zusammengestellt, uns von den wichtigen Bereichen der Stadt abgeschnitten, Hauptmann Schwungs Organisation zerschlagen und allen Angriffen der Soldaten getrotzt. Ein Oberfeldwebel, wie ich hörte.«

»Darf ich eine Beförderung vorschlagen?«, warf Madame ein.

»Genau daran habe ich gedacht«, entgegnete Lord Schnappüber. Seine kleinen Augen leuchteten. »Und seine Männer sind loyal, nicht wahr?«

»Allem Anschein nach, Herr«, sagte Madame und wechselte einen verwunderten Blick mit Doktor Follett.

Schnappüber seufzte. »Andererseits… Man kann Soldaten kaum bestrafen, wenn sie ihren Vorgesetzten gehorchten, vor allem in so schwierigen Zeiten. Es gibt also keinen Grund, offizielle Maßnahmen gegen sie zu ergreifen.«

Wieder trafen sich Blicke. Die Welt schien davonzugleiten.

»Aber das gilt nicht für Keel«, fuhr Schnappüber fort. Er stand auf und holte eine Schnupftabaksdose aus der Westentasche. »Denkt darüber nach! Welcher Herrscher könnte die Existenz eines solchen Mannes tolerieren? In einigen wenigen Tagen hat er all das geschafft? Mir graut bei der Vorstellung, was er sich für morgen vornehmen könnte. Dies sind schwierige Zeiten. Dürfen wir riskieren, den Launen eines Oberfeldwebels ausgeliefert zu sein? Es geht nicht an, dass jemand wie Keel seinen Willen durchsetzt. Außerdem hätten uns die Unaussprechlichen durchaus von Nutzen sein können. Natürlich nach einer angemessenen Umerziehung.«

»Eben hast du bemerkt, du hättest an Keels Beförderung gedacht«, sagte Doktor Follett offen.

Lord Schnappüber nahm eine Prise Schnupftabak und blinzelte ein- oder zweimal. »Ja«, bestätigte er. »Befördert ihn ins Jenseits, wie es so schön heißt.«

Stille herrschte im Büro. Nur einige wenige Anwesende waren entsetzt, andere beeindruckt. Man blieb in Ankh-Morpork nicht ganz oben, ohne das Leben aus einem pragmatischen Blickwinkel zu betrachten, und das schien Lord Schnappüber lobenswert schnell begriffen zu haben.

»Die Barrikade wird beseitigt?«, fragte der neue Patrizier und klappte die Schnupftabaksdose zu.

»Ja, Euer Exzellenz«, sagte Doktor Follett. »Wegen der allgemeinen Amnestie«, fügte er hinzu, um das Wort noch einmal zu wiederholen. Die Assassinengilde hatte nicht nur Regeln, sondern auch einen Ehrenkodex. Er war alt und so konstruiert, dass er den Interessen der Gilde gerecht wurde, aber er pochte tatsächlich auf eine gewisse Ehre. Man brachte weder Schutzlose noch Bedienstete um. Man trat der zu inhumierenden Person direkt gegenüber. Und man hielt sein Wort. Dies hier gehörte sich nicht.

»Prächtig«, sagte Schnappüber. »Genau die richtige Zeit. Die Straßen voller Leute. Allgemeines Durcheinander. Unbelehrbare Elemente. Eine wichtige Nachricht, die nicht rechtzeitig weitergeleitet wurde. Die linke Hand weiß nicht, was die rechte tut. Schwierige Situationen. Alles sehr bedauerlich. Nein, mein lieber Doktor, ich trete nicht mit einem entsprechenden Ersuchen an deine Gilde heran. Zum Glück gibt es Personen, deren Loyalität der Stadt gegenüber weniger… unverbindlich ist. Und jetzt, wenn ich bitten darf – es gibt viel zu tun. Wir sehen uns später wieder.«

Follett und die anderen wurden mit höflichem Nachdruck hinauskomplimentiert. Die Tür schloss sich hinter ihnen.

»Offenbar stehen wir wieder am Anfang«, sagte das Oberhaupt der Assassinengilde, als sie durch den Flur schritten.

»Ave! Duci novo, similis duci seneci«, murmelte Herr Schräg so trocken, wie es nur einem Zombie möglich war. »Oder wie wir in der Schule sagten: ›Ave! Bossa nova, similis bossa seneca!‹« Er lachte schulmeisterlich. In toten Sprachen fühlte er sich zu Hause. »Grammatikalisch ist das natürlich völlig…«

»Was bedeutet das?«, fragte Madame.

»Hier kommt der neue Boss, er ist genauso wie der alte Boss«, brummte Doktor Follett.

»Ich mahne zur Geduld«, sagte Schräg. »Er ist neu im Amt. Vielleicht muss er sich erst noch daran gewöhnen. Die Stadt versteht es gut, Probleme zu umgehen. Lassen wir ihm Zeit.«

»Wir wollten jemanden mit Entschlusskraft«, sagte eine Stimme in der Gruppe.

»Wir wollten jemanden, der die richtigen Dinge beschließt«, sagte Madame. Sie bahnte sich einen Weg nach vorn, eilte die breite Treppe hinunter und betrat ein Vorzimmer.

Das dort wartende Fräulein Palm stand auf. »Hat er…«, begann sie.

»Wo ist Havelock?«, fragte Madame.

»Hier«, sagte Vetinari und löste sich aus den Schatten bei den Gardinen.

»Nimm meine Kutsche! Finde Keel und warn ihn! Schnappüber will ihn umbringen lassen!«

»Aber wo ist…«

Madame hob einen drohenden, zitternden Zeigefinger. »Brich sofort auf, wenn du nicht den Fluch einer Tante spüren willst!«

 

Lord Schnappüber starrte einige Sekunden auf die geschlossene Tür und läutete dann nach seinem Chefsekretär. Der Mann schlich durch die private Tür herein.

»Richten sich alle ein?«, fragte Schnappüber.

»Ja, Exzellenz. Einige Angelegenheiten erfordern deine Aufmerksamkeit.«

»Ich bin sicher, dass die Leute das gern glauben«, erwiderte Schnappüber, nahm Platz und lehnte sich von einer Seite zur anderen. »Lässt sich dieses Ding drehen?«

»Ich glaube nicht, Herr. Aber ich werde so schnell wie möglich einen Drehstuhl beschaffen.«

»Gut. Was war die andere Sache… äh, ja. Gibt es in der Assassinengilde aufstrebende Männer?«

»Bestimmt, Exzellenz. Soll ich Dossiers für, sagen wir, drei von ihnen vorbereiten?«

»Ja.«

»In Ordnung, Exzellenz. Einige Personen ersuchen dringend um eine Audienz…«

»Sie sollen warten. Ich habe jetzt endlich das Amt des Patriziers und möchte es genießen.« Schnappüber trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischkante und sah noch immer zur Tür.

»Ist meine Antrittsrede vorbereitet?«, fragte er schließlich. »Habe mit großem Bedauern von Lord Winders Tod gehört, zu viel Arbeit, neue Führung und so weiter, das Beste vom Alten bewahren und sich gleichzeitig dem Neuen öffnen, hütet euch vor gefährlichen Elementen, Opfer müssen gebracht werden et cetera, zusammenhalten zum Wohle der Stadt?«

»Genau, Herr.«

»Füge hinzu, dass der tragische Tod von Oberfeldwebel Keel besonders Leid tut, die Gedenkfeier zu seinen Ehren soll Bürger unterschiedlicher Meinungen einen, auf dass wir gemeinsam ein neues Ankh-Morpork schaffen können, und so weiter und so fort.«

Der Sekretär machte sich Notizen. »Alles klar, Herr«, sagte er.

Schnappüber sah ihn an und lächelte. »Vermutlich fragst du dich, warum ich auf deine Dienste zurückgreife, obwohl du für meinen Vorgänger gearbeitet hast.«

»Nein, Herr«, erwiderte der Sekretär, ohne aufzusehen. Er fragte sich nichts dergleichen, weil er erstens Bescheid wusste und weil es zweitens einige Dinge gab, die man besser nicht in Frage stellte.

»Du bleibst Sekretär, weil ich ein Talent erkenne, wenn ich es sehe«, sagte Schnappüber.

»Freut mich, Herr«, kam es glatt über die Lippen des Sekretärs.

»So manch grober Stein kann zu einem Edelstein geschliffen werden.«

»In der Tat, Exzellenz«, sagte der Sekretär. Und er dachte auch In der Tat, Exzellenz, denn er wusste, dass es Dinge gab, die man besser nicht dachte, wie zum Beispiel Was für ein Idiot.

»Wo ist der neue Hauptmann der Wache?«

»Ich glaube, Hauptmann Carcer weilt auf dem Hinterhof und ermahnt die Männer, wobei er sich sehr klar ausdrückt.«

»Richte ihm aus, dass ich ihn unverzüglich sprechen möchte«, sagte Schnappüber.

»Gewiss, Herr.«

 

Es dauerte eine Weile, die Barrikade zu beseitigen. Stuhlbeine, Bretter, Bettgestelle, Türen und Balken bildeten eine dichte, miteinander verwobene Masse. Da jedes Stück jemandem gehörte und die Bewohner von Ankh-Morpork sehr auf ihr Eigentum achteten, ging die Demontage mit einem kollektiven Streit einher. Wer dem gemeinsamen Anliegen einen dreibeinigen Stuhl gestiftet hatte, versuchte nun, mehrere Esszimmerstühle fortzutragen.

Und dann der Verkehr. Wagen, die außerhalb der Stadt angehalten worden waren, brachen jetzt auf, um ihren Bestimmungsort zu erreichen, bevor Küken aus Eiern schlüpften oder Milch so verdorben war, dass sie aufstehen und den Rest des Wegs allein gehen konnte. Man konnte es folgendermaßen beschreiben: Wenn der Verkehr in Ankh-Morpork ein Körper gewesen wäre, hätte er einen Infarkt erlitten. Feldwebel Colon drückte es so aus: »Man kommt nicht mehr voran, weil alle anderen vorankommen wollen.« Was durchaus den Kern der Sache traf.

Einige Wächter halfen beim Abbau der Barrikade, hauptsächlich deshalb, um bei den vielen Streitereien über Eigentumsrechte einzugreifen. Doch eine Gruppe von ihnen hatte sich am Ende der Heldenstraße eingefunden, wo Schnauzi Kakao ausschenkte. Eigentlich gab es nicht viel zu tun. Vor einigen Stunden hatten sie gekämpft, und jetzt herrschte auf den Straßen solches Gedränge, dass nicht einmal Streifengänge möglich waren. Jeder gute Polizist wusste, dass es manchmal besser war, niemandem im Weg zu sein, und die Konversation drehte sich um die üblichen Fragen, die auf einen Sieg folgen: 1) Gibt es mehr Geld? 2) Bekommen wir Medaillen? 3) Geraten wir deswegen in Schwierigkeiten? Diese letzte Frage lag in den Überlegungen eines Wächters stets auf der Lauer.

»Eine Amnestie bedeutet, dass wir nichts zu befürchten haben«, sagte Dickins. »Sie bedeutet, alle tun so, als wäre gar nichts geschehen.«

»Na schön«, brummte Wiggel. »Bekommen wir Medaillen? Ich meine, wenn wir…« Er konzentrierte sich. »… cou-ra-schierte Verteidiger der Freiheit gewesen sind – das klingt ganz nach Medaillen, wenn ihr mich fragt.«

»Ich schätze, wir hätten einfach die ganze Stadt verbarrikadieren sollen«, sagte Colon.

»Ja, Fred«, erwiderte Schnauzi. »Aber dann wären die bösen Buben, hnah, bei uns gewesen.«

»Mag sein«, räumte Fred ein. »Aber wir hätten das Sagen gehabt.«

Feldwebel Dickins paffte seine Pfeife. »Ihr quasselt nur, Jungs. Es war Krieg, und hier sitzt ihr, mit allen euren Armen und Beinen, im Sonnenschein der Götter. Das bedeutet es zu siegen. Ihr habt gesiegt, kapiert? Der Rest ist nur Zugabe.«

Eine Zeit lang schwiegen die Wächter, und dann sagte der junge Sam: »Aber Nimmernich hat nicht gesiegt.«

»Wir haben insgesamt fünf Männer verloren«, sagte Dickins. »Zwei wurden von Pfeilen getroffen. Einer ist von der Barrikade gefallen, und ein anderer hat sich versehentlich selbst die Kehle durchgeschnitten. So was passiert.«

Die anderen starrten ihn groß an.

»Oh, das überrascht euch?«, fragte Dickins. »Viele aufgebrachte Leute an einem Ort, scharfkantige Waffen, Gedränge – unter solchen Voraussetzungen muss es zu Zwischenfällen kommen. Ihr würdet euch über die Verluste wundern, zu denen es selbst fünfzig Meilen vom Feind entfernt kommen kann. Menschen sterben.«

»Hatte Nimmernich eine Mutter?«, fragte Sam.

»Er wuchs bei seiner Oma auf, aber die ist tot«, sagte Wiggel.

»Gibt es keine Verwandten?«

»Weiß nicht«, erwiderte Wiggel. »Er hat nie darüber geredet. War ohnehin recht schweigsam.«

»Macht eine Sammlung!«, sagte Dickins mit fester Stimme. »Für Kranz, Sarg und so weiter. Überlasst das niemand anderem! Und noch etwas…«

Mumm saß ein wenig abseits und beobachtete die Straße. Überall standen Gruppen aus früheren Verteidigern, Veteranen und Wächtern. Er sah, wie jemand eine Pastete von Schnapper kaufte, schüttelte den Kopf und lächelte. An einem Tag, an dem man kostenlos ein Steak mit Zwiebeln und Kartoffeln bekommen konnte, gab es jemanden, der von Schnapper eine Pastete kaufte. Es war ein Triumph des Verkaufsgeschicks und der berühmten verkümmerten Geschmacksknospen der Stadt.

Das Lied begann. Mumm wusste nicht, ob es ein Requiem oder ein Siegeslied war, aber Dickins hob damit an, und die anderen stimmten ein. Jeder Mann sang, als wäre er allein.

»… All die kleinen Engel fliegen nach oben…« Das Lied breitete sich aus.

Auch Reg Schuh saß allein auf einem bisher noch nicht umkämpften Stück der Barrikade. Er hielt nach wie vor die Fahne umklammert und wirkte so niedergeschlagen, dass Mumm beschloss, zu ihm zu gehen und mit ihm zu reden.

»… Wie fliegen sie nach oben, nach oben, wie fliegen sie nach oben empor?«

»Es hätte wirklich so sein können, Oberfeldwebel«, sagte Reg und sah auf. »Ja, das hätte es. Eine Stadt, in der man frei atmen kann.«

»… mit dem HINTERN nach oben, mit dem Hintern, mit dem Hintern nach oben fliegen die kleinen Engel empor«

»Du meinst wohl frei keuchen, Reg«, sagte Mumm und nahm neben ihm Platz. »Dies ist Ankh-Morpork.« Alle singen den gleichen Vers, obwohl es so viele gibt, dachte der Teil von Mumm, der mit einem Ohr zuhörte. Seltsam. Oder vielleicht auch nicht.

»Ja, mach dich nur darüber lustig«, sagte Reg und blickte zu Boden. »Alle halten es für einen Witz.«

»Ich weiß nicht, ob es dir hilft, Reg, aber ich habe nicht einmal mein hart gekochtes Ei bekommen«, sagte Mumm.

»Und was passiert jetzt?«, fragte Reg. Er war viel zu sehr auf sein eigenes Elend konzentriert, um Anteil zu nehmen oder überhaupt etwas anderes zu bemerken.

»All die kleinen Engel fliegen nach oben, nach oben…«

»Keine Ahnung. Ich schätze, für eine Weile wird’s besser. Aber ich weiß nicht, was ich…«

Mumm unterbrach sich. Auf der anderen Straßenseite fegte ein kleiner, verhutzelter Alter Staub vor einer Tür, ohne auf den Verkehr zu achten.

Mumm stand auf und starrte hinüber. Der kleine Mann sah ihn und winkte. Genau in diesem Augenblick rumpelte ein weiterer mit Möbeln von der Barrikade beladener Karren über die Straße.

Mumm warf sich aufs Pflaster, um unter dem Wagen hindurch zur anderen Straßenseite zu sehen. Die ein wenig krummen Beine und die ausgetretenen Sandalen waren noch da. Sie blieben da, als der Karren nicht mehr die Sicht versperrte, und sie blieben da, als Mumm über die Straße lief, und vielleicht wären sie dageblieben, wenn der nächste Wagen Mumm nicht fast überfahren hätte, und sie waren nicht mehr da, als er sich aufrichtete.

Er stand dort, wo er sie gesehen hatte, am Rand der verkehrsreichen Straße, am sonnigen Morgen, und er spürte, wie die Nacht über ihn hinwegstrich. Seine Nackenhaare richteten sich auf. Die Gespräche um ihn herum wurden lauter, schwollen zu einem regelrechten Lärm an. Und das Licht war zu hell. Es gab keine Schatten mehr, und danach suchte er jetzt, nach Schatten.

Mumm eilte über die Straße, wich dabei diversen Hindernissen aus, näherte sich den Singenden und brachte sie mit einem Wink zum Schweigen.

»Macht euch bereit«, knurrte er. »Etwas wird geschehen…«

»Was denn, Oberfeldwebel?«, fragte Sam.

»Nichts Gutes, fürchte ich. Vielleicht ein Angriff.« Mumm blickte über die Straße und hielt Ausschau… wonach? Kleinen alten Männern mit Besen? Die Szene wirkte noch weniger bedrohlich als vorher, wenn das überhaupt möglich war. Die Leute standen nicht mehr herum und warteten darauf, dass etwas geschah. Sie nahmen das Geschehen selbst in die Hand: Überall herrschte rege Betriebsamkeit und führte zum typischen Chaos von Ankh-Morpork.

»Nichts für ungut, Oberfeldwebel«, sagte Dickins, »aber für mich sieht alles friedlich aus. Es gibt eine Amnestie, Oberfeldwebel. Niemand kämpft mehr gegen irgendjemanden.«

»Oberfeldwebel! Oberfeldwebel!«

Alle drehten sich um. Nobby Nobbs huschte im Zickzack über die Straße. Sein Mund bewegte sich, aber wie auch immer die Nachricht lautete, mit der der Junge heraneilte – sie verlor sich im Grunzen und Quieken einer Wagenladung Schweine.

Gefreiter Sam Mumm sah das Gesicht des Oberfeldwebels. »Etwas geht nicht mit rechten Dingen zu«, sagte er. »Seht euch nur den Oberfeldwebel an!«

»Was soll denn los sein?«, fragte Fred Colon. »Rechnest du vielleicht damit, dass ein großer Vogel oder so vom Himmel fällt?« Etwas pochte dumpf, und Wiggel ächzte. Ein Pfeil hatte ihn in den Brustharnisch getroffen und ihn durchschlagen.

Ein zweiter schlug über Mumms Kopf in die Wand. Staub rieselte herab.

»Hier hinein!«, rief er. Die Tür des Ladens hinter ihnen stand offen, und er sprang hindurch. Andere Personen folgten seinem Beispiel. Pfeile surrten draußen; Schreie erklangen.

»Welche Amnestie meinst du, Feldwebel?«, fragte Mumm. Die Wagen und Karren auf der Straße kamen zum Stehen, ließen weniger Licht durch die Butzenscheibenfenster fallen und schirmten den Laden ab.

»Es müssen irgendwelche Idioten sein«, sagte Dickins. »Vielleicht Rebellen.«

»Warum? Es gab nie so viele Rebellen. Wir wissen das! Außerdem haben sie den Sieg errungen.« Jenseits der Karren ertönten Rufe. Nichts blockierte die Straße so gut wie ein schwerer Wagen…

»Konterrevolutionäre?«, spekulierte Dickins.

»Leute, die Winder wieder an die Macht bringen wollen?«, fragte Mumm. »Ich weiß nicht, wie du dazu stehst, aber ich würde mich ihnen anschließen.« Er sah sich im Laden um – er war voller Menschen. »Was machen all die Leute hier?«

»Du hast ›Hier hinein!‹ gerufen«, sagte ein Soldat.

»Ja, und wir brauchten keine Extraeinladung, weil es Pfeile regnete«, fügte ein anderer Soldat hinzu.

»Ich wollte gar nicht hierher, konnte aber nicht gegen den Strom schwimmen«, sagte Schnapper.

»Ich möchte Solidarität zeigen«, meinte Reg.

»Oberfeldwebel, ich bin’s, Oberfeldwebel!«, rief Nobby und winkte.

Eine feste, befehlsgewohnte Stimme, dachte Mumm. Es ist erstaunlich, in welche Schwierigkeiten sie einen bringen kann. Es befanden sich etwa dreißig Personen im Laden, und Mumm kannte nicht einmal die Hälfte von ihnen.

»Kann ich jemandem von euch helfen?«, erklang eine gereizte Stimme hinter ihm. Mumm drehte sich um und sah eine sehr kleine, fast puppenartige alte Dame, die ganz in Schwarz gekleidet hinter dem Tresen kauerte.

Er warf einen verzweifelten Blick auf die Regale hinter ihr. Wollstränge lagen dann.

»Äh, nein, ich glaube nicht«, sagte er.

»Dann erlaubst du mir vielleicht, Frau Suppig weiter zu bedienen? Vier Unzen von der grauen Zweifädigen, Frau Suppig?«

»Ja, bitte, Wilhelmine!«, tremolierte eine leise, furchterfüllte Stimme irgendwo zwischen den bewaffneten Männern.

»Wir verschwinden besser von hier«, brummte Mumm. Er wandte sich an die Männer und gestikulierte vage, um sie darauf hinzuweisen, dass sie, wenn möglich, keine alten Damen beunruhigen sollten. »Gibt es einen Hinterausgang?«

Die Ladenbesitzerin sah aus unschuldigen Augen zu ihm auf. »Es hilft, wenn die Leute etwas kaufen, Oberfeldwebel«, sagte sie bedeutungsvoll.

»Äh, wir, ähm…« Mumm sah sich um, und plötzlich fiel ihm etwas ein. »Ah, ja… Ich möchte einen Pilz«, sagte er. »Du weißt schon, das Ding aus Holz, um…«

»Ich weiß genau, was du meinst, Oberfeldwebel. Das macht sechs Cent, danke. Ich freue mich immer, einen Herrn zu sehen, der sich selbst darum kümmert. Vielleicht brauchst du auch noch…«

»Ich habe es wirklich sehr eilig, bitte!«, drängte Mumm. »Ich muss alle meine Socken stopfen.« Er nickte den Männern zu, die heldenhaft reagierten.

»Ich ebenfalls…«

»Meine sind voller Löcher, einfach ekelhaft!«

»Die Dinger müssen sofort gestopft werden!«

»Ich bin’s, Oberfeldwebel, Nobby Nobbs, Oberfeldwebel!«

»Meine könnte man als Fischernetze verwenden!«

Die Ladenbesitzerin griff nach einem großen Schlüsselring. »Ich glaube, es ist dieser, nein, stimmt nicht, es ist dieser, nein… moment mal… ah ja, dies ist der Richtige…«

»He, Oberfeldwebel, da sind Männer mit Armbrüsten auf der Straße«, meldete Fred Colon vom Fenster. »Etwa fünfzig!«

»… nein, dieser muss es sein, meine Güte, nein, er ist für das Vorhängeschloss, das wir früher hatten. Könnte dieser passen? Probieren wir ihn aus…«

Mit großer Sorgfalt und sehr langsam schloss die Ladenbesitzerin die Hintertür auf.

Mumm sah hinaus. Der Hinterausgang führte in eine Gasse, gefüllt mit Müll, alten Kisten und dem grässlichen Geruch aller Gassen dieser Art. Niemand schien in der Nähe zu sein.

»Na schön, alle nach draußen«, sagte er. »Wir brauchen ein bisschen Platz. Wer hat eine Armbrust?«

»Nur ich, Oberfeldwebel«, sagte Dickins. »Wir haben keine Probleme erwartet.«

»Eins gegen fünfzig, das sieht übel aus«, sagte Mumm. »Raus hier!«

»Sind die Burschen hinter uns her, Oberfeldwebel?«

»Sie haben Wiggel erschossen. Bewegung!«

Sie eilten durch die Gasse. Als sie an einer breiteren vorbeikamen, hörte Mumm, wie hinter ihnen die Tür des Ladens eingetreten wurde, und ein triumphierender Ruf erscholl:

»Jetzt habe ich dich, Herzog!«

Carcer…

Ein Pfeil prallte von der Wand ab, sauste durch die Gasse und drehte sich dabei.

Mumm lief nicht zum ersten Mal. Jeder Wächter wusste über diesen Lauf Bescheid. Sie nannten ihn »Hinterhof-Hindernislauf«. Mumm hatte diese Route oft genommen. Er war durch Gassen gestürmt, von Entsetzen beflügelt. Er war von einem hundeverseuchten Hinterhof zum nächsten gesprintet, in Hühnerausläufe gefallen, über Abortdächer gerutscht, immer auf der Suche nach der Sicherheit seiner Kollegen oder, wenn dies vergeblich war, nach einem Ort, an dem er mit dem Rücken zur Wand stehen konnte. Manchmal blieb einem nichts anderes übrig, als zu laufen.

Und wie eine Herde blieb man instinktiv zusammen. In einer Gruppe aus dreißig Personen war man schwerer zu treffen.

Zum Glück hatte Dickins die Führung übernommen. Alte Polizisten liefen am besten, weil sie so viel Übung darin hatten. Wie auf dem Schlachtfeld überlebten nur die Schlauen und Schnellen.

Der alte Feldwebel blieb nicht stehen, als ein Karren am Ende der Gasse auftauchte. Es war ein Eierwagen, der vermutlich eine Abkürzung suchte, um das »Man kommt nicht voran, weil alle anderen vorankommen wollen« auf den Straßen zu umgehen. Auf der Ladefläche des Karrens stapelten sich Kisten bis zu einer Höhe von drei Metern, und die Seiten des Wagens kratzten rechts und links an den Mauern der Gasse entlang. Der Mann auf dem Kutschbock riss die Augen auf, als er die in seine Richtung stürmende Horde sah. Keiner der Männer verfügte über eine Bremse, vom Rückwärtsgang ganz zu schweigen.

Der weiter hinten laufende Mumm beobachtete, wie die Gruppe über und unter den Karren floss. Er hörte, wie Kisten brachen und Eier platzten. Das Pferd tanzte an der Deichsel; Männer hechteten durch seine Beine oder über seinen Rücken hinweg.

Als Mumm den Wagen erreichte und auf den Kutschbock kletterte, bohrte sich neben ihm ein Pfeil ins Holz. Mit einem verzweifelten Lächeln wandte er sich an den Kutscher.

»Spring!«, sagte er und schlug die flache Seite seines Schwerts auf die Flanke des Pferds. Beide Männer fielen nach hinten, als sich das Pferd aufbäumte und der Rest der Ladung von der Ladefläche rutschte.

Mumm zog den Eierhändler auf die Beine, als nichts mehr herabfiel. Eigelb klebte an ihm.

»Tut mir Leid. Dies ist eine Angelegenheit der Wache. Frag nach Oberfeldwebel Keel. Ich muss jetzt weiter!«

Hinter ihnen rumpelte der Karren durch die Gasse, und die Radkränze schlugen Funken an den Wänden. Carcers Leute konnten in Türöffnungen und Seitengassen Zuflucht suchen, aber der Wagen würde sie aufhalten.

Dickins und die anderen waren stehen geblieben, als sie den Lärm hörten, doch Mumm forderte sie auf weiterzulaufen, bis sie eine Straße erreichten, die von Karren blockiert und voller Menschen war.

»Du hast deine Männer mit Eiern bekleckert, Oberfeldwebel«, sagte Sam mit einem besorgten Lächeln. »Was ist eigentlich los?«

»Es sind einige der Unaussprechlichen«, erwiderte Mumm. »Wollen vermutlich eine Rechnung begleichen.« Das kam der Wahrheit nahe genug.

»Aber ich habe auch Wächter und Soldaten unter ihnen gesehen«, sagte Fred Colon.

»Oberfeldwebel, ich bin’s, Oberfeldwebel! Bitte, Oberfeldwebel!« Nobby bahnte sich mit spitzen Ellenbogen einen Weg.

»Ist dies der geeignete Zeitpunkt, Nobby?«, fragte Mumm.

»Es sind Männer hinter dir her, Oberfeldwebel!«

»Bravo, Nobby!«

»Carcer, Oberfeldwebel! Schnappüber hat ihn zum Hauptmann der Palastwache befördert, Oberfeldwebel! Und sie haben es auf dich abgesehen! Im Auftrag von Schnappüber, Oberfeldwebel! Mein Kumpel Steifkratz ist Unterstiefeljunge im Palast, und er war auf dem Hof und hat die Leute miteinander reden gehört, Oberfeldwebel!«

Ich hätte es wissen müssen, dachte Mumm. Schnappüber war ein verschlagener Teufel. Und jetzt hat Carcer die Gunst eines anderen Mistkerls gewonnen. Hauptmann der Wache…

»In letzter Zeit habe ich mir nicht viele Freunde gemacht«, sagte Mumm. »Na schön, Leute. Ich setze mich ab. Wenn ihr euch unter die Leute mischt, habt ihr vermutlich nichts zu befürchten.«

»Wir bleiben bei dir, Oberfeldwebel«, sagte Sam, und die anderen murmelten zustimmend.

»Es wurde eine Amnestie verkündet«, sagte Dickins. »Dies ist unerhört!«

»Außerdem haben sie auf alle geschossen«, sagte einer der Soldaten. »Mistkerle! Sie verdienen eine ordentliche Abreibung.«

»Sie haben Armbrüste«, gab Mumm zu bedenken.

»Wir locken sie in einen Hinterhalt, Oberfeldwebel«, schlug Dickins vor. »Wir suchen eine geeignete Stelle, und dann… Im Nahkampf ist eine Armbrust nur ein Stück Holz.«

»Hat irgendjemand von euch begriffen, worum es geht?«, erwiderte Mumm. »Die Burschen haben es auf mich abgesehen. Nicht auf euch. Ihr solltet euch nicht mit Carcer anlegen. Schnauzi, in deinem Alter solltest du dich nicht auf so etwas einlassen.«

Der alte Gefangenenwärter sah aus tränenden Augen zu ihm auf. »Es ist ziemlich, hnah, gemein, mir das zu sagen, Oberfeldwebel.«

»Woher sollen wir wissen, ob er nicht auch uns erledigen will?«, fragte Dickins. »Eine Amnestie ist eine Amnestie. Er hat kein Recht, auf uns zu schießen!« Ein Chor von Stimmen antwortete mit »Ja, stimmt«.

Es passiert, dachte Mumm. Sie bringen sich selbst in Schwierigkeiten. Aber was kann ich machen? Wir müssen ihnen gegenübertreten. Ich muss ihnen gegenübertreten, beziehungsweise Carcer. Die Vorstellung, ihn hier zu lassen, mit seinem Wissen…

»Wie wär’s, wenn wir durch die Ankertaugasse laufen?«, schlug Dickins vor. »Viele kleine Gassen zweigen davon ab. Die Burschen erwarten bestimmt keinen Hinterhalt und vermuten, das Wachhaus ist unser Ziel. Und dann haben wir sie! Wir lassen dich nicht im Stich, Oberfeldwebel.«

Mumm seufzte. »Na schön«, sagte er. »Danke. Seid ihr euch einig?«

Kurzer Jubel erscholl.

»Ich halte keine Rede«, fügte Mumm hinzu. »Dies ist nicht der geeignete Zeitpunkt. Nur dies sage ich: Wenn wir nicht gewinnen, wenn wir sie nicht alle erwischen… Wir müssen ihnen das Handwerk legen. Andernfalls… sieht es übel aus für die Stadt. Sehr übel.«

»Ja«, warf Dickins mit Nachdruck ein. »Es gab eine Amnestie

»Aber…«, begann einer der Soldaten. »Die meisten von euch kenne ich gar nicht. Wenn es zum Nahkampf kommt, sollten wir wissen, wer auf unserer Seite ist…«

»Stimmt, hnah«, pflichtete ihm Schnauzi bei. »Ich meine, einige der Verfolger waren Wächter

Mumm hob den Blick. Die breite Gasse vor ihnen, Tölpelpflaster genannt, reichte bis zur Ankertaugasse. Gärten säumten sie, und violette Blüten hingen an den Büschen.

Die Morgenluft roch nach Flieder.

»Ich erinnere mich an eine Schlacht«, sagte Dickins und sah an einem großen Busch empor. »Vor langer Zeit. Ein bunt zusammengewürfelter Haufen aus einzelnen Gruppen, alle mit Schlamm bedeckt, versteckte sich in einem Karottenfeld. Als Erkennungszeichen befestigte jeder von ihnen eine Karotte an seinem Helm, damit sie Freund und Feind voneinander unterscheiden konnten und später einen nahrhaften Bissen hatten, was auf einem Schlachtfeld nie zu verachten ist.«

»Ja, und?«, fragte Schnapper.

»Wie war’s mit Fliederblüten?« Dickins streckte die Hand aus und zog einen Zweig herunter. »Sie geben einen prächtigen Helmbusch ab, auch wenn man sie nicht essen kann…«

Und jetzt geht die Sache ihrem Ende entgegen, dachte Mumm.

»Ich glaube, es sind sehr böse Männer!«, kam eine hohe, recht alte und doch sehr entschlossene Stimme aus der Mitte der Gruppe. Eine kleine Hand winkte mit einer Stricknadel.

»Und ich brauche einen Freiwilligen, der Frau Suppig nach Hause bringt«, sagte Mumm.

 

Carcer sah über das Tölpelpflaster.

»Wir brauchen bloß der Eierspur zu folgen«, sagte er. »Vielleicht lädt Keel uns zum Essen ein, wer weiß?«

Kaum jemand lachte. Viele der Männer, aus denen Carcers Truppe bestand, hatten einen gröberen Sinn für Humor. Carcer hingegen teilte einige von Mumms Eigenschaften, wenn auch ins Gegenteil verdreht. Und gewisse Männer sehen zu jemandem auf, der tapfer genug ist, um wirklich böse zu sein.

»Müssen wir wegen dieser Sache mit Schwierigkeiten rechnen, Hauptmann?«

Und natürlich gab es Leute, die einfach nur so mitgekommen waren. Carcer wandte sich Feldwebel Klopf zu, hinter dem Korporal Schrulle stand. Er schätzte sie ebenso ein wie Mumm, begegnete ihnen aber aus der entgegengesetzten Richtung. Man konnte ihnen nicht trauen. Doch sie brachten Keel den nagenden, nervenzerreibenden Hass entgegen, zu dem nur Mittelmäßige fähig sind, und damit ließ sich etwas anfangen.

»Wie sollen wir denn in Schwierigkeiten geraten, Feldwebel?«, erwiderte er. »Wir arbeiten für die Regierung

»Keel ist ein verschlagener Teufel, Herr!«, sagte Klopf, als wäre das ein Charakterfehler.

»Jetzt hört mir mal gut zu«, sagte Carcer. »Diesmal wird die Sache nicht verpfuscht, klar? Ich will Keel lebend, kapiert? Und auch den jungen Mumm. Mit den anderen könnt ihr machen, was ihr wollt.«

»Warum willst du sie lebend?«, ertönte eine ruhige Stimme hinter Carcer. »Ich dachte, Schnappüber hat ihren Tod angeordnet. Und was hat sich der Junge zu Schulden kommen lassen?«

Carcer drehte sich um und sah einen Wächter, der erstaunlicherweise keine Unsicherheit zeigte, als er den Blick auf ihn richtete.

»Wie heißt du?«, fragte er.

»Coates.«

»Ned ist derjenige, von dem ich dir erzählt habe«, sagte Klopf und beugte sich über Carcers Schulter. »Keel hat ihn rausgeworfen, nachdem…«

»Sei still«, sagte Carcer, ohne den Blick von Coates abzuwenden. Es stand weder Furcht noch sonst etwas in den Augen des Mannes. Er starrte einfach nur zurück.

»Bist du mitgekommen, um dir die Zeit zu vertreiben, Coates?«, fragte Carcer.

»Nein, Hauptmann. Ich mag Keel nicht. Aber Mummi ist nur ein Junge, der in die Dinge verwickelt worden ist. Was willst du mit ihm anstellen?«

Carcer beugte sich vor. Coates beugte sich nicht zurück.

»Du hast zu den Rebellen gehört, nicht wahr?«, fragte er. »Gehorchst nicht gern, wie?«

»Sie bekommen ein großes Ingwerbier!«, ertönte eine Stimme, trunken vor böser Wonne.

Carcer drehte sich um und sah auf den dürren, in Schwarz gekleideten Frettchen hinab. Er wirkte ein wenig mitgenommen, zum Teil deswegen, weil er sich gewehrt hatte, als die Wächter bestrebt gewesen waren, ihn aus seiner Zelle zu holen, vor allem aber deshalb, weil Tottsi und Maffer draußen auf ihn gewartet hatten. Aber man hatte ihn am Leben gelassen. Jemanden wie Frettchen zu Tode zu prügeln… lief auf eine peinliche und demütigende Vergeudung von Fausthieben hinaus.

Im Gegensatz zu Coates zuckte Frettchen sofort zusammen, als Carcer den Blick auf ihn richtete. Sein ganzer Körper erbebte. »Habe ich dich gefragt, kleiner Miesling?«, knurrte Carcer.

»Neinherr!«

»Dann solltest du besser die Klappe halten. Merk dir das! Es könnte dir eines Tages das Leben retten.« Carcer richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Ned. »Na schön, mein Lieber, dies ist der schöne neue Tag, den du dir gewünscht hast. Du hast darum gebeten und ihn bekommen. Wir müssen nur einige Überbleibsel von gestern beseitigen. Auf Befehl von Lord Schnappüber, Kumpel. Und es steht dir nicht zu, warum und wer zu fragen. Und was den jungen Mumm betrifft… Ich halte ihn für einen schneidigen Burschen, der Ankh-Morpork Ehre machen wird, wenn man ihm dabei hilft, schlechten Umgang zu meiden. Klopf hält dich für intelligent. Sag mir, was Keel deiner Ansicht nach unternehmen wird!«

Ned bedachte ihn mit einem Blick, den Carcer als unangenehm empfand.

»Er ist ein Verteidiger«, sagte er schließlich. »Vermutlich ist er im Wachhaus. Er wird einige Fallen vorbereiten, seine Leute ausrüsten und auf dich warten.«

»Ha!«, erwiderte Carcer.

»Er möchte vermeiden, dass seine Männer zu Schaden kommen«, erklärte Ned.

»Dann ist dies kein guter Tag für ihn«, sagte Carcer.

 

Auf halbem Wege die Ankertaugasse hinunter stand eine Barrikade. Sie wirkte nicht sehr beeindruckend, bestand nur aus einigen Türen und ein oder zwei Tischen. Nach den Maßstäben der großen Barrikade, die sich in harmlose Einrichtungsgegenstände zurückverwandelte, existierte sie kaum.

Carcers Truppe rückte langsam vor, blickte an Gebäuden hinauf und spähte in Gassen. Die Leute auf der Straße flohen, als sie sich näherte. Manche Männer gehen auf eine Weise, die Unheil ankündigt.

Mumm duckte sich hinter der kleinen Barrikade und sah durch eine Lücke. Unterwegs waren sie einigen Soldaten begegnet und hatten ihnen die Armbrüste abgenommen, aber Carcer schien mindestens fünfzehn zu haben, und seine Gruppe war den Flieder-Verteidigern mindestens zwei zu eins überlegen. Mumm zog in Erwägung, Carcer an Ort und Stelle zu erledigen, wenn ihm keine Wahl blieb. Es war nicht richtig. Er wollte, dass die Leute ihn am Galgen baumeln sahen. Er wollte, dass die Stadt ihn hinrichtete. Wenn er mit leeren Händen heimkehrte, hatte er das Gefühl, etwas unerledigt zurückzulassen.

»Du solltest gehen, Reg«, flüsterte Mumm. »Du hast nicht einmal eine Waffe.«

»Und wenn schon«, erwiderte Reg. »Du hattest Recht, Oberfeldwebel! Die Dinge drehen sich im Kreis! Wir sind die Unaussprechlichen losgeworden, und da sind sie wieder! Was hat es für einen Sinn? Diese Stadt könnte ein großartiger Ort sein, aber nein, die Mistkerle landen immer ganz oben! Nichts ändert sich, verdammt! Sie nehmen das Geld der Leute und murksen herum!«

Carcer blieb zwanzig Meter vor der Barrikade stehen und beobachtete sie aufmerksam.

»Das ist der Lauf der Welt, Reg«, murmelte Mumm und zählte die Feinde.

Ein großer Planwagen rollte um die Ecke und schaukelte unter dem Gewicht der Ladung. Hinter Carcers Truppe hielt er an, weil die Straße blockiert war und weil einer der Männer dem Kutscher eine Armbrust an den Kopf hielt.

»Und jetzt haben die verdammten Mistkerle gewonnen«, stöhnte Reg.

»So sieht’s aus, Reg«, erwiderte Mumm und versuchte, die Bewegungen von zu vielen Personen gleichzeitig im Auge zu behalten.

Die Männer schwärmten aus. Sie konnten es sich leisten, immerhin hatten sie mehr Waffen. Mumm durfte nicht zulassen, dass sie hinter die Barrikade kamen.

Der Mann, der den Kutscher – Herrn Schnapper – angehalten hatte, schenkte ihm kaum Beachtung. Mumm bedauerte es, dass er nicht im Planwagen hockte. Jemand musste den Anfang machen…

»Möchtet ihr auf jemanden schießen, ihr Mistkerle?«

Alle starrten groß, auch Carcer. Reg war aufgestanden, winkte mit der Fahne, kletterte auf die Barrikade…

Er hielt die Fahne wie ein trotziges Banner. »Ihr könnt unser Leben nehmen, aber nicht unsere Freiheit!«, rief er.

Carcers Männer wechselten Blicke, verwirrt vom unvernünftigsten Kampfschrei in der Geschichte des Universums. Mumm beobachtete, wie sich ihre Lippen bewegten, als sie versuchten, einen Sinn in dem Satz zu erkennen.

Carcer hob seine Armbrust und gab den Männern ein Zeichen. »Da irrst du dich!«

Reg wurde von fünf schweren Bolzen getroffen, die ihn tanzen ließen, bevor er auf die Knie sank. Es geschah innerhalb von Sekunden.

Mumm öffnete den Mund, um den Befehl zum Angriff zu geben – und schloss ihn wieder, als er sah, wie Reg den Kopf hob. Er stützte sich auf die Fahnenstange und kam stumm auf die Beine.

Drei weitere Bolzen trafen ihn. Er blickte auf seine dünne Brust, aus der die Pfeile wie Stacheln ragten, und trat einen Schritt vor. Und dann noch einen.

Einer der Armbrustschützen zog sein Schwert und stürmte Reg entgegen, dessen Faust ihn von den Beinen riss – der Hieb musste sich angefühlt haben, als käme er von einem Vorschlaghammer. Und dann brach auch in der Truppe selbst ein Kampf aus. Jemand in der Uniform eines Wächters holte sein Schwert hervor und setzte zwei Armbrustschützen außer Gefecht. Der Mann am Wagen kehrte zu den anderen zurück…

»Schnappt sie euch!«, rief Mumm und sprang hinter der Barrikade hervor.

Es gab keinen Plan mehr. Dickins und seine Leute stürmten aus dem Planwagen. Die Gegner hatten noch immer schussbereite Armbrüste, aber eine Armbrust ist nicht die Waffe, die man in der Hand halten möchte, wenn sich von vorn und hinten Schwerter nähern.

Es kommt, wenn du es rufst…

Pläne, Zukunft, Politik… das alles existierte woanders. Mumm hob ein herrenloses Schwert auf, hielt eine Klinge in jeder Hand, stieß einen wortlosen Schrei aus und griff den nächsten Feind an. Der Mann ging kopflos zu Boden.

Er sah, wie Schnauzi in dem Durcheinander fiel, setzte über ihn hinweg und konfrontierte seinen Angreifer mit einer Windmühle aus Schwertern. Dann wandte er sich Klopf zu, der sein Schwert fallen ließ und floh. Und Mumm lief weiter, kämpfte nicht, sondern hackte, wich Hieben aus, ohne sie zu sehen, blockierte heransausende Klingen, ohne den Kopf zu drehen – er verließ sich ganz auf seinen Instinkt. Jemand bahnte sich einen Weg zum jungen Sam. Mumm schlug dem Betreffenden den Arm ab, um sich selbst zu schützen. Immer wieder holte er mit den beiden Schwertern aus und wurde zum Mittelpunkt eines sich ausdehnenden Kreises. Er war kein Gegner, sondern eine Nemesis.

Und so plötzlich, wie es gekommen war, wich das Tier zurück, und zurück blieb ein zorniger Mann mit zwei Schwertern.

Carcer hatte sich mit seinen Männern – es waren jetzt viel weniger – zur anderen Straßenseite verzogen.

Colon kniete auf dem Boden und übergab sich. Dickins lag auf dem Pflaster, und Mumm wusste, dass er tot war. Nobby lag ebenfalls, aber nur deshalb, weil ihn jemand getreten hatte und er es für besser hielt, zunächst auf dem Boden zu bleiben. Carcer hatte mehr als die Hälfte seiner Leute verloren. Einige weitere waren vor dem Irren mit zwei Schwertern geflohen und vor Reg Schuh, der auf der Barrikade saß und die vielen Pfeile betrachtete, die in seinem Körper steckten. Angesichts dieser deutlichen Anzeichen schien sein Gehirn zu dem Schluss zu gelangen, dass er tot war, woraufhin er nach hinten kippte. Aber in einigen Stunden stand dem Gehirn eine Überraschung bevor.

Niemand wusste, warum manche Leute zu natürlichen Zombies wurden und blinde Lebenskraft durch hartnäckigen Willen ersetzten. Die innere Einstellung spielte eine Rolle dabei. Für Reg Schuh war das Leben nur der Anfang…

Der junge Sam stand. Er schien sich übergeben zu haben, hatte seinen ersten echten Kampf aber recht gut überstanden. Er lächelte schief, als er Mumms Blick bemerkte.

»Was passiert jetzt, Oberfeldwebel?«, brachte er hervor, nahm den Helm ab und wischte sich Schweiß von der Stirn.

Mumm schob ein Schwert in die Scheide und holte heimlich einen von Frau Gutleibs kleinen Freunden hervor.

»Das hängt davon ab, was da drüben passiert«, sagte er und nickte in Richtung der anderen Straßenseite. Sam drehte sich um, sah zu der stark geschrumpften Streitmacht der Angreifer und schlief ein.

Mumm ließ den Schlagring wieder in der Tasche verschwinden und stellte fest, dass Coates ihn ansah.

»Auf welcher Seite stehst du, Ned?«, fragte er.

»Warum hast du den Jungen ins Reich der Träume geschickt?«, erkundigte sich Ned.

»Damit er nicht mehr an dieser Sache beteiligt ist. Was dagegen?«

»Nicht viel, Oberfeldwebel.« Ned lächelte. »Heute haben wir alle eine Menge gelernt.«

»Ja«, bestätigte Mumm.

»Zum Beispiel weiß ich jetzt, dass es noch größere Mistkerle als dich gibt.«

Diesmal lächelte Mumm. »Aber ich gebe mir mehr Mühe, Ned.«

»Kennst du Carcer?«

»Er ist ein Mörder. Und auch alles andere. Ein eiskalter Killer. Und schlau.«

»Und es muss zu Ende gebracht werden?«

»Ja. Wir müssen einen Schlussstrich ziehen, Ned. Dies ist unsere einzige Chance. Entweder hört es hier auf, oder es geht immer weiter. Kannst du dir vorstellen, wenn er als Schnappübers Spezi machen kann, was er will?«

»Ja, das kann ich«, erwiderte Ned. »Zum Glück hatte ich heute Abend nichts vor. Sag mir nur eins, Oberfeldwebel: Woher weißt du das alles?«

Mumm zögerte. Aber es spielte eigentlich keine Rolle mehr.

»Ich komme aus dieser Stadt«, sagte er. »Bin durch ein Loch in der Zeit gefallen, etwas in der Art. Wenn du’s genau wissen willst: Ich bin durch die Zeit hierher gereist, Ned, und das ist die Wahrheit.«

Ned Coates musterte ihn von Kopf bis Fuß. Blut klebte an Mumms Brustharnisch, an den Händen und an seinem Gesicht. Und er hielt ein blutiges Schwert in der Hand.

»Du kommst aus fernster Vergangenheit, nicht wahr?«

 

Die Zeit hielt an. Coates erstarrte, und seine Farben verblassten in einer Welt, die nur noch aus Grautönen bestand.

»Es ist fast so weit, Euer Gnaden«, sagte Kehrer hinter Mumm.

»Bei den Göttern!«, entfuhr es Mumm. Er warf das Schwert zu Boden. »Du machst dir hier keine Freunde, weißt du das?«

Das Schwert fiel nicht aufs Pflaster. Es blieb einige Zentimeter von Mumms Hand entfernt in der Luft und wurde grau.

»Es gibt noch etwas, das du wissen solltest«, sagte Kehrer, als verdienten in der Luft schwebende Schwerter kaum Aufmerksamkeit.

»Was ist mit dem verdammten Schwert passiert?«, fragte Mumm, der durchaus geneigt war, solchen Dingen Beachtung zu schenken.

»Die Zeit hat für alle angehalten, nur für dich nicht«, erklärte Kehrer geduldig. »Eigentlich stimmt das so nicht, aber es ist eine nützliche Lüge. Wir brauchen nur einige Momente, um dafür zu sorgen, dass alles seine Richtigkeit hat…«

Mumm hatte nun Zeit – in gewisser Weise –, sich umzusehen. Die Straße war dunkler, als hätte der Kampf in der Düsternis vor der Morgendämmerung stattgefunden. Farbig waren nur die Umhänge und Gesichter von Kehrer und Qu, als sie einen Handkarren aus einer Gasse zogen. Darauf ruhten zwei kleine steinerne Säulen und John Keels Leiche, in ein Tuch gehüllt.

»Wir haben gute Nachrichten«, sagte Kehrer.

»Tatsächlich?«, erwiderte Mumm schwach und trat an die Leiche heran.

»Ja«, sagte Qu und entlud die steinernen Zylinder. »Wir glaubten zunächst, dass wir dich dazu überreden müssten, deine Rüstung abzulegen, aber das scheint nicht nötig zu sein.«

»Weil sie hier bleiben wird«, sagte Lu-Tze. »Sie gehört hierher, verstehst du?«

»Nein«, erwiderte Mumm. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon ihr redet.« Er berührte die Leiche. »So kalt«, murmelte er. »Daran erinnere ich mich. Er war so kalt.«

»Eine Leichenhalle bewirkt das«, sagte Kehrer beiläufig.

»Bitte pass jetzt auf, Kommandeur!«, sagte Qu. »Wenn wir diese…«

Mumm hob den Blick, und in seinen Augen funkelte es gefährlich. Kehrer legte Qu die Hand auf den Arm.

»Wir haben noch einiges zu erledigen, für ein oder zwei Minuten«, meinte er.

»Ja, aber es ist sehr wichtig, dass er weiß, wie…«

»Wir haben noch einige Dinge zu erledigen, für ein oder zwei Minuten«, wiederholte Kehrer und schnitt dabei eine Grimasse.

»Oh? Was? Oh. Ja. Äh… Wir haben… einige Dinge, äh… zu erledigen. Dinge… ja…«

Sie gingen fort. Aus dem Augenwinkel sah Mumm, wie sie auf und ab schritten, als müssten sie etwas ausmessen.

Er blickte auf John Keel hinab. Was sollte er sagen? Tut mir Leid, dass du tot bist? Der ursprüngliche Keel war auf den Barrikaden gestorben, nicht bei einem Straßenkampf. Aber er war genauso tot.

Mit Religion wusste Mumm nicht viel anzufangen. Er war zugegen, wenn ein Wächter bestattet wurde, und er nahm an religiösen Zeremonien teil, wenn die Pflichten des Kommandeurs der Wache dies erforderten, aber was den Rest betraf… Manchmal sah man Dinge, die es nicht nur unmöglich machten, an Götter zu glauben, sondern auch an Menschlichkeit und die eigenen Augen. Soweit sich Mumm erinnern konnte, hatte Keel auf die gleiche Weise empfunden. Man machte einfach weiter. Wenn es Götter gab, so erwartete man, dass sie ebenfalls weitermachten, und man störte sie besser nicht bei der Arbeit.

Was sollte er einem toten Polizisten sagen? Was hätte Keel gern gehört?

Mumm beugte sich tiefer. »Carcer wird dafür baumeln«, sagte er und trat zurück.

Hinter ihm hustete Kehrer theatralisch. »Bist du so weit, Euer Gnaden?«, fragte er.

»Ich denke schon«, erwiderte Mumm.

»Wir sprachen vorhin von der Rüstung«, sagte Kehrer. »Sie wird…«

Qu unterbrach ihn. »Es geht dabei um Folgendes, Kommandeur. Du, der Bursche namens Carcer und all die Dinge, mit denen ihr hier eingetroffen seid, formen eine in die Länge gezogene Transzeit-Anomalie, die unter erheblicher Spannung steht.«

Mumm drehte den Kopf und sah Kehrer an.

»Es ist sehr schwer, Dinge aus der Zeit zu bewegen, in die sie gehören, aber es erfordert weitaus weniger Mühe, sie dorthin zurückzubringen, wo sie waren«, übersetzte Lu-Tze.

Mumm starrte weiterhin.

»Alles hat den innigen Wunsch, dort zu bleiben, wo es sein sollte«, sagte Kehrer.

»Das stimmt«, brummte Mumm.

»Wir… schmieren den Weg«, sagte Kehrer. »Wir schieben ein wenig, und dann kehrt alles zurück. Auch du. Hast du heute Morgen etwas gegessen?«

»Nein!«

»Dann sollte es nicht allzu unsauber ablaufen«, sagte Kehrer. Als er die Verwirrung in Mumms Gesicht sah, fügte er hinzu: »Unverdaute Nahrung. Sie bleibt hier, weißt du.«

»Soll das heißen, sie zerreißt den…«

»Nein, nein«, warf Qu schnell ein. »Du bemerkst nichts davon. Aber eine nahrhafte Mahlzeit nach deiner Rückkehr wäre eine gute Idee.«

»Und die Rüstung bleibt hier?«

Qu strahlte. »Ja, Euer Gnaden. Auch der Rest. Augenklappe, Socken, alles.«

»Und die Stiefel?«

»Ja. Alles.«

»Und die Unterwäsche?«

»Die ebenfalls, ja.«

»Ich kehre nackt zurück?«

»Das eine Kostüm, das überall in Mode ist«, sagte Kehrer und lächelte.

»Aber warum trug ich meine Rüstung, als ich hier eintraf?«, fragte Mumm. »Und Carcer hatte seine Messer dabei, das steht fest.«

Qu öffnete den Mund, um zu antworten, aber Kehrer kam ihm zuvor.

»Tausend Schritte sind nötig, um den Gipfel des Berges zu erreichen, aber ein kleiner Sprung bringt einen wieder ganz nach unten«, sagte er. »Verstanden?«

»Das ergibt einen gewissen Sinn…«, räumte Mumm ein.

»So funktioniert das ganz und gar nicht, Lu-Tze!«, jammerte Qu.

»Nein, aber es ist eine weitere gute Lüge«, sagte Kehrer. »Hör mal, Kommandeur, wir haben kein verdammtes großes Gewitter, und wir haben auch nicht genug gespeicherte Zeit. Wir müssen improvisieren, anders geht’s leider nicht. Wir bringen dich und deinen Gefangenen zurück, aber mit ziemlicher Sicherheit erreicht ihr nicht den gleichen Ort, wegen der Quanten. Es ist schon schwer genug zu verhindern, dass du hundert Meter über dem Boden erscheinst, glaub mir. Auch deine Kleidung hinüberzubringen, obwohl sie hierher gehört… Das erfordert zu viel Kraft. Bist du nun fertig? Du musst dorthin zurück, wo du gestanden hast. Geh so schnell wie möglich zu Carcer. Du musst ihn packen, denn sonst bleibt er hier.«

»Na schön, aber ich habe hier viele Dinge verändert!«, erwiderte Mumm.

»Überlass das uns!«, sagte Kehrer.

»Was ist mit Keel?«, fragte Mumm und setzte sich widerstrebend in Bewegung.

»Sei unbesorgt! Wir haben es dir im Tempel erklärt. Wir legen ihm deine Rüstung an. Alles wird so aussehen, als wäre er im Kampf gefallen.«

»Sorgt dafür, dass dem jungen Sam nichts zustößt!«, sagte Mumm, als Qu ihn in die richtige Position brachte. Die steinernen Zylinder begannen sich zu drehen.

»Ja!«

»Sorgt dafür, dass Reg Schuh ein anständiges Begräbnis bekommt!«

»In Ordnung!«

»Aber das Grab sollte nicht zu tief sein, denn in einigen Stunden will er es wieder verlassen!«

Qu gab ihm einen letzten Stoß.

»Auf Wiedersehen, Kommandeur!«

Die Zeit kehrte zurück.

 

Ned musterte ihn. »Was ist gerade passiert, Oberfeldwebel? Du bist verschwommen

»Du hast nur eine Frage, Ned«, sagte Mumm und kämpfte gegen die Übelkeit an. »Und jetzt zeigen wir Schnappüber, wo die Grenze gezogen ist. Bringen wir die Sache zu Ende…«

Sie griffen an, und die anderen Männer folgten ihnen.

Mumm erinnerte sich in Zeitlupe. Einige von Carcers Leuten ergriffen die Flucht, als sie die Angreifer sahen. Andere hoben ihre Waffen, die sie inzwischen aufgesammelt hatten. Carcer stand da und grinste. Mumm hielt direkt auf ihn zu und bahnte sich geduckt einen Weg durch das Getümmel.

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, als Mumm näher kam und schneller wurde, mit den Schultern andere Männer einfach beiseite stieß. Carcer hob das Schwert und versuchte, in Verteidigungsposition zu gehen, aber in dem Durcheinander war nicht genug Platz, und Mumm kam wie ein Stier heran, schlug das Schwert nach oben und packte seinen Gegner am Hals.

»Hab dich, alter Kumpel«, sagte er. Und dann wurde alles schwarz.

 

Später fand er, dass man eigentlich mehr erwarten konnte, zum Beispiel einen Sturz durch blaue Tunnel oder Blitze oder eine Sonne, die rasend schnell über den Himmel glitt. Selbst schnell hintereinander fallende Kalenderblätter wären wenigstens etwas gewesen.

Doch es gab nur die Schwärze eines besonders tiefen Schlafs, und dann den Schmerz, als Mumm auf den Boden prallte. Hände ergriffen ihn und zogen ihn auf die Beine. Im Dunst der Benommenheit zeichneten sich die Konturen eines vertrauten Gesichts ab – es gehörte Hauptmann Karotte.

»Freut mich, dich wiederzusehen, Herr. Meine Güte…«

»Es ist alles in Ordnung mit mir«, krächzte Mumm. Sein Hals fühlte sich wie ausgestopft an. »Wo ist Carcer?«

»Du hast da eine scheußliche Schnittwunde…«

»Tatsächlich?«, brummte Mumm. »Na so was. Wo zum Teufel ist Carcer

»Das wissen wir nicht, Herr. Du bist mitten in der Luft erschienen und auf den Boden gefallen. Umgeben von blauem Licht, Herr!«

»Ah«, murmelte Mumm. »Auch er ist irgendwo erschienen. Vermutlich in der Nähe.«

»Gut, Herr, ich weise die Männer an…«

»Nein«, sagte Mumm. »Er bleibt bestimmt, wo er ist. Wohin sollte er auch gehen?«

Er wusste nicht recht, ob er seinen Beinen trauen konnte. Sie fühlten sich an, als gehörten sie jemandem mit einem schlechten Gleichgewichtssinn.

»Wie lange war ich… weg?«, fragte er.

Ponder Stibbons trat vor.

»Etwa eine halbe Stunde, Euer Gnaden. Äh, wir haben eine temporale Störung vermutet. Zusammen mit dem Blitz und einer Resonanz in der stationären Welle der Bibliothek gab es dadurch einen Riss in der Raumzeit…«

»Ja, so fühlte es sich an«, sagte Mumm rasch. »Eine halbe Stunde, meinst du?«

»Hast du den Eindruck, dass mehr Zeit verstrichen ist?«, fragte Ponder und holte ein Notizbuch hervor.

»Ja«, erwiderte Mumm schlicht. »Äh, hat jemand eine Unterhose für mich?«

Von hier aus sehe ich dein Haus…

Typisch Carcer. Er ließ einen gern schmoren, im Saft der eigenen Phantasie.

Und Mumm hatte sich gefragt, was er plante.

»Hauptmann, ich möchte, dass du alle Männer nimmst, die du entbehren kannst, und dich mit ihnen zu meinem Haus begibst«, sagte er. »Jetzt sofort.« Er wandte sich an Ridcully. »Kannst du mich schneller dorthin bringen, Erzkanzler?«

»Die Wache bittet um magische Unterstützung?«, fragte Ridcully überrascht.

»Ja«, sagte Mumm.

»Möglich ist das schon, aber dir dürfte klar sein, dass du nichts anhast…«

Mumm gab es auf. Die Leute wollten immer Erklärungen. Er schenkte der Schwäche in seinen Beinen einfach keine Beachtung, lief los, verließ den Achteckplatz und rannte über Rasenflächen, bis er die Größenbrücke der Universität erreichte. Dort sprintete er an Nobby und Colon vorbei, die in den Sog von Wächtern gerieten, die mitzuhalten versuchten.

Auf der anderen Seite der Brücke erstreckte sich der so genannte Lustgarten der Zauberer. Mumm pflügte hindurch. Zweige schlugen nach seinen nackten Beinen, und dann war er auf dem alten Treidelpfad, wo Schlamm auf Blut spritzte. Nach rechts und anschließend nach links, an verblüfften Passanten vorbei, und dann fühlte er die Pflastersteine der Teekuchenstraße unter seinen Füßen, und er hatte genug Atem, um noch ein wenig zu beschleunigen. Er wurde erst langsamer, als er den Kies der Zufahrt erreichte. An der vorderen Tür brach er fast zusammen und hielt sich am Klingelzug fest.

Eilige Schritte näherten sich, und die Tür wurde geöffnet. »Wenn du nicht Willikins bist, gibt es Ärger«, brachte Mumm hervor und versuchte, sich zu konzentrieren.

»Euer Gnaden! Was ist mit dir passiert?«, fragte der Butler und zog ihn herein.

»Nichts!«, erwiderte Mumm. »Hol mir eine saubere Uniform, ohne Aufsehen zu erregen. Und sag Sybil nichts…«

Der Gesichtsausdruck des Butlers veränderte sich, und Mumm verstand sofort.

»Was ist mit Sybil?«

Willikins wich zurück. Selbst ein Bär wäre zurückgewichen. »Geh nicht nach oben, Herr! Frau Zufrieden meint, sie versucht alles, aber vielleicht sollten wir… die Ärzte kommen lassen, Herr.«

»Wegen einer Entbindung?«

Willikins senkte den Blick. Nach zwanzig unerschütterlichen Jahren als Butler zitterte er nun. Niemand hatte unter solchen Umständen eine Konfrontation mit Mumm verdient.

»Tut mir Leid, Herr…«

»Nein!«, sagte Mumm scharf. »Schick niemanden zu den Ärzten! Ich kümmere mich selbst darum. Mir ist ein Doktor bekannt, der sich mit… mit diesen Dingen auskennt! Das hoffe ich für ihn!«

Er kam rechtzeitig genug nach draußen zurück, um einen Besen bei der Landung zu beobachten. Pilot war der Erzkanzler höchstpersönlich.

»Ich hielt es für besser, mich ebenfalls auf den Weg zu machen«, sagte Ridcully. »Kann ich irgendwie…«

Mumm schwang sich auf den Besen, bevor der Zauberer den Satz beenden konnte.

»Bring mich zur Funkelgasse! Das kannst du doch, oder?«, fragte er. »Es ist… wichtig!«

»Halt dich gut fest, Euer Gnaden!«, sagte Ridcully, und Mumms Magen sank in seine Beine, als der Besen vertikal aufstieg. Er nahm sich vor, Knuddel Winzig zu befördern und ihm den Bussard zu kaufen, den er sich schon so lange wünschte. Wer dies jeden Tag zum Wohle der Stadt ertrug, konnte nicht genug belohnt werden.

»Sieh in meiner linken Tasche nach!«, sagte Ridcully, als sie hoch über Ankh-Morpork flogen. »Ich glaube, da drin ist etwas, das dir gehört.«

Voller Unbehagen dachte Mumm daran, was die Tasche eines Zauberers alles enthalten konnte. Er holte einen Strauß Papierblumen hervor, eine Schnur mit vielen unterschiedlichen Flaggen… und ein silbernes Zigarrenetui.

»Es ist auf dem Kopf des Quästors gelandet«, sagte der Erzkanzler und steuerte den Besen um eine Seemöwe herum. »Hoffentlich ist es nicht beschädigt.«

»Äh… nein«, erwiderte Mumm. »Danke. Ich, äh, stecke es zunächst zurück, in Ordnung? Derzeit habe ich leider keine Taschen.«

Es hat den Weg zurückgefunden, dachte er. Wir sind daheim. »Und im Forschungstrakt für hochenergetische Magie erschien eine verzierte Rüstung«, fuhr Ridcully fort. »Ich kann berichten, dass sie…«

»Völlig verbeult ist?«, fragte Mumm.

Ridcully zögerte, denn er spürte Mumms Schuldgefühle. »Durch und durch, Euer Gnaden. Sie könnte gar nicht verbeulter sein. Vermutlich liegt’s an den Quanten.«

Mumm fröstelte. Er war noch immer nackt, und selbst die verhasste Paradeuniform wäre ihm jetzt willkommen gewesen. Andererseits spielte es keine Rolle mehr. Schuld, Federn, Dienstabzeichen, die Kälte… Es gab andere Dinge, die wichtiger waren und immer wichtiger sein würden.

Er sprang vom Besen herunter, noch bevor er angehalten hatte, stolperte im Kreis, fiel gegen Dr. Rasens Tür und hämmerte mit den Fäusten dagegen.

Nach einer Weile öffnete sie sich einen Spalt breit, und eine vertraute, nur vom Alter veränderte Stimme fragte: »Ja?«

Mumm stieß die Tür ganz auf. »Sieh mich an, Doktor Rasen!«, sagte er.

Moosig Rasen starrte ihn an. »Keel?«, brachte er hervor. In der einen Hand hielt er die größte Spritze der Welt.

»Unmöglich. John Keel wurde begraben. Das weißt du ja«, sagte Mumm. Er bemerkte das Instrument in der Hand des Arztes. »Meine Güte, was hast du damit vor?«

»Ich wollte einen Truthahn mit Fett begießen, wenn du’s genau wissen willst. Wer bist du? Du siehst genauso aus wie…«

»Nimm deinen ganzen Entbindungskram und komm mit!«, sagte Mumm. »All die komischen Werkzeuge, mit denen du so gut umgehen kannst – nimm sie mit! Jetzt sofort. Ich verspreche dir, dass ich dich zum reichsten Doktor machen werde, der jemals gelebt hat«, sagte Mumm, ein Mann, der nichts weiter trug als Schlamm und Blut.

Rasen winkte vage in Richtung Küche. »Ich muss nur den Truthahn herausnehmen und…«

»Vergiss den verdammten Flattermann und komm mit!«

Mit drei Mann an Bord flog der Besen nicht besonders gut, aber es ging schneller als zu Fuß, und Mumm konnte nicht mehr laufen. Er war bereits außer Atem und erschöpft gewesen, als er zum ersten Mal zu Hause eingetroffen war. Jetzt kam es einem Test der Ausdauer gleich, nur aufrecht zu stehen. Ohne den Besen hätte er kriechen müssen.

Nach einer Weile ging das Ding tiefer und setzte zu einer holprigen Landung auf dem Rasen an.

»Die Dame ist oben, im großen Schlafzimmer auf der linken Seite«, sagte Mumm und gab dem Doktor einen schwachen Stoß. »Eine Hebamme ist da, hat keine Ahnung. Ein Haufen Geld für dich. Na los!«

Rasen eilte fort. Mumm folgte ihm steifbeinig, mit Ridcullys Hilfe, und als er die Tür erreichte, kam der Doktor wieder zum Vorschein – er ging ganz langsam rückwärts. Der Grund dafür wurde bald klar: Detritus presste ihm seine riesige Armbrust gegen die Nase.

Als Mumm sprach, klang seine Stimme ein wenig gedämpft, denn er lag flach auf dem Boden.

»Nimm die Armbrust weg, Feldwebel!«, brachte er hervor.

»Er einfach reingelaufen kam, Herr Mumm«, grollte Detritus.

»Weil er ein Doktor ist, Feldwebel. Lass ihn nach oben gehen! Das ist ein Befehl, danke.«

»In Ordnung, Herr Mumm«, sagte Detritus, trat widerstrebend beiseite und lehnte die Armbrust an seine Schulter. Wodurch sie sich entlud.

Als das Donnern verklungen war, stand Mumm auf und sah sich um. Eigentlich hatte er die Sträucher ohnehin nicht sehr gemocht. Übrig geblieben waren nur einige Baumstümpfe ohne Rinde.

»Äh, das mir Leid tut, Herr Mumm«, sagte der Troll.

»Was habe ich dir über Herrn Sicherung erzählt?«, fragte Mumm müde.

»Wenn Herr Sicherung nicht betätigt sein, die Armbrust nicht dein Freund«, sagte Detritus und salutierte. »Mir Leid tut, Herr, aber wir alle ein wenig angespannt sind.«

»Das gilt auch für mich.« Ridcully stand auf und zupfte Holzsplitter aus seinem Bart. »Vielleicht dauert es Stunden, bis ich wieder richtig gehen kann. Nun, Feldwebel, ich schlage vor, wir tragen den Doktor zur Pumpe, bringen ihn dort wieder zu sich und dann nach oben…«

Alles, was danach geschah, war wie ein Wachtraum für Mumm. Wie ein Geist bewegte er sich in seinem eigenen Haus, in dem es von Wächtern wimmelte. Niemand wollte woanders sein.

Er rasierte sich langsam, konzentrierte sich ganz darauf, die Rasierklinge über die Haut zu ziehen. Geräusche erreichten ihn über die rosaroten Wolken in seinem Kopf.

»Er will sie gekocht. Die entsetzlichen Dinger sollen gekocht werden. Wozu?, frage ich mich. Damit sie weicher werden?«

»Trolle und Zwerge heute Abend, und sie sollen jedes Fenster und jede Tür überwachen…«

»… sah mich an und meinte, dass sie zwanzig verdammte Minuten lang gekocht werden sollen, wie Kohl…«

»Jetzt hat er um einen kleinen Brandy gebeten…«

»Frau Zufrieden kam heraus, und er sagte, lasst sie bloß nicht noch einmal herein…«

»… ein Quacksalber, wenn ihr mich fragt…«

»… das alte Steingesicht will ihn mit Gold überhäufen, wenn er Erfolg hat…«

»Und wenn er keinen Erfolg hat?«

Mumm zog seine Straßenuniform an und brachte dabei langsam alle Gliedmaßen in Position. Er kämmte sich das Haar. Er trat in den Flur. Er nahm auf einem unbequemen Stuhl Platz, saß dort mit dem Helm auf den Knien, während sowohl lebende als auch tote Phantome ihn umschwärmten.

Normalerweise – immer – gab es einen Teil von Mumm, der die anderen Teile beobachtete, denn im Grunde seines Wesens war er Polizist. Diesmal leistete dieser Teil dem Rest Gesellschaft, starrte ebenfalls ins Leere und wartete.

»… jemand soll ihm noch mehr Handtücher bringen…«

»… jetzt hat er um einen großen Brandy gebeten!«

»… er möchte mit Herrn Mumm sprechen!«

Mumms mentales Universum erhellte sich mit dem Licht, das bis dahin auf einem sehr elementaren Niveau geglüht hatte. Er ging die Treppe hinauf, den Helm unterm Arm, wie ein Mann, der sich anschickt, eine Erklärung entgegenzunehmen. Oben klopfte er an die Tür.

Rasen öffnete. In der anderen Hand hielt er ein Brandyglas, lächelte und trat beiseite.

Sybil saß im Bett. Durch den Nebel der Erschöpfung sah Mumm, dass sie etwas in einem Schultertuch hielt.

»Er heißt Sam, Sam«, sagte sie. »Und keine Widerrede!« Die Sonne ging auf.

»Ich bringe ihm das Laufen bei!«, strahlte Mumm. »Ich verstehe mich gut darauf, Leuten das Laufen beizubringen!« Er schlief, bevor er auf den Teppich fiel.

 

Es war ein angenehmer Spaziergang am frühen Abend. Zigarrenrauch folgte Mumm, als er zur Wache am Pseudopolisplatz ging, wo er Glückwünsche entgegennahm und den Leuten für die prächtigen Blumen dankte.

Anschließend führte ihn seine Wanderung zu Doktor Rasens Haus, wo er eine Zeit lang über Dinge wie das Gedächtnis sprach und wie es einen täuschen konnte und über Vergesslichkeit, die sich manchmal sehr lohnte.

Dann ging er mit dem Doktor zur Bank. Deren Bereitschaft, in diesem besonderen Fall außerhalb der normalen Zeiten zu öffnen, war keine Überraschung. Immerhin handelte es sich um den Herzog, den reichsten Mann in der Stadt und den Kommandeur der Wache, der – und diesem Punkt kam keine geringe Bedeutung zu – die Tür eingetreten hätte, wäre sie nicht geöffnet worden. Dort übertrug er einem gewissen Dr. M. Rasen hunderttausend Ankh-Morpork-Dollar und ein großes Eckhaus am Gänsetor.

Und dann, allein, ging er zum Friedhof beim Tempel der Geringen Götter. Was auch immer seine persönlichen Gefühle sein mochten: Erster Ehelicher hatte an diesem Abend das Tor offen gelassen und alle Lampen angezündet.

Mumm schritt über den moosbewachsenen Kies. Im Zwielicht schienen die Fliederblüten zu leuchten. Ihr Duft hing wie Nebel in der Luft.

Er ging durch das Gras, erreichte das Grab von John Keel, nahm auf dem Stein Platz und achtete darauf, die Kränze nicht zu verrücken – der Feldwebel beziehungsweise Oberfeldwebel hätte sicher verstanden, dass ein Polizist manchmal seine Beine entlasten musste. Und er rauchte seine Zigarre zu Ende und beobachtete den Sonnenuntergang.

Nach einer Weile hörte er kratzende Geräusche auf der linken Seite und sah, dass der Boden eines der Gräber nachgab. Eine graue Hand kam nach oben und hielt eine Schaufel. Einige Erdbrocken wurden beiseite geschoben, und dann stieg Reg Schuh aus seinem Grab. Er hatte es halb verlassen, als er Mumm bemerkte, und fast wäre er zurückgefallen.

»Meine Güte, du hast mich zu Tode erschreckt, Herr Mumm!«

»Entschuldige, Reg«, sagte Mumm.

»Nun, wenn ich ›zu Tode erschreckt‹ sage, so meine ich natürlich…«

»Ich weiß, Reg. Ziemlich ruhig dort unten, nicht wahr?«

»Sehr friedlich, Herr, sehr friedlich. Ich schätze, bis zum nächsten Jahr besorge ich mir einen neuen Sarg. Sie halten nicht mehr so lange wie früher.«

»Ich glaube, in diesem Punkt legen nur wenige Personen Wert auf Haltbarkeit, Reg«, sagte Mumm.

Reg Schuh schaufelte die Erde zurück. »Ich weiß, dass es alle für seltsam halten, aber ich denke, ich bin es ihnen schuldig«, sagte er. »Es ist nur ein Tag im Jahr und meine… Solidarität.«

»Mit den unterdrückten Massen?«, fragte Mumm.

»Wie bitte, Herr?«

»Schon gut, Reg«, sagte Mumm froh. Dies war ein perfekter Moment. Nicht einmal Reg, der auf seinem Grab den Boden glättete und Rasensoden zurechtrückte, konnte ihn ruinieren.

Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem du zurücksiehst und in allem einen Sinn erkennen kannst, hatte Kehrer gesagt. Ein perfekter Moment.

Die Personen, die in diesen Gräbern lagen, waren für etwas gestorben. Im Glühen der Abenddämmerung, im Licht des aufgehenden Mondes, im Aroma der Zigarre und in der Wärme, die aus völliger Erschöpfung kommt, erkannte Mumm den Sinn.

Die Geschichte findet einen Weg. Das Wesen der Ereignisse veränderte sich, nicht aber das Wesen der Toten. Ein gemeiner, schändlicher Kampf hatte ihr Leben beendet, eine kleine, fleckige Fußnote in der Geschichte, aber es waren keine gemeinen oder schändlichen Männer gewesen. Sie hatten nicht das Weite gesucht, obwohl ihnen eine ehrenvolle Flucht möglich gewesen wäre. Sie waren geblieben, und Mumm fragte sich, ob sie ihren Weg so klar gesehen hatten wie er jetzt. Sie waren nicht etwa deshalb geblieben, weil sie Helden sein wollten, sondern weil sie es für ihre Aufgabe hielten, und man musste sich der Aufgabe stellen, die man vor sich sah…

»Ich gehe jetzt, Herr«, sagte Reg und legte sich die Schaufel über die Schulter. Er schien weit weg zu sein. »Herr?«

»Ja, gut. In Ordnung, Reg. Danke«, murmelte Mumm, und im rosaroten Glühen des Moments beobachtete er, wie der Korporal über den dunkler werdenden Pfad in die Stadt ging.

John Keel, Billy Wiggel, Horatio Nimmernich, Dai Dickins, Klaus »Schnauzi« Klappmann, Ned Coates und Reg Schuh, streng genommen. Vermutlich gab es in ganz Ankh-Morpork nicht mehr als zwanzig Personen, die alle Namen kannten, denn nirgends standen Statuen oder Denkmäler, und es war auch nichts aufgeschrieben. Man musste dabei gewesen sein.

Mumm empfand es als Privileg, zweimal dabei gewesen zu sein. Die Nacht zog herauf. Sie entfaltete sich aus den Schatten, wo sie sich vor dem Tag versteckt hatte, und ihre einzelnen Ausläufer flossen zusammen, vereinten sich miteinander. Mumm spürte, wie sich seine Sinne mit ihr ausbreiteten, den Schnurrhaaren einer großen, dunklen Katze gleich.

Hinter dem Tor des Friedhofs wurden die Geräusche von Ankh-Morpork ein wenig leiser, obgleich die Stadt nie wirklich schlief. Vermutlich scherte sie sich nicht darum.

In seiner besonderen Stimmung gewann Mumm den Eindruck, alles zu hören, wirklich alles, so wie bei dem schrecklichen Moment in der Heldenstraße, als die Geschichte kam, um Anspruch auf das zu erheben, was ihr gehörte. Er vernahm die leisen Geräusche der Mauer, als sie sich abkühlte, von rutschender Erde in Reg Schuhs leerem Grab, vom Gras, das sich bewegte… Tausend subtile Geräusche wurden zu einer üppig strukturierten, örtlich begrenzten Stille. Es war das Lied der Dunkelheit, und darin, am Rand der Wahrnehmung, ertönte ein Missklang.

Mal sehen… Er hatte Wächter bei seinem Haus zurückgelassen, ausgezeichnete Leute, die nicht herumstanden und sich langweilten, sondern die ganze Nacht wachsam bleiben würden. Ein Hinweis darauf, wie wichtig das war, hatte sich erübrigt. Er konnte also davon ausgehen, dass daheim keine Gefahr drohte. Und bei den Wachhäusern waren die Wachen verdoppelt worden…

Mit Keels Grab stimmte etwas nicht. Immer lag das Ei dort, jedes Jahr, ein kleiner Scherz der Geschichte. Aber jetzt schienen nur mehr Eierschalen übrig zu sein…

Mumm beugte sich vor, um genauer hinzusehen, und die Klinge sauste über seinen Kopf hinweg.

Das Tier war bereit gewesen. Es dachte nicht an Wächter und Vorsichtsmaßnahmen. Das Tier dachte überhaupt nicht. Es schnüffelte immer, spähte in die Schatten, erkundete die Nacht und hatte Mumms Hand in die Hosentasche geschickt, noch bevor das Schwert durch die Luft zischte.

Geduckt drehte er sich und rammte Carcer einen von Frau Gutleibs besten Artikeln gegen das Knie. Er hörte, wie es knackte, sprang hoch und riss seinen Gegner zu Boden.

Hier gab es keine Wissenschaft. Das Tier war von der Kette und wollte töten. Es geschah nicht oft, dass Mumm glaubte, die Welt verbessern zu können, doch diesmal hatte er nicht den geringsten Zweifel. Jetzt war alles sehr klar.

Und schwierig. Das Schwert war ins Gras gefallen, als Carcer zu Boden ging, aber der Bursche setzte sich zur Wehr und erwies sich als sehr zäh. Und es ist schwer, jemanden mit den Händen zu töten, der nicht getötet werden will.

Mumm schüttelte den Schlagring aus Messing ab, der ihn bei dem Versuch behinderte, seinen Widersacher zu erdrosseln. Doch es gab einfach nicht genug Platz. Carcer trachtete danach, ihm den Daumen ins Auge zu bohren.

Sie rollten über die Gräber und rangen miteinander, jeder von ihnen um einen Vorteil bemüht. Blut füllte Mumms linkes Auge. Sein Zorn brauchte nur eine Sekunde, und diese eine Sekunde wurde ihm vorenthalten.

Er drehte sich und streckte die Hand aus.

Und dort lag das Schwert. Wieder rollte er, und noch einmal, und dann kam er auf die Beine, mit dem Schwert in der Hand. Carcer rollte ebenfalls zur Seite, und für einen Mann mit verletztem Knie stand er erstaunlich flink auf. Mumm beobachtete, wie er sich an einem der Fliederbüsche hochzog; Blüten und Duft strömten in der Dunkelheit herab.

Metall kratzte leise. Eine Klinge blitzte kurz auf. Und ein leises Lachen erklang, Carcers Lachen, das der Welt mitteilte: He, dies macht Spaß.

»Wer will mich verhaften?«, fragte er, als sie beide nach Luft schnappten. »Oberfeldwebel Keel oder Kommandeur Mumm?«

»Wer hat gesagt, dass du verhaftet werden sollst?«, erwiderte Mumm und versuchte, seine Lungen zu füllen. »Ich kämpfe gegen einen Angreifer, Carcer.«

»Oh, du hast gegen einen Angreifer gekämpft, Herr Mumm«, sagte der Schatten. »Aber jetzt stehe ich vor dir.« Metall klirrte auf dem Kies. »Und ich bin nicht mehr bewaffnet, haha. Hab meine letzte Waffe weggeworfen. Du darfst keinen unbewaffneten Mann töten, Herr Mumm. Du musst mich jetzt verhaften. Bring mich zu Vetinari, auf dass ich einige freundliche Worte an ihn richten kann, haha. Du kannst mich nicht töten, während ich hier nur stehe.«

»Niemand möchte hören, was du zu sagen hast, Carcer.«

»Dann solltest du mich besser umbringen, Herr Mumm. Ich habe keine Waffe. Und ich kann nicht weglaufen.«

»Du hast immer ein zusätzliches Messer dabei, Carcer«, sagte Mumm, während das Tier in ihm brüllte.

»Diesmal nicht, Herr Mumm. Komm schon, Herr Mumm! Du kannst einem Mann doch nicht vorwerfen, dass er es versucht hat. Ein Mann muss das Recht haben, sein Bestes zu geben. Nichts für ungut.«

Und das war Carcer. Nichts für ungut. Das Beste geben. Nur ein Versuch, weiter nichts.

Unschuldige Worte wurden in seinem Mund schmutzig.

Mumm trat einen Schritt näher.

»Du hast ein hübsches Haus, in das du zurückkehren kannst, Herr Mumm. Ich meine, was habe ich?«

Und es klang überzeugend. Carcer hielt alle zum Narren. Man konnte fast die Leichen vergessen.

Mumm sah nach unten.

»Hoppla, tut mir leid«, sagte Carcer. »Bin da auf dein Grab getreten. War nicht böse gemeint.«

Mumm schwieg. Das Tier heulte. Es wollte diesen Mund schließen.

»Du wirst mich nicht töten, Herr Mumm. Nein, du nicht. Nicht mit einer Dienstmarke. Das passt einfach nicht zu dir, Herr Mumm.«

Ohne hinzusehen griff Mumm nach der Dienstmarke und riss sie ab.

»Ah, verstehe, du willst mir einen Schrecken einjagen, Herr Mumm, und gewisse Leute würden sagen, dass du jedes Recht dazu hast. Ich schlage dir Folgendes vor: Ich werfe auch das andere Messer weg, haha, du hast gewusst, dass ich noch ein Messer habe, stimmt’s?«

Es war die Stimme. Sie bewirkte, dass man in Zweifel zog, was man wusste.

»Na schön, ich sehe, dass du sauer bist, haha, und du weißt, dass ich immer ein drittes Messer dabei habe, ich lasse es fallen, na bitte, hast du gesehen…«

Mumm war nur noch einen oder zwei Schritte entfernt.

»Das war’s, Herr Mumm. Keine Messer mehr. Und ich kann nicht weglaufen. Ich ergebe mich. Diesmal gibt’s keine Tricks. Ich stelle mich der Polizei. Verhafte mich einfach! Um der alten Zeiten willen.«

Das Tier kreischte in Mumm. Es kreischte, dass niemand protestieren würde, wenn er in die Rolle des Henkers schlüpfte. Und ein kurzer Schwerthieb war sogar die gnädigere Lösung, denn jeder Henker wusste: Es gab den leichten und den schweren Weg ins Jenseits, und es gab weit und breit niemanden, der Carcer den leichten Weg gönnte. Bei den Göttern, er hatte es verdient…

Aber der junge Sam beobachtete ihn, über eine Entfernung von dreißig Jahren hinweg…

Wenn wir brechen, bricht alles. So ist das. Man kann es biegen, und wenn man es stark genug erhitzt, kann man es sogar zu einem Ring verbiegen, doch man muss sich davor hüten, es zu zerbrechen. Denn wenn es zerbricht, dann zerbricht auch alles andere, bis nichts mehr heil ist. Es beginnt hier und heute.

Mumm ließ das Schwert sinken.

Carcer sah auf und lächelte. »Schmeckt einfach nicht, oder, haha, ein Ei ohne Salz…«

Mumm spürte, wie sich seine Hand von ganz allein bewegte… Und verharrte. Roter Zorn brannte in ihm.

Dort war das Tier, um ihn herum. Und genau das war es, ein Tier. Nützlich, aber eben ein Tier. Man konnte es an die Kette legen, es tanzen und mit Bällen jonglieren lassen. Es dachte nicht. Es war dumm. Und man selbst… Man selbst war nicht das Tier.

Man brauchte nicht zu tun, was es wollte. Wenn man seinen Wünschen nachgab, gewann Carcer.

Mumm ließ das Schwert fallen.

Carcer starrte ihn an und fand das plötzliche Lächeln im Gesicht des Kommandeurs beunruhigender als seinen Zorn. Und dann glänzte Metall in seiner Hand. Aber Mumm war bereit, packte die Hand und schlug sie immer wieder auf Keels Grabstein, bis das Messer aus den blutigen Fingern rutschte. Er drehte Carcer beide Arme auf den Rücken, zerrte ihn hoch und stieß ihn hart gegen den Stein.

»Siehst du das am Himmel, Carcer?«, fragte sein Mund dicht am Ohr des Mannes. »Das ist der Sonnenuntergang. Und dort sind die Sterne. Und morgen Abend scheinen sie viel besser auf meinen kleinen Sam herab, weil sie nicht mehr auf dich scheinen, Carcer, denn noch bevor morgen früh der Tau von den Blättern verschwindet, bringe ich dich zu Vetinari, und wir lassen die Zeugen aussagen, viele Zeugen, und vielleicht bekommst du sogar einen Anwalt, vorausgesetzt, jemand aus der Anwaltsgilde kann dich verteidigen, ohne dass ihm speiübel wird, und dann, Carcer, bringen wir dich zum Galgen, du brauchst nicht mal zu warten, und dort kannst du hübsch baumeln. Und anschließend gehe ich nach Hause und genehmige mir vielleicht ein hart gekochtes Ei.«

»Du tust mir weh!«

»Da hast du verdammt Recht, Carcer!« Mumm hielt beide Arme mit stählernem Griff fest und riss sich den Ärmel ab. »Ich tue dir weh und halte mich trotzdem an die Vorschriften.« Er band den Stoffstreifen mehrmals um Carcers Handgelenke und verknotete ihn. »Ich sorge dafür, dass du Wasser in deiner Zelle hast. Ich sorge dafür, dass man dir das Frühstück bringt, was immer du möchtest. Ich sorge dafür, dass der Henker ordentliche Arbeit leistet und dich nicht ersticken lässt. Ich werde sogar die Angeln der Falltür ölen.« Er ließ die Arme los, und Carcer taumelte. Ein Tritt schickte ihn zu Boden.

»Die Maschine ist nicht zerbrochen, Carcer. Die Maschine wartet auf dich«, fuhr Mumm fort, riss dem Mann einen Ärmel ab und fesselte ihm damit die Füße. »Die Stadt wird dich hinrichten. Die richtigen Räder drehen sich. Alles wird gerecht sein, darauf achte ich. Nachher kannst du nicht behaupten, dass du keine faire Gerichtsverhandlung bekommen hättest. Du wirst überhaupt nichts mehr sagen können, haha. Auch dafür werde ich sorgen…«

Er trat zurück.

»Guten Abend, Euer Gnaden«, sagte Lord Vetinari. Mumm wirbelte herum. In der Dunkelheit veränderte sich die Textur, und sie schien die Form eines Menschen zu haben.

Mumm nahm das Schwert und spähte in die Nacht. Ein Teil der Finsternis löste sich vom Rest, und eine Gestalt wurde sichtbar.

»Wie lange bist du schon hier?«, fragte Mumm.

»Oh… seit einer ganzen Weile«, erwiderte der Patrizier. »Wie du komme ich lieber allein hierher, um… nachzudenken.«

»Du bist sehr leise gewesen!«, sagte Mumm vorwurfsvoll.

»Ist das ein Verbrechen, Euer Gnaden?«

»Und du hast gehört…?«

»Eine sehr ordentliche Verhaftung«, sagte Vetinari. »Meinen Glückwunsch, Euer Gnaden.«

Mumm blickte auf das Schwert hinab, an dessen Klinge kein Blut klebte.

»Äh, danke«, sagte er vorübergehend verunsichert.

»Zur Geburt deines Sohnes, meine ich.«

»Oh… ja. Natürlich. Ja. Äh… danke.«

»Ein gesunder Junge, wie ich hörte.«

»Über eine Tochter hätten wir uns ebenso gefreut«, sagte Mumm rasch.

»Natürlich. Immerhin sind dies moderne Zeiten. Oh, wie ich sehe, hast du deine Dienstmarke fallen lassen…«

Mumm starrte in das hohe Gras. »Ich komme morgen früh hierher zurück und suche sie«, sagte er. »Aber dies…« Er packte den stöhnenden Carcer und warf ihn sich mit einem leisen Ächzen über die Schulter, »… wird sofort zur Wache am Pseudopolisplatz gebracht.«

Sie schritten langsam über den Kiesweg und ließen den Fliederduft hinter sich zurück. Weiter vorn erwartete sie der alltägliche Gestank der Welt.

»Weißt du«, sagte Lord Vetinari nach einigen Momenten, »ich habe daran gedacht, dass diese Männer eine Art Denkmal verdienen.«

»Ach, ja?«, entgegnete Mumm in einem unverbindlichen Tonfall. Das Herz pochte ihm noch immer bis zum Hals. »Vielleicht auf einem der großen Plätze?«

»Ja, das wäre eine gute Idee.«

»In Bronze?«, fügte Mumm sarkastisch hinzu. »Alle sieben, wie sie mit der Fahne winken?«

»Bronze, ja«, sagte Vetinari.

»Wirklich? Und mit einem inspirierenden Spruch?«, fragte Mumm.

»Warum nicht? Vielleicht etwas in der Art von ›Sie haben die Pflicht erfüllt, die sie erfüllen mussten‹?«

»Nein!«, stieß Mumm hervor und blieb unter einer Lampe am Eingang der Gruft stehen. »Wie kannst du es wagen? Heute! An diesem Ort! Sie haben die Pflicht erfüllt, die sie nicht erfüllen mussten, deshalb starben sie, und du kannst ihnen nichts dafür geben. Verstehst du? Sie kämpften für jene, die im Stich gelassen wurden, sie kämpften füreinander, und sie wurden verraten. Solchen Männern ergeht es immer so. Welchen Nutzen hätte ein Denkmal? Es würde neue Narren daran glauben lassen, sie könnten Helden sein. Und das wäre nicht in ihrem Sinne. Lass sie ruhen. Für immer

Sie gingen weiter, begleitet von schwerer Stille, und dann sagte Vetinari, als hätte sich Mumm überhaupt nicht ereifert: »Erfreulicherweise hat der neue Dekan dieses Tempels plötzlich den Ruf vernommen.«

»Welchen Ruf?«

»Mit religiösen Angelegenheiten kenne ich mich nicht sehr gut aus, aber offenbar verspürte er plötzlich den brennenden Wunsch, die frohe Botschaft der Geringen Götter unwissenden Heiden zu verkünden«, sagte Vetinari.

»Wo?«

»Ich habe Ting Ling vorgeschlagen.«

»Das ist auf der anderen Seite der Welt!«

»Eine frohe Botschaft kann nicht weit genug verbreitet werden, Oberfeldwebel.«

»Nun, wenigstens…«

Mumm blieb am Tor stehen, unter einer weiteren Lampe, deren Licht flackerte. Er ließ Carcer auf den Boden sinken.

»Du hast es gewusst, nicht wahr? Du hast es gewusst!«

»Nicht bis vor, äh, einer Sekunde«, erwiderte Vetinari. »Unter uns gesagt, Kommandeur: Hast du dich nie gefragt, warum ich die Fliederblüte trage?«

»Doch, das habe ich«, sagte Mumm.

»Aber du hast die Frage nie an mich gerichtet.«

»Nein, das habe ich nicht«, bestätigte Mumm. »Es ist eine Blume. Jeder kann eine Blume tragen.«

»Zu dieser Zeit? An diesem Ort?«

»Erzähl mir davon!«

»Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich einen dringenden Auftrag bekam«, sagte Vetinari. »Ich sollte das Leben eines Mannes retten. Eine eher ungewöhnliche Aufgabe für einen Assassinen, obwohl ich es schon einmal gerettet hatte.« Er bedachte Mumm mit einem seltsamen Blick.

»Du hast einen Mann erschossen, der mit einer Armbrust zielte?«, fragte Mumm.

»Gut geraten, Kommandeur! Ja. Ich habe ein Auge für das… Besondere. Die Zeit wurde knapp. Die Straßen waren verstopft. Überall herrschten Chaos und Verwirrung, und ich kannte nicht einmal deinen Aufenthaltsort. Ich beschloss, den Weg über die Dächer zu nehmen. So gelangte ich zur Ankertaugasse, wo ich eine andere Art von Durcheinander vorfand.«

»Sag mir, was du gesehen hast!«, brummte Mumm.

»Ich sah, wie ein Mann namens Carcer… verschwand. Und ich sah einen Mann namens Keel sterben. Besser gesagt: Ich sah ihn tot.«

»Na so was«, murmelte Mumm.

»Ich kämpfte ebenfalls. Ich nahm einem Gefallenen den Fliederzweig ab und hielt ihn im Mund, wie ich hinzufügen muss. Ich stelle mir gern vor, dass ich echte Hilfe geleistet und etwas bewirkt habe. Vier Männer habe ich umgebracht, aber darauf bin ich nicht besonders stolz. Es waren einfache Halunken, ohne jedes Geschick. Außerdem war ihr Anführer allem Anschein nach geflohen, und mit ihm war auch ihre Kampfmoral verschwunden. Die Männer mit den Fliederblüten… Ich muss sagen, sie kämpften wie Tiger, wenn auch nicht sehr elegant. Aber als sie sahen, dass ihr Anführer gefallen war, fielen sie noch entschlossener über die andere Seite her. Bemerkenswert.

Später sah ich mir John Keel an. Es war John Keel. Wie konnte ein Zweifel daran bestehen? Blut klebte an ihm. Überall Blut. Seine Wunden erschienen mir ein wenig alt. Und der Tod, wie wir wissen, verändert die Leute. Aber so sehr?, fragte ich mich damals. Ich legte die Sache als ein halbes Geheimnis beiseite und heute… Oberfeldwebel… haben wir die andere Hälfte des Geheimnisses gefunden. Ist es nicht wundervoll, wie sehr sich Menschen ähneln können? Vermutlich ist nicht einmal deinem Feldwebel Colon etwas aufgefallen. Immerhin sahen wir Keel sterben, und er sah dich aufwachsen…«

»Wohin führt dies alles?«, fragte Mumm.

»Nirgendwohin, Kommandeur. Was könnte ich beweisen? Und zu welchem Zweck?«

»Dann sage ich gar nichts.«

»Ich weiß überhaupt nicht, was du sagen solltest«, erwiderte Vetinari. »Ich bin ganz deiner Ansicht. Lassen wir die Toten ruhen! Aber was dich betrifft, Kommandeur, erlaube mir ein kleines Geschenk zum Anlass der Geburt deines Sohnes…«

»Ich will nichts«, sagte Mumm schnell. »Du hast nicht die Möglichkeit, mich noch weiter zu befördern. Es ist nichts mehr übrig, mit dem du mich bestechen könntest. Ich habe mehr, als ich verdiene. Die Wache funktioniert gut. Wir brauchen nicht einmal ein neues verdammtes Pfeilbrett…«

»Im Gedenken an John Keel…«, begann Vetinari.

»Ich habe dich gewarnt…«

»… kann ich dir die Sirupminenstraße zurückgeben.«

Nur die schrillen, fast unhörbaren Pfiffe der Fledermäuse, die um die Pappeln schwirrten, störten die Stille, die diesen Worten folgte.

»Ein Drache hat sie vor einigen Jahren verbrannt«, brummte Mumm schließlich. »Heute wohnen Zwerge in den Kellern…«

»Ja, Kommandeur. Aber Zwerge… Zwerge sind so herrlich aufgeschlossen, wenn es um Geld geht. Je mehr Geld ihnen die Stadt bietet, desto weniger Zwerge gibt es dort. Der Stall ist noch da, auch der alte Minenturm. Festes Mauerwerk. Es könnte alles wieder erstehen, Kommandeur, zu Ehren von John Keel, eines Mannes, der in einigen wenigen Tagen das Leben vieler veränderte und vielleicht etwas Vernunft in einer verrückten Welt bewahrte. In einigen Monaten könntest du die Lampe über der Tür anzünden…«

Wieder hörte man nur die Fledermäuse.

Vielleicht lässt sich sogar der Geruch zurückbringen, dachte Mumm. Vielleicht kann man über dem Abort ein Fenster anbringen, das aufspringt, wenn man gegen die richtige Stelle drückt. Vielleicht kann man neuen Polizisten alle Tricks beibringen…

»Den Platz könnten wir gebrauchen, das stimmt«, räumte Mumm mit gewisser Mühe ein.

»Wie ich sehe, hast du bereits Gefallen an der Vorstellung gefunden«, sagte Vetinari. »Wenn du morgen in mein Büro kommst, können wir alles regeln…«

»Morgen findet eine Gerichtsverhandlung statt«, erwiderte Mumm scharf.

»Ah, ja. Natürlich. Und es wird eine faire Verhandlung sein«, sagte der Patrizier.

»Das will ich stark hoffen«, brummte Mumm. »Immerhin soll der verdammte Mistkerl hängen.«

»Nun, und nachher…«, begann Vetinari.

»Nachher gehe ich nach Hause und bleibe für eine Weile bei meiner Familie«, sagte Mumm.

»Gut, in Ordnung«, sagte der Patrizier, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. »Wie ich festgestellt habe, verfügst du über ein erstaunliches rhetorisches Talent.« Mumm hörte die sanfte Warnung, als Vetinari hinzufügte: »Heute, Kommandeur, und an diesem Ort.«

»Es heißt Oberfeldwebel, herzlichen Dank«, erwiderte Mumm. »Heute, und an diesem Ort.«

Er packte Carcer am Kragen und zerrte ihn zur Gerechtigkeit.

Auf dem Weg zur Teekuchenstraße, in dunkler Nacht, schritt Mumm durch die Gasse hinter der Tonstraße und blieb stehen, als er auf halbem Wege zwischen den Rückseiten der Pfandleihe und des Gebrauchtwarenladens und damit hinter dem Tempel war.

Er warf seinen Zigarrenstummel über den Zaun und hörte, wie er auf dem Kies landete, der sich ein wenig bewegte. Und dann ging er nach Hause. Und die Welt drehte sich dem Morgen entgegen.