»Ich habe gerade einen Befehl erteilt. Der Bursche soll sich beeilen.«

»Was sollen wir denn mit ihr machen, Herr?«

»Das ist mir gleich! Du bist ein Feldwebel – meinetwegen auch ein Oberfeldwebel –, und du hast einen Befehl erhalten. Es gibt hier sicher Abdecker. Die Leute müssen doch etwas essen, habe ich Recht?«

Mumm zögerte kurz, bevor er salutierte. »Wie du meinst, Herr«, sagte er.

»Weißt du, was ich auf dem Weg hierher gesehen habe, Oberfeldwebel?«

»Keine Ahnung, Herr.« Mumm blickte erneut geradeaus.

»Die Leute errichten Barrikaden, Oberfeldwebel.«

»Herr?«

»Ich weiß, dass du mich verstanden hast, Mann!«

»Das war zu erwarten, Herr. Es ist schon einmal passiert. Die Leute sind nervös. Sie haben Gerüchte über Pöbel und randalierende Soldaten gehört. Sie wollen ihre Straßen schützen…«

»Das ist eine eklatante Herausforderung der Regierungsautorität! Die Leute dürfen das Gesetz nicht in die eigenen Hände nehmen!«

»Sicher. Aber so, wie sich die Dinge entwickeln…«

»Bei den Göttern, Mann, wie hast du es bloß fertig gebracht, befördert zu werden?«

Mumm wusste, dass er es dabei belassen sollte. Rust war ein Narr. Doch derzeit war er ein junger Narr, und das ließ sich leichter entschuldigen. Vielleicht schaffte er es bis zum Idioten, mit ein wenig Hilfe.

»Manchmal zahlt es sich aus…«, begann Mumm.

»In der vergangenen Nacht wurden alle Wachhäuser in der Stadt überfallen«, fuhr Rust fort. »Nur dieses nicht. Welche Erklärung hast du dafür?« Der Schnurrbart des Hauptmanns zitterte. Nicht angegriffen worden zu sein – das war ein eindeutiger Beweis dafür, dass Mumm kein Rückgrat hatte.

»Reiner Zufall.«

»Wie ich hörte, forderte dich jemand zum Zweikampf heraus. Wo ist der Mann jetzt?«

»Ich weiß nicht, Herr. Wir haben ihm die Hand verbunden und ihn dann nach Hause gebracht.«

»Du hast ihn gehen lassen

»Jaherr. Er war…« Weiter kam er nicht. Rust neigte dazu, eine Antwort mit der Forderung nach der Antwort zu unterbrechen, die er unterbrach.

»Warum?«

»Weil ich es zu jenem Zeitpunkt für vernünftig hielt, ihn…«

»Wusstest du, dass in der vergangenen Nacht drei Wächter getötet wurden? Banden trieben sich in den Straßen herum! Inzwischen ist das Kriegsrecht erklärt worden! Heute zeigen wir dem Pöbel eine starke Hand! Ruf deine Männer zusammen, jetzt sofort!«

Mumm salutierte erneut, drehte sich um und ging langsam die Treppe hinunter. Zu laufen kam für ihn selbst unter diesen Umständen nicht in Frage.

Eine starke Hand. Banden, die sich in den Straßen herumtrieben. Wir haben nie etwas gegen die Verbrecherbanden unternommen. Und wenn es auf beiden Seiten Irre und Idioten gibt und alles auf Messers Schneide steht… Probleme sind leicht zu finden, wenn genug Leute danach Ausschau halten.

Eine der härtesten Lektionen im Leben des jungen Sam hatte darin bestanden herauszufinden, dass sich die verantwortlichen Leute nicht immer durch Verantwortungsbewusstsein auszeichneten. Und dass Regierungen nicht immer aus Personen bestanden, die den Durchblick hatten. Und dass die Leute oft handelten, ohne zu denken.

Die meisten Wächter warteten draußen bei den Stufen. Schnauzi leistete gute Dienste bei der internen Kommunikation, wenn es um schlechte Neuigkeiten ging.

»Macht euch zurecht, Jungs«, sagte Mumm. »Der Hauptmann kommt gleich runter. Offenbar wird’s Zeit, Stärke zu zeigen.«

»Welche Stärke?«, fragte Billy Wiggel.

»Nun, Billy, es geht darum, dass die hinterhältigen Revolutionäre einen Blick auf uns werfen und dann eiligst in ihre Löcher zurückkriechen«, sagte Mumm und bedauerte seine Worte sofort. Billy wusste mit Ironie nichts anzufangen.

»Es bedeutet, dass wir unsere Uniformen lüften«, übersetzte er.

»Wir kriegen Dresche«, sagte Fred Colon.

»Nicht, wenn wir zusammenhalten«, meinte Sam.

»Genau«, bestätigte Mumm. »Immerhin sind wir schwer bewaffnete Männer und begegnen bei unserem Streifengang Zivilisten, von denen das Gesetz verlangt, dass sie unbewaffnet sind. Wenn wir gut aufpassen und Glück haben, werden wir vielleicht nicht zu sehr verletzt.«

Auch das war keine gute Idee. Sarkasmus sollte an Schulen gelehrt werden, dachte Mumm. Außerdem konnten bewaffnete Männer in Schwierigkeiten geraten, wenn die unbewaffneten Zivilisten zornig genug waren – und wenn es genug Kopfsteine in der Nähe gab.

Er hörte, wie die fernen Glocken drei Uhr schlugen. An diesem Abend, so vermutete er, würde es auf den Straßen heiß hergehen.

Nach den Geschichtsbüchern war ein Schuss der Auslöser, etwa gegen Sonnenuntergang. Ein Infanterieregiment würde im Henne-und-Küken-Feld auf Befehle warten, beobachtet von vielen Leuten. Truppen zogen immer Zuschauer an: leicht zu beeindruckende junge Männer, die üblichen Leute auf den Straßen und jene Frauen, deren Zuneigung sehr käuflicher Natur war.

Später hieß es, dass es dort keine Menschenmenge hätte geben dürfen. Aber wo denn sonst, wenn nicht im Henne-und-Küken-Feld? Der Ort erfreute sich großer Beliebtheit, denn er war praktisch die einzige grüne Stelle in der Stadt. Die Leute vergnügten sich dort, und fast immer konnte man sich die eine oder andere Leiche am Galgen ansehen. Ganz gewöhnliche Fußsoldaten – Söhne von Müttern und Ehemänner – entspannten sich dort bei einem Gläschen.

O ja, das Gläschen… Später hieß es, dass die Soldaten betrunken waren. Und dass sie nicht betrunken hätten sein dürfen. Genau das war der Grund, überlegte Mumm. Niemand hätte dort sein sollen.

Aber sie waren dort, und als der Hauptmann mit einem Pfeil im Bauch am Boden lag und stöhnte, schossen einige Armbrustschützen in die Richtung, aus der der Pfeil gekommen war. So stand es in den Geschichtsbüchern. Sie schossen auf die Fenster, von denen aus Leute zusahen. Vielleicht war der Pfeil von dort gekommen.

Einige Armbrustbolzen verfehlten das Ziel, andere nicht. Und einige Leute erwiderten das Feuer.

Und dann geschahen schreckliche Dinge, eins nach dem anderen. Es war bereits zu spät, um sie nicht geschehen zu lassen. Und dann entlud sich die Spannung wie von einer Feder und jagte durch die Stadt.

Natürlich gab es Verschwörer, kein Zweifel. Einige von ihnen waren gewöhnliche Leute, die einfach die Nase voll hatten. Manche waren junge Leute ohne Geld, die etwas dagegen hatten, dass alte Leute mit Geld die Geschicke der Welt bestimmten. Andere machten mit, weil sie sich davon größere Chancen bei Frauen erhofften. Einige waren Idioten, so verrückt wie Schwung, mit einer ähnlich starren und unrealistischen Weltanschauung, Leute, die glaubten, auf der Seite »des Volkes« zu stehen, wie sie es nannten. Mumm hatte sein ganzes Leben auf der Straße verbracht und dabei nicht nur anständige Leute kennen gelernt, sondern auch Narren und Halunken, die selbst einen Bettler bestehlen würden, Leute, die jeden Tag stille Wunder wirkten oder grässliche Verbrechen verübten, hinter den schmutzigen Fenstern kleiner Häuser. Aber »dem Volk« war er nie begegnet.

Personen, die auf der Seite »des Volkes« standen, wurden immer enttäuscht. Sie stellten fest, dass das Volk undankbar war und Bemühungen um die Befreiung desselben kaum zu schätzen wusste. Hinzu kam die Neigung, weder modern zu denken noch gehorsam zu sein. Das Volk war vielmehr engstirnig, konservativ und nicht sehr intelligent. Es begegnete der Intelligenz sogar mit Argwohn. Deshalb standen die Kinder der Revolution vor dem alten Problem: Sie hatten nicht nur die falsche Regierung, sondern auch das falsche Volk.

Sobald man Leute wie Dinge sah, die sich einschätzen ließen, wurden sie den Erwartungen nicht mehr gerecht. Was bald durch die Straßen laufen würde, waren keine Revolutionäre oder Aufständische, sondern ängstliche Menschen, die in Panik gerieten. Das geschah, wenn die Maschine des Stadtlebens ausfiel, wenn sich die Zahnräder nicht mehr drehten und all die kleinen Regeln versagten. Wenn das passierte, waren Menschen schlimmer als Schafe. Schafe liefen einfach nur weg und versuchten nicht, die anderen Schafe zu beißen.

Bei Sonnenuntergang verwandelte sich eine Uniform automatisch in ein Ziel. Dann spielte es keine Rolle mehr, wo die Sympathien eines Wächters lagen. Dann war er einfach nur ein weiterer Mann, der eine Rüstung trug…

»Was?«, stieß Mumm hervor und kehrte ins Hier und Heute zurück.

»Ist alles in Ordnung mit dir, Oberfeldwebel?«, fragte Korporal Colon.

»Hmm?«, erwiderte Mumm, als die reale Welt zurückkehrte.

»Du warst weggetreten«, sagte Fred. »Hast ins Leere gestarrt. Du hättest letzte Nacht richtig schlafen sollen.«

»Im Grab hat man jede Menge Zeit zu schlafen«, sagte Mumm und musterte die Wächter.

»Ja, das habe ich gehört, Oberfeldwebel, aber niemand weckt einen mit einer Tasse Tee. Ich habe die Männer Aufstellung nehmen lassen.«

Fred hatte sich Mühe gegeben, wie Mumm deutlich sehen konnte. Und auch die Männer selbst. Er hatte sie noch nie so… förmlich erlebt. Normalerweise beschränkten sich die Gemeinsamkeiten auf einen Helm und einen Brustharnisch pro Mann. Abgesehen davon unterschied sich ihre Ausrüstung je nach ihren persönlichen Vorlieben. Doch heute machten die Wächter einen ordentlichen Eindruck.

Das mit der Größe ließ sich leider nicht ändern. Die Inspektion einer Truppe mit Wiggel am einen Ende und Nimmernich am anderen fiel niemandem leicht. Wiggel war so klein, dass ihm einmal ein Feldwebel Nabelstarren vorgeworfen hatte; für einen durchdringenden Blick in die Augen benötigte er eine Leiter. Nimmernich hingegen wusste immer als Erster, wenn es regnete. Man musste ein ganzes Stück zurücktreten, um beide zu sehen, ohne die Augen zu verdrehen.

»Gut gemacht, Jungs«, brachte Mumm hervor und hörte, wie Rust die Treppe herunterkam.

Vermutlich sah der neue Hauptmann seine Truppe jetzt zum ersten Mal, und er hielt sich gut, wenn man die Umstände berücksichtigte. Er seufzte nur.

Dann wandte er sich an Mumm und sagte: »Ich brauche etwas, auf dem ich stehen kann.«

»Herr?«

»Ich möchte zu den Männern sprechen, um sie zu inspirieren und in ihrer Entschlossenheit zu bestärken. Sie sollen den politischen Hintergrund der derzeitigen Krise verstehen.«

»Oh, wir wissen, dass Lord Winder verrückt ist, Herr«, sagte Wiggel fröhlich.

Auf Rusts Stirn hätte sich fast Raureif gebildet.

Mumm straffte sich. »Gruppe weeeggetreten!«, rief er und beugte sich zu Rust, als die Männer forteilten. »Wenn ich dich kurz sprechen dürfte, Herr…«

»Hat der Mann das wirklich gesagt?«, fragte Rust fassungslos.

»Ja, Herr. Es sind einfache Männer«, erwiderte Mumm und dachte schnell. »Es dürfte besser sein, sie nicht zu beunruhigen, wenn du verstehst, was ich meine.«

Rust fügte dies der Auswahl an Möglichkeiten hinzu. Mumm konnte sehen, wie er überlegte. Es war ein Ausweg, und es passte zu Rusts Meinung über die Wache. Es bedeutete, dass er nicht die Dreistigkeit eines Obergefreiten, sondern nur die dumme Bemerkung eines Einfaltspinsels gehört hatte.

»Sie kennen ihre Pflicht, Herr«, fügte Mumm bekräftigend hinzu.

»Ihre Pflicht besteht darin, das zu tun, was man ihnen sagt, Oberfeldwebel.«

»Genau, Herr.«

Rust strich über seinen Schnurrbart. »Nun, dein Hinweis ist nicht ganz ohne, Oberfeldwebel. Und du vertraust ihnen?«

»Ja, Herr, ich vertraue ihnen.«

»Hm. In zehn Minuten machen wir eine Runde durch die angrenzenden Straßen. Es wird Zeit, dass wir aktiv werden. Die Berichte sind Besorgnis erregend. Wir müssen die Linie halten, Oberfeldwebel.«

Er glaubt daran, dachte Mumm. Er glaubt wirklich daran.

 

Die Wächter marschierten in den Sonnenschein des Nachmittags hinaus und stellten sich nicht besonders gut dabei an. Das Marschieren lag ihnen nicht. Ihre normalen Fortbewegungsmethoden waren das Schlendern, das nicht als militärisches Manöver gilt, sowie der rasche Rückzug, den Soldaten durchaus vertraut.

Außerdem wirkten bei ihnen die Konvektionsströme vorsichtiger Feigheit. Bei den Schritten der einzelnen Männer gab es eine ausgeprägte seitliche Komponente – jeder versuchte, in der Mitte zu gehen. Die Wächter trugen Schilde, aber diese bestanden aus Flechtwerk, das vor Schlägen und geworfenen Steinen schützen sollte; gegen Klingen nützte es überhaupt nichts. Was eigentlich ein Marsch sein sollte, ähnelte mehr einem Zusammendrängen.

Rust bemerkte nichts davon. Er hatte das Talent, nicht zu sehen und nicht zu hören, was er nicht sehen oder hören wollte. Und was er sah, war eine Barrikade.

Eigentlich war Ankh-Morpork gar keine Stadt, zumindest nicht im genauen Wortsinn. Orte wie die Tollen Schwestern, Schlummerhügel und Siebenschläfer waren einst Dörfer gewesen, bevor sie im sich ausbreitenden Stadtgebiet aufgingen. Auf einem gewissen Niveau blieben sie von den übrigen Vierteln getrennt. Was den Rest betraf… Wenn man die Hauptstraßen verließ, gab es nur noch einzelne Wohngegenden. Die Bewohner waren nicht viel unterwegs. Wenn die Spannungen zunahmen, blieben sie lieber bei ihren Freunden und der Familie. Was auch immer geschah: Sie versuchten, ihre eigene Straße davor zu schützen. Es war keine Revolution, sondern das genaue Gegenteil: die Verteidigung der eigenen Haustür.

Im Fischbeinweg wurde eine Barrikade errichtet. Sie bestand größtenteils aus umgekippten Marktbuden, einem kleinen Karren und vielen Möbelstücken. Aber sie war ein Symbol.

Rusts Schnurrbart zitterte. »Direkt vor unseren Augen«, schnappte er. »Eine freche Herausforderung der konstituierten Autorität, Oberfeldwebel. Tu deine Pflicht!«

»Und die wäre, Herr?«, fragte Mumm.

»Verhafte die Rädelsführer! Und lass die Barrikade von deinen Männern beiseite schaffen!«

Mumm seufzte. »Wie du meinst, Herr. Bleib besser hier, während ich die Verantwortlichen aufspüre.«

Er ging zu dem Durcheinander aus Haushaltsdingen, sich der Blicke von Beobachtern vor und hinter ihm bewusst. Als er nur noch etwa zwei Meter von der Barrikade entfernt war, wölbte er die Hände trichterförmig vor dem Mund und rief: »Na schön, was ist hier los?«

Er hörte flüsternde Stimmen und war auf das vorbereitet, was als Nächstes geschah. Ein Stein flog über die Barrikade, und er fing ihn mit beiden Händen auf.

»Ich habe eine höfliche Frage gestellt«, sagte er. »Kommt schon!«

Wieder ein Flüstern. Mumm hörte »… das ist der Oberfeldwebel von letzter Nacht…«, und es folgte ein leiser Streit. Dann rief die Stimme: »Tod den faschistischen Unterdrückern!«

Wieder zankten raunende Stimmen, diesmal noch hingebungsvoller. Jemand sagte »Oh, meinetwegen«, und dann: »Tod den faschistischen Unterdrückern, Anwesende ausgeklammert! So, sind jetzt alle zufrieden

Mumm erkannte die Stimme. »Herr Reginald Schuh?«, fragte er.

»Ich bedauere, dass ich nur ein Leben für den Fischbeinweg opfern kann!« Die Stimme kam von irgendwo hinter einem Kleiderschrank.

Wenn du wüsstest, dachte Mumm.

»Ich glaube, das wird nicht nötig sein«, sagte er. »Ich bitte euch, meine Damen und Herren. Führt man sich so auf? Ihr könnt… das Gesetz… nicht in die eigenen Hände…« Er brach ab.

Manchmal braucht das Gehirn eine Weile, um zum Mund aufzuschließen. Mumm drehte sich um und sah zur Truppe – er hatte sie nicht extra auffordern müssen, hinter ihm zurückzubleiben. Dann sah er erneut zur Barrikade.

Wo war das Gesetz eigentlich? Derzeit?

Was machte er hier?

Es gab natürlich die Aufgabe, die er direkt vor sich sah. Er war ihr nie aus dem Weg gegangen. Und das Gesetz war immer… dort draußen gewesen, aber nicht weit entfernt. Er war immer sehr sicher gewesen, wo es sich befand, und es hatte eindeutig etwas mit der Dienstmarke zu tun.

Die Dienstmarke war wichtig. Ihre Form entsprach dem eines Schilds. Er hatte darüber nachgedacht, während langer Nächte in der Dunkelheit. Sie beschützte ihn vor dem Tier, denn das Tier wartete in der Finsternis im Innern seines Kopfes.

Er hatte Werwölfe mit bloßen Händen getötet. Zu dem Zeitpunkt war er vor Entsetzen geradezu wahnsinnig gewesen, aber das Tier hatte ihm Gesellschaft geleistet und ihm Kraft gegeben…

Wer wusste, welche Verderbtheit in den Herzen von Menschen lauerte? Ein Polizist. Nach zehn Jahren glaubte man, alles gesehen zu haben, doch die Schatten tischten einem immer mehr auf. Man sah, wie nah die Menschen beim Tier lebten. Man begriff, dass Leute wie Carcer nicht verrückt waren, sondern unglaublich gesund. Es waren schlicht Menschen ohne einen Schild. Sie hatten sich die Welt angesehen und erkannt, dass sie sich nicht an die Regeln halten mussten, wenn sie nicht wollten. Sie ließen sich von den vielen kleinen Geschichten nicht zum Narren halten. Sie schüttelten dem Tier die Hand.

Aber er, Sam Mumm, hatte sich an der Dienstmarke festgehalten und, als das nicht mehr genügte, nach der Flasche gegriffen…

Er fühlte sich, als hätte er die Flasche erneut in der Hand. Die Welt drehte sich um ihn herum. Wo war das Gesetz? Die Barrikade vor ihm… Wen schützte sie vor was? Ein Irrer und seine zwielichtigen Gesellen herrschten über die Stadt, und wo war das Gesetz?

Polizisten sagten gern, dass die Leute das Gesetz nicht in die eigenen Hände nehmen sollten, und sie glaubten zu wissen, was sie damit meinten. Aber sie dachten an friedliche Zeiten und an Männer, die den Nachbarn mit einem Knüppel zur Schnecke machen wollten, weil sein Hund einmal zu oft sein großes Geschäft vor der falschen Haustür erledigt hatte. Aber wem gehörte das Gesetz in Zeiten wie diesen? Wenn es nicht in den Händen der Leute sein sollte, wo dann? In den Händen von Leuten, die es besser wussten? Dann bekam man Winder und seine Kumpel, und welchen Sinn hatte das?

Was sollte als Nächstes geschehen? O ja, er hatte eine Dienstmarke, aber es war nicht seine, nicht in dem Sinne… Und er hatte Befehle bekommen, die falschen… Und er hatte Feinde, aus den falschen Gründen… Und vielleicht gab es keine Zukunft. Sie existierte nicht mehr. Es gab nichts Reales, keinen festen Punkt, auf dem er stehen konnte. Es gab nur Sam Mumm dort, wo er eigentlich gar nicht sein sollte…

Sein Körper schien so viel Kraft wie möglich zum Entwirren der sich überschlagenden Gedanken einsetzen zu wollen und musste dazu Ressourcen von anderen Bereichen abziehen. Es wurde dunkel vor Mumms Augen. Ihm zitterten die Knie.

Es gab nur noch bestürzte Verzweiflung.

Und viele Explosionen.

 

Havelock Vetinari klopfte höflich ans Fenster des kleinen Büros neben dem Haupteingang der Assassinengilde.

Der Dienst habende Pförtner öffnete die Klappe.

»Ich melde mich ab, Herr Kastanie«, sagte der Assassine.

»Jaherr«, sagte Kastanie und zog ein dickes Buch zu sich heran. »Und wohin gehen wir heute, Herr?«

»Allgemeines Auskundschaften, Herr Kastanie. Ich sehe mich nur ein wenig um.«

»Ah, gestern Abend habe ich zu Frau Kastanie gesagt, Herr, dass du es ausgezeichnet verstehst, dich umzusehen«, sagte Kastanie.

»Wir sehen und lernen, Herr Kastanie, wir sehen und lernen.« Vetinari schrieb seinen Namen in das Buch und schraubte den Federhalter wieder zu. »Und wie geht es deinem kleinen Jungen?«

»Danke der Nachfrage, Herr, es geht ihm viel besser«, sagte der Pförtner.

»Freut mich, das zu hören. Oh, wie ich sehe, ist der Ehrenwerte Johann Blutgut unterwegs, um einen Auftrag auszuführen. Im Palast?«

»Na, na, Herr«, sagte Kastanie und winkte mit dem Zeigefinger. »Du weißt doch, dass ich darüber keine Auskunft geben kann, selbst wenn ich Bescheid wüsste.«

»Natürlich nicht.« Vetinari sah zur Rückwand des Büros, wo Umschläge in einem Messingestell steckten. Ganz oben an dem Gestell stand »Aktiv«.

»Guten Tag, Herr Kastanie.«

»‘n Tag, Herr. Gutes, äh, Auskundschaften.«

Der Pförtner sah dem jungen Mann nach, als er auf die Straße trat. Dann ging er in das Kämmerchen neben dem Büro, um den Kessel aufzusetzen.

Er mochte den jungen Vetinari, der still und lernbegierig war und, bei manchen Gelegenheiten, recht großzügig sein konnte. Allerdings erschien er ihm auch ein wenig seltsam. Einmal hatte Kastanie ihn im Foyer dabei beobachtet, wie er ganz still stand. Mehr machte er nicht. Er unternahm nicht den geringsten Versuch, sich zu verbergen. Nach einer halben Stunde war Kastanie zu ihm gegangen und hatte gefragt: »Kann ich dir helfen, Herr?«

Und Vetinari hatte geantwortet: »Danke, nein, Herr Kastanie. Ich bringe mir nur bei, ganz still zu stehen.«

Solch eine Antwort ließ keinen vernünftigen Kommentar zu. Nach einer Weile musste der junge Mann gegangen sein, denn Kastanie erinnerte sich nicht daran, ihn an dem Tag noch einmal gesehen zu haben.

Er hörte ein Knarren aus dem Büro und blickte um die Ecke. Niemand war da.

Als er den Tee kochte, glaubte er, nebenan ein Rascheln zu hören. Er sah im Büro nach und stellte fest, dass es völlig leer war. Es schien sogar noch leerer zu sein als sonst, wenn sich einfach nur niemand darin aufhielt.

Er kehrte zu dem Lehnsessel im Kämmerchen zurück und entspannte sich.

Im Messinggestell rutschte der Briefumschlag mit der Aufschrift »Blutgut, J.« ein wenig zurück.

 

Explosionen krachten, und zwar ziemlich viele. Feuerwerkskörper knallten überall auf der Straße. Tambourine schlugen, und ein Horn schmetterte einen Ton, wie er in der Natur nicht vorkam. Mönche tanzten um die Ecke und sangen aus vollem Hals.

Mumm sank auf die Knie und bemerkte Dutzende von Füßen in Sandalen, die an ihm vorbeisausten, und außerdem wehende schmutzige Umhänge. Rust rief den Tänzern, die lächelten und fröhlich winkten, etwas zu.

Etwas Silbernes landete auf dem Boden.

Und dann waren die Mönche fort, tanzten durch eine Gasse, riefen und drehten sich, schlugen dabei ihre Gongs aneinander…

»Verdammte Heiden!«, schnaufte Rust und trat vor. »Hat dich etwas getroffen, Oberfeldwebel?«

Mumm bückte sich und griff nach dem silbernen Rechteck.

Ein Stein prallte von Rusts Brustharnisch ab. Als er sein Sprachrohr hob, traf ihn ein Kohlkopf am Knie.

Mumm starrte auf das Objekt in seiner Hand. Es war ein Zigarrenetui, schmal und ein wenig gewölbt.

Er öffnete es mit zitternden Fingern und las:

 

Für Sam, in Liebe von deiner Sybil.

 

Die Welt bewegte sich. Aber jetzt fühlte sich Mumm wie ein Schiff, das am Anker hing. Am anderen Ende der Leine sorgte der schwere Anker dafür, dass das Schiff den Bug in die Strömung drehte.

Ein Hagel aus Wurfgeschossen flog über die Barrikade. Mit Dingen zu werfen war ein alter Brauch in Ankh-Morpork, und Rust hatte etwas, das ihn zum Ziel machte. Mit einem Rest von Würde hob er erneut sein Sprachrohr und kam so weit wie »Hiermit warne ich euch…«, bevor ein Stein es ihm aus der Hand schlug.

»Na schön«, brummte er und marschierte steifbeinig zur Truppe zurück. »Oberfeldwebel Keel, befiehl den Männern, mit ihren Armbrüsten zu schießen. Eine Pfeilsalve, über die Barrikade hinweg.«

»Nein«, sagte Mumm und stand auf.

»Ich kann nur annehmen, dass du nicht richtig bei dir bist« sagte Rust. »Männer, bereitet euch darauf vor, meinen Befehl auszuführen.«

»Der erste Mann, der schießt, wird von mir niedergeschlagen«, sagte Mumm. Er rief nicht. Er wies einfach nur darauf hin, was die Zukunft bringen würde.

Rusts Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Er musterte Mumm von Kopf bis Fuß.

»Ist dies Meuterei?«, fragte der Hauptmann.

»Nein. Ich bin kein Soldat, Herr. Daher kann ich auch nicht meutern.«

»Das Kriegsrecht ist ausgerufen, Oberfeldwebel!«, erwiderte Rust scharf. »Ganz offiziell

»Tatsächlich?«, fragte Mumm, als es erneut Steine und altes Gemüse regnete. »Die Schilde hoch, Jungs.«

Rust wandte sich an Fred Colon. »Korporal, du wirst diesen Mann unter Arrest stellen!«

Colon schluckte. »Ich?«

»Ja, Korporal. Jetzt

Weiße Flecken bildeten sich auf Colons rosarotem Gesicht, als das Blut daraus entwich. »Aber er…«, begann er.

»Du willst nicht gehorchen? Dann muss ich das wohl selbst erledigen.« Der Hauptmann zog sein Schwert.

Mumm vernahm ein leises Klicken, als eine Armbrust entsichert wurde. Er stöhnte innerlich und erinnerte sich nicht daran, dass dies geschehen war.

»Bitte leg das Schwert weg, Herr«, sagte Gefreiter Mumm.

»Du wirst nicht auf mich schießen, du junger Narr«, entgegnete der Hauptmann ruhig. »Das wäre Mord.«

»Nicht dort, wohin ich ziele, Herr.«

Meine Güte, dachte Mumm. Vielleicht war der Junge einfältig. Denn eins konnte man von Rust gewiss nicht behaupten: dass er feige war. Er verwechselte dumme Sturheit mit Mut und wäre auch vor zehn bewaffneten Männern nicht zurückgewichen.

»Ah, ich glaube, ich weiß, wo das Problem liegt, Hauptmann«, sagte Mumm fröhlich. »Schon gut, Gefreiter. Es gibt hier ein kleines Missverständnis, Herr, aber es sollte sich leicht aus der Welt schaffen lassen…«

Es war ein Schlag, an den er sich lange Zeit erinnern würde. Ein Musterbeispiel für den perfekten Hieb, und er fühlte sich einfach herrlich an. Rust fiel wie ein gefällter Baum.

Im Licht aller Brücken, die hinter ihm in Flammen aufgingen, schob Mumm die Hand in die Hosentasche. Er bedankte sich bei Frau Gutleib und ihren kleinen Spezialitäten. Dann wandte er sich den Männern zu, die wie erstarrt dastanden und entsetzt schwiegen.

»Dafür übernimmt Oberfeldwebel John Keel die volle Verantwortung«, sagte er. »Mumm, ich habe dir doch gesagt, dass du nur dann mit einer Waffe drohen sollst, wenn du auch bereit bist, davon Gebrauch zu machen.«

»Du hast ihn niedergeschlagen!«, quiekte Sam und starrte noch immer auf den bewusstlosen Hauptmann hinab.

Mumm schüttelte das Leben in seine Hand zurück. »Hiermit übernehme ich das Kommando nach dem plötzlichen Anfall von Wahnsinn des Hauptmanns«, sagte er. »Keule, Wiggel… Bitte bringt ihn zum Wachhaus zurück und sperrt ihn ein.«

»Was machen wir jetzt, Oberfeldwebel?«, fragte Colon.

Den Frieden wahren. Darum ging es. Oft verstanden die Leute nicht, was das bedeutete. Man war mit einer lebensgefährlichen Situation konfrontiert, wie zum Beispiel dem Streit von zwei Nachbarn, die sich nicht einigen konnten, wem die Hecke zwischen ihren Grundstücken gehörte, und beide platzten geradezu vor Selbstgerechtigkeit und schrien sich an, während ihre Frauen entweder auf einen eigenen kleinen Streit am Rande konzentriert waren oder sich in die Küche zurückgezogen hatten, um dort Tee zu trinken, und alle erwarteten von einem, dass man das Problem salomonisch löste.

Und sie begriffen einfach nicht, dass so etwas nicht zu den Aufgaben eines Polizisten gehörte. Um solch ein Problem zu lösen, brauchte man einen guten Geometer und vielleicht zwei Anwälte. Der Job des Polizisten bestand darin, der Versuchung zu widerstehen, die Köpfe der beiden dämlichen Streithähne gegeneinander zu schlagen, die Flüche und Beschimpfungen zu überhören und sie von der Straße zu bringen. Sobald man das geschafft hatte, war die Aufgabe erledigt. Ein Polizist war kein Streife gehender Gott, der ausgewogene natürliche Gerechtigkeit verteilte. Ein Polizist sorgte nur dafür, dass es wieder friedlich zuging.

Wenn einige strenge Worte nicht genügten und wenn Herr Weiß anschließend über den umstrittenen Zaun kletterte und Herrn Schwarz mit einer Gartenschere erstach – dann bekam man eine andere Aufgabe: den Heckenstreit-Mord aufzuklären. Aber dazu war man wenigstens ausgebildet.

Die Leute erwarteten die verschiedensten Dinge von Polizisten, doch es gab eine Sache, die sie sich früher oder später alle wünschten: Lass dies nicht geschehen!

Lass dies nicht geschehen…

»Was?«, fragte Mumm und bemerkte schließlich eine Stimme, die schon seit einer ganzen Weile versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erregen.

»Ist er wirklich wahnsinnig, Oberfeldwebel?«

Wenn man von der steilen Felswand stürzt, ist es zu spät für die Frage, ob es einen besseren Weg zum Gipfel gegeben hätte…

»Er verlangte von euch, auf Leute zu schießen, die uns überhaupt nichts getan haben«, sagte Mumm und trat vor. »Wahnsinn ist die einzige Erklärung dafür, meinst du nicht?«

»Die Leute werfen mit Steinen, Oberfeldwebel«, sagte Colon.

»Na und? Bleib außer Reichweite. Bestimmt haben sie’s eher satt als wir.«

Tatsächlich kamen keine Wurfgeschosse mehr von der Barrikade – selbst in Krisenzeiten hielten die Bewohner von Ankh-Morpork inne, um interessantes Straßentheater zu beobachten. Mumm ging zurück und blieb unterwegs kurz stehen, um Rusts verbeultes Sprachrohr aufzuheben.

Als er sich näherte, sah er Gesichter durch kleine Lücken in der Barrikade. Er wusste, dass die Unnaussprechlichen irgendwo provozierten und stimulierten. Mit ein wenig Glück kümmerten sie sich nicht um die Ereignisse im Fischbeinweg.

Die Verteidiger flüsterten miteinander. In ihren Gesichtern sah Mumm etwas, das er kannte und aus seiner eigenen Miene zu verbannen versuchte. So sahen Leute aus, die plötzlich den vertrauten Boden unter den Füßen verloren hatten und jetzt versuchten, auf Treibsand zu steppen.

Mumm warf das dumme, wichtigtuerische Sprachrohr weg und wölbte die Hände vor dem Mund.

»Einige von euch kennen mich!«, rief er. »Ich bin Oberfeldwebel Keel und führe derzeit das Kommando über das Wachhaus in der Sirupminenstraße! Ich befehle euch, die Barrikade zu beseitigen…«

Höhnische Stimmen erklangen, und einige schlecht gezielte Wurfgeschosse flogen. Mumm rührte sich nicht von der Stelle und wartete, bis wieder Ruhe einkehrte. Dann hob er erneut beschwichtigend die Hände.

»Ich wiederhole, ich befehle euch, die Barrikade zu beseitigen.« Er holte tief Luft und fuhr fort: »Und sie auf der anderen Seite an der Ecke Ankertaugasse neu zu errichten! Und eine weitere an der Glatten Gasse! Und baut eine richtige! Meine Güte, man legt nicht einfach irgendwelche Dinge aufeinander. Eine Barrikade muss konstruiert werden! Wer hat hier das Sagen?«

Laute der Verwunderung ertönten hinter den diversen Möbelstücken, und eine Stimme rief: »Du?« Nervöses Gelächter folgte.

»Sehr komisch! Dann lacht auch hierüber, wenn euch danach zumute ist! Bisher ist niemand an uns interessiert! Dies ist ein ruhiger Teil der Stadt! Aber wenn’s wirklich schlimm kommt, habt ihr plötzlich die Kavallerie im Rücken! Mit Säbeln! Wie lange könnt ihr dann durchhalten? Aber wenn ihr das hiesige Ende der Sirupminenstraße und der Glatten Gasse abriegelt, bleiben den Kavalleristen nur noch schmale Gassen übrig, und das dürfte ihnen nicht gefallen! Wir würden euch gern beschützen, aber meine Männer und ich werden hinter den Barrikaden dort drüben sein…«

Er drehte sich um und kehrte zu den wartenden Wächtern zurück.

»Also gut, Jungs«, sagte er. »Ihr habt es gehört. Sprung und Humpel, ihr bringt den Gefangenenwagen zur Brücke und kippt ihn dort um. Keule, Nimmernich und Fred – geht los und besorgt einige Karren. Ihr seid hier aufgewachsen; behauptet also nicht, ihr hättet so etwas noch nie zuvor getan. Blockiert mit einigen von ihnen die Straßen hier unten. Schiebt die anderen in Gassen, bis sie festsitzen. Ihr kennt euch hier aus. Riegelt alle Zugänge ab.«

Colon rieb sich die Nase. »Auf der Flussseite lässt sich das machen, Oberfeldwebel, aber nicht auf der Seite der Schatten. Dort wimmelt es von Gassen, und sie lassen sich nicht alle blockieren.«

»Ich glaube, da brauchen wir uns keine Sorgen zu machen«, sagte Mumm. »Von der Seite wird keine Kavallerie vorrücken. Wisst ihr, wie man ein Pferd in den Schatten nennt?«

Colon grinste. »Ja, Oberfeldwebel. Mittagessen.«

»Genau. Und ihr anderen… Holt alle Sitzbänke und Tische aus dem Wachhaus…«

Er begriff plötzlich, dass sich kein einziger Wächter bewegt hatte. Ein gewisses… Problem hing in der Luft.

»Nun?«

Billy Wiggel nahm den Helm ab und wischte sich Schweiß von der Stirn. »Äh… wie weit geht diese Sache, Oberfeldwebel?«

»Die ganze Strecke, Billy.«

»Aber wir haben den Eid geleistet, Oberfeldwebel, und jetzt verweigern wir den Befehl und helfen Rebellen. Das scheint nicht richtig zu sein, Oberfeldwebel«, brachte Wiggel unglücklich hervor.

»Du hast geschworen, das Gesetz zu wahren und Bürger zu verteidigen, ohne Furcht oder persönliche Gunst«, sagte Mumm. »Außerdem sieht der Eid vor, Unschuldige zu beschützen. Offenbar hat man dies für wichtig gehalten. Von anderen Dingen ist nicht die Rede. Nirgends wird erwähnt, dass es Befehle zu befolgen gilt, nicht einmal meine. Du bist ein Polizist, der dem Gesetz gehorcht, kein Soldat der Regierung.«

Ein oder zwei Männer blickten sehnsüchtig zum anderen Ende der Straße, das leer war und verlockend wirkte.

»Wer gehen möchte… Ich werde niemanden daran hindern«, sagte Mumm.

Die sehnsüchtigen Blicke erstarben.

»Hallo, Herr Keel«, ertönte eine klebrige Stimme hinter Mumm.

»Ja, Nobby?«, fragte er, ohne sich umzudrehen.

»Woher wusstest du, dass ich es bin, Oberfeldwebel?«

»Es ist ein erstaunliches Talent, Junge«, sagte Mumm und drehte den Kopf, um entgegen aller Weisheit auf den Bengel hinabzusehen. »Was geschieht?«

»Großer Aufruhr auf dem Hiergibt’salles-Platz, Oberfeldwebel. Und es heißt, Leute seien in das Wachhaus bei den Tollen Schwestern eingedrungen und hätten den Leutnant aus dem Fenster geworfen. Und überall wird geplündert, heißt es, und die Tagwache ist beauftragt, Leute festzunehmen, aber die meisten Leute von der Tagwache verstecken sich, weil…«

»Ich verstehe«, seufzte Mumm. Carcer hatte Recht. Polizisten waren immer in der Minderzahl und konnten nur dann Polizisten sein, wenn es die Bürger zuließen. Wenn den Leuten plötzlich klar wurde, dass Polizisten nur ganz normale Narren mit einem wertlosen Stück Metall als Dienstmarke waren, riskierten die Uniformierten, als Fleck auf dem Pflaster zu enden.

Mumm hörte Geschrei in der Ferne.

Er richtete den Blick wieder auf die zögernden Wächter. »Andererseits, meine Herren…«, sagte er. »Wenn ihr gehen wollt – was wollt ihr dann machen

Der gleiche Gedanke ging auch Colon und den anderen durch den Kopf.

»Wir besorgen die Karren«, sagte er und eilte fort.

»Und ich möchte einen Cent«, sagte Nobby und streckte eine schmutzige Hand aus. Zur großen Überraschung des Jungen gab Mumm ihm einen Dollar und sagte: »Halt mich weiterhin auf dem Laufenden!«

Es wurden bereits Tische und Sitzbänke aus dem Wachhaus geholt, und nach einigen Minuten erschien Keule mit einem Karren, auf dem leere Fässer standen. In diesen Straßen war es leicht, Barrikaden zu errichten. Das Problem hatte immer darin bestanden, sie freizuhalten.

Die Wächter machten sich an die Arbeit. Dies war etwas, das sie verstanden. So etwas hatten sie als Kinder getan. Und vielleicht dachten sie: He, diesmal tragen wir Uniformen, es kann also nichts Unrechtes sein.

Während Mumm versuchte, eine Sitzbank in der wachsenden Barrikade zu verkeilen, spürte er die Anwesenheit von Personen hinter sich. Er setzte seine Bemühungen fort, bis jemand hüstelte. Daraufhin drehte er sich um.

»Ja? Kann ich euch helfen?«

Eine kleine Gruppe hatte sich eingefunden, und Mumm erkannte: Furcht hatte diese Leute zueinander geführt, denn unter normalen Umständen hätten sie kaum etwas miteinander zu tun haben wollen.

Der Sprecher – beziehungsweise die Person ganz vorn – sah fast genauso aus wie der Mann, den sich Mumm beim Gedanken an den Heckenstreit-Mord vorgestellt hatte.

»Äh, Wächter…«

»Ja, Herr?«

»Was, äh, machst du da?«

»Ich bewahre den Frieden, Herr. Mit dieser Sitzbank, Herr.«

»Du hast von, äh, Aufruhr und Soldaten gesprochen, die hierher kommen…«

»Das ist sehr wahrscheinlich, Herr.«

»Du brauchst ihn nicht zu fragen, Rudolf, es ist seine Pflicht, uns zu beschützen«, erklang die scharfe Stimme der Frau, die neben dem Mann stand und wie seine Besitzerin wirkte. Mumm änderte seine Meinung über den Mann. Er hatte den verstohlenen Blick des schüchternen häuslichen Giftmörders. Ein solcher Mann wäre entsetzt gewesen von der Vorstellung einer Scheidung, was ihn jedoch nicht daran hinderte, jeden Tag einen Frauenmord zu planen. Und man konnte sehen, warum.

Mumm bedachte die Frau mit einem freundlichen Lächeln. Sie hielt eine blaue Vase in den Händen. »Kann ich dir helfen, gnä’ Frau?«, fragte er.

»Wie willst du verhindern, dass man uns in unseren Betten ermordet?«, fragte die Frau.

»Es ist kurz vor vier Uhr nachmittags, gnä’ Frau, aber falls du früh zu Bett gehen möchtest und mir rechtzeitig Bescheid gibst…«

Die Frau richtete sich auf, und Mumm war beeindruckt. Nicht einmal Sybil im vollen Herzoginnenmodus und mit dem Blut von zwanzig Generationen arroganter Ahnen in sich hätte es mit dieser Frau aufnehmen können.

»Willst du das einfach so hinnehmen, Rudolf? So tu doch was!«, ordnete die Frau an.

Rudolf blickte zu Mumm auf, der sich selbst sah: unrasiert, das Haar zerzaust, schmutzig. Und vermutlich ging bereits ein übler Geruch von ihm aus. Er beschloss, dem Mann nicht noch mehr aufzubürden.

»Möchtet ihr uns beim Bau der Barrikade helfen?«, fragte er.

»Oh, ja, vielen Dank…«, begann Rudolf, doch seine Frau kam ihm erneut zuvor.

»Einige dieser Möbelstücke sehen sehr schmutzig aus«, sagte Frau Rudolf. »Und sind das etwa Bierfässer?«

»Ja, gnä’ Frau, aber sie sind leer«, erwiderte Mumm.

»Bist du sicher? Ich weigere mich, hinter Alkohol in Deckung zu gehen! Ich habe nie etwas von Alkohol gehalten, und das gilt auch für Rudolf!«

»Ich versichere dir, gnä’ Frau: Jedes Bierfass, das eine gewisse Zeit in der Nähe meiner Männer verbringt, ist leer«, sagte Mumm. »Das garantiere ich.«

»Und sind deine Männer nüchtern und anständig?«, fragte die Frau.

»Solange sich keine Alternative anbietet, gnä’ Frau«, sagte Mumm. Das schien akzeptabel zu sein. In dieser Hinsicht war Frau Rudolf wie Rust: Sie hörte den Tonfall, nicht die Worte.

»Ich glaube, es wäre vielleicht eine gute Idee, Schatz, wenn wir uns beeilen und…«

»Nicht ohne Vater!«, verkündete Frau Rudolf.

»Kein Problem, gnä’ Frau«, sagte Mumm. »Wo ist er?«

»Auf unserer Barrikade, natürlich! Die, und das möchte ich betonen, viel besser ist als diese.«

»Wie du meinst, gnä’ Frau«, sagte Mumm. »Wenn dein Vater hierher kommen möchte…«

»Äh, du verstehst nicht ganz«, murmelte Rudolf. »Er ist, äh, auf der Barrikade…«

Mumm blickte zu der anderen Barrikade, blinzelte und sah genauer hin. Ganz oben auf dem Wall aus aufeinander gestapelten Möbelstücken stand ein üppig gepolsterter Lehnsessel. Eine genauere Untersuchung ergab, dass ein Alter darin saß und schlief. Er trug Pantoffeln.

»Er hängt sehr an seinem Sessel«, seufzte Rudolf.

»Er wird ein Erbstück sein«, sagte Frau Rudolf. »Bitte schick deine jungen Männer, um unsere Möbel zu holen. Und sie sollen vorsichtig damit umgehen. Stellt sie irgendwo hinten auf, wo niemand auf sie schießt.«

Mumm nickte Sam und zwei anderen zu, als Frau Rudolf über die Barrikade kletterte und zum Wachhaus schritt.

»Wird es zu einem Kampf kommen?«, fragte Rudolf besorgt.

»Das ist möglich, Herr.«

»Ich fürchte, ich bin kein guter Kämpfer.«

»Mach dir darüber keine Sorgen, Herr.« Mumm half dem Mann über die Barrikade und wandte sich dann den anderen zu. Er hatte sich von einem Blick durchbohrt gefühlt, und jetzt verfolgte er ihn zum Ausgangspunkt zurück, zu einem jungen Mann mit schwarzer Hose, einem Rüschenhemd und langem, krausem Haar.

»Dies ist ein Trick, nicht wahr?«, fragte der junge Mann. »Du bringst uns in deine Gewalt, und dann sieht man uns nie wieder.«

»Dann bleib mir fern, Reg!«, sagte Mumm. Einmal mehr wölbte er die Hände trichterförmig am Mund und wandte sich der Barrikade im Fischbeinweg zu. »Wer sich uns anschließen möchte, sollte sich besser beeilen!«, rief er.

»Du weißt nicht, ob ich so heiße!«, sagte Reg Schuh.

Mumm blickte in die vorstehenden Augen. Der einzige Unterschied zwischen dem heutigen Reg und jenem, den er in der Zukunft zurückgelassen hatte, bestand darin, dass Obergefreiter Schuh grauer war und an einigen Stellen von Nähten zusammengehalten wurde. Reg hatte sich schnell daran gewöhnt, ein Zombie zu sein. Er war gewissermaßen dazu geboren, tot zu sein. Er glaubte so intensiv an Dinge, dass ihn eine innere Feder in Gang hielt. Er gab einen guten Polizisten ab, aber keinen guten Revolutionär. Personen, die so akribische Eiferer waren wie Reg, beunruhigten echte Revolutionäre. Es lag an seinem Starren.

»Du bist Reg Schuh«, sagte Mumm. »Du wohnst im Fischbeinweg.«

»Aha, ihr habt geheime Akten über mich, wie?«, fragte Reg mit schrecklicher Zufriedenheit.

»Nein, eigentlich nicht. Bitte sei jetzt so gut und…«

»Ich wette, es ist eine besonders große Akte, einen halben Meter dick«, sagte Reg.

»Nicht einen ganzen halben Meter, nein«, entgegnete Mumm. »Hör mal, Reg, wir…«

»Ich verlange Einblick!«

Mumm seufzte. »Wir haben keine Akte über dich, Reg. Wir haben über niemanden eine Akte. Viele von uns können nicht lesen, ohne den Finger zur Hilfe zu nehmen. Wir sind nicht an dir interessiert, Reg.«

Reg Schuhs starrer Blick blieb auf Mumm gerichtet, und sein Gehirn wies die gerade erhaltenen Informationen zurück, weil sie sich nicht mit den Vorstellungen vereinbaren ließen, die Reg für Realität hielt.

»Es hat keinen Sinn, mich zu foltern, denn ich werde keine Einzelheiten über die Genossen in den anderen revolutionären Zellen verraten!«, sagte Reg.

»Na schön, dann verzichten wir auf die Folter. Wenn du jetzt bitte…«

»So sind wir organisiert, verstehst du? Die Kader wissen nichts voneinander!«

»Na so was. Wissen sie von dir?«, fragte Mumm.

Ein kurzer Schatten fiel auf Regs Gesicht. »Wie bitte?«

»Du hast gesagt, dass du nichts von den anderen weißt«, meinte Mumm. »Woraus sich die Frage ergibt: Wissen die anderen von dir?« Er wollte hinzufügen: Deine revolutionäre Zelle besteht aus einer Person, Reg, aus dir selbst. Die wahren Revolutionäre sind stille Männer mit den Augen von Pokerspielern, und ihnen dürfte es völlig gleich sein, ob du existierst oder nicht. Du hast das Hemd und das Haar und die Schärpe, und du kennst alle Lieder, aber du bist kein Stadtguerillero, sondern ein Träumer. Du stößt Mülltonnen um und beschmierst die Mauern im Namen »des Volkes«, von dem du eins hinter die Ohren bekämst, wenn es dich dabei erwischen würde. Aber du glaubst.

»Ah, du bist also ein Geheimagent«, sagte er, um dem jungen Mann aus der Patsche zu helfen.

Regs Gesicht erhellte sich. »Ja, genau!«, erwiderte er. »Das Volk ist das Meer, in dem die Revolution schwimmt!«

»Wie Schwertfische?«, fragte Mumm.

»Wie bitte?«

Und du bist eine Flunder, dachte Mumm. Ned ist ein Revolutionär. Er versteht zu kämpfen, und er kann denken, wenn auch verkehrt. Aber du solltest besser nach Hause gehen, Reg…

»Ich sehe deutlich, dass du eine gefährliche Person bist«, sagte er. »Bleib hier, damit ich dich im Auge behalten kann. He, hier kannst du den Feind unterminieren.«

Der erleichterte Reg hob die Faust zum Gruß und trug mit revolutionärer Geschwindigkeit den Tisch zur Barrikade. Hinter der alten Barrikade, aus der inzwischen Frau Rudolfs Möbel entfernt wurden, wurden einige hastige Gespräche geführt. Das Pochen von Hufen am Ende der Sirupminenstraße unterbrach sie und erfüllte die Zögernden mit jäher Entschlossenheit.

Die Leute verließen ihren Platz hinter der alten und eilten zur neuen, offiziellen Barrikade. Gefreiter Mumm bildete die Nachhut – ein Esszimmerstuhl behinderte ihn.

»Pass auf damit!«, rief eine Frau irgendwo hinter Mumm. »Er gehört zu einer Garnitur!«

Mumm legte dem jungen Mann die Hand auf die Schulter. »Bitte gib mir deine Armbrust.«

 

Die Reiter näherten sich.

Sam Mumm hielt nichts von Pferden. Es behagte ihm nicht, zu jemandem aufzusehen, der sich zweieinhalb Meter über der Straße befand. Er verabscheute das Gefühl, von Nüstern angestarrt zu werden. Er mochte es nicht, wenn jemand von oben herab zu ihm sprach.

Als die Reiter die Barrikade erreichten, war Mumm zu ihrer vorderen Seite geklettert und stand mitten auf der Straße.

Die Neuankömmlinge wurden langsamer. Das lag vermutlich daran, dass Mumm ganz ruhig dastand und die Armbrust so lässig hielt wie jemand, der genau weiß, wie man damit umgeht, derzeit aber darauf verzichtet, dies zu zeigen.

»Du da!«, sagte ein Soldat.

»Ja?«, erwiderte Mumm.

»Führst du hier das Kommando?«

»Ja. Kann ich dir helfen?«

»Wo sind deine Männer?«

Mumm deutete mit dem Daumen zu der weiter wachsenden Barrikade. Ganz oben schnarchte Frau Rudolfs Vater friedlich vor sich hin.

»Aber das ist eine Barrikade!«, stellte der Soldat fest.

»Gut erkannt.«

»Der Mann dort winkt mit einer Fahne

Mumm drehte den Kopf. Es war Reg, welch eine Überraschung.

Jemand hatte die alte Fahne aus Tildens Büro geholt und sie auf die Barrikade gepflanzt. Und Reg war genau der Typ, der mit jeder zur Verfügung stehenden Fahne winkte.

»Wir sind nur ein bisschen ausgelassen, Herr«, sagte Mumm. »Keine Sorge. Es geht uns allen gut.«

»Es ist eine verdammte Barrikade, Mann. Eine Rebellenbarrikade!«, betonte der zweite Soldat.

Meine Güte, dachte Mumm. Sie haben makellos glänzende Brustharnische und wundervolle, unerfahrene, rosige Gesichter. »Das stimmt nicht ganz. Eigentlich…«

»Bist du dämlich, Mann? Weißt du nicht, dass der Patrizier befohlen hat, alle Barrikaden zu beseitigen?«

Der dritte Reiter hatte Mumm aufmerksam gemustert, trieb nun sein Pferd an und kam ein wenig näher.

»Was bedeutet die kleine Krone da?«, fragte er.

»Sie weist darauf hin, dass ich kein gewöhnlicher Feldwebel bin, sondern Oberfeldwebel. Und wer bist du?«

»Das braucht er dir nicht zu sagen!«, erwiderte der erste Soldat.

»Tatsächlich nicht?« Der Mann ging Mumm auf die Nerven.

»Nun, du bist ein einfacher Soldat, und ich bekleide den Rang eines Oberfeldwebels, wie du inzwischen weißt, und wenn du es noch einmal wagst, so mit mir zu reden, hole ich dich von deinem Pferd und verpasse dir eins, verstanden?«

Selbst das Pferd wich zurück. Der Soldat öffnete den Mund, um zu antworten, aber der dritte Reiter hob eine Hand, die in einem weißen Handschuh steckte.

Lieber Himmel, dachte Mumm, als er auf den Ärmel der roten Jacke sah. Der Mann war ein Hauptmann, und außerdem auch noch ein intelligenter, wie es schien. Er hatte nicht die Klappe aufgerissen, sondern die Gelegenheit genutzt, einen Eindruck von der Situation zu gewinnen. Manchmal gab es solche Offiziere. Sie konnten sehr klug sein.

»Nun, Oberfeldwebel«, sagte der Hauptmann und sprach den Rang sorgfältig aus, ohne jeden Sarkasmus, »wie ich sehe, weht die Fahne von Ankh-Morpork über der Barrikade.«

»Sie stammt aus dem Wachhaus«, erwiderte Mumm und fügte hinzu: »Herr.«

»Weißt du, dass der Patrizier die Errichtung von Barrikaden zu einem Akt der Rebellion erklärt hat?«

»Jaherr.«

»Und?«, fragte der Hauptmann geduldig.

»Es ist kein Wunder, dass er so etwas sagt, Herr.«

Der Hauch eines Lächelns huschte über die Lippen des Hauptmanns. »Wir können keine Gesetzlosigkeit zulassen, Oberfeldwebel. Wohin kämen wir, wenn wir alle das Gesetz missachten würden?«

»Hinter der Barrikade gibt es mehr Polizisten pro Person als irgendwo sonst in der Stadt, Herr«, erwiderte Mumm. »Man könnte sagen, es ist der gesetzestreueste Ort weit und breit.«

Stimmen erklangen hinter der Barrikade.

»… uns gehören eure Helme, eure Waffen für den Krieg, uns gehören eure Führer, drum gehört uns auch der Sieg Morporkia, Morporkia, Morpooroorooorooorroorr«

»Rebellenlieder, Herr!«, sagte Soldat Nummer eins. Der Hauptmann seufzte.

»Wenn du genau hinhörst, Heppelweiß, fällt dir vielleicht auf, dass es die sehr schlecht gesungene Nationalhymne ist«, sagte er. »Wir können nicht zulassen, dass Rebellen sie singen, Herr!« Der Gesichtsausdruck des Hauptmanns sprach Bände über Idioten.

»Die Fahne zu hissen und die Nationalhymne zu singen sind zwar ein wenig verdächtige Aktivitäten, Heppelweiß, aber sie bedeuten noch keinen Verrat«, sagte der Hauptmann. »Außerdem werden wir woanders gebraucht.« Er grüßte Mumm, der den Gruß erwiderte. »Wir verlassen dich jetzt, Oberfeldwebel. Ich nehme an, dich erwarten noch einige interessante Stunden. Ja, da bin ich sicher

»Aber es ist eine Barrikade, Herr!«, beharrte der erste Soldat und richtete einen bösen Blick auf Mumm.

»Es ist nur ein Möbelhaufen, Mann. Ich schätze, die Leute in dieser Straße machen Frühjahrsputz. Du wirst nie zu einem Offizier, wenn du nicht klar sehen kannst. Folgt mir jetzt, wenn ich bitten darf.«

Der Hauptmann nickte Mumm noch einmal zu, trieb sein Pferd an und führte die Soldaten fort.

Mumm lehnte sich an die Barrikade, legte die Armbrust auf den Boden und holte sein Zigarrenetui hervor. Dann griff er erneut in die Tasche, suchte nach der inzwischen recht demolierten Schachtel und brachte die kleinen Zigarren vorsichtig in dem Etui unter.

Links erstreckte sich die Ankertaugasse, und vorne reichte die Sirupminenstraße bis zur Leichten Straße.

Wenn man bis hin zur Leichten Straße Barrikaden errichten könnte, befände sich ein großer Teil der Unteren Mittwärtigen Seite dahinter und ließe sich leichter schützen…

Wir schaffen es. Immerhin haben wir es geschafft.

Das bedeutet allerdings auch, dass das Hauptquartier der Unaussprechlichen auf unserer Seite liegt. Ebenso gut könnte man sein Zelt über einem Schlangennest aufstellen.

Wir werden damit fertig. Wir sind damit fertig geworden.

Zwei ältere Leute schoben einen mit Habseligkeiten beladenen Karren zur Barrikade. Sie richteten einen bittenden Blick auf Mumm, und auf sein Nicken hin eilten sie zur anderen Seite. Jetzt brauchen wir nur…

»Oberfeldwebel?« Fred Colon beugte sich oben über die Barrikade. Er wirkte noch etwas mehr außer Atem als sonst. »Ja, Fred?«

»Es kommen ziemlich viele Leute über die Ponsbrücke. Überall geht’s drunter und drüber, erzählen sie. Sollen wir sie durchlassen?«

»Irgendwelche Soldaten?«

»Ich glaube nicht, Oberfeldwebel. Nur Alte und Kinder. Und meine Oma.«

»Vertrauenswürdig?«

»Nicht, wenn sie ein paar Halbe getrunken hat.«

»Lass sie durch!«

»Äh…«, sagte Colon.

»Ja, Fred?«

»Es sind auch Wächter dabei. Einige Jungs aus der Düstergut-Straße und viele aus der Königsstraße. Ich kenne die meisten von ihnen, und die, die ich nicht kenne, sind denen bekannt, die ich kenne. Wenn du verstehst, was ich meine.«

»Wieviele?«

»Etwa zwanzig. Einer von ihnen ist Dai Dickins, ein Feldwebel aus der Düstergutstraße. Er meinte, sie hätten den Befehl erhalten, auf Leute zu schießen. Daraufhin sind die meisten von ihnen sofort desertiert.«

»Sie haben den Dienst quittiert, Fred«, sagte Mumm. »Wir desertieren nicht. Wir sind Zivilisten. Also, du, der junge Mumm, Keule und sechs weitere Männer – ich möchte, dass ihr in zwei Minuten voll ausgerüstet antretet, verstanden? Und sag Wiggel, er soll Gruppen einteilen, die die Barrikaden auf meinen Befehl hin nach vorn bringen.«

»Du willst die Barrikaden bewegen, Oberfeldwebel? Ich dachte, sie sind stationär.«

»Und teil Schnauzi mit, dass er zwei Minuten Zeit hat, mir eine Flasche Brandy zu besorgen«, sagte Mumm, ohne auf Colons Worte einzugehen. »Eine große.«

»Nehmen wir das Gesetz wieder in unsere eigenen Hände, Oberfeldwebel?«, fragte Colon.

Mumm blickte zum Anfang der Ankertaugasse und spürte das Gewicht des Zigarrenetuis schwer in der Tasche.

»Ja, Fred«, bestätigte er. »Und diesmal drücken wir zu.«

 

Die beiden Wachen vor dem Hauptquartier der Unaussprechlichen beobachteten interessiert, wie sich die kleine Wächtergruppe näherte und vor ihnen stehen blieb.

»Oh, sieh nur, da kommt die Armee«, sagte einer von ihnen. »Was willst du denn?«

»Nichts, Herr«, sagte Korporal Colon.

»Dann hau ab!«

»Geht nicht, Herr. MUSS mich an meine Befehle halten.«

Die Wachen traten vor. Fred Colon schwitzte, und das sahen sie gern. Der Wachdienst war langweilig, und die meisten Unaussprechlichen durften sich irgendwo in der Stadt mit interessanten Dingen beschäftigen. Die leisen Schritte weiter hinten hörten sie nicht.

»Und wie lauten deine Befehle, Mann?«, fragte einer und ragte vor Colon auf.

Hinter ihm seufzte es, gefolgt von einem dumpfen Pochen. »Ich soll euch ablenken«, erwiderte Colon mit zitternder Stimme.

Der verbliebene Wächter drehte sich um und begegnete Frau Gutleibs Nummer 5, »Unterhändler« genannt.

Der Mann sank zu Boden. Mumm schnitt eine Grimasse und massierte sich die Hand.

»Eine wichtige Lektion, Jungs«, sagte er. »Es tut weh, wie auch immer man es anstellt. Ihr beiden, bringt die Burschen fort – sie sollen sich irgendwo im Dunkeln ausschlafen können. Mumm und Nimmernich, ihr kommt mit!«

Wer gewinnen wollte, musste so aussehen, als hätte er das Recht und sogar die Pflicht, dort zu sein, wo er sich aufhielt. Es war auch nützlich, wenn die Körpersprache deutlich zum Ausdruck brachte, dass alle anderen nicht das geringste Recht hatten, irgendwo irgendetwas zu tun. Einem erfahrenen Polizisten fiel so etwas leicht.

Mumm betrat das Gebäude, gefolgt von Sam und Nimmernich. Zwei schwer bewaffnete Wachen standen hinter einer steinernen Barriere, die sich leicht gegen Eindringlinge verteidigen ließ. Die Hände der beiden Männer tasteten nach den Schwertgriffen, als sie Mumm erkannten.

»Was ist da draußen los?«, fragte einer.

»Oh, die Leute werden unruhig«, erwiderte Mumm. »Auf der anderen Seite des Flusses soll’s ziemlich übel aussehen. Deshalb sind wir wegen der Gefangenen in den Zellen gekommen.«

»Ach? Und mit wessen Befugnis?«

Mumm hob seine Armbrust. »Von Herrn Burlich und Herrn Starkimarm«, antwortete er und lächelte.

Die beiden Männer wechselten einen Blick. »Wer soll das denn sein?«

Einen Moment herrschte Stille, dann sagte Mumm aus dem Mundwinkel:

»Gefreiter Mumm?«

»Jaherr?«

»Wer stellt diese Armbrüste her?«

»Äh… die Gebrüder Hinz. Es ist das Modell Drei.«

»Sie stammen nicht von Burlich und Starkimarm?«

»Habe nie von denen gehört, Herr.«

Verdammt. Fünf Jahre zu früh, dachte Mumm. Und es war ein so guter Spruch.

»Lasst es mich anders ausdrücken«, sagte er zu den Wachen. »Wenn ihr irgendwelche Schwierigkeiten macht, schieße ich euch in den Kopf.« Das war kein besonders guter Spruch, aber er drückte eine gewisse Dringlichkeit aus und hatte außerdem den Vorteil, dass er einfach genug war, um sogar von Unaussprechlichen verstanden zu werden.

»Du hast nur einen Pfeil«, sagte einer der beiden Männer. Neben Mumm klickte es. Sam hatte seine Armbrust ebenfalls gehoben.

»Jetzt sind es zwei, und da der Junge hier noch in der Ausbildung ist, könnte er euch irgendwo treffen«, sagte Mumm. »Legt die Schwerter auf den Boden! Lauft weg! Jetzt sofort! Kommt nicht zurück!«

Die beiden Männer zögerten kurz, nur ganz kurz, dann stoben sie davon.

»Fred hält uns den Rücken frei«, sagte Mumm. »Kommt…« Die Wachhäuser ähnelten sich alle. Eine steinerne Treppe führte in den Keller. Mumm eilte die Stufen hinunter, stieß eine schwere Tür auf…

Und blieb stehen.

Auch zu den besten Zeiten rochen Zellen nicht sehr gut. Selbst in der Sirupminenstraße bestand die Hygiene zur besten Zeit aus einem Eimer pro Zelle, und die Häufigkeit der Entleerungen hing von Schnauzis Lust und Laune ab. Aber auch zur schlimmsten Zeit roch es in den Zellen des Wachhauses der Sirupminenstraße nie nach Blut.

Das Tier rührte sich.

In diesem Raum stand ein großer Holzstuhl und neben dem Stuhl ein Gestell. Der Stuhl war an den Boden genietet und mit breiten Lederriemen versehen. In dem Gestell lagen Knüppel und Hämmer. Das war die ganze Einrichtung in diesem Raum.

Der Boden war dunkel und klebrig. Eine Ablaufrinne führte durch das ganze Zimmer zu einem Abfluss.

Bretter waren vor das kleine Fenster auf Straßenhöhe genagelt, denn an einem solchen Ort war Licht nicht willkommen. Die Wände und auch die Decke waren mit strohgefüllten Säcken gepolstert. Diese Säcke hatte man sogar an die Tür genagelt. Es war eine gründliche Zelle. Nicht einmal Geräusche sollten aus ihr entkommen.

Zwei Fackeln machten die Dunkelheit nur noch schmutziger. Mumm hörte, wie sich Nimmernich hinter ihm übergab.

In einer sonderbaren Art von Traum schritt er über den Boden und bückte sich, um etwas aufzuheben, das im Fackelschein glänzte. Ein Zahn.

Er richtete sich wieder auf.

Auf der einen Seite bemerkte er eine geschlossene Holztür, auf der anderen einen Durchgang, der mit ziemlicher Sicherheit zu den Zellen führte. Mumm nahm eine Fackel aus der Halterung, reichte sie Sam und deutete in den Durchgang…

Das Geräusch von Schritten, begleitet vom Klirren eines Schlüsselbunds, näherte sich der Holztür, und darunter wurde Licht heller.

Das Tier spannte die Muskeln.

Mumm zog den größten Knüppel aus dem Gestell und machte einen Schritt zur Wand neben der Tür. Jemand kam, jemand, der diesen Raum kannte, jemand, der sich für einen Polizisten hielt…

Er schloss beide Hände um den Griff des Knüppels, hob ihn…

Er blickte durch den Raum und stellte fest, dass der junge Sam ihn beobachtete, der junge Sam mit seiner glänzenden Dienstmarke und einem… seltsamen Gesichtsausdruck.

Mumm ließ den Knüppel sinken, lehnte ihn behutsam an die Wand und holte seinen ledernen Totschläger hervor.

Das Tier verstand nicht ganz, als es gefesselt in die Nacht zurückgezerrt wurde…

Ein Mann trat durch die Tür, pfiff leise vor sich hin, kam einige Schritte weit in den Raum, sah den jungen Sam, öffnete den Mund und verlor das Bewusstsein. Der Bursche war recht kräftig gebaut und fiel schwer auf den Boden. Er trug eine lederne Kapuze über dem Kopf und war bis zur Taille nackt. Ein großer Ring mit Schlüsseln hing an seinem Gürtel.

Mumm huschte durch den Korridor hinter der Tür und um eine Ecke, erreichte ein kleines, hell erleuchtetes Zimmer und packte den Mann, den er dort vorfand.

Er war wesentlich kleiner als der andere und unterdrückte einen Schrei, als Mumm ihn vom Stuhl zerrte.

»Und was macht Papi den ganzen Tag bei der Arbeit, Freundchen?«, donnerte Mumm.

Der Mann schien ein Hellseher zu sein. Ein Blick in Mumms Augen ließ ihn erkennen, wie kurz seine Zukunft sein konnte. »Ich bin nur der Sekretär! Der Sekretär! Ich schreibe alles auf!«, protestierte der Mann und hob einen Stift in dem verzweifelten Versuch, seine berufliche Identität zu beweisen.

Mumm sah auf den Schreibtisch. Zirkel und andere Werkzeuge eines Geometers lagen dort, Symbole für Schwungs wahnsinnige Vernunft, außerdem Bücher und Mappen, voll gestopft mit Unterlagen. Und ein Lineal aus Metall, einen Meter, lag an. Mumm griff danach und schlug es auf den Tisch. Der schwere Stahl erzeugte ein sehr zufriedenstellendes Geräusch.

»Und?«, fragte Mumm, sein Gesicht nur wenige Zentimeter von dem des zappelnden Mannes entfernt.

»Und ich messe die Leute! So will es der Hauptmann! Ich messe nur! Ich habe nichts Unrechtes getan! Ich bin kein schlechter Mensch!«

Wieder schlug das Lineal auf den Schreibtisch. Diesmal hatte Mumm es gedreht, und die stählerne Kante bohrte sich ins Holz.

»Möchtest du, dass ich dich verdresche?«, knurrte er.

Der kleine Mann rollte mit den Augen. »Bitte nicht!«

»Gibt es noch einen anderen Ausgang?« Mumm ließ das Lineal noch einmal auf den Schreibtisch klatschen.

Ein kurzer Blick, Hinweis genug. Mumm bemerkte eine Tür, fast verborgen in der Holzvertäfelung.

»Gut. Wo kommt man da heraus?«

»Äh…«

Mumm war jetzt Nase an Nase mit dem Mann, der ihm, im Sprachgebrauch der Polizei, bei den Ermittlungen half.

»Du bist hier ganz allein«, sagte Mumm. »Du hast hier keine Freunde. Du hast hier gesessen und Dinge für einen Folterer aufgeschrieben, für einen verdammten Folterer! Und ich sehe hier einen Schreibtisch, und er hat eine Schublade, und wenn du jemals wieder einen Stift in der Hand halten willst, solltest du mir alles sagen, was ich wissen will…«

»Lagerhaus!«, stieß der Mann hervor. »Nebenan!«

»Gut. Danke. Du hast mir sehr geholfen.« Mumm senkte die Hand, sodass die Füße des kleinen Mannes wieder den Boden berührten. »So, mein Lieber, und jetzt lege ich dir Handschellen an und fessle dich an den Schreibtisch, zu deinem eigenen Schutz…«

»Vor… vor wem willst du mich schützen?«

»Vor mir. Ich töte dich, wenn du zu fliehen versuchst, Freundchen.«

Mumm eilte in den Hauptraum zurück. Der Folterer war noch immer bewusstlos. Nicht ohne Mühe zog er ihn auf den Stuhl, nahm ihm die Kapuze ab und erkannte das Gesicht. Das Gesicht, aber nicht die Person. Solche Gesichter sah man oft in Ankh-Morpork: groß und mit blauen Flecken, das Gesicht eines Mannes, der nie gelernt hat, dass es grausam ist, Leute selbst dann noch zu schlagen, wenn sie das Bewusstsein verloren haben. Mumm fragte sich, ob es ihm gefiel, Menschen zu Tode zu prügeln. Oft dachten solche Burschen überhaupt nicht darüber nach und hielten es einfach für einen Job.

Mumm schnallte ihn auf dem Stuhl fest mit allen Lederriemen, auch dem für die Stirn. Als er den letzten festzog, kam der Mann wieder zu Bewusstsein. Sein Mund klappte auf, und Mumm schob die Kapuze hinein.

Dann nahm er den Schlüsselring und schloss die Haupttür ab, was ihnen ein wenig mehr Privatsphäre sichern sollte.

Auf dem Weg zu den Zellen kam ihm Sam entgegen. Sein jüngeres Selbst wirkte sehr blass.

»Jemanden gefunden?«, fragte Mumm.

»Oh, Oberfeldwebel…«

»Ja?«

»Oberfeldwebel…« Tränen rannen über die Wangen des Gefreiten Mumm.

Mumm streckte die Hand aus und stützte sein jüngeres Selbst. Sam fühlte sich an, als hätte er überhaupt keinen Knochen mehr im Leib. Er zitterte.

»In der letzten Zelle ist eine Frau, und sie… oh, Oberfeldwebel…«

»Atme tief durch«, sagte Mumm. »Obgleich sich diese Luft kaum zum Atmen eignet.«

»Und am Ende gibt es einen Raum, Oberfeldwebel, und Nimmernich ist in Ohnmacht gefallen…«

»Aber du nicht«, sagte Mumm und klopfte ihm auf den Rücken. »Und in dem Raum…«

»Retten wir, was noch zu retten ist, Junge.«

»Aber wir waren mit dem Gefangenenwagen unterwegs, Oberfeldwebel!«

»Was?«, erwiderte Mumm. Und dann verstand er.

»Aber wir haben niemanden übergeben, Junge«, sagte er. »Erinnerst du dich?«

»Aber ich war auch vorher mit dem Wagen unterwegs, Oberfeldwebel! Das gilt für uns alle! Wir haben den Unaussprechlichen einfach die Leute überlassen und sind dann zum Wachhaus zurückgefahren, um Kakao zu trinken, Oberfeldwebel!«

»Ihr hattet eure Befehle…«, meinte Mumm, obwohl diese Bemerkung kaum etwas nützte.

»Wir hatten keine Ahnung

Nein, das stimmt nicht ganz, dachte Mumm. Wir haben nicht gefragt. Und wir haben vermieden, daran zu denken. Menschen erreichten das Gebäude durch den Vordereingang, und einige der armen Teufel verließen es durch die geheime Tür, nicht immer in einem Stück.

Sie hatten den Ansprüchen nicht genügt.

Ebenso wenig wie wir.

Mumm hörte ein kehliges Knurren, das von dem Jungen kam – Sam hatte den festgeschnallten Folterer entdeckt. Er schüttelte Mumms Hand ab, eilte zu dem Gestell und nahm einen Knüppel.

Mumm war bereit. Er hielt den Jungen fest, drehte ihn und nahm ihm das Ding aus der Hand, bevor er einen Mord beging.

»Nein! Das ist der leichte Weg! Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt! Halte es zurück! Zähme es! Vergeude es nicht! Schick es zurück! Es wird kommen, wenn du es rufst!«

»Du weißt, was er angestellt hat!«, rief Sam und trat nach seinen Beinen. »Du hast gesagt, wir müssten das Gesetz selbst in die Hand nehmen!«

Ah, dachte Mumm. Dies ist genau der richtige Zeitpunkt für eine Debatte über Theorie und Praxis der Justiz. Hier kommt die gekürzte Version.

»Du schlägst einem Mann nicht den Schädel ein, während er an einen Stuhl gefesselt ist!«

»Er hat das gemacht!«

»Und du machst so etwas nicht. Weil du nicht er bist!«

»Aber diese verdammten Bastarde…«

»Stillgestanden, Gefreiter!«, rief Mumm, und das Stroh an der Decke sog das Geräusch seiner Stimme auf. Sam blinzelte mit geröteten Augen.

»Na schön, Oberfeldwebel, aber…«

»Willst du den ganzen Tag greinen? Vergiss diesen Burschen. Bringen wir die Lebenden hinaus…«

»In einigen Fällen lässt sich kaum feststellen, wer…«, begann Sam und putzte sich die Nase.

»Komm mit!«

Mumm wusste, was ihn in dem dunklen Zellenbereich erwartete, aber das machte es nicht besser. Einige Personen konnten gehen oder zumindest hinken. Ein oder zwei waren einfach nur zusammengeschlagen worden, aber nicht so schlimm, dass sie nicht hören konnten, was außer Sichtweite geschah. Sie duckten sich, als die Zellentüren geöffnet wurden, und wimmerten bei der ersten Berührung. Kein Wunder, dass Schwung seine Geständnisse bekam.

Und einige waren tot. Die anderen… Wenn sie nicht tot waren und im Innern ihrer Köpfe einen anderen Ort aufgesucht hatten, so gab es nichts mehr, zu dem sie zurückkehren konnten. Der Stuhl hatte sie immer wieder gebrochen; niemand konnte ihnen mehr helfen.

Mumm holte sein Messer hervor und… gab die Hilfe, die er geben konnte. Er sah nicht einmal ein Zucken, hörte nicht das leiseste Seufzen.

Er stand auf, mit schwarzen und roten Gewitterwolken im Kopf.

Ein einfacher, dummer Halunke, der Geld für etwas bekam, das ihm nichts ausmachte – so etwas konnte man fast verstehen. Aber Schwung war intelligent

Wer wusste wirklich, wie viel Böses im Herzen von Menschen schlummerte?

ICH.

Wer wusste, wozu vernünftige Männer imstande waren?

DIE ANTWORT LAUTET ERNEUT: ICH.

Mumm sah zur Tür des letzten Raums. Nein, dieses Zimmer wollte er nicht betreten. Kein Wunder, dass es hier stank.

DU KANNST MICH NICHT SEHEN, ODER? OH, UND ICH DACHTE, DU WÄRST VIELLEICHT DAZU FÄHIG.

Mumm half dem jungen Sam dabei, Nimmernich wieder zu sich zu bringen. Dann trugen und führten sie die Gefangenen durch den Gang, der nach oben ins Lagerhaus führte. Dort legten sie sie auf den Boden, kehrten in den Keller des Wachhauses zurück, schnappten sich den Sekretär – er hieß Trebilcock – und erklärten ihm, welche Vorteile es mit sich brachte, als Kronzeuge aufzutreten. Es waren keine sehr großen Vorteile, es sei denn, man verglich sie mit den enormen Nachteilen, die sich für ihn ergeben würden, wenn er die Aussage verweigerte. Daraufhin erklärte sich Trebilcock spontan und aus freiem Willen dazu bereit, der Justiz behilflich zu sein.

Schließlich trat Mumm in den frühen Abend hinaus. Colon und die anderen warteten noch – die ganze Sache hatte nicht länger als zwanzig Minuten gedauert.

Der Korporal salutierte und rümpfte dann die Nase.

»Ja, wir stinken«, sagte Mumm. Er löste seinen Gürtel, legte sowohl den Brustharnisch als auch das Kettenhemd darunter ab. Der Geruch des grässlichen Ortes haftete überall. »Na schön«, sagte er, als er nicht mehr das Gefühl hatte, in einer Kloake zu stehen.

»Zwei Männer bewachen den Eingang des Lagerhauses dort drüben, zwei weitere halten am hinteren Ausgang ihre Schlagstöcke bereit, und der Rest bleibt hier. Wie wir es besprochen haben. Erst verprügeln und dann verhaften.«

»In Ordnung, Herr.« Colon nickte. Die Männer eilten davon.

»Und jetzt gib mir den Brandy!«, fügte Mumm hinzu.

Er tränkte sein Halstuch in Alkohol, band es um den Flaschenhals und hörte das zornige Brummen der Wächter – sie hatten gerade Sam und Nimmernich gesehen, die einige Gefangene nach draußen brachten.

»Dort drin gab es Schlimmeres«, sagte Mumm. »Glaubt mir! Oben das mittlere Fenster, Fred.«

»In Ordnung, Oberfeldwebel«, sagte Fred Colon und wandte den Blick von den hinkenden Verletzten ab. Er hob die Armbrust und zerschoss zwei Fensterscheiben.

Mumm holte sein silbernes Zigarrenetui hervor, entnahm ihm eine Zigarre, zündete sie an, hielt das Streichholz an das nasse Halstuch und wartete, bis es richtig brannte, bevor er die Flasche durchs Fenster warf.

Glas klirrte, und mit einem dumpfen Fauchen fing der Brandy Feuer. Große Flammen züngelten.

»Nicht übel, Oberfeldwebel«, sagte Fred. »Äh, ich weiß nicht, ob dies der richtige Zeitpunkt ist, Oberfeldwebel, aber wir haben eine zweite Flasche mitgebracht, da wir schon einmal dabei waren…«

»Tatsächlich, Fred? Und was schlägst du vor?«

Fred Colon sah erneut zu den befreiten Häftlingen. »Ich schlage vor, sie einzusetzen«, sagte er.

Die zweite Flasche flog durch ein Fenster im Erdgeschoss. Rauch kräuselte bereits unter den Dachvorsprüngen hervor.

»Abgesehen von den Wachen ist niemand herausgekommen«, sagte Fred, als sie das Wachhaus beobachteten. »Ich schätze, es sind nicht mehr viele dort drin.«

»Es kommt vor allem darauf an, das Nest zu zerstören«, erwiderte Mumm.

Die vordere Tür öffnete sich einen Spalt weit, und Zugluft fachte das Feuer weiter an. Jemand hielt Ausschau.

»Sie warten bis zum letzten Augenblick, kommen dann heraus und greifen sofort an, Fred«, warnte Mumm.

»Gut, Oberfeldwebel«, entgegnete Colon grimmig. »Es wird dunkler.« Er holte seinen Schlagstock hervor.

Mumm ging zur Rückseite des Wachhauses, nickte den dortigen Wächtern zu, nahm den erbeuteten Schlüsselring und schloss die Hintertür ab. Sie war recht schmal. Die Unaussprechlichen im Gebäude entschieden sich bestimmt für die breite vordere Tür, die es ihnen erlaubte auszuschwärmen – dort war ein Hinterhalt nicht so einfach.

Er überprüfte auch das Lagerhaus. Doch das war ein unwahrscheinlicher Fluchtweg, aus den gleichen Gründen. Außerdem hatte er die Kellertür abgeschlossen.

Der junge Sam sah ihn an und lächelte. »Deshalb hast du den Folterer gefesselt zurückgelassen, Oberfeldwebel?«, fragte er.

Verdammt! Der Bursche fiel ihm erst jetzt wieder ein. Er war so zornig auf den Sekretär gewesen, dass er den auf dem Stuhl festgeschnallten Folterer ganz vergessen hatte.

Mumm zögerte. Aber zu verbrennen – das war ein schrecklicher Tod. Als er nach seinem Messer griff, erinnerte er sich daran, dass es in der Scheide an dem abgelegten Gürtel steckte. Rauch trieb bereits durch den Gang, der den Keller des Wachhauses mit dem Lagergebäude verband.

»Gib mir dein Messer, Sam«, sagte er. »Ich… sehe noch einmal nach dem Rechten.«

Der Gefreite überließ ihm das Messer widerstrebend.

»Was hast du vor, Oberfeldwebel?«

»Kümmere dich um deine Aufgaben, Gefreiter, und ich kümmere mich um meine…«

Mumm eilte durch den Gang. Ich schneide einen Riemen durch, dachte er. Es ist nicht ganz leicht, sie zu lösen. Und dann… Er hat eine Chance, selbst im Rauch. Eine solche Möglichkeit hatten die anderen nicht.

Er schlich durch das Büro und in den Hauptraum.

Eine Fackel brannte dort, ihre Flamme ein helles Glühen im gelben Dunst. Der Folterer versuchte, den schweren Stuhl ins Schaukeln zu bringen, aber er war am Boden befestigt.

Der Stuhl war gut konstruiert. Die Schnallen der Riemen waren selbst dann schwer zu erreichen, wenn der Gefangene eine Hand freibekam, die noch nicht das professionelle Geschick des Folterers gespürt hatte. Es war unmöglich, sich schnell zu befreien.

Mumm griff nach einem Riemen und hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte.

Rasch trat er in die dunkleren Schatten.

Die Tür schwang auf und ließ Geräusche passieren: ferne Rufe und das Knacken von brennendem Holz. Es klang so, als versuchten die Unaussprechlichen, die frische Luft der Straße zu erreichen.

Finddich Schwung betrat den Hauptraum und schloss die Tür hinter sich ab. Er verharrte, als er die Gestalt auf dem Stuhl sah, und musterte sie aufmerksam. Er ging zum Eingang des Büros und sah hinein. Er warf einen Blick in die Zellen, aber zu dem Zeitpunkt war Mumm bereits lautlos hinter eine Wand gehuscht.

Er hörte, wie Schwung seufzte. Dann erklang das vertraute Geräusch von zischendem Stahl, gefolgt von einem organischen Klang, wiederum gefolgt von kurzem Husten.

Mumm griff nach seinem Schwert. Es lag oben auf der Straße…

Hier unten, im Keller, kehrte das Lied in seinem Kopf zurück und wurde lauter, wie immer untermalt vom metallenen Klirren im Hintergrund. Sieh nur, wie sie nach oben fliegen, nach oben, nach oben empor

Er schüttelte den Kopf, wie um die Erinnerung beiseite zu stoßen. Er musste sich konzentrieren.

Mumm eilte in den Hauptraum und sprang vor.

Er schien ziemlich lange in der Luft zu bleiben. Dort saß der Folterer, und Blut rann aus einer Stichwunde in der rechten Brusthälfte. Und dort stand Schwung und schob seine Klinge gerade in den Stock zurück. Und Mumm flog ihm entgegen, nur mit einem Messer bewaffnet.

Ich überstehe dies, dachte er. Ich weiß es, denn ich erinnere mich daran. Ich erinnere mich, dass Keel zurückkehrte und meinte, es sei vorbei.

Aber das war der richtige Keel. Dies bin ich. Es muss nicht auf die gleiche Weise geschehen.

Schwung wich erstaunlich schnell zur Seite und versuchte, die Klinge wieder zu ziehen. Mumm prallte auf die Strohsäcke an der Wand und war geistesgegenwärtig genug, sofort wegzurollen. Die Klinge bohrte sich direkt neben ihm in einen Sack. Stroh rutschte daraus hervor und auf den Boden. Mumm hatte Schwung für einen schlechten Fechter gehalten – der lächerliche Stock deutete dies an. Aber er erwies sich als Straßenfechter, der ohne besondere Finesse kämpfte und keine speziellen Stöße kannte, es jedoch verstand, die Klinge sehr schnell zu führen und dorthin zu stechen, wo niemand gestochen werden wollte.

Feuer knisterte in einer Ecke der Decke. Hitze strahlte durch die schweren Dielen. Von einigen Säcken stieg weißer Rauch auf, sammelte sich unter der Decke zu einer größer werdenden Wolke.

Mumm schlich um den Stuhl herum und behielt Schwung dabei im Auge.

»Ich glaube, du machst einen großen Fehler«, sagte Schwung. Mumm konzentrierte sich darauf, die Klinge zu meiden. »Harte Zeiten erfordern harte Maßnahmen. Das weiß jeder Anführer…«, sagte Schwung.

Mumm duckte sich, ging weiter im Kreis und hielt das Messer bereit.

»Die Geschichte braucht Schlachter ebenso wie Schafhirten, Oberfeldwebel.«

Schwung stieß zu, aber Mumm hatte ihm in die Augen gesehen und neigte den Oberkörper rechtzeitig zur Seite. Der Mann bat nicht um Gnade. Vermutlich wusste er nicht einmal, wie man das machte. Aber er sah Mumms Gesicht, das überhaupt kein Gefühl zeigte.

»In Zeiten des nationalen Notstands können wir keine Rücksicht nehmen auf die so genannten Rechte der…«

Mumm sprang zur Seite und lief durch den von Dunstschleiern erfüllten Korridor zum Büro. Schwung folgte ihm. Seine Klinge traf Mumm am Bein, und er fiel auf den Schreibtisch des Sekretärs.

Schwung huschte zur anderen Seite, holte mit seiner Waffe aus…

Mumms Hand fuhr mit dem stählernen Lineal nach oben. Die flache Seite klatschte gegen die Klinge und schlug sie dem Hauptmann aus der Hand.

Wie in einem Traum richtete Mumm sich auf und folgte dabei der Kurve seines Hiebs.

Schick es in die Dunkelheit, bis du es brauchst…

Er drehte das Lineal, als er den Arm herumschwang, und es sirrte durch die Luft, mit der Kante voran, ließ zerfaserten Rauch zurück. Die Spitze traf Schwung am Hals.

Hinter Mumm brodelte weißer Rauch aus dem Korridor. Im Hauptraum stürzte die Decke ein.

Er blieb stehen und starrte Schwung weiter mit ausdrucksloser Miene an. Der Mann hatte beide Hände an die Kehle gehoben, und Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. Er schwankte, schnappte vergeblich nach Luft und fiel.

Mumm warf das Lineal auf ihn und hinkte fort.

Draußen erklang das Donnern sich bewegender Barrikaden.

 

Schwung öffnete die Augen. Die Welt um ihn herum war grau, abgesehen von der ganz in Schwarz gekleideten Gestalt, die direkt vor ihm stand.

Wie immer versuchte er, mehr von einer neuen Person zu erfahren, indem er die besonderen Merkmale des Gesichts betrachtete.

»Äh, deine Augen sind… äh… deine Nase ist… dein Kinn…« Er gab auf.

JA, sagte Tod. BEI MIR IST ES NICHT LEICHT. HIER ENTLANG, HERR SCHWUNG.

 

Lord Winder war beeindruckend paranoid, fand Vetinari. Er hatte sogar einen Wächter auf dem Dach der Whiskybrennerei postiert, von dem aus man das Palastgelände sehen konnte. Genauer gesagt: nicht nur einen, sondern zwei.

Einer war ganz deutlich zu sehen, wenn man über die Brüstung kletterte. Der andere lauerte im Schatten der Schornsteine.

Der verstorbene Ehrenwerte Johann Blutgut hatte nur den ersten bemerkt.

Vetinari beobachtete leidenschaftslos, wie der junge Mann weggebracht wurde. Es war Teil des Jobs als Assassine, getötet zu werden, allerdings der letzte Teil. Man konnte sich nicht beklagen. Und es bedeutete, dass jetzt nur noch ein Wächter auf dem Dach blieb. Wächter Nummer zwei trug Blutgut, der seinem Namen alle Ehre gemacht hatte, nach unten.

Blutgut hatte schwarze Kleidung getragen. Assassinen trugen immer Schwarz. Schwarz war cool, außerdem entsprach es den Vorschriften. Aber nur in einem dunklen Keller um Mitternacht war Schwarz eine vernünftige Farbe. Woanders zog Vetinari Dunkelgrün oder Grauschattierungen vor. Mit der richtigen Farbe und der richtigen Haltung verschwand man. Die Augen der Leute halfen einem beim Verschwinden. Sie entfernten einen aus dem Blickfeld, ordneten einen dem Hintergrund zu.

Natürlich drohte der Ausschluss aus der Gilde, wenn man mit solcher Kleidung erwischt wurde. Vetinari hielt das für weniger schlimm als den Ausschluss aus der Welt der aufrecht Gehenden und Atmenden. Er war lieber nicht cool als kalt.

Der Wächter stand einen Meter entfernt und zündete sich unbekümmert eine Zigarette an.

Welch ein Genie war Lord Grimmelich Greville-Pipus doch gewesen, welch ein guter Beobachter. Havelock wäre ihm gern begegnet oder hätte sein Grab besucht, das sich allerdings irgendwo in einem Tiger befand – ein Ort, den der Lord, zu seinem zufriedenen Erstaunen, erst bemerkt hatte, als es bereits zu spät war.

Vetinari hatte ihm eine private Ehre erwiesen. Er hatte die Gravierplatten von Einige Bemerkungen über die Kunst der Unsichtbarkeit gesucht, gefunden und eingeschmolzen.

Es war ihm auch gelungen, die anderen vier Exemplare des Buches zu finden, brachte es aber nicht fertig, sie zu verbrennen.

Stattdessen hatte er sie in den Buchdeckeln von Anekdoten berühmter Buchhalter, Band 3 zusammengebunden. Lord Grimmelich Greville-Pipus hätte das bestimmt zu schätzen gewusst.

Vetinari lag bequem auf dem Blei des Daches, geduldig wie eine Katze, und beobachtete das Palastgelände.

 

Mumm lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Tisch im Wachhaus und zuckte gelegentlich zusammen.

»Bitte halt still«, sagte Doktor Rasen. »Ich bin fast fertig. Du lachst vermutlich, wenn ich dir sage, dass du es ruhig angehen sollst.«

»Ha. Ha. Au!«

»Es ist nur eine Fleischwunde, aber du solltest dich trotzdem schonen.«

»Ha. Ha.«

»Eine arbeitsreiche Nacht erwartet dich. Und wahrscheinlich auch mich.«

»Hier bei uns sollte alles in Ordnung sein, wenn wir Barrikaden bis zur Leichten Straße haben«, sagte Mumm und vernahm aufschlussreiches Schweigen.

Er setzte sich auf und sah Rasen an. »Wir haben doch Barrikaden bis zur Leichten Straße, oder?«, fragte er.

»Das Letzte, das ich hörte, deutet darauf hin, ja«, sagte der Doktor.

»Das Letzte, das du gehört hast?«

»Nein, eigentlich stimmt das nicht ganz«, sagte Rasen. »Es wird alles… größer, John. Das Letzte, das ich hörte, war: ›Warum an der Leichten Straße aufhören?‹«

»Du meine Güte…«

»Ja, das dachte ich auch.«

Mumm zog die Hose an, schnallte den Gürtel um und hinkte auf die Straße in einen Streit.

Rosie Palm, Sandra, Reg Schuh und ein halbes Dutzend andere saßen an einem Tisch mitten auf der Straße. Als Mumm in den Abend trat, hörte er eine klagende Stimme: »Man kann nicht für ›Liebe zum vernünftigen Preis‹ kämpfen.«

»Man kann, wenn du mich und die anderen Mädchen an Bord haben willst«, sagte Rosie. »›Frei‹ ist ein Wort, das wir in diesem Zusammenhang nicht hören wollen.«

»Na schön«, erwiderte Reg und notierte etwas auf einem Klemmbrett. »Gegen Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit gibt es aber nichts einzuwenden, oder?«

»Und bessere Abwasserkanäle.« Das war die Stimme von Frau Rudolf. »Und man sollte etwas gegen die Ratten unternehmen.«

»Ich glaube, wir widmen unsere Aufmerksamkeit besser wichtigeren Dingen, Genossin Frau Rudolf«, sagte Reg.

»Ich bin keine Genossin, Herr Schuh, und auch Herr Rudolf ist kein Genosse«, erklärte Frau Rudolf. »Wir bleiben immer unter uns, nicht wahr, Rudi?«

»Ich habe eine Frage«, sagte jemand in der Zuschauermenge. »Ich bin Harry Biegsam und habe ein Schuhgeschäft im Neuen Flickschusterweg…«

Reg ließ sich gern von Frau Rudolf ablenken. An ihrem ersten Tag sollten es Revolutionäre nicht mit jemandem wie Frau Rudolf zu tun bekommen.

»Ja, Genosse Biegsam?«, fragte er.

»Und wir sind auch keine Burschuadingsbums«, ergänzte Frau Rudolf, die nicht so leicht locker ließ.

»Äh, Bourgeoisie«, sagte Reg. »Unser Manifest bezieht sich auf die Bourgeoisie. Bur-schua-sie.«

»Bourgeoisie, Bourgeoisie«, murmelte Frau Rudolf und drehte das Wort auf der Zunge hin und her. »Klingt gar nicht mal schlecht. Was, äh, macht die Bourgeoisie?«

»Und Punkt sieben auf dieser Liste…«, fuhr Herr Biegsam fort.

»Du meinst die ›Erklärung des Volkes am Ruhmvollen Vierundzwanzigsten Mai‹«, sagte Reg.

»Ja, meinetwegen… Hier steht, dass wir die Produktionsmittel unter unsere Kontrolle bringen, so in der Art. Deshalb möchte ich gern wissen: Was bedeutet das für meinen Laden? Ich meine, dort gibt es nur Platz für mich, meinen Lehrling Garbut und vielleicht noch einen Kunden.«

Mumm lächelte im Dunkeln. Reg sah nie, was sich anbahnte. »Also, nach der Revolution geht alles in das Eigentum des Volkes über… äh… das heißt, der Laden gehört auch allen anderen.«

Genosse Biegsam wirkte verwirrt. »Und ich bin nach wie vor derjenige, der die Schuhe herstellt?«

»Natürlich. Aber alles gehört dem Volk.«

»Und… wer bezahlt dann für die Schuhe?«, fragte Herr Biegsam.

»Jeder wird einen vernünftigen Preis für seine Schuhe bezahlen, und du machst dich nicht mehr schuldig, vom Schweiß des einfachen Arbeiters zu leben«, sagte Reg. »So, könnten wir jetzt…«

»Meinst du die Kühe?«

»Was?«

»Nun, da wären nur die Kühe und die Jungs von der Gerberei, und ehrlich gesagt, sie stehen nur den ganzen Tag auf der Wiese, natürlich nicht die Jungs von der Gerberei, aber…«

»Hör mal«, sagte Reg, »alles wird dem Volk gehören, und dann sind alle viel besser dran, verstehst du?«

Die Falten fraßen sich tiefer in die Stirn des Schuhmachers. Er war nicht sicher, ob er zum Volk gehörte.

»Ich dachte, wir wollten nur verhindern, dass Soldaten und Pöbel und so durch unsere Straße kommen«, meinte er.

Reg wirkte geplagt und zog sich in die Sicherheit zurück. »Wir können uns doch wenigstens auf Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit einigen, oder?«

Köpfe nickten. Damit waren alle einverstanden. Solche Dinge kosteten nichts.

Ein Streichholz flammte in der Dunkelheit auf. Die Leute drehten sich um und sahen, wie sich Mumm eine Zigarre anzündete. »Dir gefallen Freiheit, Wahrheit und Gerechtigkeit, nicht wahr, Genosse Oberfeldwebel?«, fragte Reg ermutigend.

»Ich mag ein hart gekochtes Ei«, sagte Mumm und löschte das Streichholz, indem er es schüttelte.

Nervöses Gelächter erklang. Reg wirkte beleidigt.

»Angesichts der besonderen Umstände sollten wir nach mehr streben, Oberfeldwebel.«

»Nun, ja, das könnten wir«, sagte Mumm und trat die Stufen hinunter. Er blickte auf die vielen Papiere, die vor Reg lagen. Der junge Mann bemühte sich. Ja, er bemühte sich wirklich. Und er meinte es ernst. Er meinte es tatsächlich ernst. »Aber, Reg, morgen früh geht die Sonne auf, und was auch immer bis dahin geschehen ist: Ich bin ziemlich sicher, dass wir keine Freiheit gefunden haben, und vermutlich gibt es auch nicht viel Gerechtigkeit, und ich bin fest davon überzeugt, dass von Wahrheit jede Spur fehlt. Aber vielleicht bekomme ich ein hart gekochtes Ei. Was hat dies alles zu bedeuten, Reg?«

»Wir sind die Volksrepublik der Sirupminenstraße!«, verkündete Reg stolz. »Wir bilden gerade eine Regierung!«

»Oh, gut«, sagte Mumm. »Noch eine. Genau das brauchen wir. Weiß jemand, was aus den verdammten Barrikaden geworden ist?«

»Hallo, Herr Keel«, ertönte eine klebrige Stimme.

Mumm senkte den Blick und sah Nobby Nobbs. Der Bengel trug noch immer die alte, viel zu große Anzugjacke und jetzt einen ebenfalls zu großen Helm.

»Wie bist du hierher gekommen, Nobby?«

»Meine Mutter hält mich für tückisch«, erwiderte Nobby und lächelte. Ein Ziehharmonikaärmel hob sich dem Kopf entgegen, und Mumm begriff, dass der Junge zu salutieren versuchte.

»Sie hat Recht«, sagte Mumm. »Also, wo…«

»Ich bin jetzt Untergefreiter, Oberfeldwebel«, verkündete Nobby. »Das hat Herr Colon gesagt. Er hat mir einen Helm gegeben. Ich schnitze mir eine Dienstmarke aus… Wie heißt das Zeug? Weich wie Wachs, wie das Zeug, aus dem Kerzen sind, aber man kann’s nicht essen…«

»Seife, Nobby Merk dir das Wort.«

»In Ordnung, Oberfeldwebel. Ich schnitze mir eine Dienstmarke aus…«

»Wohin sind die Barrikaden verschwunden, Nobby?«

»Das kostet dich…«

»Ich bin dein Vorgesetzter, Nobby. Wir stehen in keiner finanziellen Beziehung mehr. Sag mir, wo die verdammten Barrikaden sind!«

»Äh… wahrscheinlich nicht weit von der Kurzen Straße entfernt, Oberfeldwebel. Es ist alles ein bisschen… metaphysisch, Oberfeldwebel.«

 

Major Sitzgut-Stehschnell starrte auf die vor ihm liegende Karte und suchte nach Trost. An diesem Abend war er der rangälteste Offizier im Einsatzgebiet. Die Kommandeure hatten den Palast aufgesucht, um dort an einer Feier oder dergleichen teilzunehmen. Die Verantwortung lastete auf ihm.

Mumm hatte eingeräumt, dass es in den Regimentern der Stadt durchaus einige Offiziere gab, die keine Narren waren. Je höher der Dienstgrad, desto weniger wurden es, aber ob es nun Zufall war oder nicht: Jede Streitmacht braucht an wichtigen, wenn auch ruhmlosen Positionen Männer, die vernünftig denken, Listen führen, sich um Proviant und den Tross kümmern und deren Konzentrationsvermögen das einer Ente übersteigt. Sie sorgen dafür, dass alles mehr oder weniger reibungslos läuft, was dem befehlshabenden Offizier Gelegenheit gibt, sich höheren Dingen zu widmen.

Der Major war kein Narr, auch wenn er wie einer aussah. Er war Idealist und hielt seine Männer für »prächtige Burschen«, trotz der gelegentlichen Beweise für das Gegenteil, und er war bemüht, aus seiner bescheidenen Intelligenz das Beste zu machen. Als Junge hatte er Bücher über große Feldzüge gelesen, Museen besucht und sich mit patriotischem Stolz Bilder berühmter Kavallerie-Angriffe, heldenhaften Widerstands und glorreicher Siege angesehen. Es war ein Schock für ihn, als er später selbst an solchen Dingen teilnahm und erfahren musste, dass die Maler die Eingeweide weggelassen hatten. Vielleicht waren sie nicht gut genug gewesen, solche Dinge darzustellen.

Der Major verabscheute die Karte, denn sie zeigte die Stadt. Bei den Göttern: Eine Stadt war einfach nicht der richtige Ort für die Kavallerie! Natürlich hatte es Verluste unter seinen Männern gegeben, darunter drei Todesfälle. Selbst ein Kavalleriehelm schützte kaum gegen einen ballistischen Kopfstein. Und bei den Tollen Schwestern war ein Reiter vom Pferd gezerrt und erschlagen worden. Das war tragisch und schrecklich und leider auch unvermeidlich, seit Narren beschlossen hatten, in einer Stadt mit so vielen engen Gassen wie Ankh-Morpork die Kavallerie einzusetzen.

Der Major hielt seine Vorgesetzten natürlich nicht für Narren – dann hätte er auch alle, die ihre Befehle befolgten, für Narren halten müssen. Er gebrauchte in diesem Zusammenhang den Begriff »unklug«, und auch den nur mit Unbehagen.

Was die übrigen Verluste betraf… Drei Kavalleristen hatten das Bewusstsein verloren, als sie gegen hängende Ladenschilder geprallt waren, während sie… Leute verfolgt hatten – wie sollte man in Rauch und Dunkelheit feststellen, wer der Feind war? Die Idioten hatten offenbar angenommen, dass alle, die wegliefen, zu den Feinden zählten. Und diese Schwachköpfe konnten noch von Glück sagen, denn andere Männer ritten durch dunkle Gassen, die sich hin und her wanden, dabei immer schmaler wurden, und dann merkten diese Männer, dass es um sie herum völlig still geworden war und dass sich ihre Pferde nicht mehr umdrehen konnten, und dann fanden sie heraus, wie schnell man in Reiterstiefeln laufen kann.

Der Major fasste die Berichte zusammen. Knochenbrüche, Quetschungen, ein Mann, der einen »freundlichen Stich« vom Säbel eines Kameraden abbekommen hatte…

Er blickte über den behelfsmäßigen Tisch und sah Hauptmann Thomas Wrangel von Lord Selachiis Leichter Infanterie an, der den Blick von seinen eigenen Papieren hob und schief lächelte. Sie waren gemeinsam zur Schule gegangen, und der Major wusste, dass Wrangel mehr Grips hatte.

»Wie sieht’s bei dir aus, Thomas?«, fragte der Major.

»Wir haben fast achtzig Männer verloren«, erwiderte der Hauptmann.

»Was? Das ist schrecklich!«

»Etwa sechzig von ihnen sind Deserteure, soweit ich das feststellen kann. Typisch für ein Durcheinander dieser Art. Einige von ihnen haben vermutlich nur die Gelegenheit genutzt, zu Hause vorbeizuschauen.«

»Oh, Deserteure. Wir hatten ebenfalls einige. In der Kavallerie! Wie würdest du jemanden nennen, der sein Pferd zurücklässt?«

»Einen Infanteristen. Was die übrigen betrifft… Ich glaube, nur sechs oder sieben sind tatsächlich dem Feind begegnet. Zum Beispiel wurden drei Männer in einer Gasse niedergestochen.«

»Für mich klingt das eindeutig nach Feind.«

»Ja, Stefan. Aber du bist in Quirm geboren.«

»Nur weil meine Mutter ihre Tante besuchte und sich die Kutsche verspätete!«, erwiderte der Major und errötete. »Wenn du mich aufschneidest, wirst du feststellen, dass Ankh-Morpork auf meinem Herz geschrieben steht!«

»Wirklich? Hoffen wir, dass es nicht dazu kommt«, sagte Thomas. »In einer dunklen Gasse ermordet zu werden – das gehört einfach zum Leben in dieser Stadt.«

»Aber die Männer waren bewaffnet! Sie trugen Schwerter und Helme…«

»Wertvolle Beute, Stefan.«

»Aber ich dachte, die Stadtwache hätte sich um die Banden gekümmert…«

Thomas sah seinen Freund über den Tisch hinweg an.

»Willst du vielleicht vorschlagen, dass wir um Polizeischutz bitten sollen? Außerdem gibt es gar keine Polizei mehr, zumindest nicht in dem Sinne. Einige Wächter sind auf unserer Seite, obwohl sie uns sicher nicht viel nützen. Die anderen sind entweder zusammengeschlagen worden oder weggelaufen.«

»Weitere Deserteure?«

»Um ehrlich zu sein, Stefan: Die Leute verschwinden so schnell, dass wir uns morgen ziemlich allein fühlen dürften.«

Die Offiziere unterbrachen ihr Gespräch, als ein Korporal weitere Berichte brachte. Sie lasen bedrückt.

»Es ist ruhig geworden«, sagte der Major.

»Zeit fürs Abendessen«, erwiderte der Hauptmann.

Der Major hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Dies ist kein Krieg! Jemand wirft einen Stein, geht hinter die nächste Ecke und ist wieder ein aufrechter Bürger! Es gibt keine Regeln

Der Hauptmann nickte. Ihre Ausbildung hatte sie nicht auf so etwas vorbereitet. Sie hatten die Karten von Feldzügen untersucht, mit weiten Ebenen und Anhöhen, die erobert werden mussten. Städte wurden entweder belagert oder verteidigt. Man kämpfte nicht in ihnen. Dort hatte man keinen Überblick. Man konnte weder Aufstellung beziehen noch manövrieren und bekam es immer mit Leuten zu tun, die den Ort so gut kannten wie ihre eigene Küche. Und man wollte ganz bestimmt nicht gegen einen Feind kämpfen, der keine Uniform trug.

»Wo ist Seine Lordschaft?«, fragte der Hauptmann.

»Er besucht den Ball, ebenso wie dein Kommandeur.«

»Und welche Befehle hast du, wenn ich fragen darf?«

»Er meinte, ich soll alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um unsere Ziele zu erreichen.«

»Hat er diese Anweisung schriftlich erteilt?«

»Nein.«

»Schade. Meiner auch nicht.«

Sie sahen sich an. Und dann sagte Wrangel: »Nun, derzeit gibt es keine Unruhen. Nicht in dem Sinn. Mein Vater sagte, so etwas sei auch zu seiner Zeit geschehen. Er meinte, man braucht nur ein wenig Geduld. Die Anzahl der Pflastersteine ist begrenzt, sagte er.«

»Es ist fast zehn«, erwiderte der Major. »Die Leute gehen sicher bald zu Bett.«

Beide Gesichter brachten die Hoffnung zum Ausdruck, dass sich die Lage beruhigt hatte. Niemand von ihnen wollte in eine Situation geraten, die von ihnen verlangte, notwendige Maßnahmen zu ergreifen.

»Also, Stefan, wenn nichts weiter geschieht…«, begann der Hauptmann.

Vor dem Zelt wurde es unruhig, und dann kam ein Mann herein. Er war blut- und rußverschmiert. Rosarote Linien liefen dort über sein Gesicht, wo Schweiß durch den grässlichen Schmutz geflossen war. Der Bursche trug eine Armbrust auf dem Rücken, und Messer steckten in einem Gürtel, der sich quer über seine Brust zog.

Der Mann war irre. Der Major erkannte den Blick. Die Augen glänzten zu hell, und das Lächeln wirkte zu starr.

»Ah, ja«, sagte der Mann und streifte einen großen Schlagring aus Messing von den Fingern der rechten Hand. »Das mit dem Wachposten tut mir Leid, meine Herren, aber er wollte mich nicht passieren lassen, obwohl ich ihm das Kennwort nannte. Führt ihr hier den Befehl?«

»Wer zum Teufel bist du?«, fragte der Major und stand auf. Der Mann blieb unbeeindruckt. »Carcer. Feldwebel Carcer«, sagte er.

»Ein Feldwebel? In dem Fall kannst du…«

»Aus der Ankertaugasse«, fügte Carcer hinzu.

Der Major zögerte. Beide Offiziere wussten von den Unaussprechlichen, aber wenn man sie gefragt hätte, wären sie kaum imstande gewesen zu sagen, was sie wussten. Die Arbeit der Unaussprechlichen lief im Geheimen ab, hinter den Kulissen. Sie waren viel mehr als nur Wächter und unterstanden direkt dem Patrizier, was ihnen viel Einfluss gab. Solche Leute verärgerte man besser nicht. Man legte sich nicht mit ihnen an. Es spielte keine Rolle, dass dieser Mann nur den Rang eines Feldwebels bekleidete. Wichtiger war: Er gehörte zu den Unaussprechlichen.

Und was noch schlimmer war: Der Major begriff, dass der Mann seine Gedanken sah und die Aussicht genoss.

»Ja«, sagte Carcer. »Stimmt genau. Und du kannst von Glück sagen, dass ich hier bin, Soldatenjunge.«

Soldatenjunge, dachte der Major. Und hier waren Männer, die zuhörten und sich daran erinnern würden. Soldatenjunge. »Warum?«, fragte er.

»Während deine geschniegelten Soldaten herumstolziert sind und Waschfrauen gejagt haben«, sagte Carcer, zog einen freien Stuhl heran und nahm Platz, »fand der wahre Aufruhr in der Sirupminenstraße statt. Wusstet ihr das?«

»Wovon redest du da? Man hat uns keine Unruhen von dort gemeldet, Mann!«

»Ja, stimmt. Und hältst du das nicht für seltsam?«

Der Major zögerte. Eine vage Erinnerung regte sich in ihm. Der Hauptmann brummte und schob ihm einen Zettel zu, woraufhin es ihm wieder einfiel.

»Ein Hauptmann war heute Nachmittag dort und meldete, alles sei unter Kontrolle«, sagte der Major.

»Ach? Unter wessen Kontrolle?«, fragte Carcer. Er lehnte sich zurück und legte die Füße auf den Tisch.

Der Major starrte auf die Stiefel, die sich davon jedoch nicht in Verlegenheit bringen ließen. »Nimm die Füße von meinem Tisch!«, sagte er kühl.

Carcer kniff die Augen zusammen. »Wer verlangt das von mir?«, fragte er.

»Die Befehlshaber der Streitmacht, die du dort draußen gesehen hast…«

Der Major blickte in Carcers Augen und bereute es sofort. Wahnsinn. Er hatte solche Augen auf dem Schlachtfeld gesehen.

Ganz langsam und übertrieben vorsichtig nahm Carcer die Füße vom Tisch. Er holte ein Taschentuch hervor, an dem noch mehr Schmutz zu kleben schien als in seinem Gesicht, hauchte auf das Holz und polierte es eifrig.

»Ich bitte in aller Form um Verzeihung«, sagte er. »Nun, während ihr Herren hier euren Tisch aufgeräumt und sauber gehalten habt, frisst sich ein Geschwür, wie man so schön sagt, haha, durchs Herz der Stadt. Hat euch jemand mitgeteilt, dass das Wachhaus in der Ankertaugasse niedergebrannt worden ist? Wir glauben, dass dabei sowohl der arme Hauptmann Schwung ums Leben gekommen ist als auch einer unserer… Helfer.«

»Schwung, bei den Göttern«, sagte Hauptmann Wrangel.

»Das habe ich gesagt. Der ganze Abschaum, den eure Jungs von den Tollen Schwestern und aus den anderen Nestern vertrieben haben – er hat sich dorthin zurückgezogen.«

Der Major sah auf den Bericht. »Aber unsere Patrouille hat gemeldet, dass dort nichts auf Unruhen hindeutet. Die Präsenz der Wache auf den Straßen war offensichtlich, heißt es. Die Leute winkten mit der Fahne und sangen die Nationalhymne.«

»Na bitte«, sagte Carcer. »Singst du jemals die Nationalhymne auf der Straße, Major?«

»Äh, nein…«

»Wen hat Seine Lordschaft dorthin geschickt?«, fragte Wrangel. Major Sitzgut-Stehschnell blätterte in den Papieren. Er machte ein langes Gesicht. »Rust«, sagte er.

»Meine Güte. Ausgerechnet.«

»Vermutlich ist der Mann tot«, meinte Carcer, und der Major versuchte, nicht erleichtert auszusehen. »Den Befehl führt nun ein gewisser Oberfeldwebel Keel. Aber er ist ein Schwindler. Der echte Keel liegt in der Leichenhalle.«

»Woher weißt du das alles?«, fragte der Major.

»Wir von der Sondergruppe verstehen uns darauf, Dinge herauszufinden«, sagte Carcer.

»Das habe ich gehört«, murmelte der Hauptmann.

»Meine Herren, Kriegsrecht bedeutet, dass das Militär den zivilen Kräften zu Hilfe kommt«, sagte Carcer. »Und das tue ich derzeit. Natürlich könntet ihr Kuriere zum Ball schicken, aber ich schätze, das wäre eurer beruflichen Laufbahn nicht sehr förderlich. Ich bitte eure Männer darum, mich bei einem gezielten Angriff zu unterstützen.«

Der Major starrte ihn an. Der Abscheu, den er Carcer entgegenbrachte, kannte keine Grenzen. Aber er war noch nicht lange Major, und wenn man gerade erst befördert worden war, wollte man den neuen Rang lange genug bekleiden, um den Borten Zeit zu geben anzulaufen.

Er rang sich ein Lächeln ab. »Du und deine Leute, ihr habt einen langen Tag hinter euch, Feldwebel«, sagte er. »Warum geht ihr nicht zum Speisezelt, während ich mich mit den anderen Offizieren berate?«

Carcer stand so plötzlich auf, dass der Major zusammenzuckte. Dann beugte er sich vor, die Fingerknöchel auf dem Tisch.

»Tu das, Soldatenjunge«, sagte er mit einem Grinsen wie die Schneide einer rostigen Säge. Abrupt drehte er sich um und trat in die Nacht hinaus.

Stille folgte, und schließlich sagte Wrangel: »Ich fürchte, sein Name steht auf der Liste, die uns Schwung gestern geschickt hat. Und streng genommen hat er Recht mit seiner Bemerkung über das Gesetz.«

»Soll das heißen, wir müssen Befehle von ihm entgegennehmen?«

»Nein. Aber er kann unsere Hilfe anfordern.«

»Und kann ich ablehnen?«

»O ja. Natürlich. Aber…«

»Ich müsste es Seiner Lordschaft erklären.«

»Ja.«

»Aber der Mann ist ein bösartiger Mistkerl! Du kennst die Sorte. Solche Burschen schließen sich uns an, weil sie plündern wollen. Letztendlich muss man sie hängen, um ein Exempel zu statuieren.«

»Äh…«

»Was ist?«

»Bei einer Sache hat er Recht. Ich habe mir die Berichte angesehen, und… es ist seltsam. Im Bereich der Sirupminenstraße hat von Anfang an erstaunliche Ruhe geherrscht.«

»Das ist doch gut.«

»Es ist unglaublich, wenn man alles zusammennimmt, Stefan. Offenbar wurde nicht einmal das Wachhaus angegriffen. Äh… und Hauptmann Brenn hat gemeldet, dass er dem Mann namens Keel begegnet ist – beziehungsweise jemandem, der sich als Keel ausgab –, und er meinte, wenn der Bursche ein Oberfeldwebel der Wache ist, so wäre er, Brenn, der Onkel eines Affen. Er meinte, der Mann sei daran gewöhnt, ganz andere Dinge zu kommandieren. Schien sehr von ihm beeindruckt zu sein, wenn du mich fragst.«

»Bei den Göttern, Thomas, ich brauche Hilfe!«, stieß der Major hervor.

»Schick einige Reiter los! Zu einer kleinen, inoffiziellen Patrouille. Besorg dir neue Informationen! Du kannst es dir leisten, eine halbe Stunde zu warten.«

»Ja! Gute Idee!«, sagte der Major und schwitzte Erleichterung aus. »Bitte kümmere dich darum!«

Nachdem alle notwendigen Befehle erteilt waren, lehnte er sich zurück und blickte auf die Karte. Zumindest gewisse Dinge ergaben einen Sinn. Die Barrikaden schienen nach innen gerichtet zu sein. Die Leute verbarrikadierten sich gegen den Palast und die Stadtmitte. Über die Welt außerhalb von Ankh-Morpork schien sich kaum jemand Gedanken zu machen. Wenn man unter solchen Umständen einen peripheren Teil der Stadt unter Kontrolle bringen wollte, so stieß man am besten durch eins der Tore in der Stadtmauer vor. Vermutlich wurden sie nicht so gut bewacht wie sonst.

»Thomas?«

»Ja, Stefan?«

»Hast du jemals die Nationalhymne gesungen?«

»Ziemlich oft.«

»Ich meine nicht offiziell.«

»Du meinst, nur um zu zeigen, dass ich ein Patriot bin? Nein. Das wäre doch ziemlich seltsam.«

»Und was ist mit der Fahne?«

»Ich salutiere jeden Tag davor.«

»Aber du winkst nicht damit?«, fragte der Major.

»Ich glaube, als Kind habe ich einmal mit einer Papierfahne gewinkt. Am Geburtstag des Patriziers oder so. Wir standen in den Straßen, als er vorbeiritt, und wir riefen ›Hurra!‹.«

»Und seit damals hast du nie wieder mit der Fahne gewinkt?«

»Äh, nein, Stefan«, sagte der Hauptmann und wirkte verlegen. »Ich wäre sehr besorgt, wenn ich jemanden sähe, der die Nationalhymne singt und mit der Fahne winkt. Das machen eigentlich nur Fremde.«

»Tatsächlich? Warum?«

»Wir brauchen nicht zu zeigen, dass wir patriotisch sind. Ich meine, dies ist Ankh-Morpork. Wir brauchen keinen Wirbel zu machen, um darauf hinzuweisen, dass wir die Besten sind. Wir wissen es.«

 

Es war eine verführerische Theorie, die der Phantasie von Wiggel und Keule entsprungen sein mochte, vielleicht auch dem nicht sehr geübten Denken von Fred Colon. Wenn Mumm es richtig verstand, lief es auf Folgendes hinaus:

 

1 Angenommen, der Bereich hinter den Barrikaden ist größer als der vor den Barrikaden.

2 Wenn er zum Beispiel mehr Leute und ein größeres Gebiet der Stadt enthält, wenn du mir folgen kannst.

3 Das würde doch bedeuten, und korrigiere mich, wenn’s nicht stimmt, Oberfeldwebel, dass wir in gewisser Weise vor den Barrikaden stehen, nicht wahr?

4 Und dann sind wir eigentlich gar keine Rebellen, oder? Weil wir mehr sind, und die Mehrheit kann nicht rebellieren, ist doch ganz klar.

5 Und das macht uns zu den Guten. Natürlich sind wir von Anfang an die Guten gewesen, aber jetzt wird’s offiziell. Wegen der Mathematik.

6 Deshalb dachten wir daran, die Barrikaden bis zur Kurzen Straße weiterzuschieben, und dann könnten wir durch die Düstergutstraße flitzen und die andere Seite des Flusses erreichen…

7 Bekommen wir dadurch Schwierigkeiten, Oberfeldwebel?

8 Du siehst mich so komisch an, Oberfeldwebel.

9 Entschuldigung, Oberfeldwebel.

 

Mumm dachte darüber nach, während Fred Colon mit wachsender Besorgnis vor ihm stand. Einige Barrikadenbauer in der Nähe wirkten so, als hätte man sie bei dem verbotenen Spiel »An die Tür klopfen und wegrennen« ertappt. Sie beobachteten Mumm aufmerksam, für den Fall, dass dieser explodierte.

Eine sonderbare Art von Logik ließ sich nicht leugnen, wenn man Dinge wie »Realität« und »gesunder Menschenverstand« außer Acht ließ.

Die Leute hatten sich Mühe gegeben. Es war sicher nicht weiter schwer, eine Straße in der Stadt zu blockieren. Man nagelte einfach einige Bretter an Karren und stapelte Möbel und andere Dinge darauf. Das genügte für die Hauptstraßen. Und wenn man entschlossen genug schob, ließen sich solche Barrikaden auch bewegen.

Auch der Rest bereitete keine großen Probleme. Es waren ohnehin viele kleine Barrikaden vorhanden; sie mussten einfach nur zusammengefügt werden. Und so wuchs die Volksrepublik der Sirupminenstraße an, bis sie fast ein Viertel der Stadt umfasste. Mumm atmete tief durch. »Fred?«, fragte er.

»Ja, Oberfeldwebel?«

»Habe ich dir dies befohlen

»Nein, Oberfeldwebel.«

»Es gibt zu viele Gassen, Fred. Und es sind zu viele Leute.«

Colons Miene erhellte sich. »Es gibt auch mehr Polizisten, Oberfeldwebel. Viele Kollegen sind zu uns gestoßen. Gute Jungs. Und Feldwebel Dickins, er weiß über solche Dinge Bescheid und erinnert sich an das letzte Mal, als so etwas geschah. Er hat alle wehrfähigen Männer, die mit einer Waffe umgehen können, aufgefordert anzutreten, Oberfeldwebel. Es sind viele, Oberfeldwebel! Wir haben jetzt eine Armee, Oberfeldwebel!«

So geht die Welt zugrunde, dachte Mumm. Ich war nur ein junger Narr. Ich habe es nicht aus diesem Blickwinkel gesehen. Ich hielt Keel damals für den Anführer der Revolution. Ob er sich ebenfalls dafür hielt?

Aber mir ging es nur darum, einige Straßen zu sichern. Ich wollte eine Hand voll anständiger Leute vor dem dummen Pöbel, den gedankenlosen Rebellen und den dämlichen Soldaten schützen. Ich habe wirklich gehofft, wir kämen damit durch.

Vielleicht haben die Mönche Recht. Die Geschichte zu ändern ist wie der Versuch, einen Fluss zu stauen – er findet einen Weg um den Damm herum.

Er sah Sam unter den Männern. Der Junge strahlte. Heldenverehrung. Das konnte einen blind machen.

»Irgendwelche Probleme?«, fragte er.

»Ich glaube, es ist noch nicht allen klar geworden, was hier geschieht, Oberfeldwebel. Bei den Tollen Schwestern und dort drüben ist ziemlich viel los gewesen. Angriffe der Kavallerie und… He, da kommen noch mehr.«

Ein Wächter auf der Barrikade hatte ein Zeichen gegeben. Mumm hörte die Unruhe auf der anderen Seite des Möbelhaufens.

»Offenbar fliehen noch mehr Leute von den Tollen Schwestern«, sagte Colon. »Welche Anweisungen hast du für uns, Oberfeldwebel?«

Haltet sie von uns fern, dachte Mumm. Wir wissen nicht, wer sie sind. Wir können nicht alle aufnehmen. Einige von ihnen werden uns Ärger machen.

Das Dumme ist: Ich weiß, was da draußen geschieht. Die Stadt ist eine kleine Scheibe von der Hölle, und nirgends ist es sicher.

Und ich weiß, wie ich entscheiden werde, denn ich beobachte mich dabei.

Ich fasse es nicht. Dort drüben stehe ich, ein Junge, der noch immer sauber und voller Ideale ist. Und er sieht mich an wie eine Art Held. Ich wage es nicht, kein Held zu sein. Ich treffe die dumme Entscheidung, weil ich vor mir selbst nicht schlecht dastehen will. Versuch mal, das jemandem zu erklären, der nicht schon einige Gläschen getrunken hat.

»Na schön, lasst sie durch«, sagte Mumm. »Aber keine Waffen. Gib den anderen Bescheid.«

»Wir sollen den Leuten die Waffen abnehmen?«, fragte Colon.

»Denk darüber nach, Fred. Wir wollen hier doch keine Unaussprechlichen oder verkleidete Soldaten. Ein Mann braucht einen Bürgen, bevor er eine Waffe tragen darf. Ich möchte nicht von vorn und von hinten angegriffen werden. Und noch etwas, Fred… Ich weiß nicht, ob ich dazu befugt bin, und vermutlich ist es nur vorübergehend, aber ab sofort bist du Feldwebel. Wer etwas an deinem zusätzlichen Streifen auszusetzen hat, soll sich an mich wenden.«

Fred Colons Brust, die bereits viel Fett angesetzt hatte, schwoll noch weiter an. »In Ordnung, Oberfeldwebel. Äh… nehme ich noch immer Befehle von dir entgegen? Gut. Ich nehme weiterhin Befehle von dir entgegen. Völlig klar.«

»Bewegt die Barrikaden nicht mehr! Blockiert die Gassen! Haltet diese Stellung! Mumm, du kommst mit! Ich brauche einen Kurier.«

»Ich kann gut laufen, Oberfeldwebel«, erklang Nobbys Stimme irgendwo hinter Mumm.

»Dann habe ich einen Auftrag für dich, Nobby: Sieh dich draußen um und finde heraus, was dort vor sich geht!«

Feldwebel Dickins war jünger als der, an den sich Mumm erinnerte, aber er stand trotzdem kurz vor der Pensionierung. Er hatte noch immer den typischen gewichsten Schnurrbart eines Feldwebels, offensichtlich gefärbt und die Enden spitz zulaufend. Außerdem hielt er sich in Form, wobei ihm vermutlich verborgene Korsetts halfen. Mumm wusste, dass er viel Zeit in den Regimentern verbracht hatte und ursprünglich aus Llamedos stammte. Letzteres hatten die Männer herausgefunden, weil er einer Druidenreligion angehörte, die so streng war, dass sie nicht einmal Hinkelsteine erlaubte. Und seine Religion verbot das Fluchen, was für einen Feldwebel ein echtes Handikap war. Oder gewesen wäre, wenn es Feldwebel nicht so ausgezeichnet verstanden hätten zu improvisieren.

Derzeit befand sich Dickins in Willkommenseife, einer Erweiterung der Ankertaugasse. Und er führte die Armee an.

Sie wirkte nicht sehr beeindruckend. Keine zwei Waffen glichen sich, in den meisten Fällen waren es nicht einmal Waffen in dem Sinne. Mumm schauderte, als er die Menge sah und sich an die Zukunft erinnerte, an die vielen häuslichen Querelen, die er im Lauf der Zeit erlebt hatte. Bei richtigen Waffen wusste man, woran man war, aber die falschen konnten vor allem unerfahrene Wächter in große Schwierigkeiten bringen. Beispielsweise Hackmesser, an Stangen befestigt. Oder Nägel. Oder Fleischerhaken.

Immerhin war dies das Stadtviertel der kleinen Händler, Träger und Hafenarbeiter. Vor Mumm, in unordentlichen Reihen, standen Männer, die jeden Tag friedlich und völlig legal Gerätschaften mit Klingen und Dornen handhabten, neben denen ein normales Schwert so harmlos wirkte wie die Hutnadel einer Dame.

Es gab auch klassische Waffen. Manche Männer waren mit ihrem Schwert oder ihrer Hellebarde aus dem Krieg heimgekehrt. Waffen? O nein, Herr, natürlich nicht! Es sind Andenken. Und das Schwert war vermutlich verwendet worden, um das Feuer im Kamin zu schüren, und die Hellebarde hatte gute Dienste geleistet als Pfosten für die Wäscheleine, und ihr einstiger Verwendungszweck war längst in Vergessenheit geraten…

… bis jetzt.

Mumm starrte auf das metallene Durcheinander. Diese Leute brauchten nur still zu stehen, um eine Schlacht zu gewinnen. Wenn der Feind entschlossen genug angriff, würde er die andere Seite als Hackfleisch erreichen.

»Einige von ihnen sind Wächter im Ruhestand, Härr«, flüsterte Dickins ihm zu. »Viele von ihnen haben irgendwann einmal einem Regiment angehört. Dazu kommen einige junge Leute, die was erleben wollen, du weißt ja, wie das ist. Was hältst du von ihnen?«

»Gegen eine solche Truppe möchte ich auf keinen Fall kämpfen«, sagte Mumm. Mindestens ein Viertel der Männer hatte weißes Haar, und die meisten nutzten ihre Waffen als Krücken. »Ich möchte ihnen nicht einmal Befehle erteilen. Würde ich diesen Leuten ›Ganze Abteilung kehrt!‹ befehlen, würde es Gliedmaßen regnen.«

»Sie sind entschlossen, Härr.«

»Mag sein. Aber mir liegt nichts an einem Krieg.«

»Dazu kommt es nicht, Härr«, sagte Dickins. »Ich habe in meinem Leben einige Barrikaden gesehen. Für gewöhnlich endet alles friedlich. Ein neuer Mann übernimmt die Macht, die Leute langweilen sich, und alle gehen nach Hause, Härr.«

»Aber Winder ist ein Spinner«, wandte Mumm ein.

»Nenn mir einen Patrizier, der nicht plemplem war, Härr«, erwiderte Dickins.

Herr, dachte Mumm. Und er ist älter als ich. Ich sollte mir Mühe geben und das Beste daraus machen.

»Feldwebel«, sagte er, »ich möchte, dass du zwanzig Männer auswählst, die du im Kampf gesehen hast, Männer, auf die Verlass ist. Geh mit ihnen zum Latschenden Tor und halt dort Wache!«

Dickins wirkte verwirrt. »Aber das Tor ist verriegelt, Härr. Und es liegt hinter uns. Ich dachte, wir könnten vielleicht…«

»Zum Tor, Feldwebel«, beharrte Mumm. »Deine Männer sollen aufpassen, dass sich niemand heranschleicht, um die Riegel beiseite zu schieben. Und ich möchte, dass die Wachen auf den Brücken verstärkt werden. Leg dort Fußangeln aus, spann Drähte… Es soll jedem schlecht ergehen, der versucht, uns über die Brücken zu erreichen, verstanden?«

»Hast du etwas erfahren, Härr?«, fragte Dickins und neigte den Kopf zur Seite.

»Sagen wir, dass ich wie der Feind denke«, erwiderte Mumm. Er trat einen Schritt näher und senkte die Stimme. »Du weißt, wie das läuft, Dai. Niemand mit ein bisschen Grütze im Kopf greift eine Barrikade an. Man sucht nach den Schwachstellen.«

»Dort drüben gibt es weitere Tore, Härr«, sagte Dickins skeptisch.

»Ja, aber wenn der Gegner das Latschende Tor unter seine Kontrolle bringt, kommt er zur Ulmenstraße, und dann führt ein netter langer Galopp dorthin, wo wir keinen Angriff erwarten«, erklärte Mumm.

»Aber… du rechnest damit, Härr.«

Mumm zeigte Dickins ein ausdrucksloses Gesicht, und das genügte als Hinweis.

»Die Sache ist bereits erledigt, Härr«, erwiderte er zufrieden.

»Und ich möchte ordentlich viele Männer bei allen Barrikaden«, sagte Mumm. »Und einige Patrouillen, die dorthin geschickt werden können, wo es Probleme gibt. Du weißt, worauf es ankommt, Feldwebel.«

»Ja, Härr.« Dickins salutierte zackig und lächelte.

Dann wandte er sich den versammelten Bürgern zu. »Na schön, Leute!«, rief er. »Einige von euch sind in einem Regiment gewesen, ich weiß es! Wie viele kennen ›All die kleinen Engel‹?«

Einige der etwas ernsthafteren Andenken wurden hochgehalten.

»Ausgezeichnet! Wir haben bereits einen kleinen Chor! Es ist ein Soldatenlied, versteht ihr? Ihr seht nicht wie Soldaten aus, aber bei den Göttern: Ich werde dafür sorgen, dass ihr wie Soldaten klingt! Die anderen lernen das Lied, während wir es singen! Rechtsum! Marsch! ›All die kleinen Engel fliegen nach oben, nach oben! All die kleinen Engel fliegen nach oben empor!‹ Singt, ihr Muttersöhne!«

Die Marschierenden lernten von denen, die das Lied kannten. »Wie fliegen sie nach oben, nach oben, wie fliegen sie nach oben empor?«

»Sie fliegen mit dem Kopf nach oben, mit dem Kopf, mit dem Kopf nach oben fliegen die kleinen Engel empor…«, sang Dickins, als die Truppe hinter der Ecke verschwand.

Mumm lauschte, als der Refrain verklang.

»Ein nettes Lied«, sagte der junge Sam, und Mumm begriff, dass er es zum ersten Mal gehört hatte.

»Es ist ein altes Soldatenlied«, sagte er.

»Tatsächlich, Oberfeldwebel? Aber es geht darin um Engel.«

Ja, dachte Mumm, und es ist erstaunlich, mit welchen Dingen die kleinen Engel während des Lieds nach oben fliegen. Es ist ein echtes Soldatenlied, voller Gefühl und mit schmutzigen Zeilen.

»Wenn ich mich recht entsinne, wurde es nach einer Schlacht gesungen«, sagte er. »Ich habe gesehen, wie alte Männer dabei weinten«, fügte er hinzu.

»Warum? Es klingt fröhlich.«

Weil sie sich an die erinnerten, die nicht mehr mitsingen konnten, dachte Mumm. Du wirst es lernen. Ich weiß es.

 

Nach einer Weile kehrten die Patrouillen zurück. Major Sitzgut-Stehschnell war klug genug, keine schriftlichen Berichte zu verlangen. Sie waren zu lang und voller Rechtschreibfehler. Nacheinander erstatteten die Männer Bericht. Hauptmann Wrangel, der Stellungen auf der Karte markierte, pfiff gelegentlich leise.

»Der Bereich ist groß, Herr! Wirklich groß! Inzwischen liegt fast ein Viertel der Stadt hinter den Barrikaden!« Der Major rieb sich die Stirn und sah den Kavalleristen Gabitass an. Er war als Letzter eingetroffen und schien sich besondere Mühe gegeben zu haben, Informationen zu sammeln.

»Überall sind die Leute in Stellung gegangen, Herr. Ich ritt zur Barrikade in der Heldenstraße, nahm den Helm ab und versuchte so auszusehen, als wäre ich nicht im Dienst, und dann fragte ich, was das alles zu bedeuten hätte. Ein Mann rief mir zu: Es ist alles in bester Ordnung, danke sehr, und leider haben wir keine Barrikaden mehr übrig. Ich sagte, was ist mit Recht und Ordnung, und die Leute sagten, davon haben wir jede Menge, danke.«

»Niemand hat auf dich geschossen?«

»Nein, Herr. Ich wünschte, das ließe sich auch von diesem Ort hier behaupten; die Leute warfen Steine nach mir, und eine Alte leerte aus ihrem Fenster einen Nachtto… einen Topf auf mich aus. Da wäre noch etwas anderes, Herr. Äh…«

»Heraus damit, Mann!«

»Ich, äh, habe einige der Personen auf der Barrikade erkannt. Äh… es sind Leute von uns, Herr.«

 

Mumm schloss die Augen, in der Hoffnung, dass die Welt ein besserer Ort sein würde. Aber als er sie wieder öffnete, zeigte sie ihm noch immer das rosarote Gesicht des gerade beförderten Feldwebels Colon.

»Fred«, sagte er langsam, »ich frage mich, ob du das grundlegende Konzept verstanden hast. Die Soldaten – das sind die anderen Leute, Fred – bleiben jenseits der Barrikade. Wenn sie sich diesseits davon befinden, haben wir gar keine verdammte Barrikade mehr, kapiert?«

»Ja, Herr. Aber…«

»Wenn man etwas Zeit in einem Regiment verbringt, Fred, findet man heraus, dass Soldaten großen Wert darauf legen zu wissen, wer auf ihrer Seite steht und wer nicht.«

»Ja, Herr, aber sie…«

»Ich meine, wie lange kennen wir uns schon, Fred?«

»Zwei oder drei Tage, Herr.«

»Äh… ja. Stimmt. Natürlich. Es kommt mir länger vor.«

»Nun, Fred, warum muss ich hier feststellen, dass du praktisch einen ganzen Zug durchgelassen hast? Stecken weitere metaphysische Gedanken dahinter?«

»Es hat mit Billy Wiggels Bruder begonnen, Herr«, sagte Colon nervös. »Einige seiner Freunde begleiteten ihn. Alles Jungs von hier. Und dann war da noch jemand, den Nimmernich kannte, und der Sohn von Keules Nachbar, mit dem er oft einen trinken geht, und dann…«

»Wie viele, Fred?«, fragte Mumm müde.

»Sechzig, Herr. Vielleicht sind’s inzwischen noch ein paar mehr.«

»Und es ist dir nicht in den Sinn gekommen, dass sie vielleicht Teil seines schlauen Plans sind?«

»Nein, Oberfeldwebel, das kam mir nicht in den Sinn, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass Willi Wiggel Teil eines schlauen Plans ist, was daran liegt, dass ich ihn nicht als großen Denker kenne. Er durfte nur im Regiment bleiben, nachdem er jemanden gefunden hatte, der L und R auf seine Stiefel gemalt hat. Wir kennen sie alle, Oberfeldwebel. Die meisten Jungs werden für einige Zeit Soldat, um die Stadt zu verlassen und dem Ausländerpack zu zeigen, wer der Boss ist. Sie haben nie damit gerechnet, in den eigenen Straßen von alten Frauen angespuckt zu werden. So was kann einen jungen Mann ganz schön fertig machen. Und niemand lässt sich gern mit Pflastersteinen bewerfen.«

Mumm gab nach. Es stimmte alles. »Na schön«, sagte er. »Aber wenn es so weitergeht, sind bald alle auf dieser Seite der Barrikaden, Fred.«

Und die ganze Sache könnte ein schlimmeres Ende nehmen, dachte er.

Man hatte Feuer auf den Straßen angezündet und Kochtöpfe hervorgeholt. Doch die meisten Leute gingen dem beliebtesten Zeitvertreib in Ankh-Morpork nach: Sie standen herum und warteten darauf, was als Nächstes geschehen würde.

»Was wird als Nächstes geschehen, Oberfeldwebel?«, fragte Sam.

»Ich glaube, man wird uns an zwei Stellen angreifen«, sagte Mumm. »Die Kavallerie wird die Stadt verlassen und versuchen, durchs Latschende Tor zu kommen, weil das einfach zu sein scheint. Und die Soldaten… und die restlichen Wächter, die nicht auf unserer Seite sind, werden vermutlich über die Schlechte Brücke vorrücken.«

»Bist du sicher, Herr?«

»Ja«, sagte Mumm. Immerhin war es so geschehen… so in der Art…

Er rieb sich den Nasenrücken und konnte sich nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal geschlafen hatte – damit meinte er richtiges Schlafen, kein Dösen und auch keine Bewusstlosigkeit. Wahrscheinlich begann sein Denken bereits am Rand ein wenig auszufransen. Aber er wusste, wie die Barrikade der Sirupminenstraße durchbrochen worden war. Nur ein Satz im Geschichtsbuch galt diesem Ereignis, und Mumm hatte ihn im Gedächtnis behalten. Wenn Belagerungen nicht durch Verrat beendet wurden, dann durch kleine Hintertüren. Es war praktisch ein Gesetz der Geschichte.

»Aber wir haben noch ein oder zwei Stunden Zeit«, sagte er laut. »Wir sind nicht wichtig genug. Hier bei uns ist alles ruhig. Der Mist qualmt erst, wenn sie sich nach dem Grund dafür fragen.«

»Es kommen viele Leute zu uns, Oberfeldwebel. Einige erzählen, dass sie Schreie in der Ferne hörten. Die Leute fliehen, weil überall geplündert wird…«

»Gefreiter Mumm?«

»Ja, Oberfeldwebel?«

»Weißt du noch, als du den verdammten Folterer mit einem Knüppel erschlagen wolltest und ich dich daran gehindert habe?«

»Ja, Oberfeldwebel.«

»Dies ist der Grund, Junge. Wenn wir versagen, bricht alles zusammen.«

»Ja, Oberfeldwebel. Aber du haust den Leuten eins auf die Rübe.«

»Interessanter Hinweis, Gefreiter, logisch und gut ausgedrückt, mit klarer Stimme, die fast frech klingt. Aber es gibt da einen großen Unterschied.«

»Und der wäre, Oberfeldwebel?«

»Du wirst ihn herausfinden«, sagte Mumm. Der Unterschied besteht darin, dass ich den Betreffenden eins auf die Rübe gebe, dachte er. Zugegeben, es ist keine gute Antwort, denn Leute wie Carcer benutzen sie ebenfalls, aber darauf läuft es letztendlich hinaus. Außerdem verhindert es, dass ich meinem Gegner das Messer in den Leib stoße, und es verhindert, dass mein Gegner mir ein Messer in den Leib stößt. Dieser Punkt ist sehr wichtig.

Sie näherten sich einem großen Feuer mitten auf der Straße. Darüber hing ein blubbernder Kessel, und Leute warteten mit Tellern.

»Riecht gut«, sagte Mumm zu dem Mann, der den Inhalt des Kessels mit einer Schöpfkelle umrührte. »Oh, du bist’s, äh, Herr Schnapper…«

»Das hier ist ein Siegeseintopf, Oberfeldwebel«, sagte Schnapper. »Zwei Cent der Teller, und ich treibe dich in den Ruin?«

»Klingt… gut«, sagte Mumm und betrachtete die sonderbaren (und manchmal erschreckend vertrauten) Brocken, die in der Brühe schwammen. »Was ist da drin?«

»Es ist Eintopf«, wiederholte Schnapper. »Kräftig genug, dass dir die Haare auf der Brust wachsen.«

»Ja, wie ich sehe, haben einige der Fleischstücke Borsten«, stellte Mumm fest.

»Ja, genau! Ein Beweis für die erstklassige Qualität dieses Eintopfs!«

»Er sieht… interessant aus«, sagte Sam skeptisch.

»Du musst den Gefreiten entschuldigen, Herr Schnapper«, sagte Mumm. »Er ist nicht daran gewöhnt, Eintopf zu essen, der ihm zuzwinkert.«

Er nahm mit seinem Teller Platz, lehnte den Rücken an die Mauer und sah zur Barrikade. Die Leute waren sehr fleißig gewesen. Eigentlich gab es auch gar nichts anderes zu tun. Diese Barrikade reichte von einer Seite der Heldenstraße zur anderen, war viereinhalb Meter hoch und hatte oben sogar einen Laufgang. Sie sah nach einer ernsten Angelegenheit aus.

Mumm schloss die Augen.

Von seiner Seite kam zögerndes Schlürfen, als der junge Sam den Eintopf probierte. »Kommt es zum Kampf, Oberfeldwebel?«

»Ja«, sagte Mumm, ohne die Augen zu öffnen.

»Zu einem richtigen Kampf?«

»Ja.«

»Werden vorher nicht einige Gespräche geführt?«

»Nein«, sagte Mumm und suchte nach einer bequemeren Position. »Vielleicht nachher.«

»Umgekehrt wär’s besser!«

»Ja, Junge, aber es ist eine erprobte und bewährte Methode.«

Es folgten keine weiteren Kommentare. Mit den Geräuschen der Straße in den Ohren schlief Mumm langsam ein.

 

Major Sitzgut-Stehschnell wusste, was geschehen würde, wenn er dem Palast eine Mitteilung schickte. Seine Lordschaft wollte nichts hören, das wie »Was soll ich jetzt machen, Herr?« klang. Solche Fragen stellte ein Major nicht, der einen klaren Befehl bekommen hatte. Barrikaden sollten beseitigt, Rebellen zurückgeschlagen werden. Den Stier bei den Hörnern packen und so. Der Major befürchtete, dass man dabei aufgespießt werden oder unter die Hufe geraten konnte.

Es gab Deserteure hinter der Barrikade. Deserteure! Wie hatte so etwas geschehen können?

Es war eine riesige Barrikade, Bewaffnete standen dahinter, Deserteure leisteten ihnen Gesellschaft, und er hatte seine Befehle. Es war alles ganz klar.

Wenn sie doch nur… rebellieren würden. Er hatte den Kavalleristen Gabitass erneut zu ihnen geschickt, und sein Bericht klang sehr friedlich. Hinter der Barrikade schien sich normales Stadtleben zu ereignen, was man vom Chaos davor nicht behaupten konnte. Hätten die Leute auf Gabitass geschossen oder Steine nach ihm geworfen, wäre alles viel einfacher gewesen. Stattdessen verhielten sie sich… anständig. Ein solches Verhalten gebührte Staatsfeinden nicht!

Ein Staatsfeind stand nun vor dem Major. Gabitass war nicht mit leeren Händen zurückgekehrt.

»Hab ihn dabei erwischt, wie er mir nachgeschlichen ist«, sagte der Kavallerist. Und zum Gefangenen: »Du bist hinter der Barrikade gewesen, nicht wahr, Bürschchen?«

»Kann es sprechen?«, fragte der Major und starrte auf das Geschöpf hinab.

»Es ist nicht nötig, so zu reden«, sagte Nobby Nobbs.

»Er ist ein Gassenjunge, Herr«, erklärte Gabitass.

Der Major betrachtete das, was er von dem Gefangenen erkennen konnte: einen zu großen Helm und eine Nase.

»Bitte hol ihm etwas, auf dem er stehen kann, Hauptmann«, sagte er und wartete, bis Wrangel einen Stuhl brachte. Der Gefangene stieg darauf, was die Dinge jedoch nicht verbesserte. Es ergaben sich nur weitere Fragen.

»Er hat eine Dienstmarke, Kavallerist Gabitass. Vielleicht eine Art Maskottchen?«

»Hab sie selbst aus einem Stück Seife geschnitzt«, sagte Nobby. »Damit ich ein Polizist sein kann.«

»Warum?«, fragte der Major. Die Erscheinung verlangte trotz der Dringlichkeit eine genauere Untersuchung. Stefan Sitzgut-Stehschnell spürte eine sonderbare Mischung aus Entsetzen und Faszination.

»Aber vielleicht werde ich Soldat, wenn ich erwachsen bin«, fuhr Nobby fort und grinste fröhlich. »Da kann man sich mehr unter den Nagel reißen.«

»Ich fürchte, du bist nicht groß genug«, sagte der Major hastig.

»Weiß gar nicht, was das damit zu tun hat«, erwiderte Nobby. »Immerhin reicht der Feind bis auf den Boden. Und wenn die Leute so herumliegen, kann man ihnen die Stiefel abnehmen. Der alte Sconner setzt eher auf Zähne und Ohrringe, aber ich sage, jeder Mann hat ein Paar Stiefel. Wohingegen es heutzutage viele schlechte Zähne gibt, und für die Gebissmacher muss immer alles tipptopp sein…«

»Soll das heißen, du willst zum Militär, um auf dem Schlachtfeld zu plündern?«, brachte der Major schockiert hervor. »Ein kleiner… Junge wie du?«

»Einmal, als der alte Sconner zwei Tage lang nüchtern war, hat er kleine Soldaten für mich gebastelt«, sagte Nobby. »Sie hatten diese kleinen Stiefel, die man ihnen abnehmen konnte…«

»Sei still!«, ächzte der Major.

»… und die kleinen hölzernen Zähne, die man…«

»Sei endlich still!«, rief der Major. »Hast du denn überhaupt kein Interesse an Ehre? Ruhm? Liebe zur Stadt?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Nobby »Bekommt man viel dafür?«

»So etwas ist unbezahlbar

»In dem Fall bleibe ich lieber bei den Stiefeln, wenn’s dir recht ist«, sagte Nobby. »Man kann sie für zehn Cent das Paar verkaufen, wenn man den richtigen Laden kennt…«

»Sieh dir Kavallerist Gabitass an!«, stieß der inzwischen recht verärgerte Major hervor. »Zwanzig Jahre im Dienst, ein hervorragender Soldat! Ihm käme es nie in den Sinn, die Stiefel eines gefallenen Feinds zu stehlen, oder?«

»Nein, Herr!«, erwiderte Gabitass. »So was ist total schwachsinnig!« 8

»Äh… ja!«, bestätigte der Major. »Von Männern wie Kavallerist Gabitass könntest du viel lernen, mein lieber Nobbs. Offenbar hat die Zeit bei den Rebellen deinen Kopf mit völlig falschen Ideen gefüllt.«

»Ich bin kein Rebell!«, entfuhr es Nobby. »Nenn mich nicht Rebell, denn ich bin keiner, ich bin ein Ankh-Morpork-Junge und stolz darauf, jawohl! Ha, du irrst dich, ich bin nie ein Rebell gewesen, und es ist gemein von dir, mich so zu nennen! Ich bin ein ehrlicher Junge!«

Große Tränen rollten ihm über die Wangen, wuschen den Schmutz weg und legten tiefe Schichten aus älterem Schmutz frei.

Mit so etwas hatte der Major keine Erfahrung. Aus allen Körperöffnungen des kleinen Jungen schien Flüssigkeit zu strömen. Er richtete einen Hilfe suchenden Blick auf Gabitass.

»Du bist ein verheirateter Mann, Kavallerist. Was sollen wir jetzt machen?«

»Ich könnte ihm eine Ohrfeige geben, Herr«, antwortete Gabitass.

»Das ist sehr rücksichtslos, Kavallerist! Nun, äh, eben hatte ich noch ein Taschentuch…«

»Ha, ich habe meinen eigenen Wischlappen, herzlichen Dank, du brauchst gar nicht so herablassend zu tun«, schniefte Nobby und zog ein Tuch aus der Tasche. Genauer gesagt: Er zog ein Dutzend Tücher aus der Tasche, darunter auch eins mit den Initialen S.S.S. Sie waren so miteinander verheddert wie die Flaggen-aller-Nationen eines Zauberkünstlers, und in dem Durcheinander steckten auch einige Geldbörsen und ein halbes Dutzend Löffel.

Nobby wischte sich das Gesicht mit dem ersten Tuch ab, stopfte dann alles in die Tasche zurück und stellte fest, dass ihn die Männer groß anstarrten.

»Na? Was ist?«, fragte er trotzig.

»Erzähl uns von Keel!«, sagte der Major.

»Ich weiß gar nichts nich’«, erwiderte Nobby automatisch.

»Aha, das bedeutet, dass du etwas weißt«, sagte der Major, der tatsächlich zu den Personen zählte, die einen so kleinen Triumph genossen.

Nobby stand mit ausdrucksloser Miene auf dem Stuhl. Der Hauptmann beugte sich vor und flüsterte dem Major etwas ins Ohr.

»Äh, nur nach den Regeln der Mathematik, Stefan«, flüsterte Hauptmann Wrangel. »Ich glaube, in diesem Fall soll das doppelte Negativum nur betonen, dass er…«

»Erzähl uns von Keel!«, rief der Major.

»Major, warum überlässt du solche Dinge nicht den Experten?«, erklang eine Stimme.

Der Major sah auf. Carcer und seine Männer waren ins Zelt gekommen. Der Feldwebel lächelte wieder.

»Hast da einen kleinen Gefangenen, was?«, fragte Carcer, trat näher und musterte Nobby. »Ist bestimmt ein Rädelsführer, ja. Hat er dir irgendwas verraten? Wohl kaum. Man braucht eine besondere Ausbildung, um aus solchen Leuten etwas herauszuholen, haha.«

Er schob die Hand in die Tasche. Als sie wieder zum Vorschein kam, glänzten Messingringe an den Fingern.

»Nun, Junge«, sagte Carcer, während die Offiziere das Geschehen entsetzt beobachteten, »du weißt, wer ich bin. Ich gehöre zur Sondergruppe. Und ich sehe zwei von dir. Der eine ist ein lebhafter Junge, der den Behörden bei ihren Ermittlungen helfen möchte, und der andere ist ein frecher kleiner Bursche, der versucht, schlau zu sein. Der eine Junge hat eine Zukunft und behält seine Zähne. Ich habe da so eine komische Angewohnheit. Ich stelle eine Frage nie zweimal. Fangen wir an: Du bist kein Verbrecher, oder?«

Nobby hielt den Blick auf die Messingringe gerichtet und schüttelte den Kopf.

»Du nutzt nur jedes Mittel, um zu überleben, nicht wahr?« Nobby nickte.

»Vermutlich warst du ein anständiger Junge, bevor du zu den Rebellen kamst. Hast die Nationalhymne gesungen und so.« Nobby nickte.

»Der Mann, der sich Keel nennt – ist er der Rädelsführer der Rebellen?«

Nobby zögerte und hob die Hand. »Äh… alle machen, was er sagt«, erwiderte er. »Ist das dasselbe?«

»Ja. Ist er charismatisch?«

Nobby starrte noch immer auf den Schlagring. »Äh, ich weiß nicht. Ich habe ihn nicht husten gehört.«

»Und worüber spricht man hinter der Barrikade, mein kleiner Junge?«

»Äh… über Gerechtigkeit und Wahrheit und Freiheit und so«, sagte Nobby.

»Aha, Rebellengerede!«, sagte Carcer und straffte sich.

»Tatsächlich?«, fragte der Major.

»Glaub mir, wenn Leute beginnen, solche Worte zu benutzen, führen sie nichts Gutes im Schilde«, sagte Carcer. Er sah auf Nobby hinab. »Was habe ich wohl für einen braven Jungen in der Tasche, hm? Oh, ja… ein Ohr. Noch warm. Hier, nimm, Junge!«

»Donnerwetter! Vielen Dank!«

»Und jetzt lauf weit weg, oder ich mache dich zur Schnecke.« Nobby floh.

Carcers Blick glitt zur Karte auf dem Tisch. »Oh, ihr plant einen kleinen Ausflug. Das ist schön. Ihr wollt die Rebellen wohl nicht beunruhigen. Warum befiehlst du keinen verdammten Angriff, Major?«

»Nun, wir…«

»Du verlierst deine Truppen an den Feind! Die Rebellen kontrollieren ein Viertel der Stadt! Und du willst dich von hinten anschleichen. Über die Brücke, wie ich sehe, und dann durch die Ulmenstraße. Still und heimlich. Als hättest du Angst!« Carcer schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, und der Major zuckte zusammen.

»Ich habe vor niemandem Angst«, log er.

»Du repräsentierst jetzt die Stadt!«, sagte Carcer, und in seinen Mundwinkeln bildete sich weißer Schaum. »Die Rebellen schleichen umher, du nicht. Du reitest zu ihnen und schickst sie zur Hölle – das machst du. Sie stehlen dir die Straßen! Hol sie dir zurück! Sie haben sich vom Gesetz entfernt! Du bringst es ihnen!«

Er trat zurück, und der manische Zorn verschwand so schnell, wie er gekommen war.

»Das ist mein Rat«, sagte Carcer. »Aber natürlich weißt du das alles sicher am besten. Was mich und meine armen Jungs betrifft… Wir brechen jetzt auf, um zu kämpfen. Ich bin sicher, die Kommandeure und Seine Lordschaft wissen jede Entscheidung zu schätzen, die du eventuell triffst.«

Er ging hinaus, und die anderen Unaussprechlichen folgten ihm. »Äh… ist alles in Ordnung, Stefan?«, fragte der Hauptmann. In den Augen des Majors war nur das Weiße zu sehen.

»Was für ein entsetzlicher Mann«, erwiderte der Major leise.

»Äh… ja, natürlich. Andererseits…«

»Ja, ja. Ich weiß. Uns bleibt keine Wahl. Wir müssen uns an unsere Befehle halten. Das… Wiesel hat Recht. Wenn die Barrikaden morgen früh noch da sind, ist meine berufliche Laufbahn beendet, und deine ebenfalls. Stärke zeigen, Frontalangriff, keine Gefangenen… so lauten unsere Anweisungen. Und sie sind dumm.« Er seufzte.

»Ich schätze, wir könnten den Befehl verweigern…«, sagte der Hauptmann.

»Bist du übergeschnappt? Und was dann? Sei kein Narr, Thomas! Lass die Männer antreten und die Ochsen anspannen! Protzen wir ein wenig mit unseren militärischen Muskeln. Bringen wir es hinter uns!«

 

Jemand rüttelte Mumm wach. Er sah in sein eigenes Gesicht, das jünger war und weniger Falten hatte, dafür aber mehr Angst zeigte. »Wa’?«

»Die Soldaten kommen mit Belagerungswaffen, Oberfeldwebel! Durch die Straße, Oberfeldwebel!«

»Was? Das ist dämlich! Dort ist die Barrikade am höchsten! Einige wenige Männer könnten sie verteidigen!«

Mumm sprang auf. Es musste eine Finte sein, und eine dumme noch dazu. Keule und seine Kumpel hatten zwei große Karren auf der Straße ineinander verkeilt, und sie waren zum Kern einer massiven Wand aus Holz und Plunder geworden. Eine schmale, niedrige Lücke gewährte den Leuten Durchlass: Wenn sie die Volksrepublik der Sirupminenstraße betreten wollten, mussten sie sich ducken, und dann befand sich ihr Kopf genau auf der richtigen Höhe für ein sanftes Klopfen, falls es Soldaten waren. Jetzt krabbelten Menschen wie Ratten hindurch.

Mumm erklomm die Barrikade und spähte über sie hinweg. Am anderen Ende der Straße bemerkte er eine große Metallwand, die sich langsam näherte, umgeben von brennenden Fackeln. Mehr ließ sich in einer Stadt ohne Lichter nicht erkennen. Aber Mumm wusste auch so, worum es sich handelte.

Man nannte so etwas »Große Marie«, und sie war auf einem besonders großen und schweren Wagen angebracht. Mumm hatte solch ein Gerät schon einmal gesehen. Zwei Ochsen schoben den Wagen von hinten. Die Wand bestand nur aus dünnem Metall, um die Verteidiger daran zu hindern, die Bretter darunter in Brand zu setzen. Der ganze Apparat diente dazu, die Männer zu schützen, die hinter der Deckung kauerten und große Haken am Ende langer Ketten bereithielten…

Sie sollten die Haken in die Barrikade schlagen, und dann würde man die Ochsen drehen, so dass sie nicht mehr schoben, sondern zogen, und vielleicht spannte man noch vier weitere an, und dann wurde alles, was man aus Holz bauen konnte, auseinander gerissen.

Zwischen der Großen Marie und der Barrikade versuchte eine entsetzte Menge, sich in Sicherheit zu bringen.

»Hast du irgendwelche Befehle für uns, Oberfeldwebel?«, fragte Fred Colon und schob sich an Mumms Seite. Er sah über die Straße. »Meine Güte…«

»Ja, bei solchen Gelegenheiten braucht man den einen oder anderen Troll in der Truppe«, sagte Mumm. »Ich schätze, Detr…«

»Trolle?«, brachte Colon hervor. »Das hätte keinen Sinn. Sie sind zu dumm, um Befehlen zu gehorchen.«

Die Zukunft wird dir zeigen, dass du dich irrst, dachte Mumm. Laut sagte er: »Na schön. Alle, die keine Waffe haben oder keine haben sollten, ziehen sich so weit wie möglich zurück, klar? Schick Dickins eine Nachricht. Lass ihm mitteilen, dass wir alle Männer brauchen, die er entbehren kann, aber… verdammt!«

Was war zuvor geschehen? Vor den Barrikaden hatte es ziemlich viel Unruhe gegeben, um von der Kavallerie abzulenken, die durch das Latschende Tor und dann durch die Ulmenstraße kam. An dies erinnerte er sich nicht.

Er blickte erneut zur Großen Marie. Ganz oben auf der wackelnden Metallwand, auf der anderen Seite, gab es normalerweise einen schmalen Sims für Bogenschützen – sie sollten auf alle schießen, die versuchten, die Abrissgruppe bei ihrer Arbeit zu stören.

Im trügerischen Licht der Fackeln glaubte Mumm, dort Carcers Gesicht zu sehen. Trotz der großen Entfernung lag in dessen Gesicht etwas, das sich auf schreckliche Weise sofort erkennen ließ.

Schwung ist tot. Und wenn alle verwirrt herumlaufen, kann jemand mit genug Entschlossenheit und Zielstrebigkeit nach oben gelangen, wenn er frech genug ist. Ich bin das beste Beispiel dafür, dachte Mumm.

Er kletterte nach unten und wandte sich an die Männer.

»Ich brauche einen Freiwilligen nein, nicht du, Sam. Du, Wiggel. Dein Vater ist Zimmermann, nicht wahr? Hinter der Ecke dort drüben ist eine Tischlerei. Lauf und besorg mir einige Holzhämmer und Keile oder lange Nägel… was Spitzes. Los, los, los!« Wiggel nickte und stob davon.

»Und… mal sehen, ja, ich brauche frischen Ingwer. Hol ihn aus der nächsten Apotheke, Nimmernich!«

»Was hast du damit vor, Oberfeldwebel?«, fragte Sam.

»Ich möchte die Dinge ein wenig scharf machen.«

Mumm nahm Helm und Brustharnisch ab und nickte in Richtung der Lücke, durch die noch immer Leute kamen.

»Wir gehen auf die andere Seite, Fred. Glaubst du, du kannst uns einen Weg bahnen?«

»Ich werd’s versuchen, Oberfeldwebel.« Fred Colon straffte die Schultern.

»Wir halten das Ding auf. Es kann nicht schnell bewegt werden, und in dem Durcheinander wird niemand etwas bemerken. Oh, das war schnell, Billy…«

»Ich hab mir einfach alles geschnappt«, schnaufte Wiggel und eilte mit einem Beutel herbei. »Ich weiß, was du vorhast, Oberfeldwebel. Als ich ein Kind war, haben wir uns manchmal solche Streiche erlaubt…«

»Ich auch«, sagte Mumm. »Und da kommt der Ingwer. Herrlich. Treibt einem Tränen in die Augen. Alles klar, Billy? Es kann losgehen, Fred.«

Fred Colons Körpermasse war nötig, und Mumm musste von hinten schieben, um durch die verzweifelte Menge voranzukommen und die Welt hinter der Barrikade zu erreichen. In der Dunkelheit zwängte sich Mumm an Fliehenden vorbei und näherte sich der einen Seite der Großen Marie. Sie war wie ein riesiger Sturmbock und kam wegen der vielen Menschen nur langsam voran. Vermutlich fand Carcer großen Gefallen an der Fahrt.

Verborgen in der Menge duckte sich Mumm unter den Wagen und holte einen Hammer und einen Keil aus Wiggels Beutel.

»Du übernimmst das linke hintere Rad und haust dann ab, Billy«, sagte er.

»Aber, Oberfeldwebel…«

»Das ist ein Befehl. Kehr zurück und bring die Leute so schnell wie möglich von der Straße!«

Mumm näherte sich einem der Vorderräder und hielt den Keil zwischen Rad und Achse bereit. Der Wagen stoppte kurz, und er schob den Keil in die Lücke und schlug mit dem Hammer darauf. Ihm blieb noch Zeit für einen zweiten Hammerschlag, bevor ein Knarren ankündigte, dass die Ochsen erneut schoben. Rasch kroch Mumm zurück und nahm den Beutel von Wiggel entgegen, bevor der kleine Mann mit einem letzten widerstrebenden Blick in dem Wald aus Beinen verschwand.

Mumm konnte einen dritten Keil platzieren, bevor laute Stimmen weiter hinten darauf hinwiesen, dass man den Stillstand der Großen Marie bemerkt hatte. Die Räder schaukelten und trieben die Keile dadurch noch tiefer in die Lücken. Um sie daraus zu lösen, mussten die Räder abgenommen werden.

Doch Ochsen waren sehr kräftige Tiere. Genug von ihnen hätten es bestimmt geschafft, sowohl den Wagen als auch die Barrikade zu ziehen. Und das Schöne an einer Barrikade war: Man stellte sie sich als etwas vor, in das Leute hineinwollten…

Mumm schlüpfte hinaus in die laute, verwirrende Nacht, in das Durcheinander aus Soldaten, Wächtern und Flüchtlingen, die alle aneinander vorbeiredeten. In den flackernden Schatten war Mumm nur eine vage Gestalt von vielen. Selbstsicher bahnte er sich einen Weg zu den Ochsen und dem Mann, der sie mit einem Stock antrieb und einen für Mumm erfreulichen Anblick bot: Wenn man ihn nach seinem Namen fragte, würde er bei insgesamt zehn möglichen Antworten sechs richtige schaffen.

Mumm blieb nicht einmal stehen. Die andere Person durfte keine Gelegenheit haben, »aber…« zu sagen, ganz zu schweigen von »He, was machst du da?«. Er schob den Mann beiseite und blickte zu den schwitzenden Tieren.

»Alles klar, ich weiß, wo das Problem liegt«, sagte Mumm wie jemand, der alles über Ochsen wusste. »Eindeutig ein Fall von Verstopfung. Aber das bringen wir in Ordnung. Heb den Schwanz dort. Na los, Mann!«

Der Ochsentreiber gehorchte der Stimme der Autorität. Mumm griff nach einem Klumpen Ingwer. Los geht’s, dachte er. Wenigstens ist es ein warmer Ort in einer kalten Nacht. »In Ordnung. Und jetzt der andere… Gut. Ich, äh, gehe jetzt wieder auf die andere Seite und… äh, auf die andere Seite…«, sagte Mumm und eilte in die Schatten zurück.

Einmal mehr bahnte er sich einen Weg durch das Gedränge und zwängte sich durch die schmale Lücke in der Barrikade.

»Alles in Ordnung, Oberfeldwebel, ich habe dich durch Frau Rudolfs Esszimmerstühle kommen sehen«, sagte Fred Colon und zog Mumm auf die Beine. »Du hast das Ding wirklich aufgehalten, Oberfeldwebel, und ob. Du hast… urrgh…«

»Ja, du solltest mir erst die Hand schütteln, nachdem ich mich gewaschen habe«, sagte Mumm und ging zur Pumpe.

Er lauschte nach seltsamen Geräuschen auf der anderen Seite der Barrikade. Für einige Sekunden schien nichts Ungewöhnliches zu geschehen. Und dann hörte er es…

Nach seinem Besuch bei den Ochsen war zunächst nichts passiert, abgesehen davon, dass die Tiere ganz langsam die Augen verdrehten. Und dann wurden ihre Augen rot. Es dauert eine Weile, bis etwas im Kopf eines Ochsen geschieht, aber wenn es dann so weit ist, geschieht es extensiv.

Das Muhen begann tief und stieg langsam höher. Es war ein viszerales Geräusch, das weit über die Tundra der Vorzeit geklungen war und dem frühen Menschen mitgeteilt hatte: Hier kommt das Abendessen oder der Tod, und beide sind stinksauer. So hörte sich ein großes Tier an, das doch zu klein war, um alle Emotionen zurückzuhalten, die in ihm emporquollen. Und es war ein Duett.

Mumm kletterte auf die Barrikade und beobachtete, wie die Leute wegliefen. Die ganze Große Marie erbebte. Das sah nicht sehr beeindruckend aus, wenn man nicht wusste, dass gerade einige Tonnen Holz zur Seite gesprungen waren. Es krachte, zwei blockierte Räder des Wagens brachen, und die Große Marie kippte in einem Chaos aus Flammen, geborstenem Holz, Rauch und Staub zur Seite.

Mumm zählte leise und war erst bis zwei gekommen, als ein Wagenrad aus dem Qualm schoss und über die Straße rollte. Das geschieht immer.

Aber es war noch nicht vorbei. Die beiden Ochsen, verheddert im Durcheinander aus Deichsel und Geschirr, wurden zu einem gemeinsamen wütenden Geschöpf, das nur sechs Beine von acht auf den Boden bringen konnte, sich in die entgegengesetzte Richtung wandte und erstaunlich schnell hinkte.

Die anderen Ochsen, die auf das große Ziehen gewartet hatten, sahen es näher kommen. Das laute Krachen hatte sie erschreckt, und jetzt witterten sie Entsetzen und Zorn, was sie veranlasste, die Flucht zu ergreifen. Sie liefen den Bogenschützen hinter ihnen entgegen, die ihrerseits losliefen, den Kavalleristen entgegen. Die Pferde hatten ohnehin etwas gegen Bewaffnete, die ihnen entgegenstürmten, und waren darüber hinaus sowieso besorgt. Sie reagierten, indem sie nach allen traten, die ihnen zu nahe kamen.

Den Beobachtern auf der Barrikade fiel es schwer zu erkennen, was danach geschah, aber für einige Zeit waren die Geräusche sehr interessant.

Feldwebel Colon klappte den Mund zu. »Potzblitz, Oberfeldwebel«, sagte er bewundernd. In der Ferne zerbrach Glas.

»Sie werden zurückkommen«, sagte Mumm.

»Ja, aber nicht alle«, erwiderte Wiggel. »Bravo, Oberfeldwebel.« Mumm drehte sich um und sah, dass ihn Sam aus weit aufgerissenen Augen und mit offener Heldenverehrung anstarrte.

»Ich hatte Glück, Junge«, sagte er. »Aber es hilft, sich an gewisse Details zu erinnern und keine Angst davor zu haben, sich die Hände schmutzig zu machen.«

»Wir können jetzt gewinnen, Oberfeldwebel«, erwiderte Sam.