Mumm blickte in die Schatten. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Es ist erstaunlich, was man sieht, wenn man sich konzentriert.« Er zog Sani in einen Türeingang. »Nimm nur das Haus auf der anderen Straßenseite. Siehst du den Torbogen mit dem tieferen Schatten?«

»Ja, Oberfeldwebel«, flüsterte Sam.

»Warum gibt es dort einen tieferen Schatten, was meinst du?«

»Keine Ahnung, Oberfeldwebel.«

»Weil dort jemand steht, der schwarze Kleidung trägt. Wir gehen jetzt weiter durch die Straße und kehren brav zum Wachhaus zurück, weil dort unser Kakao kalt wird, verstanden?«

»Ja, Oberfeldwebel.«

Sie schlenderten weit genug durch die Straße, sodass das Geräusch ihrer Schritte auf natürliche Weise verklang.

»So, und jetzt warten wir«, sagte Mumm.

Eins musste man Sam lassen, fand er: Der Junge verstand es, still zu stehen. Er nahm sich vor, ihm zu zeigen, wie man so unauffällig wurde, dass einen niemand bemerkte, wenn man nicht direkt im Sonnenschein stand. Hatte Keel ihm das beigebracht? Ab einem gewissen Alter wurde das Gedächtnis tatsächlich unzuverlässig…

Die Stadtuhren schlugen drei Viertel.

»Wann beginnt die Ausgangssperre?«, flüsterte Mumm.

»Um neun Uhr, Oberfeldwebel.«

»Jetzt dürfte es fast so weit sein«, sagte Mumm.

»Nein, Oberfeldwebel. Es ist erst Viertel vor neun.«

»Nun, ich brauche einige Minuten, bis ich zurückkomme. Ich möchte, dass du hinter mir her schleichst und an der Ecke wartest. Wenn es beginnt, läufst du los und läutest deine Glocke.«

»Wenn was beginnt, Oberfeldwebel? Oberfeldwebel?«

Mumm ging geräuschlos durch die Straße. Er beschloss, Schnauzi mit einem Dollar zu belohnen – die Stiefel waren wie Handschuhe für die Füße.

Fackeln brannten an der Kreuzung und blendeten jeden, der in ihre Richtung sah. Auf leisen Sohlen schlich Mumm durch den Halbschatten am Rand des erhellten Bereichs und schob sich an der Mauer entlang, bis er den Torbogen erreichte. Dort schwang er abrupt herum und rief:

»Hab dich, Kumpel!«

»––––––!«, sagte der Schatten.

»Das ist eine Anstoß erregende Ausdrucksweise, und ich möchte nicht, dass mein junger Gefreiter so etwas hört!«

Mumm hörte, wie sich Sam näherte und dabei seine Glocke läutete. »Neun Uhr, und es ist nicht alles gut!« Mit halbem Ohr nahm Mumm noch andere Geräusche wahr. Sie stammten von Türen, die hastig geschlossen wurden, und von Schritten, die sich rasch entfernten.

»Du verdammter Narr!«, stieß die zappelnde, in Schwarz gekleidete Gestalt hervor. »Was erlaubst du dir?« Er versetzte Mumm einen Stoß, woraufhin der noch fester zugriff.

»Das ist tätlicher Angriff auf einen Wächter«, sagte Mumm.

»Ich gehöre ebenfalls zur Wache, du armer Irrer! Ich komme aus der Ankertaugasse.«

»Wo ist deine Uniform?«

»Wir tragen keine Uniform!«

»Wo ist deine Dienstmarke?«

»Wir haben keine Dienstmarke dabei!«

»Dann lässt sich kaum einsehen, warum ich dich nicht für einen gemeinen Dieb halten sollte. Du hast das Haus da drüben ausbaldowert«, sagte Mumm und fühlte sich herrlich in der Rolle des großen, dummen, grässlich unerschütterlichen Polizisten. »Wir haben dich gesehen

»Dort sollte ein Treffen gefährlicher Anarchisten stattfinden!«

»Was für eine Art Religion ist das?« Mumm klopfte den Gürtel des Mannes ab. »Was haben wir denn hier? Einen sehr scheußlichen Dolch. Siehst du das hier, Gefreiter Mumm? Eine Waffe, kein Zweifel! Das ist gegen das Gesetz. Nach Einbruch der Dunkelheit getragen, das ist noch mehr gegen das Gesetz! Außerdem ist es eine verborgene Waffe!«

»Was soll das heißen, verborgen?«, heulte der sich hin und her windende Gefangene. »Sie steckte in der verfluchten Scheide!«

»Hast sie wohl auch noch verfluchen lassen? Damit der Dolch besser wirkt, wie?«, fragte Mumm. Er schob die Hand in die Jackentasche des Mannes. »Und… was ist das hier? Eine kleine, schwarze Samtrolle mit, wenn ich mich nicht irre, einem kompletten Dietrichsatz? Das ist eindeutig ›für den Einbruch gerüstet‹«

»Das gehört mir nicht, wie du sehr wohl weißt!«, knurrte der Mann.

»Bist du sicher?«, fragte Mumm.

»Ja! Weil ich meine Dietriche in der Innentasche trage, du Mistkerl!«

»Das ist ›Verwendung von Worten, die den öffentlichen Frieden stören könnten‹«, sagte Mumm.

»Was? Ihr Idioten habt doch alle Leute verscheucht! Wer könnte Anstoß daran nehmen?«

»Ich zum Beispiel. Und das möchtest du sicher vermeiden.«

»Du bist der dämliche Oberfeldwebel, von dem wir gehört haben«, grollte der Mann. »Zu bescheuert, um zu begreifen, was vor sich geht. Jetzt erwartet dich eine kleine Überraschung…«

Er wand sich aus Mumms Griff, und zweimal kratzte es metallisch. Unterarmmesser, dachte Mumm. Selbst Assassinen hielten sie für idiotische Waffen.

Er wich zwei Schritte zurück, als der Mann nach vorn tanzte und mit den Messern fuchtelte.

»Fällt dir auch hierauf eine Antwort ein, du hirnloser Narr?« Entsetzt beobachtete Mumm, wie Sam hinter dem Mann langsam seine Glocke hob.

»Schlag ihn nicht!«, rief er und trat mit dem Stiefel zu, als der Mann den Kopf drehte.

»Wenn du kämpfen musst, so kämpfe«, sagte er, als der Mann nach vorn fiel. »Und wenn du reden willst, so rede. Aber versuch nicht, zu reden und zu kämpfen. Derzeit rate ich dir, sowohl das eine als auch das andere zu unterlassen.«

»Ich hätte ihn leicht erledigen können, Oberfeldwebel«, klagte Sam, als Mumm die Handschellen hervorholte und sich bückte. »Es wäre mir überhaupt nicht schwer gefallen, ihn ins Reich der Träume zu schicken.«

»Kopfverletzungen können tödlich sein, Gefreiter. Wir dienen dem öffentlichen Wohl.«

»Aber du hast ihn in die… Weichteile getreten, Oberfeldwebel!« Weil ich nicht wollte, dass du zu einem Ziel wirst, dachte Mumm und ließ die Handschellen zuschnappen. Und wenn du kein Ziel werden sollst, darfst du niemandem eins auf die Rübe geben. Du bleibst als dummer Kumpan im Hintergrund. So bleibst du vielleicht am Leben, und möglicherweise auch ich.

»Man muss nicht unbedingt so kämpfen, wie es der Gegner erwartet«, sagte er und griff nach dem Mann, um ihn sich auf die Schulter zu heben. »Ich könnte hier ein wenig Hilfe gebrauchen… Nach oben mit dir. In Ordnung, hab ihn. Geh voraus.«

»Zurück zum Wachhaus?«, fragte Sam. »Du verhaftest einen Unaussprechlichen

»Ja. Hoffentlich begegnen wir unterwegs einigen von unseren Jungs. Lass dir dies eine Lehre sein, Junge. Es gibt keine Regeln. Messern gegenüber nicht mehr. Wenn jemand ein Messer hervorholt, macht man ihn fertig, ohne ihn zu sehr zu verletzen, wenn das möglich ist. Will jemand mit dem Messer zustoßen, schlägst du ihm mit dem Stock auf den Arm. Greift jemand mit den Händen an, setzt du das Knie, den Stiefel oder den Helm ein. Es ist die Aufgabe eines Polizisten, den Frieden zu wahren. Er sorgt so schnell wie möglich dafür, dass es friedlich wird.«

»Ja, Herr. Aber es wird Probleme geben, Oberfeldwebel.«

»Eine ganz normale Verhaftung. Auch Polizisten müssen dem Gesetz gehorchen. Wenn es so etwas wie Gesetze gibt…«

Sie näherten sich dem Ende der Straße; dort standen einige Gestalten. Sie wirkten wie recht entschlossene Männer. Man erkannte es an ihrer Haltung, an der Art und Weise, wie sie auf der Straße standen. Aufblitzendes Metall gab einen weiteren Hinweis. Kleine Türen knarrten, als Blendlaternen geöffnet wurden.

Natürlich war der Mann nicht allein gewesen, schalt sich Mumm. Seine Aufgabe hatte darin bestanden, alles zu beobachten, bis die Versammlung komplett war – um dann den Haupttrupp zu holen.

Es müssen etwa ein Dutzend sein. Wir sitzen in der Quetsche7.

»Was machen wir jetzt, Oberfeldwebel?«, fragte Sam.

»Läute deine Glocke.«

»Aber sie haben uns gesehen!«

»Läute die verdammte Glocke, los! Und geh weiter! Und hör nicht auf zu läuten!«

Die Unaussprechlichen schwärmten aus, und während Mumm auf sie zustapfte, beobachtete er, wie sich mehrere Gestalten am Ende der Reihe hinter ihn schoben. Er wusste, wie es sich abspielen würde. Wie die Räuber in der Teekuchenstraße würden sie höfliche Worte sprechen und freundlich sein, während ihre Augen sagten: He, du weißt, dass unsere Kumpel hinter dir stehen, und wir wissen, dass du das weißt, und es ist lustig zu beobachten, wie du zu glauben versuchst, dies sei ein ganz normales Gespräch, obwohl dir klar sein muss, dass es dich gleich in die Nieren trifft. Wir fühlen deinen Schmerz, und er gefällt uns…

Er blieb stehen, sonst wäre er gegen jemanden gestoßen. Auf beiden Straßenseiten wurden Türen und Fenster geöffnet – die läutende Glocke hatte alle geweckt.

»‘nabend«, sagte Mumm.

»Guten Abend, Euer Gnaden«, erklang eine Stimme aus der Geschichte. »Wie schön, einen alten Freund wiederzusehen.«

Mumm stöhnte innerlich. Das Schlimmste, was passieren konnte, war gerade passiert. »Carcer?«

»Es heißt Feldwebel Carcer, besten Dank. Komisch, wie sich die Dinge manchmal entwickeln. Wie sich herausstellte, bin ich bestens zum Polizisten geeignet. Man gab mir einen neuen Anzug und ein Schwert, und ich bekomme fünfundzwanzig Dollar im Monat. Jungs, das ist der Mann, von dem ich euch erzählt habe.«

»Warum nennst du ihn ›Euer Gnaden‹, Chef?«, fragte einer der schattenhaften Männer.

Carcers Blick blieb auf Mumms Gesicht gerichtet. »Es ist ein kleiner Scherz. Dort, woher wir kommen, nannten ihn alle Herzog«, erklärte er. Mumm beobachtete, wie er in die Tasche griff und seine Hand kurz darauf mit einem Gegenstand zum Vorschein kam, der messingfarben glänzte. »Es war eine Art Spitzname, nicht wahr… Herzog? Der Junge soll endlich aufhören, die Glocke zu läuten.«

»Hör auf damit, Gefreiter«, brummte Mumm. Das Gebimmel hatte ohnehin seinen Zweck erfüllt und der Szene ein stilles Publikum gegeben. Was allerdings nicht bedeutete, dass es für Carcer einen Unterschied machte. Er hätte jemanden voller Genuss mitten in einer vollen Arena erstochen, um sich anschließend umzusehen und zu sagen: »Wer, ich?« Doch die Männer hinter ihm waren so nervös wie Kakerlaken, die sich fragten, wann es hell wurde.

»Keine Sorge, Herzog«, sagte Carcer und schob die Finger in den Schlagring aus Messing. »Ich habe den Jungs von dir und mir erzählt. Von unserer langen, ha, Bekanntschaft und dem ganzen Kram, haha.«

»Ach?«, erwiderte Mumm. Es war wohl kaum eine preisverdächtige schlagfertige Antwort, aber Carcer wollte offenbar reden. »Und wie bist du zum Feldwebel geworden, Carcer?«

»Wie ich hörte, suchte man Polizisten mit neuen Ideen«, sagte Carcer. »Und der nette Hauptmann Schwung sprach mit mir und meinte, ich sei zweifellos ein ehrlicher Mann, der Pech gehabt hatte. Er maß mich mit seinem Greifzirkel und dem Lineal und der ganzen Geometrie, und das Ergebnis, so sagte er, sei der Beweis dafür, dass ich kein krimineller Typ bin. Er ist davon überzeugt, dass meine Umgebung Schuld hat.«

»Meinst du die vielen Leichen, die überall dort herumliegen, wo du gewesen bist?«, fragte Mumm.

»Guter Witz, Herzog, haha.«

»Und du hattest neue Ideen?«

»Nun, er mochte eine von ihnen«, sagte Carcer und kniff die Augen zusammen. »Wie sich herausstellte, hatte er keine Ahnung vom Ingwerbier-Trick.«

Der Ingwerbier-Trick. Das setzte der Sache die Krone auf. Jahrhundertelang hatten es Folterer versäumt, den Ingwerbier-Trick zu erfinden, und Carcer hatte ihn einem skrupellosen Wahnsinnigen wie Hauptmann Schwung verraten.

»Der Ingwerbier-Trick«, sagte Mumm. »Bravo, Carcer. Du bist genau das, wonach Schwung gesucht hat. Ein absoluter Mistkerl.«

Carcer grinste, als hätte ihm Mumm ein Kompliment gemacht. »Ja, ich habe die Jungs bereits darauf hingewiesen, dass du sauer auf mich bist, weil ich einen Laib Brot gestohlen habe.«

»Ich bitte dich, Carcer«, sagte Mumm. »Das passt nicht zu dir. Du hast nie in deinem Leben einen Laib Brot gestohlen. Den Bäcker ermorden und die ganze Bäckerei klauen – das ist eher dein Stil.«

»Ein echter Spaßvogel?« Carcer zwinkerte seinen Männern zu und deutete auf Mumm. Dann holte er plötzlich aus und hieb dem Mann an seiner Seite in die Magengrube.

»Du hast mich nicht ›Chef‹ zu nennen, sondern ›Feldwebel‹«, zischte er. »Ist das klar?«

Der Mann auf dem Boden stöhnte.

»Ich nehme das als ein ›ja‹, haha«, sagte Carcer, streifte den Schlagring ab und ließ ihn in der Tasche verschwinden. »Nun, die Sache ist die, Herzog… Du hast da einen meiner Männer. Wie wär’s, wenn du ihn mir überlässt, und Schwamm drüber?«

»Was ist los, Oberfeldwebel?«

Die Stimme ertönte hinter Mumm. Er drehte sich um und erkannte Wiggel und Skutts. Sie sahen aus wie Männer, die einen weiten Weg gelaufen waren und jetzt versuchten, lässig und selbstsicher zu schlendern. Ihr Schlendern wurde weniger lässig und vor allem weniger selbstsicher, als sie die Unaussprechlichen musterten.

Die verzweifelt läutende Glocke. Dieses Signal hatten sie immer benutzt. Alle Polizisten, die es hörten, eilten herbei, denn es bedeutete: Wächter in Not.

Natürlich würden ihm die anderen nicht unbedingt helfen, wenn sie den Gegner für überlegen hielten. Immerhin war dies die alte Nachtwache. Aber wenigstens konnten sie ihn aus dem Fluss holen oder losschneiden und für eine anständige Bestattung sorgen.

Es klapperte, und der Gefangenenwagen holperte um die Ecke, Fred Colon an den Zügeln und Gefreiter Keule hinter ihm. Mumm hörte die Rufe.

»Was ist los, Bill?«

»Es sind Keel und Mummi«, erwiderte Wiggel. »Beeilt euch!« Mumm versuchte, Carcers Blick zu meiden und so zu tun, als wäre überhaupt nichts geschehen, als wäre die Welt nicht plötzlich aufgeplatzt, um den kalten Wind der Unendlichkeit hereinzulassen. Aber Carcer war klug.

Er sah erst Mumm an und dann Sam.

»Mummi?«, wiederholte er. »Heißt du zufälligerweise Sam Mumm, Junge?«

»Ich sage überhaupt nichts«, erwiderte Gefreiter Mumm beherzt.

»So, so«, sagte Carcer fröhlich. »Na, das ist ja eine schöne Bescherung. Etwas, das einem zu denken gibt, und ob, haha.«

Es knarrte, als der Gefangenenwagen stehen blieb. Carcer sah zu dem runden, blassen Gesicht von Korporal Colon auf.

»Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, Korporal«, sagte Carcer. »Fahr weiter, na los

Colon schluckte. Mumm sah, wie sich sein Adamsapfel so bewegte, als wollte er sich verstecken.

»Äh… wir haben das Läuten gehört«, sagte er.

»Wir waren nur ein bisschen ausgelassen«, meinte Carcer. »Es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest. Wir sind doch alle Polizisten. Ich möchte nicht, dass es irgendwelche Probleme gibt. Hier liegt nur ein kleines Missverständnis vor, das ist alles. Oberfeldwebel Keel wollte mir gerade meinen Freund übergeben. Und nichts für ungut! Du bist nur zufällig in einen Einsatz von uns geraten. Am besten sprechen wir nicht mehr darüber. Überlass mir den Mann, und wir sind quitt.«

Alle Blicke richteten sich auf Mumm.

Es wäre vernünftig gewesen, den Mann tatsächlich zu übergeben. Das wusste er. Vielleicht wäre Carcer dann wirklich fortgegangen, und Mumm wollte unter allen Umständen vermeiden, dass er dem jungen Sam noch näher kam.

Aber selbst wenn Carcer ging – er würde zurückkehren. Leute wie Carcer kehrten immer zurück, besonders wenn sie glaubten, eine Schwäche entdeckt zu haben.

Und das war noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war: Er, Mumm, hatte den Lauf der Ereignisse verändert.

Es hatte eine »Verschwörung der Morphischen Straße« gegeben. Und es hatte dort eine Razzia der Unaussprechlichen gegeben. Viele hatten den Tod gefunden, aber einige waren entkommen. Es folgten einige Tage mit schrecklichem Durcheinander, und dann…

Aber Sam Mumm war in jener Nacht nicht einmal in der Nähe der Morphischen Straße gewesen. Keel hatte ihn das Klinkenputzen auf der anderen Seite der Schatten gelehrt.

Aber du wolltest schlau sein, Herzog. Du wolltest jemandem einen Knüppel zwischen die Beine werfen und den einen oder anderen verdreschen.

Und jetzt ist auch Carcer mit dabei, und du bist außerhalb der Geschichtsbücher unterwegs, ohne eine Karte…

Carcer zeigte noch immer sein fröhliches Lächeln, und derzeit war es Mumms größter Wunsch, diesem Lächeln ein Ende zu setzen.

»Ich würde dir deinen Wunsch gern erfüllen, Chef«, sagte er. »Ja, das würde ich gern. Aber ich habe diesen Burschen verhaftet, deshalb muss ich ihn zur Wache bringen und den Papierkram erledigen. Vielleicht kann er uns bei den Ermittlungen in einigen noch ungelösten Fällen helfen.«

»Zum Beispiel?«, fragte Carcer.

»Keine Ahnung«, sagte Mumm. »Kommt darauf an, was wir haben. Wir bringen ihn in einer Zelle unter, geben ihm eine Tasse Tee, plaudern mit ihm über dies und das… Du weißt ja, wie das ist. Nach einer Tasse Tee kann ein Mann recht gesprächig werden. Oder nach einem kohlensäurehaltigen Getränk seiner Wahl.«

Ein Kichern kam von den anwesenden Angehörigen der Nachtwache. Mumm hoffte, dass niemand von ihnen wusste, was die letzten Worte bedeuteten.

Carcers Lächeln löste sich auf. »Ich habe gesagt, dass er einer meiner Männer ist, der im Einsatz war, und ich bin Feldwebel«, sagte er.

»Und ich bin Oberfeldwebel, und ich habe gesagt, dass wir ihn zur Wache bringen, Feldwebel Carcer. Ganz offiziell.«

Carcer nickte in Richtung des jungen Gefreiten, so unmerklich, dass nur Mumm es sah. Und er senkte die Stimme.

»Aber jetzt halte ich alle Trümpfe in der Hand, Herzog«, sagte er.

»Aber jetzt spiele ich keine Karten mehr, Carcer. Wir könnten es hier zum Krach kommen lassen, und wer weiß, wie er ausginge? Aber eins steht fest: Morgen wärst du kein Feldwebel mehr. Und wenn du glaubst, alle Trümpfe in der Hand zu haben, dann kannst du es dir leisten, den Einsatz zu erhöhen.«

Ein oder zwei Sekunden starrte Carcer ihn groß an. Dann zwinkerte er und drehte sich halb um.

»Ich habe ja gesagt, dass man sich vor ihm in Acht nehmen muss«, wandte er sich ans Publikum. Er gab Mumm einen verschwörerischen Rippenstoß. »Musst immer ausprobieren, wie weit du gehen kannst! Na schön, Oberfeldwebel. Du sollst deinen Willen haben. Wäre schade, wenn ihr Nachtnarren ganz mit leeren Händen dasteht. Haha. In einer Stunde oder so lasse ich ihn abholen.«

Ja, richtig, gib mir Zeit, zu schwitzen und mich zu fragen, ob ich einfach aufhöre zu existieren, wenn du dem Jungen die Kehle durchschneidest, dachte Mumm. Das Dumme ist, ich schwitze tatsächlich.

Er straffte sich und deutete zum Gefangenenwagen. »Ich bringe ihn zusammen mit meinen Jungs zurück«, sagte er. »Es ist Zeit für unsere Kakaopause, verstehst du? Hilf mir, Keule! Hast du noch andere Passagiere, Fred?«

»Nur einen Betrunkenen, Oberfeldwebel. Hat dauernd gekotzt.«

»Na schön. Wir legen den Gefangenen hinten rein und halten uns außen fest.« Mumm nickte Carcer zu. »Ich bin sicher, dass wir uns bald wiederbegegnen, Feldwebel.«

»Ja«, sagte Carcer, und das schelmische Lächeln kehrte auf seine Lippen zurück. »Pass gut auf dich auf!«

Mumm sprang auf die Seite des Wagens, als dieser vorbeirumpelte, und er sah nicht einmal zurück. Das musste man Carcer lassen: Er schoss einem nicht in den Rücken, wenn er sich bald die Chance erhoffte, einem die Kehle durchzuschneiden.

Nach einer Weile fragte Obergefreiter Wiggel, der sich neben Mumm am wackelnden Wagen festhielt: »Was ist dort drüben passiert, Oberfeldwebel? Kennst du den Burschen?«

»Ja. Er hat zwei Polizisten umgebracht. Einer versuchte ihn zu verhaften, und der andere war nicht im Dienst und aß eine Pastete. Außerdem hat er noch andere Leute auf dem Gewissen.«

»Aber er ist Polizist!«

»Schwung hat ihm einen Job gegeben, Wiggel.«

Plötzlich schien das Rasseln der Räder viel lauter zu werden. Die anderen Wächter lauschten aufmerksam.

»Bist du schon lange in der Wache, Obergefreiter?«, fragte Mumm.

»Seit zwei Jahren, Oberfeldwebel«, antwortete Wiggel. »Hab früher beim Markt Obst geschleppt, aber ich bekam Rückenschmerzen, außerdem schlug mir die Kälte des Morgens auf die Brust.«

»Ich habe gar nichts von umgebrachten Polizisten gehört«, sagte Gefreiter Mumm.

»Es geschah nicht hier, Junge. Es passierte an einem weit entfernten Ort.«

»Und du warst da?«

»Ich kannte die Polizisten, ja.«

Wieder änderte sich die Stimmung auf dem Wagen. Die Wächter gaben keinen Ton von sich, aber über ihnen hing ein »Ah-ha« in der Luft.

»Bist du ihm hierher gefolgt, um ihm das Handwerk zu legen?«, fragte Wiggel.

»So in der Art.«

»Wir hörten, dass du aus Pseudopolis kommst, Oberfeldwebel«, sagte Sam.

»Ich komme von vielen Orten.«

»Donnerwetter!«, sagte Sam.

»Er hat einen Polizisten getötet, der eine Pastete aß?«, fragte Fred Colon vom Kutschbock.

»Ja.«

»So ein Mistkerl! Was war das für eine Pastete?«

»Darüber gaben die Zeugen keine Auskunft«, log Mumm. Dies war das alte Ankh-Morpork. Die hiesigen Zwerge stellten eine Minderheit dar und hielten den Kopf unten… noch weiter unten als sonst. Es gab noch keine Imbissbuden, die die ganze Nacht geöffnet hatten und Rattenpastete anboten.

Wiggel wirkte nachdenklich. »Es werden Unaussprechliche kommen, um den von dir verhafteten Burschen abzuholen, Oberfeldwebel«, sagte er.

»Möchtest du den Rest der Nacht frei haben, Obergefreiter?«, fragte Mumm. Die anderen Wächter lachten nervös. Arme Teufel, dachte Mumm. Man wurde zu einem Wächter, weil die Bezahlung gut war und man keine schweren Dinge heben musste. Und plötzlich zeichneten sich Probleme ab.

»Was willst du dem Mann zur Last legen, Oberfeldwebel?«, fragte Sam.

»Versuchten tätlichen Angriff auf einen Wächter. Du hast die Messer gesehen.«

»Aber du hast ihn getreten.«

»Stimmt, das habe ich ganz vergessen. Also werfen wir ihm auch Widerstand gegen die Verhaftung vor.«

Erneut lachten die Wächter. Wir, die wir uns dem Tode nahe fühlen, lachen über alles.

Was für ein Haufen. Ich kenne euch, meine Herren. Ihr gehört zur Nachtwache, weil ihr ein ruhiges Leben liebt, und wegen der Pension. Ihr lauft nicht zu schnell, um das Risiko zu umgehen, dass die Gefahr noch da ist, wenn ihr den Ort des Geschehens erreicht. Und das Schlimmste, das ihr erwartet, ist ein widerspenstiger Betrunkener oder eine besonders sture Kuh. Die meisten von euch sind nicht einmal Polizisten, nicht im Kopf. Im Meer des Abenteuers schwimmt ihr ganz unten.

Und jetzt herrscht plötzlich Krieg, und ihr steckt in der Mitte, weder auf der einen noch auf der anderen Seite. Ihr seid eine kleine Gruppe dummer Nachtnarren und nicht einmal Verachtung wert. Aber glaubt mir, Jungs – ihr werdet aufsteigen.

 

Nachdem es in der Morphischen Straße still geworden war, regte sich ein oder zwei Minuten lang nichts.

Dann kam eine Kutsche um die Ecke. Sie wirkte sehr vornehm, und wo bei anderen Kutschen Laternen hingen, brannten Fackeln. Als sie auf dem Kopfsteinpflaster hin und her schlingerte, schienen sich die Flammen zickzackförmig in die Länge zu ziehen und rauchiger zu werden.

Wenn ihr Licht überhaupt etwas verriet, so dies: Die Kutsche schien mit violettem Livree herausgeputzt zu sein. Und sie lastete recht schwer auf den Rädern.

Sie hielt in der Nähe der Stelle an, wo Mumm den Wächter verhaftet hatte. Mumm glaubte, viel über verdächtige Schatten in der Dunkelheit zu wissen, aber die beiden dunklen Gestalten, die aus der Finsternis eines Türeingangs ins Licht der Fackeln traten, hätten ihn überrascht.

Die Kutschentür schwang auf.

»Seltsame Neuigkeiten, verehrte Dame«, sagte einer der Schatten.

»Sehr seltsame Neuigkeiten, Schätzchen«, sagte der andere Schatten.

Sie stiegen ein, und die Kutsche rollte davon.

 

Mumm war beeindruckt von der Art, wie die Männer beim Wachhaus reagierten, ohne dass er Anweisungen erteilte. Wiggel und Skutts sprangen sofort zu Boden, als der Wagen den Hof erreichte, und zogen das Tor zu.

Im Innern des Gebäudes schlossen Colon und Keule die Fensterläden. Keule eilte zur Waffenkammer und kehrte mit Armbrüsten zurück. Alles geschah recht schnell und mit einem für die beteiligten Männer erstaunlich hohen Maß an Präzision.

Mumm wandte sich an sein jüngeres Selbst. »Bitte kümmere dich um den Kakao, Junge«, sagte er. »Ich möchte nichts versäumen.«

Er setzte sich und legte die Füße auf den Schreibtisch, als Colon die Tür abschloss und Keule den Riegel vorschob.

Dies passiert, dachte Mumm. Obgleich es vorher nicht geschehen war. Zumindest nicht genau auf diese Weise. Diesmal gelang den Verschwörern der Morphischen Straße die Flucht. Sie wurden nicht von den Unaussprechlichen überrascht. Es gab keinen Kampf. Der Anblick so vieler Polizisten muss ihnen einen enormen Schrecken eingejagt haben. Es waren ohnehin nur wenige, Sprücheklopfer und Drückeberger und Mitläufer, Leute, die sich hinter dem armen Irren zusammendrängen, der das Wort führt, »Ja, genau!« rufen und sofort wegrennen, wenn’s ernst wird. Bei der Razzia waren einige Personen gestorben und andere entkommen, und eins hatte wie üblich zum anderen geführt. Aber diesmal gab es keine Razzia, weil ein dämlicher Oberfeldwebel zu viel Lärm gemacht hatte…

Zwei verschiedene Gegenwarten. Die eine Vergangenheit, die andere Zukunft…

Ich weiß nicht, was als Nächstes geschehen wird.

Allerdings kann ich mir das eine oder andere denken.

»Gut gemacht, Jungs«, sagte Mumm und stand auf. »Ihr sorgt weiter dafür, dass wir hier drin in der Falle sitzen, und ich gebe dem Alten Bescheid…«

Er hörte das verwirrte Murmeln hinter sich, als er die Treppe hinaufging.

Hauptmann Tilden saß an seinem Schreibtisch und starrte an die Wand. Mumm hustete laut und salutierte.

»Wir hatten da eine kleine…«, begann er und unterbrach sich, als Tilden ihm ein aschfahles Gesicht zuwandte. Er schien ein Gespenst gesehen zu haben, und zwar im Spiegel.

»Hast du die Neuigkeiten gehört?«

»Herr?«

»Der Tumult bei den Tollen Schwestern«, sagte Tilden. »Vor nur zwei Stunden.«

Es ist alles zu nahe, dachte Mumm, als er verstand. Er kannte die Namen der Dinge, aber jetzt füllten sie sich plötzlich mit Bedeutung. Und alles schien gleichzeitig zu geschehen. Die Tollen Schwestern. Dort hatten sich einige Hitzköpfe versammelt…

»Der Leutnant der Tagwache hat eins der Regimenter um Hilfe ersucht«, sagte Tilden. »Wozu er natürlich berechtigt war.«

»Welches?«, fragte Mumm, obwohl er Bescheid wusste. Der Name stand in den Geschichtsbüchern.

»Lord Venturis Mittlere Dragoner, Oberfeldwebel. Mein altes Regiment.«

Stimmt, dachte Mumm. Und die Kavallerie ist natürlich bestens dafür geeignet, eine Menge ziviler Fußgänger unter Kontrolle zu bringen. Das weiß jeder…

»Und, äh, es kam zu einigen bedauerlichen Todesfällen…«

Tilden tat Mumm leid. Es konnte nie ein Beweis dafür erbracht werden, dass jemand den Befehl erteilt hatte, die Leute niederzureiten, aber spielte das eine Rolle? Nach vorn drängende Pferde, Leute, die nicht ausweichen konnten, weil hinter ihnen noch mehr Leute standen… So leicht konnten kleine Kinder da die Hand des Vaters oder der Mutter verlieren…

»Aber um der Gerechtigkeit willen muss man sagen, dass es die Soldaten mit Wurfgeschossen zu tun bekamen, und einer von ihnen wurde schwer verletzt«, fügte Tilden hinzu, als läse er die Worte von einem Zettel.

Und dann ist natürlich alles in Ordnung, dachte Mumm. »Was für Wurfgeschosse, Herr?«

»Obst, wie ich hörte. Es könnten auch einige Steine dabei gewesen sein.« Mumm stellte fest, dass Tildens Hand zitterte. »Soweit ich weiß, war der Brotpreis der Grund für den Aufruhr.«

Nein. Bei einem Protest geht es um den Brotpreis, sagte Mumms innere Stimme. Zu einem Aufruhr kommt es, wenn Leute in Panik geraten, die zwischen Idioten auf Pferden und anderen Idioten, die »Ja, genau!« rufen und nach vorn drängen, festsitzen. Und letztendlich verantwortlich dafür ist ein Narr, der sich von einem mit Greifzirkel und Lineal ausgerüsteten Wahnsinnigen beraten lässt.

»Im Palast glaubt man, dass revolutionäre Elemente die Wachhäuser angreifen könnten«, sagte Tilden langsam.

»Im Ernst, Herr? Warum?«

»Weil revolutionäre Elemente so etwas tun«, antwortete Tilden.

»Die Männer sind gerade damit beschäftigt, alles dicht zu machen…«

»Ergreife alle Maßnahmen, die du für richtig hältst, Oberfeldwebel«, sagte Tilden und winkte mit einer Hand, die einen Brief hielt. »Wir sind aufgefordert, den Bestimmungen der Ausgangssperre Geltung zu verschaffen. Der Hinweis ist unterstrichen.«

Mumm zögerte, bevor er antwortete. Die erste Antwort schluckte er hinunter, begnügte sich mit »In Ordnung, Herr« und verließ das Büro.

Er wusste, dass Tilden kein schlechter Kerl war. Die Neuigkeiten mussten ihn schwer getroffen haben, andernfalls hätte er wohl kaum einen so dummen Befehl gegeben. »Ergreife alle notwendigen Maßnahmen.« Gib diese Anweisung einem Mann, der dazu neigt, beim Anblick von vielen Fäuste schwingenden Leuten in Panik zu geraten, und du bekommst das »Massaker bei den Tollen Schwestern«.

Mumm ging die Treppe hinunter. Die Männer standen im Hauptraum und wirkten nervös.

»Ist der Gefangene in der Zelle?«, fragte er.

Korporal Colon nickte. »Jaherr. Schnauzi meint, drüben bei den Tollen Schwestern…«

»Ich weiß. Und dies sind die notwendigen Maßnahmen: Öffnet die Fensterläden, entriegelt die Tür und lasst sie offen. Zündet alle Laternen an. Warum brennt die blaue Laterne über dem Eingang nicht?«

»Keine Ahnung, Oberfeldwebel. Aber was ist, wenn…«

»Zünde sie an, Korporal. Und dann gehst du mit Keule nach draußen und hältst dort Wache, wo man euch ganz deutlich sehen kann. Ihr seid freundlich aussehende Burschen, Jungs. Nehmt eure Glocken mit, aber – und das möchte ich extra hervorheben – keine Schwerter.«

»Keine Schwerter?«, entfuhr es Colon. »Aber was passiert, wenn ein verdammter Pöbelhaufen um die Ecke kommt und ich nicht bewaffnet bin?«

Mumm näherte sich ihm mit einigen raschen Schritten und blieb Nase an Nase vor Colon stehen.

»Und wenn du ein Schwert hast, was machst du dann, hm? Was willst du damit gegen einen verdammten Pöbelhaufen ausrichten? Was sollen die Leute sehen? Ich möchte, dass sie den dicken Colon sehen: einen anständigen Burschen, nicht übermäßig intelligent, kannte seinen Vater, und da ist der gute alte Keule, er trinkt in meiner Taverne. Wenn die Leute nur zwei Männer in Uniform und mit Schwertern sehen, seid ihr in Schwierigkeiten, und wenn ihr die Schwerter zieht, seid ihr in noch größeren Schwierigkeiten, und wenn ihr heute Abend die Schwerter ohne meine Erlaubnis zieht und überlebt, dann bedauert ihr sowohl das eine als auch das andere, weil ihr es nämlich mit mir zu tun bekommt, klar? Und dann erfahrt ihr, was echte Schwierigkeiten sind, denn was ihr bis dahin erlebt habt, wird euch wie ein netter Tag am Meer erscheinen. Verstanden?«

Fred Colon glotzte ihn an. Man konnte es nicht anders nennen.

»Lass dich von meinem zuckersüßen Tonfall nicht zu der Annahme verleiten, ich hätte dir keinen verdammten Befehl gegeben«, sagte Mumm und wandte sich ab. »Mumm?«

»Ja, Oberfeldwebel?«, fragte der junge Sam.

»Haben wir hier eine Säge?«

Schnauzi trat vor. »Ich habe eine Werkzeugkiste, Chef.«

»Auch Nägel?«

»Jaherr!«

»Gut. Reiß die Tür von meinem Spind, schlag viele Nägel hindurch und leg sie dann oben auf den Treppenabsatz. Ich nehme die Säge und gehe zum Abort.«

Stille folgte diesen Worten, und nach einigen Sekunden schien sich Colon verpflichtet zu fühlen, einen Diskussionsbeitrag zu leisten. Er räusperte sich und sagte:

»Wenn du in dieser Hinsicht ein Problem hast, Oberfeldwebel… Frau Colon kennt da eine wundervolle Medizin, die…«

»Es wird nicht lange dauern«, meinte Mumm. Nach vier Minuten kehrte er zurück.

»Alles erledigt«, sagte er und hörte das Hämmern aus dem Umkleideraum. »Komm mit, Gefreiter. Zeit für eine Lektion in Verhörtechnik. Oh… und nimm die Werkzeugkiste mit.«

»Fred und Keule sind nicht gern draußen«, sagte Sam, als sie über die steinernen Stufen nach unten gingen. »Sie fürchten, was passiert, wenn Unaussprechliche aufkreuzen?«

»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Unsere Freunde aus der Ankertaugasse gehören nicht zu den Leuten, die den Vordereingang benutzen.«

Mumm öffnete die Tür zu den Zellen. Der Gefangene stand auf und griff nach den Gitterstäben.

»Na schön, sie sind gekommen, um mich abzuholen«, sagte er. »Wenn ihr mich jetzt sofort rauslasst, lege ich ein gutes Wort für euch ein.«

»Niemand ist gekommen, um dich abzuholen«, erwiderte Mumm. Er schloss die Haupttür hinter sich und öffnete dann die Zellentür.

»Vermutlich haben sie zu viel zu tun«, fuhr er fort. »Drüben bei den Tollen Schwestern soll ziemlich was los gewesen sein. Es gab einige Tote. Vielleicht dauert es noch eine Weile, bis deine Kollegen Zeit für dich erübrigen können.«

Der Mann sah zu der Werkzeugkiste in den Händen des Gefreiten. Es war nur ein kurzer Blick, aber Mumm bemerkte den Moment der Unsicherheit.

»Ich verstehe«, sagte er. »Guter Polizist, böser Polizist, wie?«

»Wenn du möchtest«, entgegnete Mumm. »Aber wir sind mit dem Personal ein wenig knapp. Also wenn ich dir eine Zigarette gebe – bist du dann so freundlich, dir selbst die Zähne einzuschlagen?«

»Dies ist ein Spiel, oder?«, fragte der Gefangene. »Du weißt, dass ich zur Sondergruppe gehöre. Und du bist neu in der Stadt und möchtest uns beeindrucken. Das ist dir gelungen. Wir haben alle schön gelacht, haha. Außerdem war ich nur zur Überwachung eingeteilt.«

»Ja, aber so funktioniert das nicht«, sagte Mumm. »Jetzt haben wir dich hier und können darüber entscheiden, was du verbrochen hast. Du weißt ja, wie das läuft. Möchtest du ein Ingwerbier?«

Das Gesicht des Mannes erstarrte.

»Weißt du, nach dem Aufruhr von heute Abend hat man uns darauf hingewiesen, dass es zu revolutionären Angriffen auf die Wachhäuser kommen könnte«, sagte Mumm. »Ich persönlich rechne nicht damit. Ich erwarte eher, dass einige ganz normale Leute kommen, weil sie gehört haben, was geschehen ist. Aber – und du kannst mich Herr Misstrauisch nennen, wenn du willst – ich habe das Gefühl, dass Unangenehmes geschehen könnte. Es heißt, wir sollten den Bestimmungen der Ausgangssperre Geltung verschaffen. Was vermutlich bedeutet: Wenn Leute kommen, um sich darüber zu beklagen, dass Soldaten unbewaffnete Bürger angegriffen haben, was ich persönlich für ›tätlichen Angriff mit einer tödlichen Waffe‹ halte…«

Oben entstand Unruhe. Mumm nickte dem jungen Sam zu, der die Treppe hinaufeilte.

»Da mein leicht zu beeindruckender Assistent jetzt weg ist, möchte ich dich noch auf Folgendes hinweisen«, sagte Mumm leise. »Wenn auch nur einem meiner Männer heute Nacht etwas zustößt, werde ich dafür sorgen, dass du für den Rest deines Lebens beim Anblick einer Flasche aufschreist.«

»Ich habe dir nichts getan! Du kennst mich nicht einmal!«

»Ja«, sagte Mumm. »Wir erledigen dies auf dir vertraute Weise.« Sam kehrte zurück. »Jemand ist in den Abort gefallen!«, meldete er. »Er war auf das Dach geklettert, und es hat nachgegeben!«

»Das muss eins der revolutionären Elemente gewesen sein«, sagte Mumm und beobachtete das Gesicht des Gefangenen. »Man hat uns vor ihnen gewarnt.«

»Der Mann behauptet, er käme aus der Ankertaugasse, Oberfeldwebel!«

»Genau das würde ich sagen, wenn ich ein revolutionäres Element wäre«, meinte Mumm. »Na schön, werfen wir einen Blick auf den Burschen.«

Oben stand die Tür noch offen. Draußen lungerten einige Leute am Rand des von den Laternen erhellten Areals herum. Drinnen trat Feldwebel Klopf vom einen Bein auf das andere und wirkte ganz und gar nicht glücklich.

»Wer hat angeordnet, dass alles offen sein soll?«, fragte er. »Draußen auf den Straßen sieht’s übel aus! Es ist gefährlich…«

»Die Anordnung stammt von mir«, sagte Mumm und kam die Treppe hoch. »Gibt es ein Problem, Feldwebel?«

»Nun… Oberfeldwebel, auf dem Weg hierher habe ich gehört, dass man Steine auf das Wachhaus in der Düstergutstraße wirft«, sagte Klopf und wirkte ein wenig eingeschüchtert. »Leute sind auf den Straßen! Pöbel! Mir graut bei der Vorstellung, was in anderen Teilen der Stadt geschieht.«

»Und?«

»Wir sind Polizisten! Wir sollten uns vorbereiten!«

»Auf was? Schlägst du vor, die Fensterläden zu schließen und dem Prasseln von Steinen zu lauschen?«, fragte Mumm. »Oder sollen wir losgehen und alle verhaften? Meldet sich jemand freiwillig? Nein? Ich sag dir was, Feldwebel: Wenn du Polizist sein willst, dann verhafte den Mann im Abort. Wegen Einbruch und…«

Oben ertönte ein Schrei.

»Und wenn du nach oben gehst, findest du vermutlich jemanden, der durchs Dachfenster geklettert und auf eine Spindtür voller Nägel gefallen ist, die dort zufälligerweise lag«, fuhr Mumm fort. Er bemerkte die Verwirrung in Klopfs Gesicht. »Es sind die Burschen aus der Ankertaugasse, Feldwebel«, erklärte er. »Sie wollten übers Dach zu uns kommen, um den dummen Nachtnarren einen Schrecken einzujagen.«

»Du verhaftest Unaussprechliche

»Keine Uniform. Keine Dienstmarke. Bewaffnet. Wie wär’s mit etwas Gesetz?«, erwiderte Mumm. »Schnauzi, wo bleibt der Kakao?«

»Wir bekommen Schwierigkeiten!«, rief Klopf.

Mumm ließ ihn warten, während er sich eine Zigarre anzündete. »Wir sind bereits in Schwierigkeiten, Windelbert«, sagte er und schüttelte das Streichholz aus. »Jetzt gilt es nur noch, die Art von Schwierigkeiten zu wählen, die wir haben möchten. Danke, Schnauzi.«

Er nahm den Becher entgegen und nickte Sam zu. »Vertreten wir uns draußen ein wenig die Beine.«

Plötzlich wurde es still im Raum, abgesehen vom Wimmern aus der Dachkammer und den fernen Schreien aus dem Abort.

»Was steht ihr hier alle so herum?«, wandte sich Mumm an die Wächter. »Möchte jemand mit der Glocke läuten und verkünden, dass alles gut ist?«

Diese Worte hingen groß und rosarot im Raum, als Mumm nach draußen in die Abendluft trat.

Er sah Leute in kleinen Gruppen von drei oder vier Personen, die miteinander sprachen und dabei gelegentlich zum Wachhaus blickten.

Mumm nahm auf einer Treppenstufe Platz und trank seinen Kakao.

Ebenso gut hätte er seine Hose ausziehen können. Die Gruppen verteilten sich und wurden zu einem Publikum. Niemand, der ein nichtalkoholisches Getränk genoss, war jemals das Zentrum so großer Aufmerksamkeit gewesen.

Er hatte Recht. Eine geschlossene Tür lädt zu tollkühnen Handlungen ein. Ein Mann, der unter einer Laterne Kakao trinkt und die kühle Abendluft genießt, ist eine Einladung zum Zögern.

»Wir verstoßen gegen die Ausgangssperre«, sagte ein junger Mann. Er trat kurz nach vorn und ebenso schnell wieder zurück.

»Tatsächlich?«, erwiderte Mumm.

»Willst du uns verhaften?«

»Ich nicht«, sagte Mumm fröhlich. »Ich habe gerade Pause.«

»Ach?« Der junge Mann deutete auf Colon und Keule. »Haben die ebenfalls Pause?«

»Jetzt ja.« Mumm drehte sich halb um. »Der Kakao ist fertig, Jungs. Holt ihn euch. Ihr braucht euch nicht zu beeilen, es ist genug für alle da. Und kommt zurück nach draußen, wenn ihr euren Kakao habt…«

Als das Geräusch pochender Stiefel verklungen war, wandte sich Mumm wieder der Gruppe zu und lächelte.

»Und wann ist deine Pause zu Ende?«, fragte der junge Mann.

Mumm musterte ihn. Die Haltung verriet: Er wollte kämpfen, obwohl er kein Kämpfer war. Wäre dies eine Taverne gewesen, hätte der Wirt jetzt seine teureren Flaschen in Sicherheit gebracht, denn solche Amateure zertrümmerten immer viel Glas. Jetzt sah Mumm, warum ihm das Wort »Taverne« eingefallen war. Eine Flasche ragte aus der Tasche des Mannes. Er hatte sich seinen Mut angetrunken.

»Oh, gegen Donnerstag, schätze ich«, sagte Mumm und sah auf die Flasche. Gelächter erhob sich aus der wachsenden Menge.

»Warum Donnerstag?«, fragte der Angetrunkene.

»Weil ich am Donnerstag frei habe.«

Diesmal lachten noch mehr Leute. Wenn sich die Anspannung in die Länge zieht, kann man sie leicht zerreißen.

»Ich verlange, dass du mich verhaftest!«, stieß der Mann hervor. »Na los, versuch’s!«

»Du bist nicht betrunken genug«, sagte Mumm. »An deiner Stelle würde ich heimgehen und meinen Rausch ausschlafen.«

Die Hand des Mannes schloss sich um den Flaschenhals. Jetzt ist es so weit, dachte Mumm. Er will es tatsächlich darauf ankommen lassen. Ich schätze, seine Chancen stehen etwa eins zu fünf…

Zum Glück war die Menge noch nicht besonders groß. In einer derartigen Situation konnte man keine Leute gebrauchen, die hinten standen, den Hals reckten und fragten, was vorne geschah. Und die Laternen des Wachhauses beleuchteten den Ort des Geschehens.

»Mein Freund, davon rate ich dir dringend ab«, sagte Mumm und trank einen weiteren Schluck Kakao. Inzwischen war er lauwarm, aber Becher und Zigarre beanspruchten beide Hände. Das war wichtig. Er hielt keine Waffe. Niemand konnte nachher behaupten, dass er eine Waffe in der Hand gehabt hatte.

»Ich bin kein Freund von Leuten wie euch!«, erwiderte der Mann scharf und zerschlug die Flasche an der Mauer neben den Stufen.

Glas klirrte zu Boden. Mumm beobachtete, wie sich der Gesichtsausdruck des Mannes veränderte. Von Alkohol stimulierter Zorn wich stechendem Schmerz. Der Mund öffnete sich…

Der Mann schwankte. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor, und ein leises Stöhnen kam ihm über die Lippen.

So sah es aus, im Licht der Laternen: Mumm saß da, in der einen Hand einen Becher, in der anderen eine Zigarre, etwa zwei Meter vor ihm stand der blutende junge Mann. Kein Kampf, die beiden Männer hatten sich nicht einmal berührt… Mumm wusste, wie Gerüchte entstanden, und er wollte, dass sich dieses Bild den Leuten fest einprägte. Sogar die Asche befand sich noch an seiner Zigarre.

Einige Sekunden saß er ganz still, dann stand er besorgt auf.

»Ihr dort, helft mir«, sagte er, legte den Brustharnisch beiseite, zog sich das Kettenhemd über den Kopf, griff nach dem Ärmel seines Unterhemds und riss einen langen Streifen ab.

Seine Kommandostimme veranlasste zwei Männer, sich in Bewegung zu setzen und den Blutenden zu stützen. Einer von ihnen wollte nach der Hand greifen.

»Fass sie nicht an«, sagte Mumm und zog den Stoffstreifen am Handgelenk des jungen Mannes zusammen. »Er hat die Hand voller Glassplitter. Lasst ihn so vorsichtig wie möglich zu Boden sinken, bevor er umkippt, aber rührt auf keinen Fall etwas an, solange ich diese Aderpresse nicht fertig habe. Sam, geh in den Stall und hol Marlenes Decke. Kennt jemand Doktor Rasen? Heraus mit der Sprache!«

Einer der Zuschauer bestätigte, den Doktor zu kennen, daraufhin bekam er den Auftrag, ihn zu holen. Er lief sofort los.

»Ich habe so etwas schon einmal gesehen«, sagte Mumm laut und fügte in Gedanken hinzu: Einmal in zehn Jahren. »Bei einer Schlägerei in einer Taverne. Jemand nahm eine Flasche und wusste nicht, wie man sie richtig zerbricht. Plötzlich hatte er die Hand voller Splitter, und der andere nahm sie und drückte sie.« Der Menge entfuhr ein zufriedenstellendes Stöhnen. »Weiß jemand, wer dieser Mann ist?«, fragte er. »Na los, jemand muss ihn doch kennen…«

Eine Stimme meinte, dass es sich vielleicht um Joss Gappy handelte, einen Schusterlehrling aus dem Neuen Flickschusterweg.

»Hoffentlich können wir seine Hand retten«, sagte Mumm. »Ich brauche ein neues Paar Stiefel.«

Eigentlich war es nicht komisch, aber die Zuschauer lachten aus besorgter Nervosität. Dann wichen die Leute beiseite und machten Rasen Platz.

»Ah«, sagte er und ging neben Gappy in die Hocke. »Weiß eigentlich gar nicht, warum ich ein Bett habe. Unerfahrener Flaschenkämpfer?«

»Ja.«

»Sieht so aus, als hättest du alles richtig gemacht, aber ich brauche Licht und einen Tisch«, sagte Rasen. »Können deine Männer ihn ins Wachhaus bringen?«

Mumm hatte gehofft, dass es nicht dazu kommen würde. Jetzt musste er das Beste daraus machen…

Er deutete auf mehrere Gestalten in der Menge. »Du und du und du und du und du und auch du, Verehrteste«, sagte er. »Ihr helft Fred und Keule, diesen jungen Mann ins Wachhaus zu bringen. Und ihr bleibt bei ihm, und wir lassen die Türen offen. Damit die Leute hier draußen die ganze Zeit mitbekommen, was passiert. Wir haben keine Geheimnisse. Haben alle verstanden?«

»Ja, aber du bist ein Polizist…«, sagte jemand.

Mumm schnellte vor und zog einen erschrockenen jungen Mann am Hemd aus der Menge.

»Ja, das bin ich«, sagte er. »Und siehst du den Jungen da drüben? Er ist ebenfalls ein Polizist. Er heißt Sam Mumm und wohnt mit seiner Mutter in der Unbesonnenheitsstraße. Und das ist Fred Colon, hat gerade geheiratet und zwei Zimmer im Alten Flickschusterweg. Und Beweisstück C ist Keule. Alle kennen Keule. Und Billy Wiggel wurde in dieser Straße geboren. Habe ich nach deinem Namen gefragt?«

»N-nein…«, brachte der junge Mann hervor.

»Ich habe nicht danach gefragt, weil ich mich nicht darum schere, wer du bist«, sagte Mumm. Er ließ den Mann los, und sein Blick glitt über die Menge. »Hört mir zu, ihr alle! Ich bin John Keel! Niemand wird in dieses Wachhaus gebracht, ohne dass ich den Grund dafür kenne! Ihr seid alle als Zeugen hier! Diejenigen von euch, auf die ich eben gezeigt habe, kommen herein und können sich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass alles mit rechten Dingen zugeht! Die anderen möchten bleiben, um zu sehen, was mit Gappy geschieht? Gut. Ich lasse euch von Schnauzi Kakao bringen. Oder ihr geht nach Hause. Es ist eine kalte Nacht. Ihr solltet längst im Bett liegen. Ich weiß, dass ich gern in meinem liegen würde. Und ja, wir haben von der Sache bei den Tollen Schwestern gehört, und es gefällt uns ebenso wenig wie euch. Und wir haben auch von der Düstergutstraße gehört, und das gefällt uns ebenfalls nicht. Und mehr habe ich nicht zu sagen. Wenn es immer noch jemanden gibt, der einen Polizisten verprügeln möchte – bitte vortreten. Ich habe meine Uniform ausgezogen, und wir können es gleich hier erledigen, offen und ehrlich, wo es alle sehen. Na, ist jemand interessiert?«

Etwas streifte seine Schulter und klapperte über die Stufen des Wachhauses.

Dann ertönte das Geräusch von rutschenden Ziegeln auf der anderen Straßenseite, und ein Mann fiel vom Dach ins Licht. Die Zuschauer schnappten nach Luft. Ein oder zwei kurze Schreie erklangen.

»Offenbar hast du gerade einen Freiwilligen bekommen«, sagte jemand. Wieder dieses schreckliche, nervöse Kichern. Die Menge teilte sich, und Mumm hatte freie Sicht auf den Neuankömmling.

Der Mann war tot. Wenn er beim Sturz vom Dach noch nicht tot gewesen war, so hatte der Aufprall sein Leben beendet, denn kein Hals sah normalerweise so aus. Neben ihm lag eine Armbrust.

Mumm erinnerte sich daran, dass etwas seine Schulter gestreift hatte, und er ging zu den Stufen vor dem Wachhaus zurück. Er brauchte nicht lange, um den in mehrere Stücke zerbrochenen Pfeil zu finden.

»Kennt jemand diesen Mann?«, fragte er.

Die Zuschauer – selbst jene, die noch keine Gelegenheit gefunden hatten, sich den toten Armbrustschützen anzusehen – brachten unmissverständlich Ahnungslosigkeit zum Ausdruck.

Mumm durchsuchte die Taschen des Mannes. Alle waren leer, das genügte für die Identifizierung.

»Offenbar steht uns eine lange Nacht bevor«, sagte er und bedeutete Colon, die Leiche ins Wachhaus zu bringen. »Meine Damen und Herren, ich muss meine Arbeit fortsetzen. Wenn jemand bleiben möchte, und das wäre mir sehr recht, so bitte ich meine Jungs, ein Feuer anzuzünden. Danke für eure Geduld.« Er griff nach Kettenhemd und Brustharnisch und kehrte damit ins Wachhaus zurück.

»Was machen die Leute?«, fragte er Sam, ohne sich umzudrehen.

»Einige gehen fort, aber die meisten stehen herum, Oberfeldwebel«, antwortete Sam und spähte aus der Tür. »Einer von ihnen hat auf dich geschossen!«

»Tatsächlich? Wer sagt, dass der Mann auf dem Dach zu ihnen gehörte? Das ist eine teure Armbrust. Und er hatte nichts in den Taschen. Nichts. Nicht einmal ein benutztes Taschentuch.«

»Sehr seltsam, Oberfeldwebel«, kommentierte Sam loyal.

»Vor allem deshalb, weil ich einen Zettel mit der Aufschrift ›Ich bin eindeutig Mitglied eines revolutionären Kaders, darauf könnt ihr euch verlassen‹ erwartet habe«, sagte Mumm und blickte nachdenklich auf die Leiche hinab.

»Ja, das würde beweisen, dass er ein Revolutionär war«, erwiderte Sam.

Mumm seufzte und starrte kurz an die Wand. »Fällt jemandem etwas an der Armbrust auf?«, fragte er dann.

»Es ist die neue Bollsower A7«, sagte Fred Colon. »Keine schlechte Armbrust, Oberfeldwebel. Aber nicht die Waffe eines Assassinen.«

»Das stimmt«, bestätigte Mumm und drehte den Kopf des Toten, sodass der kleine Metallbolzen hinter dem Ohr sichtbar wurde. »Im Gegensatz hierzu. Fred, du kennst alle. Wo kann ich mir um diese Zeit Ingwerbier besorgen?«

»Ingwerbier, Oberfeldwebel?«

»Ja, Fred.«

»Warum…«, begann Colon.

»Frag nicht, Fred. Hol einfach nur sechs Flaschen.«

 

Mumm trat zu dem Tisch, wo Dr. Rasen, von faszinierten Zuschauern umringt, an Gappy arbeitete.

»Wie kommst du voran?«, fragte Mumm und bahnte sich einen Weg durch das Publikum.

»Langsamer, als ich vorankommen könnte, wenn nicht dauernd jemand im Licht stünde«, sagte Rasen, hob die Pinzette vorsichtig zu einem Becher neben Gappys Hand und ließ einen blutigen Glassplitter hineinfallen. »Freitagabends sehe ich manchmal Schlimmeres. Er wird seine Finger weiter benutzen können, wenn du das wissen willst. Allerdings dauert es bestimmt eine Weile, bis er wieder Schuhe schustern kann. Gut gemacht, danke.«

Zustimmendes Gemurmel erklang. Mumm sah sich um, ließ den Blick über Polizisten und Zivilisten wandern. Hier und dort wurde leise geflüstert. Er hörte Bemerkungen wie »Üble Sache« und »Es heißt, dass…«

Er war recht geschickt vorgegangen. Die meisten seiner Jungs wohnten nur ein oder zwei Straßen entfernt. Es war eine Sache, irgendwelche unbekannten Mistkerle in Uniform anzugreifen, aber eine ganze andere, Steine nach dem guten alten Fred Colon oder Keule oder Billy Wiggel zu werfen, die man von Kindesbeinen an kannte und mit denen man im Rinnstein Schlag Meine Tote Ratte Kaputt gespielt hatte.

Rasen legte die Pinzette beiseite und rieb sich den Nasenrücken. »Das war’s«, sagte er müde. »Ein paar Nähte, und er ist soweit in Ordnung.«

»Es gibt noch einige andere, die du dir ansehen solltest«, sagte Mumm.

»Warum überrascht mich das nicht?«, erwiderte der Doktor.

»Einer hat viele Löcher in den Füßen, ein anderer ist durchs Dach des Aborts gefallen und hat sich das Bein verrenkt, und noch einer ist tot.«

»Ich schätze, dem Toten kann ich kaum helfen«, sagte Rasen. »Woher weißt du, dass er tot ist? Ja, und mir ist klar, dass ich diese Frage vermutlich bedauern werde.«

»Er brach sich das Genick, als er vom Dach fiel, und er fiel vom Dach, weil sich ihm ein stählerner Armbrustbolzen in den Kopf gebohrt hat.«

»Ah. Klingt ganz danach, dass er tot ist, wenn du meine medizinische Meinung hören willst. Hast du ihn umgebracht?«

»Nein!«

»Nun, du bist ein viel beschäftigter Mann, Oberfeldwebel. Du kannst nicht überall sein.« Der Doktor lächelte, als er sah, wie Mumm rot anlief, und ging dann zu der Leiche.

»Ja, ich würde sagen, dieser Herr ist ganz eindeutig verstorben«, brummte er. »Und?«

»Ich möchte, dass du es aufschreibst. Auf ein Stück Papier. Mit offiziell klingenden Worten wie ›Quetschung‹ und ›Hautabschürfung‹. Ich möchte, dass du es aufschreibst und auch notierst, wann du ihn tot vorgefunden hast. Und anschließend sieh dir bitte die beiden anderen an, und nachdem du sie behandelt hast, danke, möchte ich, dass du ein anderes Stück Papier unterschreibst, auf dem geschrieben steht, dass du den Männern in meinem Auftrag geholfen hast. Jeweils in doppelter Ausführung, wenn du nichts dagegen hast.«

»Na schön. Darf ich fragen, warum?«

»Niemand soll mir die Schuld geben.«

»Warum sollte jemand dir die Schuld geben? Du hast doch gesagt, dass er vom Dach gefallen ist!«

»Dies sind misstrauische Zeiten, Doktor. Ah, da ist Fred. Hast du was auftreiben können?«

Korporal Colon trug eine Kiste und stellte sie mit einem leisen Ächzen auf den Tisch.

»Die alte Frau Richter mag es nicht, wenn man mitten in der Nacht an ihre Tür klopft«, verkündete er. »Ich musste ihr einen Dollar geben!«

Mumm wagte es nicht, Rasen anzusehen. »Tatsächlich?«, erwiderte er so unschuldig wie möglich. »Und du hast das Ingwerbier?«

»Sechs Halbe vom Besten«, sagte Colon. »Auf die Flaschen gibt es übrigens drei Cent Pfand. Und, äh…« Er scharrte unsicher mit den Füßen. »Ich, äh, habe gehört, dass man das Wachhaus bei den Tollen Schwestern in Brand gesetzt hat, Oberfeldwebel. Beim Schlummerhügel sieht’s ebenfalls ziemlich übel aus. Und, äh… beim Wachhaus in der Kröselstraße sind alle Fenster zerbrochen, und drüben beim Geringsten Tor verließen einige Wächter das Wachhaus, um junge Leute daran zu hindern, mit Steinen zu werfen, und einer von ihnen zog sein Schwert, Oberfeldwebel…«

»Und dann?«

»Er wird wahrscheinlich überleben, Oberfeldwebel.«

Doktor Rasen sah sich im Hauptbüro um, in dem noch immer Leute miteinander sprachen. Schnauzi ging mit einem Tablett herum und bot Kakao an. Draußen leisteten einige Wächter dem Rest der Menge an einem wärmenden Feuer Gesellschaft.

»Ich muss sagen, ich bin beeindruckt«, meinte er. »Offenbar ist dies das einzige Wachhaus, das in dieser Nacht nicht belagert wird. Ich möchte nicht wissen, wie du das fertig gebracht hast.«

»Glück war dabei im Spiel«, erwiderte Mumm. »Und ich habe drei Männer in den Zellen, die sich nicht ausweisen können, und einen anonymen Möchtegern-Mörder, der ermordet wurde.«

»Ein ziemliches Problem«, sagte Rasen. »Ich bin nur mit so einfachen Mysterien konfrontiert wie mit der Frage, was ein bestimmter Hautausschlag bedeutet.«

»Ich bin entschlossen, mein Problem so bald wie möglich zu lösen«, sagte Mumm.

 

Der Assassine kletterte lautlos von Dach zu Dach, bis er ein ganzes Stück von der Aufregung beim Wachhaus entfernt war.

Seine Bewegungen konnten durchaus katzenhaft genannt werden. Allerdings markierte er seinen Weg nicht mit Urin.

Schließlich erreichte er eins der vielen Verstecke der oberen Welt. Mehrere Dickichte aus Schornsteinen schufen hier einen kleinen, geschützten Ort, der von unten aus nicht zu sehen war und auch in der Dachlandschaft verborgen blieb. Der Assassine betrat ihn nicht sofort, sondern schlich erst um ihn herum, bewegte sich völlig geräuschlos von einem Aussichtspunkt zum nächsten.

Ein Beobachter, der die Assassinengilde von Ankh-Morpork kannte, wäre von der Unsichtbarkeit dieser Gestalt erstaunt gewesen. Wenn sie sich bewegte, sah man Bewegung. Wenn sie verharrte, existierte sie nicht mehr. Der Beobachter hätte Magie vermutet, und Magie spielte tatsächlich eine Rolle, wenn auch eine indirekte. Neunzig Prozent der meisten Magie gehen auf das Wissen um eine zusätzliche Tatsache zurück.

Schließlich schien der Assassine zufrieden zu sein und betrat den geschützten Ort. Er griff nach einem Beutel, der zwischen den rauchenden Schornsteinen lag, und leises Knistern verriet, dass er sich umzog.

Etwa eine Minute später verließ er das Versteck, und jetzt war er sichtbar. Dem hypothetischen Beobachter wäre es noch immer schwer gefallen, ihn zu erkennen, als einen Schatten unter vielen, aber jetzt existierte er, auf andere Weise als vorher. Vorher war er so sichtbar gewesen wie der Wind.

Leichtfüßig sprang er auf das Dach eines Schuppens hinab und dann auf die Straße, wo er in einen nahen Schatten trat. Dort verwandelte er sich erneut.

Dies nahm nicht viel Zeit in Anspruch. Die praktische kleine Armbrust wurde auseinander genommen und in den einzelnen Taschen eines Samtbeutels verstaut, in dem sie garantiert nicht klimpern konnte. Die weichen Lederschuhe wurden gegen ein Paar Stiefel eingetauscht, das im Schatten gewartet hatte. Hände strichen die schwarze Kapuze zurück.

Schließlich trat die Gestalt um eine Ecke und wartete.

Eine Kutsche näherte sich mit brennenden Fackeln. Sie wurde kurz langsamer, und eine Tür öffnete und schloss sich.

Der Assassine lehnte sich auf der Sitzbank zurück, als die Kutsche wieder schneller rollte.

In ihrem Innern ließ eine kleine Laterne, von der ein wenig Licht ausging, eine Frau erkennen, die auf der anderen Seite saß. Als die Kutsche eine Straßenlaterne passierte, war violette Seide zu erahnen.

»Du hast einiges versäumt«, sagte die Frau. Sie holte ein violettes Taschentuch hervor und hielt es vor das Gesicht des jungen Mannes. »Spuck«, befahl sie.

Er kam der Aufforderung widerstrebend nach. Eine Hand wischte seine Wange ab und hielt das Taschentuch ins Licht. »Dunkelgrün«, sagte die Frau. »Seltsam. Soweit ich weiß, hast du bei der Prüfung in heimlichem Bewegen null Punkte erzielt.«

»Darf ich fragen, wie du das herausgefunden hast, Madame?«

»Oh, man hört das eine oder andere«, erwiderte Madame. »Man muss sich nur Geld ans Ohr halten.«

»Nun, es stimmt«, sagte der Assassine.

»Und warum?«

»Der Prüfer glaubte, ich hätte Tricks angewandt, Madame.«

»Und hast du das?«

»Natürlich. Ich dachte, genau darum ginge es.«

»Und er meint, du hättest nie seinen Unterricht besucht.«

»Oh, ich bin immer da gewesen und habe sehr aufmerksam zugehört.«

»Er meint, er hätte dich nie gesehen.«

Havelock lächelte. »Und das bedeutet, Madame…?«

Madame lachte. »Möchtest du ein Glas Sekt?« Ein leises Klirren deutete darauf hin, dass sich eine Flasche in einem Eiskübel bewegte.

»Danke, nein, Madame.«

»Wie du meinst. Ich genehmige mir eins. Und nun… Bitte erstatte mir Bericht.«

»Ich kann kaum glauben, was ich gesehen habe. Ich hielt den Burschen zunächst für einen Schläger. Und das ist er auch. Man kann sehen, wie die Muskeln für ihn denken. Aber er gewinnt immer die Oberhand über sie! Ich glaube, ich habe ein Genie beobachtet, aber…«

»Was?«

»Er ist nur ein Feldwebel, Madame.«

»Oberfeldwebel. Unterschätze ihn nicht. Ein sehr nützlicher Rang für den richtigen Mann. Die optimale Balance zwischen Macht und Verantwortung. Übrigens heißt es, dass er die Straße durch die Sohlen seiner Stiefel erkennen kann, und deshalb ist er darauf bedacht, dass sie dünn bleiben.«

»Hm. Das Pflaster ist überall unterschiedlich, das stimmt, aber…«

»Du bist immer so ernst mit diesen Dingen, Havelock. Ganz anders als dein verstorbener Vater. Denk… mythologisch. Er kann die Straße erkennen. Er hört ihre Stimme, misst ihre Temperatur und liest ihre Gedanken. Sie spricht durch seine Stiefel zu ihm. Polizisten sind genauso abergläubisch wie andere Leute. Heute Nacht sind alle anderen Wachhäuser angegriffen worden. Schwungs Leute haben es angestachelt, aber Bosheit und Dummheit haben den größten Schaden angerichtet. Doch nicht in der Sirupminenstraße. Keel öffnete die Türen und ließ die Straße herein. Ich wünschte, ich wüsste mehr über ihn. In Pseudopolis galt er als langsam, nachdenklich und vernünftig. Hier scheint er regelrecht aufgeblüht zu sein.«

»Ich habe einen Mann inhumiert, der versuchte, ihn aus dem Hinterhalt zu erledigen.«

»Tatsächlich? Das klingt nicht nach Schwung. Wie viel schulde ich dir?«

Der junge Mann namens Havelock zuckte mit den Schultern. »Einen Dollar«, sagte er.

»Das ist sehr wenig.«

»Der Bursche war nicht mehr wert. Aber ich muss dich warnen. Vielleicht möchtest du bald, dass ich mich um Keel kümmere.«

»Jemand wie er schlägt sich bestimmt nicht auf die Seite von Winder und Schwung.«

»Er ist seine eigene Seite. Er ist eine Komplikation. Vielleicht wäre es besser, wenn er… aufhört, die Dinge zu verkomplizieren.«

Das Rumpeln der Kutsche unterstrich die Stille, die diesen Worten folgte. Die Fahrt ging jetzt durch einen wohlhabenderen Teil der Stadt, der heller erleuchtet war und wo man die für arme Leute bestimmte Ausgangssperre nicht so streng beachtete. Die dem Assassinen gegenüber sitzende Frau streichelte die Katze auf ihrem Schoß.

»Nein«, sagte Madame. »Er wird nützlich sein. Alle erzählen mir von Keel. In einer Welt, in der wir uns in Kurven bewegen, schreitet er auf einer geraden Linie voran. Und wer in einer Welt aus Kurven geradeaus geht, lässt Dinge geschehen.«

Erneut streichelte sie die leise schnurrende Katze. Sie war rötlich gelb und wirkte erstaunlich selbstgefällig, obwohl sie sich gelegentlich am Halsband kratzte.

»Eine andere Sache…«, sagte die Frau. »Was ist mit dem Buch? Ich möchte kein Aufsehen erregen.«

»Oh, es war sehr selten und behandelte die Kunst der Unauffälligkeit.«

»Der dumme Junge hat es verbrannt!«

»Ja. Zum Glück. Ich dachte schon, er würde das Buch lesen.« Havelock lächelte dünn. »Allerdings hätte ihm bei den längeren Worten jemand helfen müssen.«

»War es wertvoll?«

»Unbezahlbar. Besonders jetzt, nachdem es verbrannt ist.«

»Ah. Es enthielt wichtige Informationen. Vermutlich auch über die dunkelgrüne Farbe. Erzählst du mir davon?«

»Ich könnte dir davon erzählen.« Havelock lächelte erneut. »Aber dann müsste ich jemanden bezahlen, um dich zu töten.«

»In dem Fall solltest du mir besser nichts erzählen. Aber ich glaube, Hunde-Freund ist ein unangenehmer Spitzname.«

»Wenn man Vetinari heißt, Madame, kann man mit ›Hunde-Freund‹ einigermaßen zufrieden sein. Setzt du mich bitte ein Stück vom Gildenhaus entfernt ab? Ich möchte übers Dach gehen. Bevor ich du weißt schon wohin gehe, muss ich mich noch um einen Tiger kümmern.«

»Um einen Tiger. Wie aufregend.« Einmal mehr streichelte die Frau ihre Katze. »Hast du einen Weg hinein gefunden?«

Vetinari zuckte mit den Schultern. »Den Weg kenne ich seit Jahren, Madame. Aber jetzt hat ein halbes Regiment den Palast umstellt. Vier oder fünf Wachen an jeder Tür, unregelmäßige Streifen und Stichproben. Da komme ich nicht durch. Aber wenn ich erst einmal im Palast drin wäre… Die Männer dort sind kein Problem.«

Die Katze kratzte sich am Kragen.

»Ist er vielleicht gegen Diamanten allergisch?«, fragte Madame.

Sie hob die Katze hoch. »Bist du gegen Diamanten allergisch, Schnutziputzi?«

Havelock seufzte, aber nur innerlich, denn er respektierte seine Tante. Er wünschte sich nur, sie wäre in Bezug auf Katzen etwas vernünftiger gewesen. Wenn man während eines Gesprächs über Ränke und ähnliche Machenschaften unbedingt eine Katze streicheln wollte, musste es eine weiße mit langem Fell sein und kein an Blähungen leidender Kater von der Straße.

»Was ist mit dem Oberfeldwebel?«, fragte Havelock und schob sich so höflich wie möglich zur Seite.

Die violette Frau setzte ihre Katze vorsichtig auf die Sitzbank. Ein übler Geruch breitete sich in der Kutsche aus.

»Ich glaube, ich sollte John Keel so bald wie möglich begegnen«, sagte sie. »Vielleicht können wir ihn überzeugen, mit uns zusammenzuarbeiten. Die Party steigt morgen Abend. Äh… würdest du bitte das Fenster öffnen?«

 

Ein wenig später in jener Nacht, nach einem kleinen Umtrunk im Gemeinschaftsraum der Aufsichtsschüler, torkelte Witwenmacher zu seinem Zimmer und bemerkte, dass eine Fackel erloschen war. Mit einer Schnelligkeit, die alle überrascht hätte, die nur sein gerötetes Gesicht und den unsicheren Gang bemerkten, holte er einen Dolch hervor und spähte durch den Flur. Überall sah er graue Schatten, sonst nichts. Manchmal gingen Fackeln von ganz allein aus.

Er trat vor.

Als er am nächsten Morgen in seinem Bett erwachte, führte er die Kopfschmerzen auf den schlechten Brandy zurück. Und irgendein Blödmann hatte ihm orange und schwarze Streifen ins Gesicht gemalt.

 

Es begann wieder zu regnen. Mumm mochte den Regen. Es wurden weniger Verbrechen verübt, wenn es regnete. Die Leute blieben zu Hause. In einigen der besten Nächte seines beruflichen Lebens hatte es aus Eimern geschüttet. Dann hatte er an einer windgeschützten Stelle im Schatten gestanden und dem silbrigen Prasseln des Regens gelauscht, den Kopf eingezogen, sodass zwischen Helm und Kragen kaum etwas zu sehen war.

Einmal hatte er ganz still dagestanden, so sehr in Gedanken versunken und nicht da, dass ein fliehender Räuber, der seinen Verfolgern entkommen war, sich an ihn lehnte, um auszuruhen. Als Mumm die Arme um den Mann legte und ihm »Hab dich!« ins Ohr flüsterte, erschrak der arme Kerl so sehr, dass er das in die Hose machte, was er, wie ihn seine Mutter vor rund vierzig Jahren mit viel Geduld gelehrt hatte, nicht in die Hose machen sollte.

Die Leute waren nach Hause gegangen. Fred Colon hatte den zusammengenähten Gappy zum Alten Flickschusterweg begleitet und den Eltern des jungen Mannes alles erklärt, mit strahlender Ehrlichkeit im runden, roten Gesicht. Rasen nahm vermutlich die Gelegenheit wahr, sein Bett zu benutzen.

Und der Regen gurgelte in den Abflussrohren und spritzte aus Wasserspeiern und rauschte im Rinnstein und übertönte alle anderen Geräusche.

Nützlicher Regen.

Mumm nahm eine Flasche von Frau Ritters bestem Ingwerbier. Er erinnerte sich daran. Es enthielt unglaublich viel Kohlensäure und erfreute sich deshalb großer Beliebtheit. Nach nur einem Schluck davon konnte ein Junge mit dem richtigen Ansporn und nach guter Vorbereitung die ganze erste Strophe der Nationalhymne rülpsen. Solche Kunst gilt als sehr erstrebenswert, wenn man acht ist.

Mumm hatte Colon und Keule für diese Aufgabe ausgewählt. Den jungen Sam wollte er nicht daran beteiligen. Das, was er plante, war keineswegs illegal, aber es hatte den Anschein von etwas Illegalem, und Mumm wollte nichts erklären müssen.

Die Zellen waren alt, viel älter als das Gebäude über ihnen. Die eisernen Käfige waren recht neu und beanspruchten nicht den gesamten Platz. Es gab noch andere Zellen jenseits eines Durchgangs, die nichts weiter enthielten als Ratten und Plunder, aber – und das war wichtig – von den Käfigen aus konnte man sie nicht sehen.

Mumm ließ den toten Armbrustschützen dorthin tragen. Dagegen gab es nichts einzuwenden. Es war mitten in der Nacht, das Wetter schlecht – welchen Sinn hatte es, zur Leichenhalle zu gehen, wenn es einen hübschen kalten Keller gab?

Durchs Guckloch beobachtete er die Reaktion der drei Gefangenen, als der Tote an ihnen vorbeigetragen wurde. Der erste schien davon recht beeindruckt zu sein. Die beiden anderen wirkten wie Männer, die im Bemühen, Geld zu verdienen, viele üble Dinge gesehen hatten. Wenn sie dafür bezahlt wurden, zu stehlen, zu morden oder ein Polizist zu sein, war all dies für sie gleichermaßen in Ordnung. Sie hatten gelernt, nicht zu schnell auf einen Tod zu reagieren, der nicht sie selbst betraf.

Der erste Mann hingegen wurde nervös.

Mumm nannte ihn insgeheim Frettchen. Von allen dreien trug er die beste Kleidung, ganz schwarz. Der Dolch war recht teuer gewesen, und an einem Finger hatte Mumm einen silbernen Totenkopfring bemerkt. Die Kleider der beiden anderen waren unscheinbar, ihre Waffen fachmännisch, nichts Besonderes, aber oft benutzt.

Kein echter Assassine trug Schmuck während der Arbeit. Er glänzte und konnte daher gefährlich werden. Doch Frettchen wollte ein großer Mann sein. Wahrscheinlich hatte er in den Spiegel gesehen, bevor er aufgebrochen war, um sich zu vergewissern, dass er cool aussah. Er gehörte zu den Narren, die Gefallen daran fanden, Frauen in Tavernen ihren Dolch zu zeigen.

Kurz gesagt: Frettchen hatte große Träume. Frettchen hatte Phantasie.

Und das war gut.

Die Wächter kehrten zurück und nahmen die von Mumm vorbereiteten Pakete.

»Wir gehen schnell vor«, sagte Mumm. »Die Burschen sind besorgt und müde. Niemand ist gekommen, um sie abzuholen, und sie haben gerade einen sehr toten Kollegen gesehen. Die ersten beiden sollen keine Zeit zum Nachdenken haben. Verstanden?«

Colon und Keule nickten.

»Mit dem Kleinen warten wir bis zum Schluss. Er soll viel Zeit haben…«

 

Frettchen dachte über seine Aussichten nach. Bedauerlicherweise dauerte das nicht lange.

Er hatte sich bereits mit den beiden anderen gestritten. Eine tolle Rettungsgruppe waren sie. Trugen nicht einmal die richtige Kleidung. Aber die Nachtnarren hatten sich nicht wie vorgesehen verhalten. Alle wussten, dass sie kniffen und zurückwichen. Niemand erwartete von ihnen, dass sie Widerstand leisteten oder Intelligenz bewiesen. Sie…

Die Haupttür öffnete sich.

»Zeit für Ingwerbier!«, rief jemand.

Ein Wächter lief mit mehreren Flaschen an den Zellen vorbei und verschwand in dem anderen Raum.

Es war nicht sehr hell im Zellenbereich. Frettchen sah, wie zwei Wächter die Tür nebenan öffneten und den mit Handschellen gefesselten Gefangenen in den Gang und um die Ecke zerrten.

Die Stimmen warfen ein dumpfes Echo zurück.

»Haltet ihn fest. Achtet auf die Beine!«

»Gut! Her mit der Flasche! Sie muss ordentlich geschüttelt werden, sonst klappt’s nicht!«

»Na schön, mein Freund. Möchtest du uns irgendetwas sagen? Wie wär’s mit deinem Namen? Nein? Nun, die Sache sieht so aus: Derzeit ist es uns gleich, ob du den Mund aufmachst oder nicht…«

Es knallte, es zischte, und dann… ein Schrei, eine Explosion der Agonie.

Als der Schrei verklungen war, hörte Frettchen, wie jemand sagte: »Schnell, der andere, bevor der Hauptmann was merkt.«

Er wich zurück, als die beiden Wächter zur nächsten Zelle eilten, den zappelnden Gefangenen herauszerrten und mit ihm in der Dunkelheit verschwanden.

»Na schön. Wir geben dir eine Chance. Willst du reden? Ja? Nein? Zu spät!«

Wieder der Knall, wieder das Zischen, und ein zweiter Schrei. Diesmal war er lauter und länger und endete mit einer Art Blubbern.

Frettchen kauerte an der Wand, die Finger im Mund.

Hinter der Ecke, im Licht einer Laterne, stieß Colon Mumm an, rümpfte die Nase und deutete nach unten.

Eine Ablaufrinne verband alle Zellen miteinander und ermöglichte so etwas wie primitive Hygiene. Ein dünnes Rinnsal kroch nun hindurch. Frettchen war nervös.

Hab dich, dachte Mumm. Aber gute Phantasie braucht noch etwas mehr Zeit. Er beugte sich vor, und zwei Köpfe neigten sich ihm erwartungsvoll entgegen.

»Habt ihr Jungs schon euren Urlaub gehabt?«, flüsterte er. Nach einigen Minuten, angefüllt mit sehr kleinem Smalltalk, stand Mumm auf, ging zur letzten Zelle, öffnete die Tür und packte Frettchen, der sich in eine Ecke zu quetschen versuchte.

»Nein! Bitte! Ich sage euch alles, was ihr wissen wollt!«, heulte der Mann.

»Wirklich?«, erwiderte Mumm. »Wie hoch ist die Umlaufgeschwindigkeit des Mondes?«

»Was?«

»Hast du etwa leichte Fragen erwartet?«, brummte Mumm und zog den Mann aus der Zelle. »Fred! Keule! Er will reden! Bringt ein Notizbuch mit!«

Es dauerte eine halbe Stunde. Fred Colon schrieb nicht sehr schnell. Als die schmerzlichen Geräusche seiner Bemühungen mit dem letzten Punkt verklangen, sagte Mumm: »Na schön, mein Lieber. Und nun schreibst du zum Schluss: Ich, Gerald Wenigstens, derzeit wohnhaft bei der Lieblichkeitsgesellschaft Einsamer Männerherzen, mache diese Aussage aus freiem Willen und nicht unter Zwang. Und dann unterschreibst du. Oder sonst. Kapiert?«

»Ja, Herr.«

Die Initialen GW waren in den Dolch graviert gewesen. Mumm glaubte ihnen. Im Lauf der Jahre hatte er viele Wenigstense kennen gelernt: Allein bei der Vorstellung, dass man ihnen etwas antun könnte, begannen sie vor Angst zu schlottern. Wer den Ingwerbier-Trick bei jemand anderem gesehen hatte, würde alles zugeben.

»Nun«, sagte Mumm fröhlich und stand auf, »besten Dank für die Zusammenarbeit. Sollen wir dich zur Ankertaugasse bringen?«

Frettchens Gesichtsausdruck sagte: »Häh?«

»Wir müssen deine Freunde absetzen«, fuhr Mumm fort und hob die Stimme ein wenig. »Tottsi und Maffer. Den Toten bringen wir zur Leichenhalle. Ein bisschen Papierkram für dich.« Er nickte Colon zu. »Eine Kopie der Aussage. Ein Totenschein des Arztes für den verstorbenen Herrn Geheimnisvoll, dessen Mörder wir bestimmt finden. Eine Bescheinigung des Doktors für die Salbe, mit der er Maffers Füße eingerieben hat. Oh… und eine Quittung für sechs Flaschen Ingwerbier.«

Er legte die Hand auf Frettchens Schulter und führte ihn langsam in den nächsten Keller, wo Tottsi und Maffer saßen, geknebelt und voller Zorn. Auf einem nahen Tisch stand eine Kiste mit sechs Flaschen Ingwerbier. Die Korken waren mit Draht gesichert.

Frettchen starrte Mumm an, der den Finger in den Mund steckte, die Wangen aufblähte und den Finger dann herausschnellen ließ – es knallte laut.

Keule zischte.

Fred Colon öffnete den Mund, aber Mumm presste ihm schnell die Hand darauf.

»Nein, bitte nicht«, sagte er. »Komische Sache, Gerald, aber Fred hier schreit manchmal, einfach so.«

»Ihr habt mich reingelegt!«, heulte Frettchen.

Mumm klopfte ihm auf die Schulter »Reingelegt?«, knurrte er. »Wie meinst du das, Gerald?«

»Ihr habt mich glauben lassen, dass ihr den Ingwerbier-Trick anwendet.«

»Den Ingwerbier-Trick?«, fragte Mumm und runzelte die Stirn. »Was ist das?«

»Das weißt du genau! Du hast das Zeug hierher gebracht!«

»Wir trinken keinen Alkohol im Dienst, Gerald«, sagte Mumm streng. »Was gibt es an Ingwerbier auszusetzen? Wir kennen keine Tricks damit, Gerald. Welche Tricks kennst du? Hast du in letzter Zeit irgendwelche guten Tricks gesehen, Gerald?«

Frettchen begriff schließlich, dass er besser den Mund hielt. Diese Erkenntnis kam etwa eine halbe Stunde zu spät. Tottsis und Maffers Mienen brachten zum Ausdruck, dass sie gern ein Wörtchen mit ihm reden würden.

»Ich bitte um Schutzhaft«, brachte er hervor.

»Obwohl ich dich gerade gehen lassen wollte, Gerald?«, erwiderte Mumm. »Wie du in deiner Aussage betont hast… Wie lauteten die Worte, Fred? Du hast nur deinen Befehlen gehorcht, nicht wahr? Du wolltest dich gar nicht unter die Leute mischen und Steine auf Polizisten und Soldaten werfen, völlig klar. Und es gefiel dir nicht, in der Ankertaugasse zu beobachten, wie Personen zusammengeschlagen wurden und wie man ihnen sagte, was sie gestehen sollten. Nein, zu den Burschen gehörst du nicht, das sehe ich auf den ersten Blick. Du bist ein kleiner Fisch. Ich schlage vor, wir sind quitt. Was meinst du?«

»Bitte! Ich erzähle dir alles, was ich weiß!«, quiekte Frettchen.

»Soll das heißen, du hast uns nicht alles gesagt, was du weißt?«, donnerte Mumm. Er drehte sich um und griff nach einer Flasche.

»Ja! Nein! Ich meine, wenn ich ganz ruhig sitze, fällt mir sicher noch mehr ein!«

Mumm musterte ihn kurz und stellte die Flasche dann in die Kiste zurück. »Na schön«, sagte er. »Ein Dollar pro Tag, Mahlzeiten extra.«

»Jawohl, Herr!«

Mumm beobachtete, wie Frettchen in seine Zelle hastete und die Tür hinter sich schloss. Dann wandte er sich an Fred und Keule.

»Geht und weckt Marlene«, sagte er. »Kümmern wir uns um die anderen drei.«

 

Der Regen fiel gleichmäßig, und Dunst füllte die Ankertaugasse. Der Wagen kam aus dem Nichts. Fred hatte Marlene zu einem kurzen Galopp angetrieben, und als das Pferd um die Ecke bog, war es bemüht, vor dem schweren, rumpelnden Wagen zu bleiben.

Als der Gefangenenwagen an der Wache vorbeirollte, wurde die hintere Klappe geöffnet, und zwei Gefesselte fielen auf das nasse Kopfsteinpflaster.

Die Wachen traten auf die Straße. Ein oder zwei von ihnen schossen auf den sich schnell entfernenden Wagen, aber ihre Pfeile prallten an den Metallstreifen ab, ohne Schaden anzurichten.

Die anderen Männer näherten sich den Gefesselten vorsichtig. Sie hörten leises Stöhnen und den einen oder anderen Fluch. An einem Mann waren Papiere befestigt.

Die Unaussprechlichen lasen und lachten nicht.

 

Mumm spannte die alte Stute aus, rieb sie ab und vergewisserte sich, dass sie genug zu fressen hatte. Vielleicht bildete er es sich nur ein, aber die Futterkästen schienen voller zu sein als vor zwei Tagen. Möglicherweise waren hier schlechte Gewissen am Werk.

Dann trat er in die kühle Nachtluft hinaus. Am Wachhaus brannten die Laternen – es wirkte wie ein Fanal, nachdem das Licht der Straßenlaternen gelöscht worden war. Hinter den Mauern des Hofes hatte sich die Dunkelheit der Nacht verdichtet. Es war die gute alte Nacht, mit Ranken aus Nebel und kriechenden Schatten. Mumm entspannte sich und trug sie wie einen Mantel.

Ein Schatten neben dem Tor war dunkler, als es sein sollte.

Er tastete erneut nach dem Zigarrenetui, fluchte lautlos und zog eine Zigarre aus dem Hemdsärmel. Er wölbte die Hände, als er sie anzündete, hielt die Augen aber geschlossen, um weiter im Dunkeln sehen zu können.

Dann blickte er auf und blies einen Rauchring. Ja. Die Leute glauben, Schwarz fiele in der Nacht nicht auf, aber sie irren sich.

Er ging los, um das Tor zu schließen, und zog dann mit einer fließenden Bewegung sein Schwert.

Putzie hob den Kopf, und ein blasses ovales Gesicht erschien unter der Damenhaube. »Guten Morgen, werter Herr«, sagte sie.

»Guten Morgen, Putzie«, erwiderte Mumm müde. »Wem oder was verdanke ich dieses Vergnügen?«

»Madame möchte dich sprechen, werter Herr.«

»Wenn du Rosie meinst, ich hatte ziemlich viel zu tun…« Putzies Handtasche traf ihn am Hinterkopf.

»Madame wartet nicht gern, Schätzchen.« Das waren die letzten Worte, die Mumm hörte, bevor sich die Nacht um ihn schloss.

 

Die Schmerzlichen Schwestern waren Experten. Vermutlich konnte nicht einmal Moosig Rasen jemanden mit solcher Präzision ins Reich der Träume befördern.

Mumm erwachte. Er saß in einem sehr bequemen Lehnsessel, und jemand schüttelte ihn.

Er erkannte Sandra, die Echte Näherin. Sie sah ihn an und sagte: »Er scheint in Ordnung zu sein…« Dann wich sie zurück, nahm in einem anderen Sessel Platz und richtete eine Armbrust auf ihn.

»Weißt du…«, sagte Mumm und zögerte. Der Sessel bot wirklich ein hohes Maß an Bequemlichkeit und erinnerte ihn an den Komfort, der während der letzten Tage aus seinem Leben verschwunden und eigentlich gar nicht so schlimm gewesen war. »Wenn jemand mit mir sprechen möchte, braucht er nur zu fragen

»Putzie meinte, du würdest nur zehn Minuten bewusstlos bleiben, aber dann hast du zu schnarchen begonnen, und deshalb hielten wir es für besser, dich ein wenig schlafen zu lassen«, sagte Rosie Palm und trat in Mumms Blickfeld. Sie trug ein rotes, schulterfreies Abendkleid, eine beeindruckend große Perücke und viel Schmuck.

»Ja, es kostet viel Geld, so billig auszusehen, Oberfeldwebel«, meinte sie, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte. »Ich kann nicht bleiben und muss los, um mit den Leuten zu reden. Nun, wenn du…«

»Schnappüber hat euch Damen versprochen, dass ihr eine Gilde bilden dürft, stimmt’s?«, fragte Mumm. Mit diesen Worten schummelte er, aber er hatte es satt, an fremden Orten aufzuwachen. »Dachte ich mir. Und du glaubst ihm? Doch dazu wird es nicht kommen. Wenn er Patrizier ist, sieht er einfach durch dich hindurch.«

Er wird durch viele Dinge hindurchsehen, dachte er.

Verrückter Lord Schnappüber. Ein anderer Winder, mit hübscheren Wämsern und mehr Kinnen. Die gleiche Vetternwirtschaft, die gleichen Schweinereien, die gleiche dumme Arroganz, ein weiterer Blutsauger in einer langen Reihe von Blutsaugern. Im Vergleich dazu erscheint Vetinari wie ein Hauch frischer Luft.

Ha… Vetinari. Ja, er muss hier irgendwo sein und lernt vermutlich diesen Gesichtsausdruck, der nie, unter gar keinen Umständen, verrät, was ihm durch den Kopf geht… Er wird derjenige sein, der dir die Gilde gibt, die du dir so sehr wünschst.

»Von Schnappüber hast du nichts zu erwarten«, sagte er laut. »Denk daran: Es gab Leute, die Winder für die Zukunft hielten.«

Der Ausdruck in Rosie Palms Gesicht bereitete ihm eine gewisse Genugtuung. Nach einigen Sekunden sagte sie: »Gib ihm was zu trinken, Sandra. Schieß ihm ein Auge aus, wenn er sich rührt. Ich gebe Madame Bescheid.«

»Soll ich etwa glauben, sie wäre bereit, mit dem Ding auf mich zu schießen?«, fragte Mumm.

»Sandra hat eine sehr kampflustige Ader«, sagte Rosie. »Gestern war ein Herr… unhöflich zu ihr, und sie kam hereingelaufen und… Du würdest staunen, was sie mit ihrem Pilz anstellte.«

Mumm beobachtete die Armbrust. Die junge Frau hatte eine sehr ruhige Hand. »Ich glaube, ich verstehe nicht ganz…«, erwiderte er.

»Das ist ein Ding aus Holz zum Sockenstopfen«, erklärte Sandra. »Ich hab’s ihm hinter dem Ohr gegen den Kopf geschlagen.«

Mumm musterte sie verdutzt und sagte dann: »Na schön. Ich bleibe hier ganz ruhig sitzen.«

»Gut«, sagte Rosie.

Sie rauschte davon, und es war ein echtes Rauschen: Ihr Kleid strich über den Boden. An einer großen, teuren Doppeltür hielt sie kurz inne und öffnete dann die beiden Türflügel – die Geräusche eines Empfangs fluteten herein. Gespräche, der Geruch von Zigarrenrauch und Alkohol. Eine Stimme sagte: »… um die vorherrschende Epistemologie zu ändern…« Dann schloss sich die Tür.

Mumm blieb sitzen. Er gewöhnte sich allmählich an den Sessel, außerdem wollte er es vermeiden, erneut geschlagen zu werden.

Sandra hielt die Armbrust auf ihn gerichtet, als sie ein sehr großes Glas Whisky neben ihm abstellte.

»Irgendwann wird man sich fragen, wie all die Waffen in die Stadt geschmuggelt werden konnten«, sagte Mumm.

»Ich bin sicher, dass ich nicht weiß, wovon du redest.«

»Tja, die Jungs von der Wache kümmern sich nie um die Näherinnen, ob Ausgangssperre oder nicht«, fuhr Mumm fort und starrte auf den Whisky. »Oder um feine Kutschen«, fügte er hinzu. »Ein Wächter kann in Schwierigkeiten geraten, wenn er sich um solche Dinge kümmert.« Er nahm den Duft wahr. Es war ein erstklassiger Whisky aus den Bergen, nicht der Ankh-Morpork-Fusel.

»Du hast niemandem von dem Korb erzählt«, sagte Sandra. »Du hast uns auch nicht den Unaussprechlichen übergeben. Bist du einer von uns?«

»Das bezweifle ich.«

»Aber du weißt nicht, wer wir sind!«

»Ich bezweifle es trotzdem.«

Und dann öffnete und schloss sich die große Doppeltür erneut. Wieder raschelte ein langes Kleid.

»Oberfeldwebel Keel? Ich habe viel von dir gehört! Bitte lass uns allein, Sandra. Der Oberfeldwebel weiß bestimmt, wie man sich in der Gesellschaft einer Dame benimmt.«

Madame war nur wenig kleiner als Mumm. Sie könnte aus Gennua stammen, dachte er. Oder sie hat dort viel Zeit verbracht. Ein Hauch davon liegt in ihrem Akzent. Braune Augen, braunes Haar… Aber das Haar einer Frau kann jede beliebige Farbe haben. Und ein violettes Kleid, das noch teurer aussieht als die meisten. Und ein Gesicht, das betont, dass sein Eigentümer weiß, was geschehen wird, dass er nur deshalb an den Ereignissen teilnimmt, um sicherzustellen…

»Vergiss nicht die sorgfältig lackierten Fingernägel«, sagte die Frau. »Aber erwarte keine Hilfe von mir, wenn du wissen möchtest, wie viel ich wiege. Du darfst mich Madame nennen.«

Sie nahm Mumm gegenüber Platz, hob die Hände aneinander und musterte ihn. »Für wen arbeitest du?«, fragte sie.

»Ich bin Polizist«, sagte Mumm. »Und man hat mich hierher verschleppt… Madame.«

Die Frau winkte. »Du kannst gehen, wann immer du willst.«

»Der Sessel ist sehr bequem«, sagte Mumm. Er wollte sich nicht einfach fortschicken lassen. »Kommst du wirklich aus Gennua?«

»Kommst du wirklich aus Pseudopolis?« Madame lächelte. »Ich persönlich finde, dass es sich immer auszahlt, nicht von einem nahen Ort zu kommen. Das macht das Leben viel einfacher. Aber ich bin lange in Gennua gewesen, denn dort habe ich… geschäftliche Interessen.« Sie lächelte erneut. »Und jetzt denkst du vermutlich ›alte Näherin‹.«

»Eigentlich habe ich ›Maßschneiderei‹ gedacht«, erwiderte Mumm, und die Frau lachte. »Aber mein wichtigster Gedanke war ›revolutionär‹.«

»Sprich nur weiter, Oberfeldwebel.« Madame stand auf. »Hast du was dagegen, wenn ich mir ein wenig Sekt genehmige? Ich würde dir gern ein Glas anbieten, aber du trinkst nicht, soweit ich weiß.«

Mumm blickte auf das bis zum Rand gefüllte Whiskyglas. »Nur ein kleiner Test«, sagte Madame und zog eine große Flasche aus einem Eiskübel mit industrieller Kapazität.

»Du bist kein Feldwebel. Auch kein Oberfeldwebel – Rosie hat Recht. Du bist Offizier gewesen. Und mehr als nur ein alter Offizier. Du wirkst sehr gefasst, Oberfeldwebel Keel. Hier sitzt du, in einem großen Haus, im Boudoir einer Dame, in Gesellschaft einer Frau mit fragwürdiger Tugend.« Madame leerte die Flasche in einen großen, blauen Becher mit einem Teddybär. »Und du scheinst die Gelassenheit selbst zu sein. Woher kommst du? Übrigens darfst du rauchen.«

»Ich komme von einem weit entfernten Ort.«

»Überwald?«

»Nein.«

»Ich habe… geschäftliche Interessen in Überwald«, sagte Madame. »Leider wird die Situation dort instabil.«

»Oh, ich verstehe«, erwiderte Mumm. »Du möchtest deine geschäftlichen Interessen, die eine bedeutungsvolle Pause verdienen, auf Ankh-Morpork ausweiten, falls die hiesige Situation stabilisiert werden kann.«

»Sehr gut. Sagen wir: Ich glaube, dass diese Stadt eine wundervolle Zukunft hat, und ich würde gern daran teilhaben. Und du bist erstaunlich scharfsinnig.«

»Nein«, sagte Mumm. »Ich bin ganz simpel. Ich weiß nur, wie die Dinge funktionieren. Ich folge nur dem Geld. Winder ist ein Irrer, und so was ist nicht gut fürs Geschäft. Seine Spezis sind Verbrecher, und so was ist auch nicht gut fürs Geschäft. Ein neuer Patrizier braucht neue Freunde, Personen mit Weitblick, die an einer wundervollen Zukunft teilhaben möchten. An einer, die gut fürs Geschäft ist. So läuft das. Treffen in Zimmern. Ein wenig Diplomatie, einige Kompromisse, ein Versprechen hier, eine Vereinbarung dort. So laufen echte Revolutionen. Der Kram in den Straßen ist nur Schaum…« Mumm nickte in Richtung der Doppeltür. »Gäste zum späten Abendessen? Das war Doktor Folletts Stimme. Ein kluger Mann, so hieß es – so heißt es von ihm. Er wird sich für die richtige Seite entscheiden. Wenn du die Unterstützung der großen Gilden hast, ist Winder bereits so gut wie tot. Aber Schnappüber nützt euch kaum was.«

»Viele Leute setzen große Hoffnungen in ihn.«

»Was glaubst du?«

»Ich halte ihn für einen intriganten, selbstsüchtigen Narren. Aber derzeit gibt es keinen besseren Mann. Und wo kommst du ins Spiel, Oberfeldwebel?«

»Ich? Ich halte mich raus. Du hast nichts, das für mich von Interesse wäre.«

»Du willst nichts

»Oh, ich wünsche mir viele Dinge, Teuerste. Aber du kannst sie mir nicht geben.«

»Wie wäre es, wieder das Kommando zu führen?«

Die Frage traf ihn wie ein Hammer. Dies war Geschichte. Die Frau konnte unmöglich Bescheid wissen.

»Ah«, sagte Madame, die Mumms Gesichtsausdruck beobachtet hatte. »Rosemarie meinte, Diebe hätten dir eine sehr teure Rüstung abgenommen. Einem General angemessen, wie ich hörte.«

Sie hielt den Blick auf Mumm gerichtet, als sie eine zweite Flasche öffnete. Und zwar auf korrekte Weise, wie Mumm trotz des Schocks feststellte. Nicht das dilettantische Theater mit fliegenden Korken und vergeudeten Bläschen.

»Wäre das nicht seltsam, wenn es der Wahrheit entspräche?«, überlegte Madame. »Ein Straßenkämpfer mit dem Gebaren eines Kommandeurs und dem Brustharnisch eines Anführers.«

Mumm blickte starr geradeaus.

»Und wer muss wissen, wie er hierher gekommen ist?«, fragte Madame die leere Luft. »Wir könnten der Ansicht sein, dass du dich dafür eignest, das Kommando über die Stadtwache zu führen.«

Der erste Gedanke, der wie Sekt in Mumms Kopf sprudelte, lautete: Meine Güte, ich könnte es schaffen! Ich könnte Schwung rausschmeißen, einige anständige Feldwebel befördern…

Der zweite Gedanke war: In dieser Stadt? Unter Schnappüber? Jetzt? Wir wären nur eine weitere Bande. Der dritte Gedanke war: Dies ist verrückt. Es kann nicht geschehen. Es ist nie geschehen. Du möchtest nach Hause, zu Sybil zurück.

Die ersten beiden Gedanken schlurften beiseite, schämten sich und murmelten: Ja, natürlich Sybil völlig klar in Ordnung Tschuldigung Ihre Stimmen wurden leiser und verklangen schließlich ganz.

»Ich hatte immer das Talent, Vielversprechendes zu erkennen«, sagte Madame, während Mumm noch ins Leere starrte.

Der vierte Gedanke stieg durch die Dunkelheit auf wie ein grässliches Ungeheuer aus der Tiefe.

Du hast erst beim dritten Gedanken an Sybil gedacht, flüsterte er. Mumm blinzelte.

»Du weißt, was die Stadt braucht…«, begann Madame.

»Ich möchte nach Hause«, sagte Mumm. »Ich erledige die Aufgabe, die vor mir steht, und dann kehre ich heim. Etwas anderes kommt für mich nicht in Frage.«

»Es gibt Leute, die sagen würden: Wenn du nicht für uns bist, bist du gegen uns«, gab Madame zu bedenken.

»Für dich? Für was? Für irgendetwas? Nein! Aber ich bin auch nicht für Winder. Ich soll nicht ›für‹ jemanden sein. Und ich lasse mich nicht bestechen. Auch dann nicht, wenn Sandra mich mit einem Giftpilz bedroht.«

»Ich glaube, es war ein Pilz aus Holz.« Die Frau sah ihn an und lächelte. »Du bist unbestechlich?«

Lieber Himmel, es geht wieder los, dachte Mumm. Warum habe ich gewartet, bis ich verheiratet war, bevor ich für einflussreiche Frauen sonderbar attraktiv wurde? Warum ist das nicht passiert, als ich sechzehn war? Damals hätte ich so etwas gebrauchen können.

Er versuchte, durchdringend zu blicken, machte es dadurch aber wahrscheinlich noch schlimmer.

»Ich bin einigen unbestechlichen Männern begegnet«, sagte Madame Meserole. »Sie neigen dazu, einen schrecklichen Tod zu sterben. Weißt du, die Welt gleicht sich aus. Ein korrupter Mann in einer guten Welt oder ein guter Mann in einer korrupten Welt – am Resultat der Gleichung ändert sich nichts. Wer sich nicht für eine Seite entscheidet, wird von der Welt schlecht behandelt.«

»Mir gefällt die Mitte«, sagte Mumm.

»So bekommst du zwei Feinde. Es erstaunt mich, dass du dir so viele leisten kannst, nur mit dem Sold eines Oberfeldwebels. Bedenke, auf was du verzichtest.«

»Oh, ich denke daran. Und ich werde den Leuten nicht beim Sterben helfen, nur um einen Narren durch einen anderen zu ersetzen.«

»Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als mich von dir zu verabschieden. Ich bedauere sehr, dass wir nicht…«

»… ins Geschäft kommen?«, fragte Mumm.

»Dass wir keine für beide Seiten vorteilhafte Vereinbarung treffen können – das wollte ich sagen. Wir sind nicht weit von deinem Wachhaus entfernt. Ich wünsche… dir… Glück.«

Madames Nicken galt der Tür hinter Mumm. »Wie schade«, sagte sie und seufzte.

 

Mumm trat in die regnerische Nacht, verlagerte das Gewicht vom einen Bein auf das andere und versuchte einige Schritte.

Ecke Leichte Straße und Sirupminenstraße. Eine Mischung aus flachen Kopfsteinen und alten Ziegeln. Ja.

Er ging nach Hause.

 

Eine Zeit lang verweilte Madames Blick auf der geschlossenen Tür, dann drehte sie den Kopf, als sich die Flammen der Kerzen bewegten.

»Du bist wirklich sehr gut«, sagte sie. »Wie lange bist du schon hier?«

Havelock Vetinari trat aus dem Schatten in der Ecke. Er trug nicht das offizielle Schwarz der Assassinen, sondern weite Kleidung, die… eigentlich gar keine richtige Farbe hatte, nur verschiedene Arten von Grau.

»Ich bin schon ziemlich lange hier«, sagte er und sank in den Sessel, in dem bis eben Mumm gesessen hatte.

»Nicht einmal die Schmerzlichen Schwestern haben dich bemerkt?«

»Die Leute sehen, ohne zu sehen. Der Trick besteht darin, ihnen zu helfen, nichts zu sehen. Aber ich glaube, Keel wäre imstande gewesen, mich zu bemerken, wenn ich nicht dort drüben gestanden hätte. Er begegnet Schatten mit besonderer Aufmerksamkeit. Interessant.«

»Er ist ein sehr zorniger Mann«, sagte Madame.

»Du hast ihn noch zorniger gemacht.«

»Ich glaube, du bekommst deine Ablenkung«, sagte Madame.

»Das glaube ich auch.«

Madame beugte sich vor und klopfte ihm aufs Knie.

»Na bitte, deine Tante denkt an alles…« Sie stand auf. »Ich sollte jetzt besser gehen und meine Gäste unterhalten. Ich bin eine sehr unterhaltsame Person. Morgen Abend wird Lord Winder nicht mehr viele Freunde haben.« Sie trank ihren Becher aus. »Doktor Follett ist ein sehr reizender Mann, findest du nicht? Weißt du zufälligerweise, ob er sein eigenes Haar trägt?«

»Ich hatte noch keine Gelegenheit, das herauszufinden«, sagte Havelock. »Versucht er, dich betrunken zu machen?«

»Ja«, erwiderte Madame. »Man muss ihn bewundern.«

»Es heißt, er kann recht gemein sein«, sagte Havelock.

»Interessant«, entgegnete Madame.

Sie ließ ein offenes, ehrliches Lächeln auf ihren Lippen erscheinen und öffnete die große Doppeltür auf der anderen Seite des Zimmers. »Ah, Doktor«, sagte sie und trat in den Dunst aus Zigarrenrauch. »Noch etwas Sekt?«

 

Mumm schlief in einer Ecke, im Stehen. Ein alter Trick, den Angehörige der Nachtwache und Pferde beherrschten. Es war kein echter Schlaf – man riskierte den Tod, wenn man mehrere Nächte hintereinander damit auszukommen versuchte –, aber es vertrieb einen Teil der Müdigkeit.

Einige der anderen Männer hatten den Trick bereits gelernt. Andere benutzten Tische oder Sitzbänke. Niemand schien nach Hause gehen zu wollen, nicht einmal dann, als das Licht der Morgendämmerung durch den Regen glitt und Schnauzi mit grässlichem Brei hereinkam.

Mumm öffnete die Augen.

»Ein Becher Tee, Chef?«, fragte Schnauzi. »Eine Stunde gekocht und mit zwei Würfeln Zucker.«

»Du bist ein Lebensretter, Schnauzi«, sagte Mumm und griff nach dem Becher, als enthielte er ein Lebenselixier.

»Und draußen ist ein Junge, der dich, hnah, persönlich sprechen möchte«, fügte Schnauzi hinzu. »Soll ich ihm einen Satz rote Ohren verpassen?«

»Wie riecht er?«, fragte Mumm und nippte an dem heißen, ätzenden Tee.

»Wie der Boden eines Paviankäfigs, Chef.«

»Ah, Nobby Nobbs. Ich gehe nach draußen und rede mit ihm. Bring ihm einen großen Teller Brei.«

Unbehagen schlich in Schnauzis Miene. »Wenn ich dir, hnah, einen Rat geben darf, Chef: Es zahlt sich nicht aus, solche Burschen zu ermutigen…«

»Siehst du diese Streifen, Schnauzi? Bravo. Einen großen Teller.« Mumm trat mit seinem Tee auf den feuchten Hof, wo Nobby an der Mauer lehnte.

Es gab Anzeichen dafür, dass ein sonniger Tag bevorstand. Nach dem Regen der Nacht sollte manches wachsen, zum Beispiel der Flieder…

»Was ist los, Nobby?«

Nobby zögerte kurz, um festzustellen, ob eine Münze erschien. »Es sieht überall ziemlich schlecht aus«, sagte er und gab es zunächst auf, ohne die Hoffnung zu verlieren. »Im Hohen Schlag kam ein Gefreiter ums Leben. Wurde von einem geworfenen Stein getroffen, heißt es. Bei dem Kampf beim Schlummerhügel wurden jemandem die Ohren abgeschnitten. Kavalleristen griffen an. Überall Aufruhr. Die Wachhäuser bekamen den Zorn der Leute zu spüren…«

Mumm hörte bedrückt zu. Es war die übliche blutige Angelegenheit. Zornige und ängstliche Leute auf beiden Seiten, von den Umständen zusammengedrängt. Die Dinge spitzten sich zu. Der Schlummerhügel und die Tollen Schwestern waren bereits Kriegsgebiete.

nach oben fliegen die kleinen Engel, nach oben empor

»Ist in der Ankertaugasse was passiert?«, fragte Mumm.

»Nicht viel«, erwiderte Nobby. »Nur einige wenige Leute fanden sich dort ein, riefen etwas und liefen weg.«

»Verstehe«, brummte Mumm. So dumm war nicht einmal der Pöbel. Bisher beschränkte sich die Sache noch auf junge Leute, Hitzköpfe und Betrunkene, aber bestimmt wurde es bald schlimmer. Für einen Angriff auf die Unaussprechlichen musste man geradezu außer sich sein vor Zorn.

»Überall geschehen üble Dinge«, fuhr Nobby fort. »Nur hier nicht. Wir sind von all dem nicht betroffen.«

Noch nicht, dachte Mumm. Aber vermutlich finden wir uns bald im Zentrum der Entwicklung wieder.

Schnauzi kam durch die Hintertür des Wachhauses und trug einen großen Teller mit Haferflockenbrei, in dem ein Löffel steckte. Mumm nickte Nobby zu, und der Teller wurde mit sichtlichem Widerstreben übergeben.

»Chef?«, fragte Schnauzi und behielt den Löffel im Auge, als Nobby den Brei verschlang.

»Ja, Schnauzi?«

»Haben wir irgendwelche Befehle

»Ich weiß nicht. Ist der Hauptmann da?«

»Komische Sache, Chef«, sagte Schnauzi. »Letzten Abend kam ein Kurier mit einem Umschlag für den Hauptmann, und ich brachte ihn nach oben, und dort wartete der Hauptmann, und da dachte ich, komische Sache, haha, dachte ich, normalerweise ist er nicht so früh da…«

»Schneller, Schnauzi«, sagte Mumm, als der Mann wieder den oszillierenden Löffel beobachtete.

»Nun, als ich ihm später seinen Kakao brachte, saß er einfach nur da, hnah, und starrte ins Leere. Aber er sagte ›Danke, Schnauzi‹, als ich ihm den Kakao reichte, hnah. In dieser Hinsicht ist er immer sehr, hnah, freundlich. Doch als ich eben nach oben ging, war er nicht mehr da.«

»Er ist alt, Schnauzi. Man kann nicht von ihm erwarten, dass er die ganze Zeit hier ist…«

»Und sein Tintenfass ist ebenfalls weg. Er hat es noch nie mit nach Hause genommen.«

Mumm bemerkte, dass Schnauzis Augen noch roter waren als sonst. Er seufzte. »Irgendeine Spur von dem Umschlag?«

»Nein, Chef«, erwiderte Schnauzi und sah erneut zu dem Löffel in Nobbys Hand. Es war ein einfacher, billiger Blechlöffel, stellte Mumm fest.

»In dem Fall wahren wir einfach den Frieden, Schnauzi«, sagte er.

»Davon gibt es nicht mehr viel, Chef.«

»Mal sehen, ob wir welchen finden. Komm mit.«

Schnauzi zögerte. »Ich möchte den Löffel im Auge behalten, Chef, wir haben nur noch fünf davon, und solche Burschen klauen alles…«

»Er kann den verdammten Löffel behalten!«, donnerte Mumm. »Löffel sind derzeit nicht wichtig!«

Nobby schaufelte den Rest in sich hinein, ließ den Löffel in der Hosentasche verschwinden, streckte Schnauzi seine von Haferbrei belegte Zunge raus, ließ den Teller fallen und stob davon.

Mumm kehrte ins Wachhaus zurück, griff nach der Schöpfkelle und schlug sie gegen die Innenseiten des leeren Kessels. Köpfe sahen auf.

»Alle herhören! Hier sind neue Anweisungen für euch! Alle verheirateten Männer haben die Erlaubnis, für eine Stunde nach Hause zu gehen und ihren Frauen zu sagen, dass sie unbesorgt sein sollen! Die anderen machen unbezahlte Überstunden! Ist jemand überrascht?«

Wiggel hob die Hand. »Wir alle haben Familie, Oberfeldwebel«, sagte er.

»Und wenn ihr euren Familien helfen wollt, dann sorgt hier für Recht und Ordnung«, erwiderte Mumm. »Wir wissen nicht, was bei den anderen Wachhäusern los ist, aber was auch immer dort passiert – es klingt nicht gut. Dieses Haus bleibt offen, klar? Tag und Nacht. Ja, Gefreiter Mumm?«

»Aber meine Mutter ist bestimmt sehr beunruhigt, Oberfeldwebel«, sagte der junge Sam.

Mumm zögerte, aber nur kurz. »Wenn du ihr etwas schreiben möchtest – Schnauzi flitzt damit los. Das gilt auch für die anderen. Wir gehen bald wieder auf Streife. Ja, ich weiß, dass wir die Nachtwache sind. Na und? Mir scheint, derzeit sieht’s dort draußen ziemlich finster aus! Gefreiter, komm mit auf den Hof.«

Mumm verließ das Wachhaus und trat in den Morgen.

Rein theoretisch diente der Hof auch zur Ausbildung, aber für diesen Zweck wurde er nur selten gebraucht. Die Nachtwache nutzte jede Gelegenheit, Gewalt zu vermeiden. Wenn Drohungen oder zahlenmäßige Überlegenheit versagten, ergriff man besser die Flucht.

Im Schuppen gab es einige vermodernde Zielscheiben und Strohpuppen für Übungen mit dem Schwert. Mumm zog sie aufs Pflaster, als der junge Sam hinter ihm erschien.

»Du hast doch gesagt, die Dinger seien unnütz, Oberfeldwebel.«

»Das sind sie auch«, sagte Mumm. »Ich habe sie hierher gelegt, damit du auf etwas Weiches fällst. Sam, du bist mit einer Waffe unterwegs, mit der du nicht umgehen kannst. Das ist noch schlimmer, als ohne eine Waffe unterwegs zu sein, mit der du umgehen kannst. Ein Mann mit einer Waffe, mit der er nicht umgehen kann, riskiert, dass man sie ihm dorthin steckt, wo die Sonne nicht scheint.«

Er nahm Brustharnisch und Helm ab und warf den Schwertgürtel in eine Ecke.

»Na schön, greif mich an«, sagte Mumm. Aus dem Augenwinkel sah er, dass einige der Männer auf den Hof gekommen waren und das Geschehen beobachteten.

»Aber ich kann dich doch nicht mit dem Schwert erschlagen!«, entfuhr es Sam.

»Nein, aber du sollst es versuchen.«

Sam zögerte erneut. Ich bin kein völliger Dummkopf gewesen, dachte Mumm.

»Du lächelst, Oberfeldwebel.«

»Und?«

»Du lächelst und stehst einfach nur da, Oberfeldwebel«, sagte Sam. »Ich weiß, dass mich Dresche erwartet, denn du hast kein Schwert und lächelst.«

»Hast du Angst davor, dein Schwert mit Blut zu beflecken, Junge? Na schön, wirf es weg. Fühlst du dich jetzt besser? Du warst Mitglied einer Bande, nicht wahr? Natürlich warst du das. Jeder Junge ist irgendwann Mitglied einer Bande. Und du lebst. Was bedeutet, dass du zu kämpfen gelernt hast.«

»Ja, Oberfeldwebel, aber das war, du weißt schon, gemeines Kämpfen…«

»Wir sind gemeine Leute«, sagte Mumm. »Ich erwarte das Schlimmste von dir.«

»Ich möchte dich nicht verletzen, Oberfeldwebel!«

»Das ist dein erster Fehler…«

Sam wirbelte herum und trat zu.

Mumm wich einen Schritt zurück, griff nach dem Fuß und beschleunigte dessen Reise nach oben.

Und ich war auch schnell, dachte er, als Sam auf dem Rücken landete. Und schlau. Aber seitdem habe ich viel dazugelernt.

»Es stand in deinen Augen«, teilte er dem am Boden liegenden Sam mit. »Aber du hast das grundlegende Konzept verstanden. Es gibt keine Regeln.«

Mumm spürte eine Veränderung hinter sich, und dazu gehörte ein sehr gedämpftes Kichern. Er sah zu Sam, der an ihm vorbeiblickte.

Der Schlag hätte den Kopf getroffen, wäre Mumm nicht genau im richtigen Moment zur Seite getreten. Er drehte sich um, griff nach der Faust und sah in das Gesicht von Ned Coates.

»Hast du einen schönen freien Tag, Coates?«, fragte Mumm.

»Ja, Oberfeldwebel, besten Dank. Wollte nur feststellen, wie gut du bist.«

Er rammte Mumm den Ellenbogen in die Magengrube und tänzelte zur Seite. Die Zuschauer brummten, aber Mumm, vornübergebeugt und mit Tränen in den Augen, hob die Hand.

»Schon gut, schon gut«, keuchte er. »Wir alle haben etwas zu lernen.« Er stützte die Hände auf die Knie und schnaufte hingebungsvoller, als nötig war.

Es beeindruckte ihn, dass Ned nicht darauf hereinfiel. Er wahrte sichere Distanz, ging langsam im Kreis um ihn herum und hielt jetzt seinen Schlagstock bereit. Ein weniger erfahrener Kämpfer wäre näher gekommen, um zu sehen, wie es dem guten alten Oberfeldwebel ging – und hätte dafür gebüßt.

»Ganz recht, Oberfeldwebel«, sagte Ned. »Ich möchte sehen, was du mich lehren kannst. Sam ist zu vertrauensselig.«

Mumms Gedanken blätterten hastig den Katalog der Möglichkeiten durch.

»Nun, Oberfeldwebel«, sagte Ned und blieb in Bewegung, »was tust du, wenn du unbewaffnet bist und von einem Mann angegriffen wirst, der einen Schlagstock hat?«

Ich würde mich so schnell wie möglich bewaffnen, wenn ich annehmen müsste, dass der Angreifer so gut ist wie du, dachte Mumm.

Er sprang und rollte herum. Neds Hieb verfehlte ihn. Als Mumm begonnen hatte, sich nach rechts zu bewegen, wandte sich Coates nach links, in der Annahme, dass es jemand wie Mumm zuerst mit einer Finte versuchte. Als er sich von der Überraschung erholte und umdrehte, griff Mumm nach der Scheide und zog sein Schwert.

»Ah, du erhöhst den Einsatz«, sagte Ned. »Gute Lektion, Oberfeldwebel.« Er zog sein eigenes Schwert. Es glänzte. Den meisten Schwertern der Wache wäre es schwer gefallen, Butter zu schneiden. »Jetzt ist die Situation wieder ausgeglichen. Was nun, Oberfeldwebel?«

Sie gingen umeinander herum und belauerten sich. Verflixt, dachte Mumm. Wer hat ihm das Kämpfen beigebracht? Und er lächelt, kein Wunder. Dies ist alles andere als ein faires Duell. Ich darf ihn nicht verletzen, nicht vor den anderen Männern. Aber er kann mich erwischen und damit durchkommen – ein Oberfeldwebel sollte es besser wissen. Und der Einsatz lässt sich nicht noch weiter erhöhen.

Moment mal…

Mumm warf das Schwert zur Mauer. Reiner Zufall wollte, dass es darin stecken blieb, was die Zuschauer beeindruckte.

»Ich sollte dir eine Chance geben, Ned«, sagte er und trat zurück.

Man lernt nie aus, dachte Mumm und erinnerte sich an Dollbert Doppelgrins. Sam würde ihm erst in etwa fünf Jahren begegnen – ihm standen einige sehr lehrreiche Erfahrungen bevor. Es gab keinen gemeineren Kämpfer als Doppelgrins. Für ihn war alles eine Waffe und alles ein Ziel. Auf diesem beschränkten Gebiet war Dollbert Doppelgrins ein Genie. Er sah überall Waffen: in der nächsten Wand, in einem Tuch, einem Obststück…

Er war nicht einmal ein großer Mann, eher klein und drahtig. Aber es gefiel ihm, gegen große Männer zu kämpfen, denn dann gab es für ihn mehr zu beißen. Wenn er was intus hatte, ließ sich kaum mehr feststellen, gegen was er kämpfte. Dann neigte er dazu, den nächstbesten Mann anzugreifen, nur weil er dem Universum nicht das Knie in die Eier stoßen konnte.

Man nannte ihn Doppelgrins, seit ihm jemand das Gesicht zerschnitten hatte. Zu jenem Zeitpunkt hatte Dollbert so sehr in Adrenalin geschwommen, dass er darin nur ein unwesentliches Detail sah. Die Narben formten ein fröhlich lächelndes Gesicht. Sam hatte viel von Dollbert Doppelgrins gelernt.

»Worum geht’s?«, fragte Mumm gerade laut genug, dass Ned ihn hörte.

»Ich möchte nur herausfinden, wie viel du weißt, Oberfeldwebel«, sagte Ned und ging noch immer um ihn herum. »Mir scheint, du weißt zu viel.«

Er sprang vor. Mumm wich zurück und fuchtelte mit der Scheide, wie jemand, der überhaupt keine Hoffnung hat. Als Ned lachte und sich zur Seite wandte, verschob Mumm seinen Griff um das steife Leder.

»Ich habe den Helm auf, wie es die Vorschriften verlangen«, sagte Ned. »Und ich trage den Brustharnisch. Es dürfte dir sehr schwer fallen, mich zusammenzuschlagen.«

Obwohl Detritus sie anschrie: Nicht ein Wächter von sieben ging richtig mit seinem Schwert um. Ned hingegen wusste, wie man ein Schwert führte. Er ließ Mumm praktisch keine Chance.

Zeit für eine List.

Er trat einen Schritt zurück, blieb stehen und sah, was hinter Coates geschah. Er versuchte, es zu verbergen, konnte aber nicht verhindern, dass sich kurz Erleichterung in seinen Augen zeigte.

Coates’ Blick huschte zur Seite.

Mumm schlug zu, nutzte die Scheide als Erweiterung seines Arms. Das steife Leder traf den Mann unterm Kinn und stieß seinen Kopf zurück. Dann fuhr das Leder auf die Schwerthand herab, und zusätzlich trat Mumm seinem Gegner vor das Schienbein, damit er zusammenbrach. Er hatte immer eine Allergie gegen scharfe Klingen gehabt, die seinem Gesicht zu nahe kamen.

»Nicht schlecht, du hast dir Mühe gegeben«, sagte Mumm und wandte sich den Zuschauern zu. Während es hinter ihm gurgelte und gluckste, fuhr er fort: »Alles ist eine Waffe, wenn es richtig benutzt wird. Die Glocke kann zur Keule werden. Wenn ihr etwas habt, mit dem ihr euren Gegner hart genug stoßen könnt, um Zeit zu gewinnen, ist das eine gute Sache. Bedroht nur dann jemanden mit einem Schwert, wenn ihr wirklich bereit seid, Gebrauch davon zu machen. Denn wenn euch der Gegner zwingt, Farbe zu bekennen, habt ihr nur noch wenige Möglichkeiten, und es sind alle die falschen. Schreckt nicht davor zurück, das einzusetzen, was ihr als Kinder gelernt habt. Wir werden nicht dafür belohnt, fair zu sein. Und was den Nahkampf betrifft: Als euer Oberfeldwebel verbiete ich euch ausdrücklich, euch das Angebot an Totschlägern und Schlagringen anzusehen, das Frau Gutleib in ihrem Laden in der Leichten Straße Nummer 8 bereithält, zu Preisen, die sich jeder leisten kann. Und wenn jemand von euch privat an mich herantreten sollte, werde ich ihm nicht einige besondere Schläge zeigen, die sich für diese nützlichen, aber auch schwierigen Instrumente eignen. So, und nun wärmt euch auf. Ich möchte, dass ihr in zwei Minuten mit euren Schlagstöcken hier antretet. Ihr haltet das Ding vielleicht nur für einen dummen Stock, und ich werde euch zeigen, wie sehr ihr euch irrt. Nun macht schon!«

Er drehte sich zu dem leidenden Ned um, der sich inzwischen aufgesetzt hatte.

»Kein übler Kampfstil, Coates. In der Wache hast du ihn nicht gelernt, so viel steht fest. Müssen wir irgendetwas besprechen? Kannst du mir sagen, wo du gestern Abend warst? Vielleicht in der Morphischen Straße?«

»Es war mein freier Tag«, murmelte Ned und rieb sich den Unterkiefer.

»Ja, stimmt. Geht mich nichts an. Mir scheint, wir kommen nicht besonders gut miteinander klar.«

»Nein.«

»Du hältst mich für eine Art Spion.«

»Ich weiß, dass du nicht John Keel bist.«

Mumm wahrte eine ausdruckslose Miene – wodurch er sich verriet, wie ihm eine Sekunde später klar wurde.

»Warum sagst du das?«, fragte er.

»Ich brauche es dir nicht zu erklären. Und du bist kein einfacher Oberfeldwebel der Wache. Und eben hattest du nur Glück, und mehr sage ich nicht.« Ned stand auf, als die anderen Wächter zurückkehrten.

Mumm wandte sich von ihm ab und widmete seine Aufmerksamkeit den Männern.

Niemandem von ihnen war jemals etwas beigebracht worden. Sie hatten voneinander gelernt, mehr oder weniger viel. Und Mumm wusste, wohin dieser Weg führte. Auf diesem Weg rollten Polizisten Betrunkene herum, um an ihr Kleingeld zu kommen, versicherten sich gegenseitig, dass Bestechungsgelder zulässige Nebeneinkünfte waren… Und auf diesem Weg warteten noch schlimmere Dinge.

Mumm hatte nichts dagegen, Rekruten auf die Straße zu schicken, aber zuerst musste man sie ausbilden. Man brauchte jemanden wie Detritus, der sie sechs Wochen lang anbrüllte. Man brauchte Lektionen über Pflicht, die Rechte von Gefangenen und den »Dienst für die Öffentlichkeit«. Und danach konnte man sie den Straßenungeheuern übergeben, die ihnen den anderen Kram beibrachten, ihnen zum Beispiel zeigten, wo es zuzuschlagen galt, wenn keine Spuren zurückbleiben sollten. Von diesen Leuten hörten die Rekruten auch, dass es eine gute Idee war, sich vorne einen Suppenteller aus Metall in die Hose zu schieben, bevor man sich um die Schlägerei in einer Taverne kümmerte.

Und wenn man Glück hatte und die Rekruten vernünftig waren… dann fanden sie eine Stelle zwischen unmöglicher Perfektion und dem Abgrund, wo sie echte Polizisten sein konnten – ein wenig befleckt, das brachte der Job eben mit sich, aber nicht verdorben.

Mumm teilte die Wächter in Paare ein und wies sie an, Angriff und Verteidigung zu üben. Sie boten einen schrecklichen Anblick, den er fünf Minuten lang ertrug.

»Na schön«, sagte er und klatschte in die Hände. »Ausgezeichnet. Wenn der Zirkus in die Stadt kommt, empfehle ich euch.« Die Männer ließen die Schultern hängen und lächelten verlegen, als Mumm fortfuhr: »Kennt ihr überhaupt irgendeine der Bewegungen? Den Kehlenstoß? Den Rot Glühenden Schürhaken? Den Ribrattler? Angenommen, ich greife mit einem großen Knüppel an… Was macht ihr?«

»Wir laufen weg, Oberfeldwebel«, sagte Wiggel. Gelächter erklang.

»Wie weit könnt ihr laufen?«, fragte Mumm. »Irgendwann müsst ihr kämpfen. Obergefreiter Coates?«

Ned Coates hatte nicht an den Übungen teilgenommen, sondern mit einer Art stationärem Stolzieren an der Mauer gelehnt und das traurige Spektakel voller Verachtung beobachtet.

»Oberfeldwebel?«, erwiderte er und richtete sich mit einem Minimum an Mühe auf.

»Zeig Wiggel, wie es gemacht wird!«

Coates holte seinen Schlagstock hervor, und Mumm stellte fest, dass er ein wenig länger war als die normale Ausführung. Er trat vor Wiggel und kehrte Mumm demonstrativ den Rücken zu.

»Und jetzt, Oberfeldwebel?«, fragte Coates über die Schulter hinweg.

»Zeig ihm, wie man damit zuschlägt! Überrasch ihn!«

»In Ordnung, Oberfeldwebel.«

Mumm beobachtete das sporadische Klappern der Schlagstöcke. Eins, zwei, drei…

… und Ned wirbelte herum. Sein Stock zischte durch die Luft.

Mumm duckte sich unter dem Hieb weg, griff mit beiden Händen nach dem Arm des Mannes, drehte ihn auf dessen Rücken, beugte sich vor und brachte seinen Mund in unmittelbare Nähe von Neds Ohr.

»Das kam nicht völlig unerwartet, mein Lieber«, flüsterte er. »Jetzt lächeln wir beide, denn die Jungs lachen über unseren Ned. Ein echter Witzbold, hat noch einmal versucht, dem Oberfeldwebel eins zu verpassen. Und wir wollen ihnen doch nicht den Spaß verderben. Ich lasse dich jetzt los, aber ein weiterer Angriff und du brauchst beide Hände, um einen Löffel zu heben, und du brauchst einen Löffel, Ned, weil du keine verdammten Zähne mehr hast und dich von Suppe ernähren musst!« Mumm lockerte seinen Griff. »Von wem hast du das alles gelernt?«

»Von Feldwebel Keel«, erwiderte Ned.

»Gute Arbeit, Oberfeldwebel Keel!«

Mumm drehte sich um und sah Hauptmann Schwung über den Hof kommen.

Im Tageslicht schien er kleiner und dünner zu sein, sah aus wie ein Sekretär, der nicht richtig auf sein Erscheinungsbild achtete. Sein Haar war glatt, und einige dicke schwarze Strähnen klebten auf der kahlen Stelle ganz oben am Kopf – sie deuteten an, dass der Mann entweder keinen Spiegel oder nicht den geringsten Sinn für Humor hatte.

Er trug eine altmodische, aber gut erhaltene Jacke. Seine Schnallenschuhe waren zerkratzt und abgenutzt – Mumms Mutter hätte sich dazu einen Kommentar nicht verkniffen. Ein Mann sollte sich um seine Stiefel kümmern, sagte sie immer. Man konnte jemanden nach dem Glanz seiner Schuhe beurteilen.

Schwung hatte auch einen Spazierstock beziehungsweise einen Opernstock. Vielleicht glaubte er, damit kultiviert zu wirken und nicht wie ein Mann, der ein überflüssiges Stück Holz mit sich herumtrug. Es schien sich um einen Stockdegen zu handeln, denn das Ding klapperte, wenn es das Pflaster berührte, so wie jetzt, als Schwung an den alten Zielscheiben und den Strohpuppen vorbeiging.

»Du hältst die Männer auf Zack, wie ich sehe«, sagte er. »Ausgezeichnet. Ist euer Hauptmann da?«

»Ich glaube nicht«, sagte Mumm und ließ Coates los. »Herr.«

»Ach? Nun, vielleicht kannst du ihm dies geben, Oberfeldwebel Keel.« Schwungs Lippen deuteten ein Lächeln an. »Es liegt eine erfolgreiche Nacht… hinter dir, soweit ich weiß.«

»Wir hatten einige Besucher«, erwiderte Mumm. »Herr.«

»Ah, ja. Falscher Eifer. Man sollte dichnicht… unterschätzen, Oberfeldwebel. Du bist ein einfallsreicher Mann. Die anderen Wachhäuser waren leider nicht so…«

»… einfallsreich?«

»Ja. Leider sind einige meiner eifrigeren Männer der Ansicht, dass du unsere nützlicheArbeit… behinderst. Ich hingegen binderAnsicht… dass du dich nur eisern ans Gesetz hältst. Leider hat das zu gewissen Spannungen… geführt, vor allem wegen deines mangelnden Verständnisses inHinsichtauf… gewisse Erfordernisse der Situation. Ich weiß, dass du im Grunde genommen ein Mann ganz nach meinem Herzen bist.«

Mumm dachte über die anatomische Auswahl nach.

»Das stimmt vermutlich, allgemein gesprochen, Herr«, sagte er. »Obwohl mein Ehrgeiz nicht ganz so weit reicht.«

»Gut. Ich freuemichauf… unsere zukünftige Zusammenarbeit, Oberfeldwebel. Der neue Hauptmann wird dichzweifellos… über andere Dinge in Kenntnis setzen, sobald er das für angebracht hält. Guten Tag.«

Schwung drehte sich um und wackelte zurück zum Tor. Seine Männer schickten sich an, ihm zu folgen. Einer von ihnen – einer seiner Arme steckte in einem Gipsverband – machte eine unschöne Geste, bevor er sich umdrehte.

»Morgen, Heini Hamster«, sagte Mumm.

Dann sah er auf den Brief hinab. Er war sehr dick und mit einem großen, gepressten Siegel versehen. Aber Mumm hatte zu viel Zeit in der Gesellschaft übler Leute verbracht und wusste genau, was man mit einem versiegelten Umschlag machte.

Er hatte auch gut zugehört. Neuer Hauptmann. Es begann also. Die Männer beobachteten ihn.

»Werden noch mehr, hnah, Soldaten herbeigerufen, Chef?«, fragte Schnauzi.

»Ich denke schon«, sagte Mumm.

»Hauptmann Tilden ist rausgeflogen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Er war ein guter Hauptmann!«, protestierte Schnauzi.

»Ja«, bestätigte Mumm. Nein, dachte er. Das war er nicht. Er war nur ein anständiger Mann, der sich alle Mühe gab. Und jetzt hat er mit dieser Sache nichts mehr zu tun.

»Was machen wir jetzt, Oberfeldwebel?«, fragte Gefreiter Mumm.

»Wir gehen auf Streife«, sagte Mumm. »In der Nähe. Nur die wenigen Straßen hier.«

»Was nützt das?«

»Es nützt mehr, als wenn wir überhaupt nicht auf Streife gingen. Hast du nicht den Eid abgelegt, als du Wächter wurdest?«

»Welchen Eid, Oberfeldwebel?«

Nein, das hatte er nicht, erinnerte sich Mumm. Viele von ihnen kannten den Eid überhaupt nicht. Man zog einfach die Uniform an und hängte sich die Glocke an den Gürtel – dann gehörte man zur Nachtwache.

Vor einigen Jahren hätte sich auch Mumm nicht um den Eid geschert. Die Worte waren nicht mehr zeitgemäß und der Shilling am Bindfaden ein Witz. Aber man brauchte mehr als nur den Sold, selbst in der Nachtwache. Man brauchte noch etwas anderes, um zu wissen, dass es mehr war als nur ein Job.

»Schnauzi, bitte hol den Shilling aus dem Büro des Hauptmanns«, sagte Mumm. »Vereidigen wir diesen Haufen. Und wo ist Feldwebel Klopf?«

»Abgehauen, Oberfeldwebel«, sagte Wiggel. »Weiß nicht, ob es hilft, aber er brummte ›zur Hölle mit ihm‹, als er durch die Tür ging.«

Mumm zählte die Wächter.

Später würde es heißen, dass die ganze Wache ausharrte. Aber das stimmte natürlich nicht. Einige stahlen sich davon, andere kehrten nicht zum Dienst zurück. Aber es stimmte, soweit es Keel und seine Truppe betraf.

»Na schön, Jungs«, sagte er. »Die Sache sieht so aus. Wir wissen, was los ist. Ich weiß nicht, wie ihr’s seht, aber mir gefällt’s nicht. Wenn sich Soldaten auf den Straßen herumtreiben, ist es nur eine Frage der Zeit, bis was passiert. Ein Kind wirft einen Stein, und im nächsten Moment steht ein Haus in Flammen, und Leute sterben. Wir werden den Frieden bewahren. Das ist unsere Aufgabe. Wir spielen nicht die Helden, sondern sind… ganz normal. Nun…«

Er nahm eine andere Haltung ein. »Vielleicht sagt jemand, dass wir Unrechtes tun. Deshalb gebe ich euch keinen Befehl.«

Er zog sein Schwert und kratzte damit eine Linie in den Schmutz und auf die Kopfsteine.

»Wenn ihr über diese Linie tretet, seid ihr dabei«, erklärte er. »Wenn nicht, ist das in Ordnung. Als ihr der Nachtwache beigetreten seid, habt ihr euch nicht für eine solche Angelegenheit verpflichtet, und ich bezweifle, dass Medaillen in Aussicht stehen, was auch immer geschieht. Wer auf der anderen Seite der Linie bleiben möchte, kann mit meinen besten Wünschen nach Hause gehen.«

Es war fast deprimierend zu sehen, wie schnell Gefreiter Mumm über die Linie trat. Fred Colon kam als Nächster, dann Keule und Billy Wiggel. Und Schnellhuhn, Kuhlwetter, Feucht und Herbert Humpel und Horatio Nimmernich und… Curry. Und Ewans, Sprung…

Mehr als zehn Wächter überschritten die Linie, die letzten zögernd, hin und her gerissen zwischen dem Erwartungsdruck der Gleichgestellten und dem Bestreben, die eigene Haut zu retten. Einige andere, mehr, als Mumm gehofft hatte, verschwanden weiter hinten.

Damit blieb Ned Coates übrig. Er verschränkte die Arme. »Ihr seid alle total übergeschnappt«, sagte er.

»Wir könnten dich gebrauchen, Ned«, meinte Mumm.

»Ich möchte nicht sterben«, sagte Ned. »Ich bin fest entschlossen, am Leben zu bleiben. Dies ist doch Blödsinn. Ihr seid kaum ein Dutzend. Was könnt ihr ausrichten? All der Kram vom ›Frieden bewahren‹ – das ist Unsinn, Jungs. Polizisten führen die Anweisungen ihrer Vorgesetzten aus. So ist es immer gewesen. Was macht ihr, wenn der neue Hauptmann eintrifft? Und für wen wollt ihr den Kopf hinhalten? Für die Bürger? Sie haben die anderen Wachhäuser angegriffen, und was hat die Nachtwache getan, um ihren Zorn zu wecken?«

»Nichts«, sagte Mumm.

»Na bitte.«

»Ich meine, die Wache hat nichts getan, und das hat den Zorn der Leute geweckt«, sagte Mumm.

»Und was willst du unternehmen? Hast du vielleicht vor, Winder zu verhaften?«

Mumm fühlte sich, als baute er eine Brücke aus Streichhölzern über einem bodenlosen Abgrund, und jetzt spürte er den kalten Wind unter sich.

Damals in der Zukunft hatte er Vetinari verhaftet. Zugegeben, er war wieder in die Freiheit entlassen worden, als dem Gesetz Genüge getan war – falls man es so nennen durfte. Aber das änderte nichts daran, dass die Stadtwache stark genug war und über die notwendigen Beziehungen verfügte, um den Herrscher der Stadt zu verhaften. Wie hatte sie diese Entwicklungsstufe erreicht? Wie hatte er auch nur davon träumen können, dass einige Wächter einmal den Boss einlochen würden?

Vielleicht begann es hier. Gefreiter Mumm beobachtete ihn aufmerksam.

»Das können wir natürlich nicht«, sagte Mumm. »Aber wir sollten dazu imstande sein. Und vielleicht sind wir das eines Tages. Wenn nicht… dann wäre das Gesetz kein Gesetz, sondern nur ein Mittel, um die Bürger unter Kontrolle zu halten.«

»Mir scheint, du bist aufgewacht und hast die Scheiße gerochen«, sagte Coates. »Denn genau darin steckst du, in der Scheiße. Tut mir Leid, Jungs, aber ihr werdet sterben. Das passiert, wenn ihr euch auf einen Kampf gegen echte Soldaten einlasst. Erinnert ihr euch an die Tollen Schwestern gestern Abend? Drei Tote, und sie versuchten nicht einmal, Widerstand zu leisten.«

»Komm schon, Ned, niemand hat es auf uns abgesehen, wenn wir einfach nur auf Streife gehen«, murmelte Colon.

»Und wozu wollt ihr auf Streife gehen?«, erwiderte Coates. »Um den Frieden zu wahren? Ich bleibe nicht hier, um euch sterben zu sehen. Ich gehe.«

Er drehte sich um, verließ den Hof und betrat das Wachhaus. Der Mistkerl hat Recht, dachte Mumm. Ich wünschte, er hätte nicht so verdammt Recht.

»Noch immer hier, Jungs?«, wandte er sich an die Wächter, die über die Linie getreten waren.

»Ja, Oberfeldwebel!«, bestätigte Gefreiter Mumm. Die anderen Freiwilligen wirkten etwas weniger überzeugt.

»Droht uns der Tod?«, fragte Wiggel.

»Wer sagt, dass es zu einem Kampf kommt?«, erwiderte Mumm und sah Coates nach. »Wartet einen Moment, ich möchte kurz mit Ned reden…«

»Ich habe den Shilling, Chef«, sagte Schnauzi und eilte über den Hof. »Und der Hauptmann erwartet dich.«

»Sag ihm, dass ich gleich…«

»Es ist der neue Hauptmann«, sagte Schnauzi schnell. »Ist bereits hier, hnah. Eifrig. Militärisch. Nicht der geduldige Typ, Chef.«

Ich hatte Karotte, Detritus, Angua und Grinsi für das hier, dachte Mumm bitter. Ich konnte diese Dinge den anderen überlassen und brauchte mich nur über die verdammte Politik zu ärgern…

»Fred soll die Männer vereidigen«, sagte Mumm. »Und richte dem Hauptmann aus, dass ich gleich zu ihm komme.«

Er eilte ins Wachhaus und durch die Vordertür. Viele Leute waren auf der Straße, mehr als sonst. Von einem Pöbel in dem Sinne konnte nicht die Rede sein, es war eher Ankh-Morporks berühmter Ur-Mob, aus dem sich echter Pöbel entwickeln konnte. Wie Netz und Spinne breitete er sich in der Stadt aus, und bei einem kritischen Ereignis schickte er die Nachricht in alle Richtungen und verdichtete sich am Ort des Geschehens. Das Massaker bei den Tollen Schwestern hatte sich herumgesprochen und noch mehr Leute auf die Straßen gelockt. Mumm spürte die Spannung im Netz. Es wartete darauf, dass irgendein Idiot etwas Idiotisches anstellte, und bei Idioten ist die Natur sehr großzügig.

»Coates!«, rief er.

Zu seiner Überraschung blieb der Mann stehen und drehte sich um.

»Ja?«

»Ich weiß, dass du zu den Revolutionären gehörst.«

»Das sind nur Vermutungen.«

»Nein, das Kennwort stand in deinem Notizbuch«, sagte Mumm. »Das gleiche Kennwort, das Schnapper mit seinen Pasteten verteilt hat. Du musst doch wissen, dass ich die Spinde geöffnet habe. Schnapper, du und die anderen – glaubst du etwa, ihr wärt noch auf freiem Fuß, wenn ich als Spion für Schwung tätig wäre?«

»Warum nicht? Du hast es nicht auf uns abgesehen – wir können später aufgelesen werden. Schwung will die Anführer.«

Mumm trat zurück. »Na schön. Warum hast du den Jungs nichts gesagt?«

»Die Dinge sind in Bewegung geraten«, sagte Ned. »Das ist der Grund. Es beginnt alles. Wer du bist, spielt keine Rolle mehr. Aber du treibst die Jungs in den Tod. Sie ständen auf unserer Seite, wenn du nicht gewesen wärst. Ich habe mich um sie bemüht. Du weißt doch, dass Schnellhuhn das Schwert auf seinen Fuß fallen lässt, und Nimmernich macht sich in die Hose, wenn er bedroht wird, und Mumm ist leichtgläubig, und du willst sie mitten hineinbringen in den Schlamassel, und sie werden sterben. Und ihr Tod wird völlig sinnlos sein!«

»Warum hast du ihnen nichts gesagt?«, fragte Mumm noch einmal.

»Vielleicht hast du Freunde ganz oben«, knurrte Ned.

Mumm sah zu den Dächern.

»Ist das alles?«, brummte Ned.

»Gib mir deine Dienstmarke!«, sagte Mumm.

»Meine was?«

»Du quittierst den Dienst. Meinetwegen. Gib mir deine Dienstmarke!«

Coates wich zurück, als hätte ihn etwas gestochen. »Von wegen!«

»Dann verlass die Stadt«, sagte Mumm. »Es wäre zu deinem eigenen Besten.«

»Ist das eine Drohung?«

»Nicht von mir. Aber ich gebe dir einen guten Rat, mein Junge. Setz dein Vertrauen nicht auf Revolutionen. Meistens ersetzen sie ein Übel durch ein anderes. Leute sterben, und nichts ändert sich. Wir sehen uns später.«

Mumm drehte sich um und eilte fort, damit Coates sein Gesicht nicht sehen konnte.

Na schön. Es war so weit. Er musste jetzt handeln, wenn er nicht wie Herr Salpeter platzen wollte. Er rang schon seit einer ganzen Weile mit sich, ohne den Mut zu finden, eine Entscheidung zu treffen. Vermutlich konnten die Mönche einem Mann, der sie verärgerte, viele Unannehmlichkeiten bereiten, aber so, wie sich die Dinge entwickelten…

Das Pflichtbewusstsein teilte ihm mit, dass der neue Hauptmann auf ihn wartete. Mumm hörte nicht darauf. Er war nicht im Besitz aller Fakten.

Er erreichte den Eingang des Wachhauses, blieb stehen und schloss die Augen. Jemand, der ihn beobachtete, musste den Eindruck gewinnen, dass er zwei Zigarettenstummel auszutreten versuchte, einen mit jedem Fuß. Danke für die dünnen Sohlen, Rosie. Er lächelte.

Er dachte mit dem Gehirn in seinen Füßen. Und wie der junge Sam bemerkt hatte: Die Füße verfügten über ein eigenes Gedächtnis.

Runde Kopfsteine von der üblichen Art. In diesem Teil der Stadt war das Pflaster nicht gut verlegt worden: Die Steine bewegten sich ein wenig… Und bevor er zum Wachhaus gekommen war, hatten Mumms Füße zweimal größere Kopfsteine gefühlt, in schmalen Streifen: Ausbesserungen nach dem Verlegen von Rohren. Und davor hatten sie einen ähnlichen Streifen gespürt, aus Schotter, von Wagenrädern so zermahlen, dass er praktisch eine Rinne bildete.

Einige Dutzend Schritte zuvor war Mumm mehrmals um die eigene Achse gedreht worden, und der letzte Boden davor hatte aus… Matsch bestanden.

Er ging mit geschlossenen Augen und stieß gegen einen Karren.

Matsch, dachte er und stand wieder auf, ohne die verwunderten Blicke der Passanten zu beachten. Das bedeutete eine Gasse. Mal sehen… Ah, ja, dort drüben…

Es dauerte zwanzig Minuten.

Die Leute blickten ihm nach, als er durch die Straßen ging und an sicheren Stellen die Augen schloss, damit seine Füße besser sahen. Aber manchmal sah er sich um, und dann fühlte er die Ruhe vor dem Sturm: Überall wuchs die Anspannung und wartete, bereit dazu, sich bei der ersten Gelegenheit zu entladen. Die Leute waren unruhig – die Herde war unruhig –, und sie wussten nicht genau, warum. Verwirrung stand in vielen Gesichtern.

Mumm setzte seinen Weg fort. Grobe Steinplatten zwischen zwei alten Pflasterbereichen mit so genannten Trollköpfen… Das gab es nur in diesem Teil der Stadt, wo die Zinnstraße die Ulmenstraße kreuzte, und davor… große Steine, einige der ältesten in der ganzen Stadt. Im Laufe von Jahrhunderten hatten zahllose mit Eisen beschlagene Wagenräder Furchen darin hinterlassen. Eine Straße in unmittelbarer Nähe der Stadtmauer… ja. Mumm passierte die Grubengasse, blieb auf der Ulmenstraße – und verlor die Spur. Ein Gitter im Pflaster bot ihm einen neuen Hinweis. Das Gitter eines Kellers. Eines kühlen Kellers. Mit einem abgewetzten Wappen. Buttermarkt. Ja. Nur weiter so, Füße!

Auch hier hatten ihn die Mönche gedreht… Lange Ziegel, besonders fest gebrannt, dann moderne Steinplatten, gut gelegt und angepasst. Sie konnten einen täuschen, wenn man nicht wusste, dass man sich in der… ja, Steinmetzstraße befand, und hier gab es Steinmetze, und sie hielten das Pflaster in Ordnung. Jetzt eine Gasse suchen, mit Matsch, der viel Schotter enthielt, denn die Steinmetze wurden dort ihren Abfall los. Und es gab kleine Hubbel, wo Rohre durch den Boden führten. Gut. Und jetzt quadratische Kopfsteine…

Mumm öffnete die Augen.

Ja.

Auf der linken Seite sah er einen Block aus drei Gebäuden. Ein Tempel, eingezwängt zwischen zwei Ramschläden. Es war… nur ein Tempel, der ein wenig ausländisch aussah, aber galt das nicht für alle? Etwas an ihm deutete auf das hohe Mittland hin, wo alle von Jaks oder so lebten.

Die Tempeltür war verriegelt. Mumm zerrte an der Klinke und hämmerte mit dem Schwert gegen das Holz, ohne irgendeine Wirkung zu erzielen. Es blieb nicht einmal ein Kratzer zurück.

Aber die Tür des Gebrauchtwarenladens nebenan war offen. Der Ort wirkte vertraut. Ein solcher Laden war einmal sein Schneider und sein Schuhmacher gewesen. Und er hatte immer geöffnet, wie ein Pfandleiher. Mumm trat ein, und sofort umgab ihn staubige Dunkelheit.

Der Laden war eine Höhle aus Stoff. Alte Anzüge hingen von der Decke herab. Uralte Regale bogen sich unter Stapeln aus Hemden, Westen und Socken. Alte Kisten ragten in der Düsternis auf; gelegentlich stieß Mumm mit dem Knie gegen eine von ihnen. Er kam an großen Haufen abgetragener Stiefel vorbei und nahm den Geruch wahr. Wenn Armut einen Geruch hatte, so diesen. Wenn demütiger Stolz einen Geruch hatte, so diesen. Etwas darin deutete auf Desinfektionsmittel hin.

Schon nach wenigen Metern hatte sich Mumm verirrt. Er drehte sich um, ging durch die grauen Gänge des erstickenden Stofflabyrinths und fragte sich, ob hier drin jemand gestorben war und ob man die Leiche überhaupt finden konnte. Er schob einen Kleiderbügel beiseite, an dem ein schmieriger, schäbiger Anzug hing…

»Du wünschen?«

Er drehte sich um.

Er sah niemanden, bis sich sein Blick ein wenig senkte und dem eines kleinen, kahlköpfigen und dünnen Mannes begegnete, dessen Kleidung selbst in solch einem Gebrauchtwarenladen kaum einen Kunden gefunden hätte. Wer war dieser Bursche? Wie hieß er? Der Name lag Mumm auf der Zunge…

»Ah, äh, ja… Herr Tzen…«

»Sang Tzu Tzen«, sagte der kleine Mann. Er deutete auf den Anzug an dem Kleiderbügel, den Mumm gerade beiseite geschoben hatte. »Gutes Auge, gutes Auge, hervorragender Stoff, hervorragender Stoff, gehörte einem Priester, sehr gut, fünfzig Cent für dich, ich ihn nicht gerne verkaufen, aber die Zeiten hart sein.«

Mumm ließ den Anzug los und holte seine Dienstmarke hervor. Sonnenschein starrte darauf hinab.

»Ich bereits anderen Polizisten bezahlen«, sagte er. »Einen Dollar, ein Monat, keine Probleme. Ich bereits anderen Polizisten bezahlen.«

»Bezahlen?«, wiederholte Mumm.

»Ich bereits bezahlen Polizisten mit zwei Streifen. Einen Dollar, ein Monat, keine Probleme!«

»Korporal Schrulle«, brummte Mumm. »Du brauchst keine Polizisten zu bezahlen, Herr Sonnenschein. Es ist unsere Aufgabe, dich zu beschützen.«

Sang Tzu Tzens Sprachkenntnisse ließen zu wünschen übrig, aber sein Gesichtsausdruck machte deutlich: Er glaubte, dass dieser Polizist mit drei Streifen und kleiner Krone gerade vom Planeten Idiot gekommen war.

»Hör mal, ich habe für so was keine Zeit«, sagte Mumm. »Wo ist die Hintertür? Dies ist eine Angelegenheit der Wache!«

»Ich bezahlen! Ich für Schutz bezahlen. Ein Monat, keine Probleme!«

Mumm brummte und stapfte durch einen weiteren Gang.

Das Glitzern von Glas weckte seine Aufmerksamkeit. Er schob sich seitlich durch eine schmalere Passage und erreichte schließlich einen Tresen. Darauf waren weitere hoffnungslose Waren gestapelt, aber dahinter bemerkte er den Perlenschnurvorhang einer Tür. Er kletterte halb über die Stapel hinweg und betrat ein kleines Zimmer.

Herr Sonnenschein eilte zu einer uralten Schneiderpuppe. Sie hatte so viele Kratzer, angeschlagene Stellen und Beulen, dass sie aussah, als wäre sie aus der Vulkanasche einer uralten Stadt gezogen worden.

Er zog an einem Arm, und die Augen der Puppe leuchteten auf. »Hier ist Nummer drei«, sprach er in ein Ohr. »Er ist gerade durchgegangen. Und er ist verdammt sauer…«

Die Hintertür war verschlossen, gab aber unter Mumms Gewicht nach. Er taumelte auf den Hof, sah zu der Mauer, die ihn vom Garten des Tempels trennte, sprang hoch, suchte mit den Füßen am Mauerwerk nach Halt, zog sich hinauf und spürte, wie einige Backsteine unter ihm nachgaben.

Er landete auf dem Rücken und sah zu einer hageren Gestalt auf, die einen Umhang trug und auf einer steinernen Sitzbank saß. »Eine Tasse Tee, Kommandeur?«, fragte Kehrer munter.

»Ich will keinen verdammten Tee!«, rief Mumm und kam wieder auf die Beine.

Kehrer ließ ein Stück ranzige Butter in die Teekanne neben ihm fallen. »Was möchtest du dann, Herr Mumm mit den hilfreichen Füßen?«

»Hör auf damit! Du weißt genau, was ich meine!«

»Eine Tasse Tee würde dich beruhigen«, sagte Kehrer.

»Und sag nicht, dass ich mich beruhigen soll! Wann bringst du mich endlich nach Hause?«

Ein Mann trat aus dem Tempel. Er war größer und schwerer als Kehrer, hatte weißes Haar und wirkte wie ein gutmütiger Bankdirektor. Er bot ihm eine Tasse an.

Mumm zögerte kurz, nahm die Tasse dann entgegen und schüttete ihren Inhalt auf den Boden.

»Ich traue euch nicht«, sagte er. »Es könnte etwas hineingerührt sein.«

»Ich weiß gar nicht, was wir in deinen Tee rühren könnten, was ihn noch grässlicher macht als den Tee, den du normalerweise trinkst«, sagte Kehrer ruhig. »Setz dich, Euer Gnaden! Bitte.«

Mumm ließ sich auf die Sitzbank sinken. Der Zorn, der ihn bisher angetrieben hatte, ließ ein wenig nach, brodelte aber weiter. Er holte eine halb gerauchte Zigarre hervor und steckte sie in den Mund.

»Kehrer meinte, du würdest uns finden, früher oder später«, sagte der andere Mönch. »So viel zu unserem Versteck.«

»Warum solltet ihr euch darüber Sorgen machen?«, fragte Mumm. »Ihr müsst einfach nur ein wenig mit der Zeit herumspielen und dafür sorgen, dass es überhaupt nicht geschehen ist.«

»Das haben wir nicht vor«, sagte der andere Mönch.

»Und was könnte ich anstellen? Soll ich den Leuten erzählen, dass die irren Mönche, die sie manchmal auf der Straße sehen, die Zeit manipulieren? Man würde mich für verrückt halten und einsperren! Wer bist du überhaupt?«

»Das ist Qu«, sagte Kehrer und nickte dem anderen Mönch zu. »Er wird dich zurückbringen, wenn es Zeit wird. Aber noch ist es nicht so weit.«

Mumm seufzte. Der Zorn löste sich jetzt auf und hinterließ ein hoffnungsloses, bleiernes Gefühl. Er starrte auf die Steine, die den größten Teil des Gartens beanspruchten. Sie wirkten seltsam vertraut. Er blinzelte.

»Ich habe heute mit Menschen gesprochen, die sterben werden«, sagte er. »Wie, glaubt ihr, fühle ich mich jetzt? Wisst ihr, wie sich so etwas anfühlt?«

Die Mönche musterten ihn verwirrt.

»Äh… ja«, sagte Qu.

»Das wissen wir tatsächlich«, sagte Kehrer. »Jeder, mit dem wir sprechen, stirbt irgendwann. Jeder, mit dem du sprichst, stirbt irgendwann. Alle sterben.«

»Ich habe Dinge verändert«, sagte Mumm und begann, sich zu verteidigen: »Warum auch nicht? Carcer nimmt überhaupt keine Rücksicht! Ich weiß nicht, wie die Sache ausgeht! Verändert man nicht schon die Geschichte, wenn man auf eine Ameise tritt?«

»Für die Ameise bestimmt«, sagte Qu.

Kehrer winkte. »Ich habe es dir erklärt, Herr Mumm. Die Geschichte findet einen Weg. Sie ist wie ein Schiffswrack. Du schwimmst zum Ufer, und die Wellen brechen, was auch geschieht. Steht nicht geschrieben ›Dem großen Meer ist es gleich, wohin die kleinen Fische schwimmen‹? Menschen sterben, wenn ihre Zeit gekommen ist…«

»Keel nicht! Carcer hat den armen Kerl niedergeschlagen.«

»Seine Zeit war in dieser Gegenwart gekommen, Kommandeur«, sagte Qu. »Aber er wird seine Rolle in der anderen spielen, Herr Mumm. Letztendlich. Du wirst das Ufer erreichen. Du musst. Andernfalls…«

»… gibt es kein Ufer«, vervollständigte Kehrer den Satz.

»Nein«, sagte Mumm. »Es muss noch mehr geben. Ich schwimme nicht, ich ertrinke. Wisst ihr, zu Anfang hat es Spaß gemacht. Wie ein freier Abend. Die Straße wieder unter den Füßen spüren. Aber jetzt… Was ist mit Sybil? Gehen meine Erinnerungen wirklich auf reale Ereignisse zurück? Ich weiß, dass sie eine junge Frau ist, die bei ihrem Vater wohnt. Existiert eine Welt, in der sie meine Frau ist und mein Kind in sich trägt? Ich meine, existiert sie wirklich? Oder ist das alles nur Phantasie? Könnt ihr mir beweisen, dass es eine solche Welt gibt? Wird geschehen, was geschehen ist? Oder bahnt sich ganz etwas anderes an? Was ist real

Die Mönche schwiegen. Kehrer sah Qu an, der mit den Schultern zuckte. Kehrer blickte noch eindringlicher, daraufhin hob Qu kurz die Hand, was so viel bedeutete wie: »Na schön, wider besseres Wissen…«

»Ja-a«, sagte Kehrer ganz langsam. »Ja, ich glaube, da können wir dir helfen, Kommandeur. Du möchtest wissen, ob eine Zukunft auf dich wartet. Du möchtest sie in der Hand halten und ihr Gewicht spüren. Du möchtest einen Punkt, an dem du dich orientieren kannst, der dir hilft, sicher zu navigieren. Ja, ich glaube, da können wir dir helfen. Aber…«

»Ja?«

»Aber du kletterst über die Mauer zurück, und Oberfeldwebel Keel wird sich seinen Aufgaben stellen. Er steht die Sache durch. Er gibt die Befehle, die er für richtig hält, und es werden die richtigen Befehle sein. Er hält die Dinge zusammen. Er erfüllt seine Pflicht.«

»Er ist nicht der Einzige«, sagte Mumm.

»Ja, Kommandeur Mumm hat ebenfalls eine Aufgabe.«

»Keine Sorge, ich lasse Carcer nicht zurück«, knurrte Mumm.

»Gut. Du wirst von uns hören.«

Mumm warf den Zigarrenstummel beiseite und sah zur Mauer hoch.

»Na gut«, sagte er. »Ich steh’s durch. Aber wenn die Zeit kommt…«

»Dann sind wir bereit«, erwiderte Kehrer. »Solange du…«

Er unterbrach sich. Ein subtiles Geräusch erklang – als kröche eine Schlange aus Silizium über den Boden.

»Meine Güte«, sagte Qu.

Mumm senkte den Blick. Der Zigarrenstummel schwelte noch. Und um ihn herum bewegte sich der Garten der Innenstadtruhe. Einzelne Kieselsteine glitten übereinander hinweg. Ein großer, vom Wasser glatt geschliffener Felsen schwebte gemächlich vorbei und drehte sich. Und dann sah Mumm, dass sich der ganze Garten drehte und der dünnen Rauchfahne zuzuwenden schien. Ein erloschenes Streichholz segelte vorbei und flog von Stein zu Stein, wie ein von Ameise zu Ameise weitergereichter Nahrungsbrocken. »Ist das normal?«, fragte Mumm.

»Rein theoretisch ja«, antwortete Kehrer. »Du solltest jetzt besser gehen, Kommandeur.«

Mumm warf einen letzten Blick auf den kreisenden Garten, zuckte dann mit den Achseln und zog sich über die Mauer.

Die beiden Mönche starrten. Die Wellen aus kleinen Steinen schoben den Zigarrenstummel allmählich zum Mittelpunkt.

»Erstaunlich«, sagte Qu. »Er ist jetzt Teil des Musters. Ich weiß nicht, wie du das geschafft hast.«

»Ich bin dafür nicht verantwortlich«, erwiderte Kehrer. »Qu, können wir…«

»Keine Zeitverschiebungen mehr«, sagte Qu. »Sie haben genug Probleme verursacht.«

»In Ordnung«, sagte Kehrer. »Dann muss ich Suchtrupps losschicken. Die Hehler, die korrupten Juweliere, die Pfandleihen… Wir werden es finden. Ich verstehe unseren Freund. Die Aufgabe allein genügt nicht. Er braucht etwas zum Anfassen. Und ich weiß, was es ist.«

Sie sahen erneut zu dem rotierenden Garten und fühlten, wie die Finger der Geschichte in die Welt hinaustasteten.

 

Mumm versuchte, nicht zum Wachhaus zurückzulaufen, denn es standen viele Leute in Gruppen herum, und selbst eine laufende Uniform konnte riskant sein.

Außerdem lief man nicht zu einem vorgesetzten Offizier. Er war Oberfeldwebel. Ein Oberfeldwebel ging gemessenen Schrittes.

Zu seiner Überraschung hielten sich die Männer noch immer auf dem Hof auf. Jemand hatte sogar die Schwertkampfgruppen aufgestellt, die sicherlich hilfreich waren, falls es die Männer einmal mit Gegnern zu tun bekamen, die keine Arme hatten und an einem Pfosten festgebunden waren.

Mumm ging die Treppe hinauf. Oben stand die Tür offen, und er sah, dass der neue Hauptmann den Schreibtisch so aufgestellt hatte, dass er zum Treppenabsatz und nach unten sehen konnte. Kein gutes Zeichen. Gewiss kein gutes Zeichen. Der Hauptmann sollte nicht sehen, was geschah, sondern sich die Ereignisse von seinen Feldwebeln schildern lassen. Auf diese Weise liefen die Dinge glatt.

Dieser Mann schien eifrig zu sein. Lieber Himmel…

Der neue Hauptmann sah auf. Das hat mir gerade noch gefehlt, dachte Mumm. Der verdammte Rust! Der Ehrenwerte Ronald Rust, Geschenk der Götter für den Feind, für jeden beliebigen Feind, und eine lebende Aufforderung zur Fahnenflucht.

Die Familie Rust hatte große Soldaten hervorgebracht, nach den anspruchslosen Richtlinien der »Ziehe unsere Verluste von denen des Feindes ab, und wenn das Resultat positiv ist, haben wir einen glorreichen Sieg errungen«-Schule angewandter Kriegsführung.

Zu Rusts Mangel an militärischem Sachverstand gesellte sich die hohe Meinung von seinem eigenen Talent, das er nur in negativen Mengen besaß.

Beim letzten Mal war es nicht Rust gewesen. Mumm erinnerte sich vage an einen anderen dummen Hauptmann. All diese kleinen Veränderungen… worauf würden sie schließlich hinauslaufen?

Bestimmt ist er gerade erst zum Hauptmann befördert worden, dachte Mumm. Wie viele Leben könnte ich retten, wenn ich ihm jetzt rein zufällig den Kopf abschneide? Diese blauen Augen und der dämliche gewellte Schnurrbart. Und es wird noch schlimmer.

»Bist du Keel?« Die Stimme war ein Bellen.

»Jaherr.«

»Ich habe vor einer Stunde die Anweisung gegeben, dass du zu mir kommen sollst, Mann.«

»Jaherr. Aber ich war die ganze Nacht und auch am Morgen im Dienst, und es gab viele Dinge, um die ich mich kümmern musste…«

»Ich erwarte, dass einem Befehl unverzüglich Folge geleistet wird, Feldwebel.«

»Jaherr. Das erwarte ich ebenfalls. Und deshalb…«

»Disziplin beginnt oben, Feldwebel. Die Männer gehorchen dir, du gehorchst mir, und ich gehorche meinen Vorgesetzten.«

»Freut mich, das zu hören, Herr.« Rusts Sinn für Höflichkeit war ebenso gut ausgeprägt wie seine militärische Sachkenntnis.

»Was ist auf dem Hof los?«

Mumm segelte vor dem vorherrschenden Wind…

»Es geht darum, die Moral zu heben und Korpsgeist zu fördern, Herr.«

… und traf auf ein Riff. Rust hob die Brauen.

»Warum?«, fragte er. »Die Aufgabe der Männer besteht darin, die Anweisungen durchzuführen, die sie bekommen. Das gilt auch für dich. Gegenseitiges Schulterklopfen gehört nicht zur Vereinbarung.«

»Ein bisschen Kameradschaft hilft bei der Arbeit, Herr. Meiner Erfahrung nach.«

»Richtest du einen durchdringenden Blick auf mich, Keel?«

»Nein, Herr. Mein Gesichtsausdruck bringt ehrlichen Zweifel zum Ausdruck, Herr. Der ›durchdringende Blick‹ kommt vier Stufen darüber, gleich nach ›Ich sehe dich komisch an‹, Herr. Der militärische Brauch gestattet Feldwebeln die Mimik bis hin zu…«

»Was bedeutet die kleine Krone über den Streifen, Mann?«

»Sie zeigt, dass ich kein gewöhnlicher Feldwebel bin, sondern Oberfeldwebel, Herr.«

Der Hauptmann brummte und blickte auf die Papiere, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen. »Lord Winder hat das außerordentliche Gesuch erhalten, dich zum Leutnant zu befördern, Oberfeldwebel. Es geht auf Hauptmann Schwung von der Sondergruppe Ankertaugasse zurück. Und Seine Lordschaft hört auf Hauptmann Schwung. Und er möchte, dass du zur Sondergruppe versetzt wirst. Ich persönlich halte den Mann für verrückt.«

»Da stehe ich hundertprozentig hinter dir, Herr.«

»Du möchtest nicht Leutnant werden?«

»Nein, Herr. Nichts Halbes und nichts Ganzes, Herr«, sagte Mumm und blickte dabei auf eine Stelle einige Zentimeter über Rusts Stirn.

»Was soll das heißen?«

»Weder das eine noch das andere, Herr.«

»Ach, du möchtest wohl Hauptmann sein, wie?«, fragte Rust und lächelte böse.

»Neinherr. Ich möchte kein Offizier sein, Herr. Ich komme durcheinander, wenn ich mehr als ein Messer und eine Gabel auf dem Tisch sehe, Herr.«

»Nun, für mich hat es gewiss nicht den Anschein, dass du dich zum Offizier eignest, Oberfeldwebel.«

»Neinherr, danke, Herr.« Guter alter Rust. Guter junger Rust.

Die gleiche gedankenlose Unhöflichkeit, als offene Ausdrucksweise getarnt, die gleiche Halsstarrigkeit, die gleiche kleinliche Bosheit. Jeder Feldwebel, der etwas taugte, konnte das ausnutzen.

»Hätte allerdings nichts dagegen, zur Sondergruppe versetzt zu werden, Herr«, sagte Mumm. Damit ging er ein Risiko ein, wenn auch kein großes. Auf jemanden wie Rust war Verlass.

»Kann ich mir denken, Keel«, erwiderte Rust. »Vermutlich hast du dir den alten Narr Tilden in die Tasche gesteckt und hältst nichts von einem Hauptmann, der den Leuten hier auf den Zahn fühlt. Nein, Freundchen, du bleibst hier, klar?«

Wundervoll, dachte Mumm. Manchmal ist es, als könnte man beobachten, wie eine Wespe auf einer Brennnessel landet: Jemand wird gestochen, und es spielt keine Rolle, wen es trifft.

»Jaherr«, sagte er und blickte weiter starr geradeaus.

»Hast du dich heute rasiert, Mann?«

»Bin von der Pflicht zur Rasur befreit, Herr«, log Mumm. »Ärztliche Anweisung. Wegen der Nähte im Gesicht, Herr. Könnte nur die eine Seite rasieren, Herr.«

Er ließ sich nichts anmerken, als Rust ihn widerstrebend musterte. Die Schnittwunde war noch immer sehr deutlich zu sehen, und Mumm hatte es noch nicht gewagt, einen Blick unter die Augenklappe zu werfen.

»Hast dir mit deiner eigenen Glocke ins Gesicht geschlagen, wie?«, brummte der Hauptmann.

Mumms Finger zuckten. »Sehr komisch, Herr«, sagte er.

»Geh jetzt und lass die Männer antreten! Und zwar schnell. Ich werde die Truppe gleich inspizieren. Und sag dem Idioten mit der flachen Nase, er soll den Stall ausräumen.«

»Herr?«

»Mein Pferd wird bald gebracht. Ich will den grässlichen Klepper dort drin nicht mehr sehen.«

»Was, wir sollen Marlene wegschaffen, Herr?«, brachte Mumm ehrlich schockiert hervor.