Mumm schloss die Augen. Er erinnerte sich daran, wie unerfahren er damals gewesen war. Und Fred… Fred Colon war eigentlich kein schlechter Kerl unter seiner Mischung aus halbherziger Ängstlichkeit und einem ausgeprägten Mangel an Phantasie. Aber Schrulle war ein echt übler Bursche gewesen, auf seine eigene Art, und was Klopf betraf… Klopf hatte Fred ausgebildet, und in diesem Fall konnte der Schüler dem Lehrer nicht das Wasser reichen. Was hatte Sam Mumm von Keel gelernt? Wachsam zu sein, eigenständig zu denken, eine Stelle in seinem Kopf frei zu halten von den Schrulles und Klopfs dieser Welt und nicht zu zögern, heute gemein zu kämpfen, wenn es bedeutete, dass man dadurch auch am nächsten Tag noch kämpfen konnte.

Wahrscheinlich wäre er längst tot, wenn Keel nicht gewesen wäre…

Abrupt hob er den Kopf und richtete einen fragenden Blick auf Lu-Tze.

»Das kann ich dir nicht sagen, Herr Mumm«, sagte der Mönch. »Nichts ist gewiss, wegen der Quanten.«

»Aber ich weiß, dass meine Zukunft geschehen ist, denn ich habe sie erlebt!«

»Nein. Wir haben es hier mit Quanteninterferenz zu tun, Herr Mumm. Verstehst du? Nein. Lass es mich so ausdrücken. Es gibt eine Vergangenheit und eine Zukunft. Aber es gibt zwei Gegenwarte. In einer bist du erschienen und dein unheilvoller Freund Carcer. In der anderen nicht. Einige Tage lang können wir diese doppelte Gegenwart nebeneinander existieren lassen. Dazu ist viel Laufzeit erforderlich, aber das schaffen wir schon. Doch nach dieser Frist verschmelzen beide miteinander und bilden eine Gegenwart. Die zukünftige Zukunft hängt von dir ab. Wir möchten die Zukunft, in der Mumm ein guter Polizist ist, nicht die andere.«

Der kleine Mönch stand auf. »Ich lasse dich darüber nachdenken«, sagte er.

Mumm nickte und blickte auf den Kies des Gartens.

Lu-Tze ging leise fort und kehrte in den Tempel zurück. Er schritt zur anderen Seite des Büros, nahm einen seltsam geformten Schlüssel von seinem Hals und schob ihn ins Schloss einer kleinen Tür. Die Tür öffnete sich. Heller Sonnenschein flutete ihm entgegen.

Er ging weiter, und seine Sandalen ließen kalte Fliesen zurück. Über fest getretenen Boden wanderte er im hellen, heißen Tageslicht.

So weit in der Vergangenheit hatte der Fluss natürlich einen anderen Verlauf, und es hätte die Bewohner von Ankh-Morpork bestimmt erstaunt zu sehen, wie lieblich er einst gewesen war, vor etwa siebenhunderttausend Jahren. Nilpferde lagen mitten im Fluss auf einer Sandbank. Qu hatte darauf hingewiesen, dass sie in letzter Zeit lästig wurden, und deshalb errichtete er nachts einen temporalen Zaun um das Lager. Nilpferde, die zwischen die Zelte zu stapfen versuchten, fanden sich mit Kopfschmerzen im Wasser wieder.

Qu stand in einem mit Seilen abgesperrten Bereich, auf dem Kopf einen Strohhut, der ihn vor der Sonne schützte. Er beaufsichtigte seine Assistenten, und Lu-Tze seufzte, als er sich näherte.

Bestimmt erwarteten ihn Explosionen.

Es war nicht etwa so, dass er Qu, den technischen Entwickler des Ordens, nicht leiden konnte. Auf seine eigene Art ähnelte er dem Abt. Der Abt hatte Jahrtausende alte Ideen auf neue Weise durch seinen Geist ziehen lassen, mit dem Ergebnis, dass sich das Multiversum wie eine Blume für ihn öffnete. Qu hingegen hatte die alte Technik der Zauderer verwendet, mit der sich Zeit speichern und wiederherstellen ließ, und sie benutzt, um praktische Dinge für den alltäglichen Gebrauch herzustellen, die zum Beispiel dazu dienten, die Köpfe irgendwelcher Leute explodieren zu lassen. Lu-Tze versuchte, so etwas zu vermeiden. Mit den Köpfen von Leuten ließ sich Besseres anstellen.

Als Lu-Tze näher kam, tanzten einige fröhliche Mönche durch die Bambusnachbildung einer Straße, ließen Kracher knallen und schlugen Gongs gegeneinander. Sie erreichten eine Ecke, wo der letzte Mönch sich umdrehte und eine kleine Trommel in die ausgestreckten Arme einer Strohpuppe warf.

Die Luft schimmerte, und die Puppe verschwand mit einem dumpfen Donnerschlag.

»Schön zu sehen, dass mal kein Kopf explodiert«, sagte Lu-Tze und lehnte sich an das Seil.

»Oh, hallo Kehrer«, erwiderte Qu. »Ja. Ich frage mich, was schief gegangen ist. Weißt du, der Körper hätte sich um eine Mikrosekunde in der Zeit nach vorn bewegen und den Kopf zurücklassen sollen.« Er griff nach einem Sprachrohr. »Danke, das gilt für alle! Auf einen neuen Durchgang vorbereiten! Soto, bitte übernimm du!«

Er drehte sich zu Lu-Tze um. »Nun?«

»Er denkt darüber nach«, sagte Kehrer.

»Um Himmels willen, Lu-Tze! Dazu sind wir überhaupt nicht befugt! Wir sollen wuchernde Geschichtsschleifen beseitigen und nicht große Mengen Zeit aufwenden, um sie aufrechtzuerhalten!«

»Diese Sache ist wichtig. Wir schulden es dem Mann. Es war nicht seine Schuld, dass es gerade in dem Augenblick zu der großen temporalen Störung kam, als er durch das Dach der Bibliothek stürzte.«

»Zwei Zeitlinien nebeneinander«, stöhnte Qu. »Das ist völlig inakzeptabel. Ich bin gezwungen, unerprobte Techniken einzusetzen.«

»Es dauert doch höchstens einige Tage.«

»Und Mumm? Ist er stark genug? Keine Ausbildung hat ihn auf so etwas vorbereitet.«

»Er folgt der Grundeinstellung des Polizisten. Ein Polizist ist ein Polizist, ganz gleich, wo er sich aufhält.«

»Ich weiß überhaupt nicht, warum ich dir zuhöre, Lu-Tze, nein, das weiß ich wirklich nicht«, sagte Qu. Er blickte zum Testgelände und hob rasch das Sprachrohr an die Lippen. »Halt es nicht so nach oben! Du sollst es nicht so nach…«

Es donnerte. Lu-Tze sah nicht einmal hin.

Qu hob erneut das Sprachrohr. »Na schön. Jemand soll sich bitte auf den Weg machen und Bruder Kai holen. Beginnt mit der Suche vor, sagen wir, zweihundert Jahren. Du lehnst es sogar ab, die sehr nützlichen Entwicklungen, die ich, äh, entwickle, einzusetzen«, fügte er an Lu-Tze gerichtet hinzu.

»Ich brauche sie nicht«, sagte Lu-Tze. »Ich habe ein Gehirn. Wie dem auch sei: Ich benutze deine temporale Toilette.«

»Ein Abort, der sich zehn Millionen Jahre in der Vergangenheit entleert – das war keine gute Idee, Kehrer. Ich bedauere, dass du mich dazu überredet hast.«

»Dadurch sparen wir die wöchentlichen vier Cent für Paul Königs Eimerjungen, Qu, und das ist nicht zu verachten. Steht nicht geschrieben: ›Spare in der Zeit, dann hast du in der Not‹? Außerdem landet alles in einem Vulkan. Es ist vollkommen hygienisch.«

Wieder krachte eine Explosion. Qu drehte sich um und hob das Sprachrohr. »Das Tambourine nicht mehr als zweimal schlagen!«, rief er. »Poch-poch-werfen-ducken – so macht man das. Bitte passt auf!«

Er wandte sich wieder an Kehrer. »Höchstens vier weitere Tage, Lu-Tze«, sagte er. »Tut mir Leid, aber danach kann ich es nicht mehr aus dem Papierkram heraushalten. Und es würde mich überraschen, wenn es dein Mann aushält. Früher oder später wirkt es sich auf seinen Geist aus, ganz gleich, für wie zäh er sich hält. Er befindet sich nicht in seiner Zeit.«

»Wir lernen viel«, beharrte Lu-Tze. »Aus einer völlig logischen Kette von Gründen geriet Mumm in die Vergangenheit und sieht sogar wie Keel aus! Er hat die Augenklappe und die Narbe! Ist das Narrative Kausalität, ein Historischer Imperativ oder schlicht und einfach seltsam? Kehren wir zu der alten Theorie einer sich selbst korrigierenden Geschichte zurück? Hat der Abt Recht, wenn er sagt, es gäbe keinen Zufall? Verbirgt sich hinter jedem vermeintlichen Zufall eine höhere Ordnung? Ich würde gern Antworten auf diese Fragen finden.«

»Vier Tage«, sagte Qu. »Wenn es länger dauert, fliegt die Sache auf, und dann wird der Abt sehr sauer auf uns sein.«

»Wie du meinst, Qu«, erwiderte Kehrer demütig.

Er wird sauer sein, wenn er dahinterkommt, dachte er, als er zur Tür in der Luft zurückkehrte. Er hatte sich sehr klar ausgedrückt. Der Abt der Geschichtsmönche (»Die Männer in Safrangelb«, »Ein solches Kloster gibt es nicht« – es gab viele Namen für sie) konnte so etwas nicht zulassen. Er hatte Lu-Tze verboten, auf diese Weise aktiv zu werden, um dann hinzuzufügen: »Aber wenn du dich doch einmischst, erwarte ich, dass sich der Historische Imperativ durchsetzt.«

 

Lu-Tze betrat den Garten und stellte fest, dass Mumm noch immer auf die leere Bohnenbüchse der Universellen Einheit starrte. »Nun?«, fragte er.

»Seid ihr wirklich so etwas wie… Polizisten der Zeit?«, brachte Mumm hervor.

»In gewisser Weise«, erwiderte Kehrer.

»Ihr… sorgt dafür, dass die guten Dinge passieren?«

»Nein, nicht die guten Dinge, sondern die richtigen«, sagte Kehrer. »Aber um ganz ehrlich zu sein: Heutzutage haben wir alle Hände voll damit zu tun, dafür zu sorgen, dass irgendetwas passiert. Wir haben uns die Zeit als einen Fluss vorgestellt, auf dem man stromaufwärts und stromabwärts rudern und zum Ausgangspunkt zurückkehren kann. Dann fanden wir heraus, dass sie mehr wie ein See ist, auf dem man sich auch von einer Seite zur anderen bewegen kann. Dann erwies sie sich mehr wie eine Kugel aus Wasser, die auch Bewegungen nach oben und unten zulässt. Derzeit stellen wir uns die Zeit als… als etwas vor, in dem viele Räume zusammengerollt sind. Und dann gibt es Zeitsprünge und Zeitrutsche, und Menschen pfuschen damit herum, verlieren und gewinnen sie. Und nicht zu vergessen die Quanten.« Der Mönch seufzte. »Die sind immer mit dabei, die verdammten Quanten. Wenn man das alles berücksichtigt… dann leisten wir schon gute Arbeit, wenn das Gestern vor dem Morgen geschieht. Was dich betrifft, Herr Mumm: Du bist in ein… Ereignis geraten. Wir können die Sache nicht in Ordnung bringen, zumindest nicht ganz. Aber du kannst es.«

Mumm lehnte sich zurück. »Mir bleibt keine Wahl, oder?«, fragte er. »Wie mein alter Feldwebel sagte: Man muss sich der Aufgabe stellen, die man vor sich sieht.« Er zögerte. »Das bin ich, nicht wahr? Ich habe mich all das gelehrt, was ich weiß…«

»Nein. Ich habe es dir erklärt.«

»Ich hab’s nicht verstanden. Aber vielleicht muss ich das auch gar nicht.«

Kehrer setzte sich. »Gut. Und nun, Herr Mumm, kehren wir ins Gebäude zurück und überlegen, wie viel du von dieser ganzen Angelegenheit wissen musst, und dann lassen wir von Qu die Zauderer vorbereiten, damit du ein wenig durch die Zeit hüpfen und dir eine Nachricht überbringen kannst. Du weißt bereits von dem Sprung, denn du hast die Mitteilung entgegengenommen. Wir können nicht erlauben, dass du herumläufst und alles über uns weißt.«

»Ich schöpfe bestimmt Verdacht.«

»Du musst sehr überzeugend klingen.«

»Ich schätze, ich werde trotzdem misstrauisch.«

»Traust du nicht einmal dir selbst?«

»Ich bin ein sehr argwöhnischer Typ und könnte denken, dass ich etwas vor mir verberge. Wie willst du mich zum Wachhaus zurückbringen? Denk nicht einmal daran, mir irgendeinen Trank einzuflößen.«

»Nein. Wir verbinden dir die Augen, drehen dich mehrmals und führen dich auf einem Umweg zurück. Das verspreche ich.«

»Hast du sonst noch einen Rat für mich?«, fragte Mumm düster.

»Sei einfach du selbst«, sagte Kehrer. »Steh es durch. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem du zurücksiehst und in allem einen Sinn erkennst.«

»Wirklich?«

»Ich würde dich nicht anlügen. Es wird ein perfekter Moment sein, glaub mir.«

»Aber…« Mumm zögerte.

»Ja?«

»Dir ist sicher klar, dass es noch ein anderes kleines Problem gibt, wenn ich Feldwebel Keel sein soll. Ich erinnere mich an diesen Tag. Und ich weiß, was geschehen wird.«

»Ja«, sagte Kehrer. »Ich weiß es ebenfalls. Sollen wir darüber reden?«

 

Hauptmann Tilden blinzelte. »Was ist gerade passiert?«, fragte er.

»Wie bitte?« Übelkeit stieg in Mumm auf. Für einen Moment fühlte sich die Rückkehr der Zeit so an, als steckte er in einem großen Schraubstock.

»Du bist verschwommen, Mann.«

»Vielleicht habe ich dies hier einfach nur satt«, sagte Mumm. »Hör mal, Hauptmann, ich bin John Keel. Ich kann es beweisen. Stell mir irgendeine Frage. Du hast doch meine Papiere, oder?«

Tilden zögerte kurz. Er war ein Mann, dessen Geist genug Masse für ein eigenes Bewegungsmoment hatte. Seinen Gedanken fiel es schwer, die Richtung zu ändern.

»Wie heißt der Kommandeur der Pseudopolis-Wache?«, fragte er.

»Sheriff Mackelwich«, sagte Mumm.

»Ha! Falsch! Haust gleich bei der ersten Frage daneben. Die richtige Antwort, du Narr, lautet: Sheriff Perlig…«

»Hnah, entschuldige bitte, Herr…«, sagte Schnauzi nervös.

»Ja? Was ist denn?«

»Hnah, er hat Recht, Herr. Der neue Kommandeur der Pseudopolis-Wache heißt Mackelwich. Perlig ist letzte Woche gestorben. Hab’s in der, hnah, Taverne gehört.«

»Er ist betrunken in den Fluss gefallen«, warf Mumm ein.

»Das habe ich gehört, hnah, Herr«, sagte Schnauzi.

Tilden wirkte verärgert und enttäuscht. »Du könntest es irgendwo aufgeschnappt haben«, brummte er. »Es beweist überhaupt nichts.«

»Dann frag mich was anderes«, sagte Mumm. »Frag mich, was Mackelwich über mich sagte.« Und hoffentlich kenne ich die richtigen Antworten, dachte er.

»Nun?«

»Er nannte mich den besten Wächter seiner Truppe und bedauerte sehr, dass ich ging«, sagte Mumm. »Er meinte, ich hätte einen guten Charakter. Es tat ihm sehr Leid, dass er mir nicht die fünfundzwanzig Dollar bezahlen konnte, die ich hier bekomme…«

»Ich habe dir keine…«

»Nein, du hast mir zwanzig Dollar angeboten, aber nachdem ich das Durcheinander hier gesehen habe, nehme ich das Angebot nicht an!« Mumm frohlockte innerlich. Tilden wusste nicht einmal, wie man ein Gespräch kontrollierte. »Wenn du Feldwebel Klopf zwanzig Dollar bezahlst, so schuldet er dir neunzehn Dollar Wechselgeld! Der Mann kann nicht reden und gleichzeitig Kaugummi kauen. Und sieh dir das hier an.«

Mumm legte die Handschellen auf den Schreibtisch. Die Blicke von Schnauzi und Tilden folgten ihnen wie magnetisch angezogen.

Du meine Güte, dachte Mumm, stand auf und zog Schnauzi die Armbrust aus den Händen – eine einzige, fließende Bewegung. Wenn man sich mit Autorität bewegte, gewann man ein oder zwei zusätzliche Sekunden. Autorität bedeutete alles.

Er schoss auf den Boden und gab die Waffe dem erstaunten Schnauzi zurück.

»Ein Kind könnte die Handschellen öffnen«, sagte Mumm. »Und Schnauzi hier hält zwar die Zellen sauber, aber als Wächter taugt er nichts. Hier muss alles gründlich auf Vordermann gebracht werden.« Er beugte sich vor, die Fingerknöchel auf dem Schreibtisch des Hauptmanns, das Gesicht nur wenige Zentimeter von dessen zitterndem Schnurrbart und den trüben Augen entfernt.

»Fünfundzwanzig Dollar, oder ich gehe durch die Tür dort«, sagte er. Vermutlich hatte kein Gefangener irgendwo auf der Welt jemals solche Worte gesprochen.

»Fünfundzwanzig Dollar«, murmelte Tilden wie hypnotisiert.

»Und ich bekomme den Rang des Oberfeldwebels«, sagte Mumm. »Ich will kein einfacher Feldwebel sein und mir von Leuten wie Klopf Befehle erteilen lassen.«

»Oberfeldwebel«, wiederholte Tilden leise, und Mumm sah einen Hinweis auf Zustimmung. Es war ein ordentlicher, militärisch klingender Rang und erinnerte an die Zeiten vor der Wache, als Gerichte die Dienste eines großen Mannes mit einem Knüppel in Anspruch nahmen, um Schurken vorzuführen. Mumm hatte die Einfachheit einer solchen Verfahrensweise immer bewundert.

»Nun, äh, Sheriff Mackelwich hat dich, äh, sehr gelobt«, sagte der Hauptmann und schob seine Papiere hin und her. »Ja, äh, sehr. Unsere Situation ist ein wenig schwierig seit dem Tod von Feldwebel Wi…«

»Und ich bekomme das Geld für den ersten Monat im Voraus. Ich brauche Kleidung, eine anständige Mahlzeit und einen Schlafplatz.«

Tilden räusperte sich. »Viele der unverheirateten Männer wohnen in der Kaserne in Billigseite…«

»Ich nicht«, sagte Mumm. »Ich komme bei Doktor Rasen in der Funkelgasse unter.« Rosie Palm hatte angedeutet, dass es bei ihm ein freies Zimmer gab…

»Der, hnah, Quacksalber?«, fragte Schnauzi.

»Ja, ich suche mir die Leute, mit denen ich Umgang pflege, sehr sorgfältig aus«, sagte Mumm. »Außerdem ist es nur um die Ecke.«

Er nahm die Hände vom Schreibtisch, trat zurück und salutierte mit geradezu parodistischer Zackigkeit – so etwas hatte Tilden immer sehr gefallen.

»Ich melde mich um drei Uhr morgen… heute Nachmittag zum Dienst, Herr«, sagte er. »Danke, Herr.«

Tilden saß wie gebannt da.

»Ich glaube, wir hatten uns auf fünfundzwanzig Dollar geeinigt, Herr«, sagte Mumm und stand noch immer stramm.

Er beobachtete, wie der Hauptmann aufstand und zum alten grünen Safe in der Ecke ging. Er achtete darauf, dass Mumm nicht sah, wie er den Knauf drehte, aber Mumm brauchte gar keine Einzelheiten zu erkennen. Der Safe stand noch in dem Büro, als er zum Hauptmann wurde, und mittlerweile kannten alle die Kombination: Sie lautete 4-4-7-8, und niemand wusste, wie man sie ändern konnte. Nur noch Tee und Zucker wurden darin aufbewahrt, und all jene Schriftstücke, von denen man wollte, dass Nobby sie las.

Tilden kehrte mit einem kleinen Lederbeutel zurück, zählte langsam das Geld ab und war so eingeschüchtert, dass er Mumm nicht einmal bat, eine Quittung zu unterschreiben.

Mumm nahm seinen Sold entgegen, salutierte erneut und streckte dann die andere Hand aus.

»Die Dienstmarke, Herr«, sagte er.

»Wie? Oh, ja, natürlich…«

Der völlig entnervte Hauptmann suchte in der obersten Schublade des Schreibtischs und holte schließlich ein Abzeichen hervor, dessen Glanz sich schon vor langer Zeit getrübt hatte. Wäre er aufmerksamer gewesen, hätte er Mumms sehnsüchtigen Blick bemerkt.

Der neue Oberfeldwebel nahm seine Dienstmarke mit großem Respekt entgegen und salutierte noch einmal. »Der Eid, Herr«, sagte er.

»Oh, äh, der Eid? Äh, ich glaube, ich habe ihn irgendwo aufgeschrieben…«

Mumm holte tief Luft. Es mochte keine gute Idee sein, aber inzwischen war er richtig in Fahrt.

»Ich Komma eckige Klammer auf Name des Rekruten eckige Klammer zu Komma schwöre feierlich bei eckige Klammer auf Gottheit nach Wahl eckige Klammer zu Komma die Gesetze und Verordnungen der Stadt Ankh-Morpork zu achten Komma dem öffentlichen Wohl zu dienen Komma die Untertanen Seiner Schrägstrich Ihrer Klammer auf Unzutreffendes streichen Klammer zu Majestät Klammer auf Name des regierenden Monarchen Klammer zu ohne Furcht Komma persönliche Gunst oder Rücksicht auf die eigene Sicherheit zu verteidigen Semikolon Übeltäter zu verfolgen und Unschuldige zu beschützen Komma das eigene Leben falls nötig der Pflicht zu opfern Komma so mir Klammer auf zuvor erwähnte Gottheit Klammer zu helfe Punkt Mögen die Götter den König Schrägstrich die Königin Klammer auf Unzutreffendes streichen Klammer zu erhalten Punkt.«

»Meine Güte«, sagte Tilden. »Du bist gut vorbereitet, Oberfeldwebel.«

»Und jetzt des Königs Shilling, Herr«, beharrte Mumm, mit Schwingen der Verwegenheit fliegend.

»Was?«

»Ich muss den Shilling des Königs nehmen, Herr.«

»Äh… ich weiß nicht, ob wir…«

»Er liegt in der, hnah, untersten Schublade, Herr«, sagte Schnauzi. »An einer Schnur befestigt.«

»Oh, ja.« Tilden strahlte plötzlich. »Ist ziemlich lange her, seit wir ihn zum letzten Mal benutzt haben.«

»Tatsächlich?«, fragte Mumm.

Tilden kramte ein wenig und holte die Münze schließlich hervor. Es handelte sich um einen echten alten Shilling, inzwischen wahrscheinlich einen halben Dollar wert, allein wegen des Silbers – deshalb drückte man ihn einem neuen Polizisten in die Hand und zog ihn dann rasch weg, bevor er eingesteckt werden konnte.

Mumm hatte den Eid schon einmal abgelegt und fragte sich, ob er durch das zweite Mal aufgehoben wurde. Aber es gehörte eben dazu, und man musste den Shilling zumindest berühren. Er spürte das Gewicht in der Hand und fand schändliche Freude daran, die Finger um die Münze zu schließen, bevor der Hauptmann sie wegziehen konnte. Einen Moment später öffnete er die Hand.

Nach einem letzten Salutieren drehte er sich um und klopfte Schnauzi auf die Schulter. »Mit der Erlaubnis des Hauptmanns… Ich würde gern mit dir reden, draußen.«

Und Mumm verließ das Büro.

Schnauzi sah Tilden an, der noch immer wie hypnotisiert dasaß. Der Shilling baumelte aus seiner Faust. »Guter Mann«, brachte er schließlich hervor. »Sehr gut. Ja. Hat Rückgrat…«

»Hnah, ich gehe und stelle fest, was er will, Herr«, sagte Schnauzi und flitzte nach draußen.

Er hatte das Ende des Flurs erreicht, als eine Hand aus den Schatten kam und ihn näher zog.

»Es ist nützlich, dich zu kennen, Schnauzi«, flüsterte Mumm. »Da bin ich ganz sicher.«

»Jaherr«, sagte Schnauzi und stand auf den Zehenspitzen.

»Du hältst die Ohren offen, nicht wahr?«

»Jaherr!«

»Bei jeder Truppe gibt es einen, der weiß, was vor sich geht, und der praktisch alles besorgen kann. Für einen solchen Mann halte ich dich.«

»Hnah, jaherr!«

»Dann hör mal gut zu«, sagte Mumm. »Ein Paar Stiefel Größe zweiundvierzig, ein Helm Größe neunundfünfzig, ein guter Lederumhang. Die Stiefel sollten guter Qualität, aber gebraucht sein. Kapiert?«

»Gebraucht?«

»Ja. Die Sohlen fast durchgelaufen.«

»Sohlen fast durchgelaufen, hnah, alles klar«, sagte Schnauzi.

»Der Brustharnisch ohne Rost, aber gegen einige Beulen habe ich nichts einzuwenden. Ein gutes Schwert, Schnauzi, und glaub mir: Ich erkenne ein gutes Schwert, wenn ich es in der Hand halte. Was diese Dinge betrifft und auch den Rest: Ich weiß, dass ein Mann wie du das Beste beschaffen und es bis zehn Uhr heute Morgen bei Dr. Rasen in der Funkelgasse abliefern kann. Und es springt auch etwas für dich heraus, Schnauzi.«

»Was denn, Chef?«, fragte Schnauzi, der Mumms Griff als unangenehm empfand.

»Meine unvergängliche Freundschaft«, sagte Mumm. »Und die wird hier bald sehr kostbar sein, das verspreche ich dir.«

»In Ordnung, Oberfeldwebel«, erwiderte Schnauzi. »Brauchst du auch eine Glocke?«

»Eine Glocke?«

»Um zu läuten und, hnah, ›Alles ist gut‹ zu rufen, Chef.«

Mumm dachte darüber nach. Eine Glocke. Jeder Wächter besaß eine, die Vorschriften verlangten es, aber Mumm hatte ihren Gebrauch verboten – sie durften nur bei besonderen Zeremonien geläutet werden.

»Nein, keine Glocke für mich«, sagte er. »Glaubst du, dass alles gut ist?«

Schnauzi schluckte. »Wie man’s nimmt, Chef«, brachte er hervor.

»Legst dich nicht gern fest, wie? Nun, wir sehen uns heute Nachmittag.«

Am Himmel zeigte sich das erste Glühen der Morgendämmerung, als Mumm das Wachhaus verließ, aber die Stadt lag noch im Dunkeln.

Die Dienstmarke steckte in seiner Tasche, beruhigend schwer. Und in seinem Geist erstreckte sich die unendliche Freiheit des Eids. Ein Herrscher nach dem anderen hatte übersehen, welche Möglichkeiten er bot…

Er ging so ruhig wie möglich zur Funkelgasse. Unterwegs lauerten ihm zwei Wächter auf, aber er zeigte ihnen die Dienstmarke, und was noch wichtiger war: Er hatte jetzt wieder die Stimme. Es war Nacht, und er ging durch Ankh-Morpork, und die verdammten Straßen der Stadt gehörten ihm, und das kam in seiner Stimme zum Ausdruck. Die beiden Wächter eilten davon. Mumm wusste nicht, ob sie ihm geglaubt hatten, aber sie waren zumindest bestrebt gewesen, diesen Eindruck zu erwecken. Die Stimme hatte ihnen mitgeteilt: Sie bekamen nicht annähernd genug Geld, um es mit der Art von Ärger aufzunehmen, die er für sie bereithielt.

Einmal musste er beiseite treten, um einem sehr dürren Pferd Platz zu machen, das einen großen und vertrauten vierrädrigen Wagen über das Kopfsteinpflaster zog. Furchterfüllte Gesichter hinter den Gittern verschwanden in der Dunkelheit. Die Sperrstunde brachte ihre nächtliche Ernte ein.

Dies waren keine guten Zeiten. Alle wussten um den Wahnsinn von Lord Winder. Jemand, der ebenso verrückt war wie er, hatte versucht, ihn umzulegen, und es wäre ihm auch gelungen, wenn sich Winder nicht im falschen Augenblick bewegt hätte. Der Pfeil traf Seine Lordschaft in den Arm, und die Leute sagten – womit namenlose Leute gemeint waren, die sich abends in Tavernen treffen; die Wunde hätte seinen Geist weiter vergiftet und ihn noch schlimmer gemacht. Er begegnete allem und jedem mit Argwohn. Überall sah er Mörder und Attentäter. Gerüchten zufolge wachte er nachts schweißgebadet auf, weil sie ihn sogar im Traum bedrohten.

Während er wach war, glaubte er, dass sich überall Verschwörer und Spione herumtrieben, und er wies seine Männer an, sie aufzustöbern. Und wenn man versucht, Verschwörer und Spione aufzustöbern, die sich überall herumtreiben, wimmelt es bald von ihnen, selbst wenn es zu Anfang keine Verschwörer und Spione gibt.

Zum Glück hatte die Nachtwache kaum etwas mit dem eigentlichen Aufstöbern zu tun – sie verhaftete nur die Überbleibsel. Die spezielle Wache in der Ankertaugasse war die lange Hand des Verfolgungswahns Seiner Lordschaft. Die Sondergruppe, so hieß sie offiziell. Aber soweit sich Mumm zurückerinnern konnte, hatte sie den Spitznamen »die Unaussprechlichen« getragen. Sie waren diejenigen, die in jedem Schatten lauschten und durch jedes Fenster sahen. So schien es jedenfalls. Zweifellos waren sie diejenigen, die mitten in der Nacht an Türen klopften.

Mumm blieb im Dunkeln stehen. Seine billige Kleidung war durchnässt, er hatte kalte Füße, Regen tropfte von seinem Kinn, und ein weiter, weiter Weg trennte ihn von zu Hause. Doch auf eine verräterische Art und Weise war dies sein Zuhause. Den größten Teil seiner Tage hatte er damit verbracht, nachts zu arbeiten. Sein Leben bestand praktisch daraus, durch die regennassen Straßen der schlafenden Stadt zu wandern.

Das Wesen der Nacht veränderte sich, aber das Wesen des Tiers blieb immer gleich.

Mumm griff in die Tasche und betastete erneut die Dienstmarke.

Lampen waren dünn gesät, und in der Dunkelheit klopfte er an eine Tür. Hinter einem der unteren Fenster brannte Licht; vermutlich war Rasen noch wach.

Nach einer Weile öffnete sich eine kleine Klappe, und eine Stimme sagte. »Oh… du bist’s.« Stille folgte, und dann verrieten kratzende Geräusche, dass mehrere Riegel beiseite geschoben wurden.

Der Doktor öffnete die Tür, in der einen Hand eine sehr lange Spritze. Sie weckte sofort Mumms Aufmerksamkeit. An ihrem Ende bildete sich ein purpurner Tropfen und fiel zu Boden.

»Was hattest du damit vor?«, fragte Mumm. »Wolltest du mich vielleicht zu Tode spritzen

»Hiermit?« Rasen blickte auf das Instrument, als wäre ihm gar nicht bewusst gewesen, dass er es in der Hand hielt. »Oh… ich habe nur ein kleines Problem für jemanden gelöst. Patienten kommen zu jeder Tages- und Nachtzeit.«

»Kann ich mir denken. Äh… Rosie meinte, du hättest ein Zimmer frei«, sagte Mumm. »Ich kann Miete zahlen«, fügte er rasch hinzu. »Inzwischen habe ich Arbeit gefunden. Fünf Dollar im Monat? Ich brauche das Zimmer nicht für lange.«

»Die Treppe hoch und dann links«, erwiderte Rasen und nickte. »Wir reden morgen darüber.«

»Ich bin kein krimineller Verrückter«, sagte Mumm. Er fragte sich, was ihn zu diesen Worten veranlasste, und dann fragte er sich, wen er damit beruhigen wollte.

»Schon gut, du gewöhnst dich bald ein«, sagte Rasen. Ein leises Wimmern drang aus dem Behandlungszimmer.

»Das Bett ist nicht gelüftet, aber ich schätze, das macht dir nichts aus«, sagte er. »Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest…«

Das Bett war tatsächlich nicht gelüftet, und es machte Mumm nichts aus. Später erinnerte er sich nicht einmal daran, dass er unter die Decke geschlüpft war.

Einmal erwachte er in jäher Panik und hörte, wie der große, schwarze Wagen durch die Straße rumpelte. Übergangslos wurde er Teil seines Albtraums.

 

Um zehn Uhr morgens fand Mumm eine Tasse mit kaltem Tee neben seinem Bett sowie ein Kleidungsbündel und einen Brustharnisch vor der Tür im Flur. Er trank den Tee und prüfte die Sachen.

Er hatte Schnauzi richtig eingeschätzt. Der Mann überlebte, weil er ein Wetterhahn war und immer darauf achtete, wohin der Wind wehte, und derzeit wehte er zu Mumm. Er hatte sogar an Socken und Unterhosen gedacht, obgleich das nicht zum Auftrag gehört hatte. Eine aufmerksame Geste. Natürlich hatte Schnauzi sie nicht bezahlt, sondern »besorgt«. Immerhin war dies die alte Nachtwache.

Aber zum Donnerwetter auch: Der kleine Kerl hatte noch etwas anderes beschafft. Über den drei Streifen des Feldwebels sah er eine kleine, goldene Krone. Normalerweise begegnete Mumm Kronen mit instinktivem Abscheu, aber diese wusste er zu schätzen.

Als er nach unten ging und sich den Gürtel umschnallte, traf er Rasen, der gerade aus dem Behandlungszimmer kam und sich die Hände an einem Tuch abwischte. Der Doktor lächelte geistesabwesend und bemerkte dann die Uniform. Sein Lächeln löste sich allmählich auf.

»Schockiert?«, fragte Mumm.

»Erstaunt«, sagte der Doktor. »Aber Rosie wird vermutlich nicht überrascht sein. Ich habe nichts Illegales getan.«

»Dann brauchst du auch nichts zu befürchten.«

»Wirklich nicht? Das beweist, dass du nicht von hier bist«, sagte Rasen. »Möchtest du Frühstück? Es sind noch Nieren übrig.« Diesmal verblasste Mumms Lächeln. »Lammnieren«, fügte der Doktor hinzu.

In der kleinen Küche löste er den Deckel von einem großen Steinkrug und holte eine Büchse hervor. Dampf entströmte ihr.

»Eis«, erklärte Rasen. »Ich bekomme es von der anderen Straßenseite. Hält die Lebensmittel frisch.«

Mumm runzelte die Stirn. »Von der anderen Straßenseite? Meinst du die Leichenhalle?«

»Keine Sorge, es ist noch nicht benutzt«, sagte Rasen und stellte eine Pfanne auf den Herd. »Herr Garnier bringt jede Woche einige Brocken vorbei, als Bezahlung für die Behandlung eines gewissen medizinischen Problems.«

»Aber hauptsächlich arbeitest du für die Damen, äh, käuflicher Zuneigung?«, fragte Mumm. Rasen bedachte ihn mit einem scharfen Blick, um festzustellen, ob er sich einen Scherz erlaubte. Mumms Gesichtsausdruck blieb unverändert.

»Nicht nur für sie«, sagte er. »Ich habe auch andere Patienten.«

»Leute, die durch die Hintertür kommen.« Mumm sah sich in dem kleinen Zimmer um. »Leute, die sich aus dem einen oder anderen Grund nicht an… besser bekannte Ärzte wenden wollen.«

»Oder nicht genug Geld haben«, sagte Rasen. »Leute, die ohne Identität auftauchen. Worauf willst du hinaus… John

»Oh, reine Neugier, weiter nichts«, erwiderte Mumm und verfluchte sich, weil er direkt hineingestolpert war. »Ich habe mich gefragt, wo du ausgebildet worden bist.«

»Warum?«

»Ich schätze, Leute, die durch die Hintertür kommen, wollen Resultate sehen.«

»Ha. Meine Ausbildung fand in Klatsch statt. Dort gibt es einige neue Ideen in der Medizin. Zum Beispiel glaubt man dort, dass es dem Patienten besser gehen sollte.« Er drehte die Nieren mit einer Gabel. »Eigentlich habe ich große Ähnlichkeit mit dir, Feldwebel. Wir tun, was getan werden muss, wir arbeiten in, äh, unbeliebten Bereichen, und vermutlich ziehen wir beide irgendwo die Grenze. Ich bin kein Fleischer. Und Rosie meint, dass du ebenfalls keiner bist. Aber man muss sich der Aufgabe stellen, die man vor sich sieht; andernfalls sterben Personen.«

»Das werde ich mir merken«, sagte Mumm.

»Und wenn man sich’s genau überlegt…«, sagte Rasen. »Es gibt Schlimmeres auf der Welt, als Frauen den Puls zu fühlen.« Nach dem Frühstück trat Oberfeldwebel John Keel in den ersten Tag vom Rest seines Lebens.

Einige Sekunden blieb er stehen, schloss die Augen und drehte die Füße, wie jemand, der versuchte, zwei Zigarettenstummel gleichzeitig auszutreten. Langsam breitete sich ein Lächeln auf seinen Lippen aus. Schnauzi hatte genau die richtigen Stiefel gefunden. Willikins und Sybil hatten sich heutzutage verschworen… sie würden sich verschwören, ihn daran zu hindern, gute abgenutzte Stiefel zu tragen. Sie ließen sie nachts verschwinden und die Sohlen ersetzen. Es war herrlich, die Straße wieder mit trockenen Füßen zu fühlen. Ein Leben lang hatte er sie beschritten und fühlte sie tatsächlich. Das Pflaster bestand aus unterschiedlichen Steinen: Katzenköpfe, Trollköpfe, Faulenzer, kurze und lange Lieger, Rundler, Morpork-Sechser, außerdem siebenundachtzig Arten Pflasterziegel, vierzehn Arten Steinplatten und zwölf Arten von Steinen, die eigentlich nie für das Pflaster bestimmt gewesen waren. Hinzu kamen Schotter, Kies, Ausbesserungen, dreizehn Arten von Kellerabdeckungen, zwanzig Arten von Gullydeckeln…

Mumm sprang ein wenig, als wollte er die Festigkeit des Untergrunds prüfen. »Ulmenstraße«, sagte er und sprang erneut. »Ecke Funkelgasse. Ja.«

Er war zurück.

Nicht allzu viele Schritte trennten ihn von der Sirupminenstraße, und als er sich dem Wachhaus zuwandte, fiel ihm die Farbe auf.

Dort war er, wuchs über eine Gartenmauer hinweg. Überall in der Stadt gab es Flieder. Es war eine zähe Pflanze, die nicht so schnell verzagte, womit sie sich bestens für Ankh-Morpork eignete. Mumm betrachtete die angeschwollenen Blütenknospen.

Er stand da wie ein Mann, der auf ein altes Schlachtfeld starrte.

Sie fliegen empor mit den Händen nach oben, mit den Händen, den Händen nach oben

Mumm rief sich innerlich zur Ordnung. Stell dir vor, dass die Dinge nacheinander geschehen, dachte er. Geh nicht davon aus, dass du weißt, was passiert, denn vielleicht passiert es nicht. Sei du selbst.

Und weil Mumm er selbst war, besuchte er kleine Läden in dunklen Gassen, kaufte dort gewisse Dinge und machte sich an die Arbeit.

 

Gegen Mittag war das Haus der Nachtwache in der Sirupminenstraße meistens leer, aber Mumm wusste, dass zumindest Schnauzi da sein würde. Er war ein Beharrlicher Herumhänger, wie Nobby und auch Colon, Karotte und selbst Mumm, wenn man es genau nahm. Im Dienst zu sein – das war ihr normaler Zustand. Sie hielten sich selbst dann im Wachhaus auf, wenn sie nicht im Dienst waren, denn dort fand ihr Leben statt. Die Identität des Polizisten hängte man nicht einfach an den Nagel, wenn man nach Hause ging. Aber ich werde lernen, wie man das macht, dachte Mumm. Wenn ich zurückkehre, wird alles anders sein.

Er ging nach hinten und trat durch den Stalleingang. Die Tür war nicht einmal verriegelt. Die erste schlechte Note, Jungs. Die eiserne Masse des Gefangenenwagens stand leer auf dem Kopfsteinpflaster.

Dahinter befand sich das, was man »Ställe« nannte. Eigentlich waren die Ställe das Erdgeschoss von etwas, das zum industriellen Erbe von Ankh-Morpork zählte, falls jemand es aus dieser Perspektive sehen wollte. Die Leute hielten den ganzen Kram für Schrott, der zu schwer war, um weggeschafft zu werden. Es waren Teile der Winden einer alten, längst aufgegebenen Sirupmine. Einer der Fördereimer war noch vorhanden, an den Boden geklebt von seiner letzten Fracht: Der schwere, klebrige Rohsirup war im getrockneten Zustand härter als Zement und wasserdichter als Teer. Mumm erinnerte sich daran, wie er als Kind von den Grubenarbeitern Erdsirupbrocken erbettelt hatte. Ein kleines Stück mit der Süße prähistorischen Zuckerrohrs genügte, um den Mund eines Kindes eine Woche lang glücklich geschlossen zu halten.6

In dem Stall mit dem Sirupdach stand das Pferd und kaute auf schlechtem Heu. Mumm wusste, dass es ein Pferd war, denn es hatte vier Hufe, einen Schweif, einen Kopf mit einer Mähne und ein schäbig wirkendes Fell. Aus einem anderen Blickwinkel gesehen war es eine halbe Tonne Knochen, von Rosshaar zusammengehalten.

Mumm klopfte ihm behutsam auf den Rücken – als natürlicher Fußgänger hatte er sich in der Nähe von Pferden immer unwohl gefühlt. Er nahm ein schmutziges Klemmbrett von einem nahen Haken und blätterte. Dann sah er sich noch einmal auf dem Hof um. Tilden hielt sich nie damit auf. Er sah sich den Schweinestall in der Ecke an, in dem Klopf sein Schwein hielt, dann den Hühnerauslauf, den Taubenschlag und die ungeschickt zusammengehämmerten Kaninchenkäfige. Anschließend stellte er einige Berechnungen an.

Das alte Wachhaus! Es war alles da, genau wie damals, als er begonnen hatte. Einst waren es zwei Häuser gewesen, und eins davon hatte als Büro für die Sirupmine gedient. Alles in der Stadt war einmal etwas anderes gewesen. Dieser Ort war ein Irrgarten aus versperrten Türen, alten Fenstern und winzigen Zimmern.

Mumm wanderte umher wie in einem Museum. Dort der alte Helm auf einem Stock, für Zielübungen! Und dort Feldwebel Klopfs Lehnsessel mit den gebrochenen Federn! Darin saß er an sonnigen Nachmittagen…

Und drinnen der Geruch: Bohnerwachs, alter Schweiß, Poliermittel für Brustharnische, Tinte, das vage Aroma von gebratenem Fisch und natürlich der allgegenwärtige süßliche Sirupduft.

Die Nachtwache. Er war zurück.

Als die ersten Angehörigen der Nachtwache zurückkehrten, fanden sie einen entspannten Mann vor, der zurückgelehnt auf einem Stuhl saß, die Füße auf dem Schreibtisch, und in Papieren blätterte. Der Mann trug die Streifen eines Feldwebels, und etwas an ihm wirkte wie eine Falle, die bei der leichtesten Berührung zuschnappen konnte. Er schenkte den Neuankömmlingen nicht die geringste Beachtung. Seine Nichtbeachtung galt vor allem einem mageren Gefreiten, der noch immer neu genug für einen gewienerten Brustharnisch war…

Sie schwärmten zwischen den Schreibtischen aus und unterhielten sich leise.

Mumm kannte sie genau. Sie gehörten zur Nachtwache, weil sie für die Tagwache zu schmuddelig, hässlich, inkompetent, verunstaltet oder gemein waren. Sie waren ehrlich, im besonderen Polizistensinne dieses Wortes. Sie stahlen keine Dinge, die zu schwer waren, um sie fortzutragen. Und sie hatten die Moral von feuchtem Pfefferkuchen.

Am vergangenen Abend hatte Mumm überlegt, ob er sich mit einigen aufmunternden Worten vorstellen sollte, doch er entschied sich dagegen. Sie waren Polizisten, wenn auch keine guten, und Polizisten hielten nichts von dem Glückliche-Familie-Quatsch: »Hallo, Leute, nennt mich Christopher, meine Tür steht immer offen. Wenn wir alle an einem Strang ziehen, kommen wir bestimmt bestens zurecht und sind eine glückliche Familie.« Sie hatten zu viele Familien gesehen, um auf einen solchen Unsinn hereinzufallen.

Jemand räusperte sich mit bösem Vorbedacht. Mumm sah auf und in das Gesicht von Feldwebel »Klopfer« Klopf. Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte er sich versucht zu salutieren. Dann erinnerte er sich daran, wer Klopf war.

»Nun?«, fragte er.

»Du sitzt an meinem Schreibtisch, Feldwebel«, sagte Klopf.

Mumm seufzte und deutete auf die kleine Krone an seinem Ärmel. »Siehst du das, Feldwebel?«, fragte er. »Das nannte man einmal den Hut der Autorität.«

Klopfs kleine Wieselaugen richteten sich auf die Krone. Dann kehrte ihr Blick in Mumms Gesicht zurück, und der Schock des Erkennens stand in ihnen.

»Verdammt und zugenäht«, hauchte Klopf.

»Es heißt ›verdammt und zugenäht, Herr‹«, sagte Mumm. »Aber du kannst mich auch ›Chef‹ nennen. Ist das deine Gruppe? Meine Güte. Nun, fangen wir an.«

Er schwang die Füße vom Schreibtisch und stand auf. »Ich habe mir die Rechnungen für Marlenes Futter angesehen«, sagte er. »Interessante Lektüre, Jungs. Nach meinen ersten Berechnungen sollte ein Pferd, das so viel frisst, fast kugelförmig sein. Stattdessen ist der Gaul so dünn, dass ich mit zwei Stöcken und einem Notenblatt Musik auf seinen Rippen spielen könnte.«

Mumm ließ die Papiere sinken. »Glaubt bloß nicht, ich hätte keine Ahnung, wohin das Korn verschwindet. Ich wette, ich weiß auch, wem die Hühner, Kaninchen und Tauben gehören«, sagte er. »Und das Schwein. Der Hauptmann glaubt vermutlich, dass sie allein von den Resten Fett ansetzen.«

»Ja, aber…«, begann jemand.

Mumm schlug mit der Hand auf den Schreibtisch. »Ihr lasst sogar das arme Pferd hungern!«, donnerte er. »Das hört sofort auf! Und mit einigen anderen Dingen ist ebenfalls Schluss. Ich weiß, wie’s läuft. Bier und einen Krapfen schnorren… Das gehört eben dazu, wenn man Polizist ist. Und vielleicht gibt es in dieser Stadt sogar einige Leute, die so froh darüber sind, einen Polizisten zu sehen, dass sie ihm eine Gratismahlzeit anbieten. Es sind schon seltsamere Dinge geschehen. Aber Marlene den Hafer zu klauen… Das hört auf. Und noch etwas. Hier steht, dass der Gefangenenwagen letzte Nacht acht Personen beförderte. Von zweien weiß ich, denn einer von ihnen war ich, und den anderen kenne ich. Heute Morgen sind die Zellen leer. Was ist mit den anderen sechs passiert? Feldwebel Klopf?«

Klopf befeuchtete sich nervös die Lippen. »Wir haben sie zum Verhör in die Ankertaugasse gebracht«, sagte er. »Wie es die Vorschriften verlangen.«

»Habt ihr eine Empfangsbestätigung bekommen?«

»Eine was?«

»Deine Männer haben sechs Personen verhaftet, die noch spät unterwegs waren, und sie dann den Unaussprechlichen übergeben«, sagte Mumm mit der Ruhe vor dem Sturm. »Habt ihr eine Quittung bekommen? Wisst ihr wenigstens die Namen der Gefangenen?«

»Der Befehl lautet, sie zu übergeben«, erwiderte Klopf und versuchte es mit ein wenig Trotz. »Wir sollen die Leute zur Sondergruppe bringen und dann gehen.«

Mumm merkte sich das, um später noch einmal darauf zurückzukommen. »Nun, ich bin nicht dorthin gebracht worden, weil wir ein… Missverständnis hatten. Und wie ihr seht, war es ein größeres Missverständnis, als ihr dachtet, denn ich sitze nicht im Kittchen und zähle dort die Kakerlaken, Klopf. Nein, ganz gewiss nicht.« Er trat einige Schritte vor. »Ich stehe vor dir, Klopf. Das stimmt doch, oder?«

»Ja, Chef«, murmelte Klopf. Furcht und Zorn hatten ihn erbleichen lassen.

»Ja, genau«, sagte Mumm. »Aber es saß noch jemand in der Zelle, und der ist jetzt weg. Ich möchte nur dies wissen: wie viel und für wen? Spart euch die Blicke engelhafter Unschuld und Antworten in der Art von ›Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest, Herr‹. Ich möchte schlicht und einfach wissen: wie viel und für wen?«

Eine Wolke aus roter, verärgerter Solidarität senkte sich auf die Gesichter vor Mumm herab. Aber er brauchte gar keine Antwort. Er erinnerte sich. Korporal Schrulle hatte immer ein privates Einkommen aus Schmiergeldern gehabt. Er war wie Nobby Nobbs gewesen, aber ohne dessen liebenswürdige Inkompetenz. Ein tüchtiger Nobby, und man konnte der Mischung noch Schikane, Arschkriecherei und Freude an Gemeinheiten hinzufügen.

Mumms Blick fiel auf Schrulle und verharrte dort.

»Ich weiß, dass du gestern Abend mit dem Wagen unterwegs warst«, sagte er. »Zusammen mit dem Gefreiten, äh, Mumm. So steht es hier.«

»Die Anständigen brauchen wir nicht zu belästigen«, sagte Schrulle.

Und der junge Mumm fragte: »Wie stellen wir fest, ob jemand anständig ist, Korporal?«

»Indem wir herausfinden, wie viel er sich leisten kann.«

»Du meinst, wir lassen die Reichen gehen?«

»Das ist der Lauf der Welt, mein Junge, der Lauf der Welt. Ich sehe keinen Grund, warum wir nicht unseren Anteil daran bekommen sollten. Siehst du diesen Geldbeutel hier? Fünf Dollar sollten genügen. Vier für mich und einen für dich, weil du noch lernst. Das ist der Sold von fast drei Tagen, und deine Mutter freut sich bestimmt, und wer hat den Schaden?«

»Aber angenommen, er hat das Geld geklaut, Korporal?«

»Angenommen, der Mond besteht aus Käse. Möchtest du ein Stück?«

»Ich glaube, es waren fünf Dollar, Korporal«, sagte Mumm und beobachtete, wie Schrulles Blick zu dem jungen Gefreiten huschte.

»Nein, ich weiß es von dem Mann in der Zelle«, log Mumm. »Er meinte, ich sei ein Narr, weil ich mich nicht freikaufte. Nun, Herr Schrulle, die Sache sieht so aus: Die Tagwache sucht nach guten Leuten, aber wenn du nicht zu sehr im Licht stehst, nimmt sie dich vielleicht. Ich schlage vor, du brichst sofort auf!«

»Alle machen es!«, platzte es aus Schrulle heraus. »Es sind Nebeneinkünfte

»Alle?«, fragte Mumm, und musterte die anderen Wächter. »Alle lassen sich bestechen?«

Sein Blick glitt von Gesicht zu Gesicht, und sofort verwandelten sich die Wächter in Dielen-und-Decke-Inspektoren. Nur drei begegneten Mumms Blick: Obergefreiter Colon, der ein wenig schwer von Begriff sein konnte; ein gewisser junger Mann, die Miene voller Entsetzen; und ein dunkelhaariger, rundgesichtiger Gefreiter, der verwirrt wirkte und anscheinend versuchte, sich an etwas zu erinnern. Er hatte den unerschütterlichen Blick des wahren Lügners.

»Offenbar nicht«, sagte Mumm.

Schrulles Zeigefinger schoss nach vorn und deutete zitternd auf den jungen Sam Mumm.

»Er hat auch was davon genommen! Frag ihn!«

Mumm spürte den Schock der Truppe. Schrulle hatte gerade Selbstmord begangen. Man hielt gegen Offiziere zusammen, und selbst wenn das Spiel aus war: Auf keinen Fall verpetzte man jemanden. Die Männer hätten über die Vorstellung einer Wächterehre gelacht, aber sie existierte, auf eine dunkle, verdrehte Art und Weise. Man riss niemanden rein. Schon gar nicht einen Grünschnabel, der es nicht besser wusste.

Zum ersten Mal wandte sich Mumm dem jungen Mann zu, den er bisher zu ignorieren versucht hatte.

Bei den Göttern, bin ich jemals so dürr gewesen?, dachte er.

Und hatte ich einen so großen Adamsapfel? Und habe ich wirklich versucht, Rost zu polieren?

Der junge Mann hatte so sehr die Augen verdreht, dass in ihnen kaum mehr als das Weiße zu sehen war.

»Gefreiter Mumm, nicht wahr?«, fragte Mumm ruhig.

»Jaherr!«, brachte Sam heiser hervor.

»Rühren, Gefreiter. Hast du einen Teil des Bestechungsgelds genommen?«

»Jaherr! Einen Dollar, Herr!«

»Auf Veranlassung von Korporal Schrulle?«

»Äh…Herr?«

»Hat er dir das Geld angeboten?«, übersetzte Mumm. Mumm beobachtete seine eigene Agonie. Man verpetzte niemanden.

»Na schön«, sagte er schließlich. »Ich rede später mit dir. Oh, du bist noch da, Schrulle? Wenn du dich beim Hauptmann beschweren willst… meinetwegen. Aber wenn dein Spind in zehn Minuten nicht leer ist, zahlst du Miete!«

Schrulle sah sich um, auf der Suche nach unmoralischer Unterstützung, fand aber keine. Er war zu weit gegangen. Außerdem konnten die Wächter die dunklen Gewitterwolken des Ärgers ganz deutlich über sich sehen, und für jemanden wie Schrulle wollte niemand den Kopf hinhalten.

»Das werde ich«, versprach Schrulle. »Ich werde mich beim Hauptmann beschweren. Du wirst sehen. Ich kann vier Jahre guter Führung vorweisen. Ich…«

»Nein, vier Jahre, während der man dir nicht auf die Schliche gekommen ist«, sagte Mumm. »Verschwinde!«

Als das Geräusch von Schrulles hastigen Schritten verklungen war, wandte sich Mumm wieder an die Truppe.

»Guten Tag, Jungs, ich bin John Keel«, sagte er. »Wir sollten besser gut miteinander klarkommen. Zeigt euch jetzt von eurer besten Seite – Inspektion des Hauptmanns in zwei Minuten. Ab mit euch… Feldwebel Klopf, wenn ich dich kurz sprechen könnte…«

Die Männer eilten fort. Klopf trat vor, und es gelang ihm nicht ganz, seine Nervosität zu verbergen. Immerhin war sein unmittelbarer Vorgesetzter jetzt der Mann, den er vergangene Nacht in die Eier getreten hatte. Manche Leute nahmen einem so etwas übel. Außerdem hatte er Zeit gehabt, darüber nachzudenken.

»Ich wollte gerade sagen, wegen letzter Nacht, Herr…«, begann Klopf.

»Es geht mir nicht um letzte Nacht«, sagte Mumm.

»Nein?«

»Würdest du empfehlen, Fred Colon zum Korporal zu befördern? Ich möchte gern deine Meinung hören.«

»Im Ernst?«

»Ja. Scheint ein tüchtiger Bursche zu sein.«

»Tatsächlich? Nun, ja, ich meine, das ist er. Sehr gründlich«, sagte Klopf. Erleichterung stieg wie Dampf von ihm auf. »Überstürzt nichts. Möchte sich einem der Regimenter anschließen.«

»Also gut, wir stellen ihn auf die Probe, solange er noch bei uns ist. Es bedeutet, dass wir einen anderen Obergefreiten brauchen. Wer war der Bursche neben Colon?«

»Coates, Herr. Ned Coates. Intelligenter Bursche. Glaubt manchmal, es besser zu wissen, aber so sind wir doch alle.«

Mumm nickte. Sein Gesichtsausdruck verriet nicht, dass seiner Meinung nach manche Dinge an der Unterseite hoher Äste es besser wussten als Feldwebel Klopf.

»Dann tut es ihm bestimmt gut, ein wenig Verantwortung zu übernehmen«, sagte er. Klopf nickte, an dieser Stelle hätte er praktisch allem zugestimmt. Seine Körpersprache teilte mit: Wir sind alle Feldwebel. Wir reden hier über Feldwebel-Dinge, wie Feldwebel. Uns geht es nicht um irgendwelche Tritte in die Eier. Daran haben wir kein Interesse. Weil wir Feldwebel sind.

Er riss die Augen auf und salutierte, als Tilden hereinkam. Auch die anderen nahmen halbherzig Haltung an. Der Hauptmann erwiderte den Gruß steif und richtete einen nervösen Blick auf Mumm.

»Ah, Oberfeldwebel«, sagte er. »Gewöhnst du dich ein?«

»Jaherr. Es gibt keine Probleme.«

»Gut. Weitermachen!«

Als der Hauptmann über die knarrende Treppe nach oben verschwand, wandte sich Mumm wieder an Klopf.

»Feldwebel, wir übergeben keine Gefangenen ohne eine Empfangsbestätigung, verstanden? Das kommt unter keinen Umständen in Frage! Was geschieht nachher mit ihnen? Weißt du das?«

»Sie werden verhört«, sagte Klopf. »Wir bringen sie dorthin, damit sie verhört werden.«

»Und welche Fragen stellt man ihnen? Wie lange brauchen zwei Männer, um ein halbes Loch auszuheben?«

»Was?«

»Von jetzt an unterschreibt jemand in der Ankertaugasse für die Gefangenen, oder wir bringen sie hierher zurück«, sagte Mumm. »Das ist elementar, Feldwebel. Du übergibst die Leute und bekommst dafür eine Quittung. Das ist doch auch beim Kittchen üblich, oder?«

»Nun, ja, natürlich, aber… Die Ankertaugasse… Ich meine, offenbar weißt du nicht, wie es dort zugeht. Mit den Unaussprechlichen in der Ankertaugasse ist nicht zu spaßen…«

»Hör mal, ich verlange nicht, dass du die Tür eintrittst und rufst ›Legt die Daumenschrauben weg!‹«, sagte Mumm. »Ich weise nur darauf hin, dass wir den Weg der Gefangenen verfolgen. Wenn du jemanden verhaftest, übergibst du ihn Schnauzi, der ihn in die Liste einträgt. Und wenn er die Zelle verlässt, trägt Schnauzi oder der zuständige Wächter ihn aus. Das ist ganz gewöhnliche Gewahrsamsdisziplin, Mann! Wenn du einen Häftling der Ankertaugasse übergibst, so muss jemand von dort unterschreiben. Verstanden? Niemand verschwindet einfach.«

Klopfs Miene offenbarte einen Mann, der über eine Zukunft nachdachte, die weniger Chancen zur persönlichen Bereicherung bot, aber eine weitaus höhere Wahrscheinlichkeit dafür, angeschrien zu werden.

»Und um sicherzustellen, dass alle verstehen, fahre ich heute Nacht mit dem Wagen«, sagte Mumm. »Aber zuerst mache ich einen kleinen Spaziergang mit dem jungen Mumm und rüttle ihn ein wenig auf.«

»Das kann er vertragen«, erwiderte Klopf. »Hat einfach nicht die richtige Einstellung. Hat geschickte Hände, aber man muss ihm alles zweimal sagen.«

»Dann sollte ich besser laut werden«, sagte Mumm. »Mumm!« Gefreiter Mumm nahm zitternd Haltung an.

»Wir machen einen Spaziergang, Junge«, sagte Mumm. »Wird Zeit, dass du weißt, was los ist.« Er nickte Klopf zu, legte seinem jüngeren Selbst die Hand auf die Schulter und führte es nach draußen.

»Was hältst du von ihm, Feldwebel?«, fragte Coates, als Klopf dem Paar nachsah.

»Er mag dich«, sagte Klopf bitter. »Oh, ja. Du bist sein Liebling, sein alter Kumpel. Du wirst zum Obergefreiten befördert.«

»Glaubst du, er hält durch?«

»Ich gebe ihm zwei Wochen«, sagte Klopf. »Solche Burschen kenne ich. Große Männer in kleinen Städten. Kommen hierher und halten sich für wer weiß was. Wir holen sie schnell vom hohen Ross. Was meinst du?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Coates. »Überlege noch.«

»Mit der Polizeiarbeit kennt er sich aus, das muss man ihm lassen«, sagte Klopf. »Aber er ist zu großspurig. Er wird’s lernen. Ja. Es gibt Mittel und Wege. Wir werden ihm einen Dämpfer aufsetzen und ihm zeigen, wie es bei uns zugeht…«

 

Mumm ging am liebsten allein, und jetzt gab es gleich zwei von ihm, die allein gingen. Es war ein seltsames Gefühl, er schien durch eine Maske zu blicken.

»Nein, so nicht«, sagte er. »Ich muss den Leuten immer zeigen, wie man geht. Du musst den Fuß auf diese Weise schwingen. Wenn du es richtig hinbekommst, kannst du den ganzen Tag gehen. Du hast es nicht eilig. Du willst nichts versäumen.«

»Ja, Oberfeldwebel«, sagte der junge Mumm.

Man nannte es Weitergehen. Mumm ging durch die Sirupminenstraße weiter und fühlte sich… großartig. Natürlich gab es viele Dinge, über die er sich Sorgen machen musste, aber hier und heute ging er Streife, und es fühlte sich gut an. In der alten Wache gab es nicht viel Schreibarbeit – mit seinen jüngsten Anordnungen hatte er sie wahrscheinlich verdoppelt. Derzeit kam es einfach nur darauf an, dass er seine Pflicht erfüllte, so wie er es gelernt hatte. Er brauchte nur er selbst zu sein.

Der junge Sam sprach nicht viel, womit er Vernunft bewies. »Wie ich sehe, hast du da eine Glocke, Junge«, sagte Mumm nach einer Weile.

»Ja, Oberfeldwebel.«

»Wie sie den Vorschriften entspricht?«

»Ja, Oberfeldwebel. Feldwebel Klopf hat sie mir gegeben.«

Kann ich mir denken, fuhr es Mumm durch den Sinn. »Wenn wir zurückkehren… tausch sie gegen eine andere aus. Es spielt keine Rolle, wessen Glocke du nimmst. Niemand wird etwas sagen.«

»Ja, Oberfeldwebel.« Mumm wartete. »Warum, Oberfeldwebel? Eine Glocke ist eine Glocke.«

»Diese nicht«, sagte Mumm. »Sie ist dreimal so schwer wie eine normale Glocke. Man gibt sie Neulingen, um zu sehen, wie sie darauf reagieren. Hast du dich beklagt?«

»Nein, Herr.«

»Gut. Halt den Mund und dreh sie jemand anderem an, wenn wir zurück sind. So macht ein Polizist das. Warum hast du dich für die Wache entschieden, Junge?«

»Ein Kumpel von mir, Iffy, ist letztes Jahr Wächter geworden. Er meinte, das Essen kostet nichts, man bekommt eine Uniform und kann hier und dort einen zusätzlichen Dollar verdienen.«

»Ich nehme an, du meinst Iffy Hurtig, stationiert im Wachhaus bei den Tollen Schwestern«, sagte Mumm. »Du hast den einen oder anderen Dollar hinzuverdient, oder?«

Einige Sekunden gingen sie schweigend. Dann fragte Sam: »Muss ich den Dollar zurückgeben, Oberfeldwebel?«

»Bist du einen Dollar wert

»Ich habe ihn meiner Mutter gegeben.«

»Hast du ihr gesagt, woher er stammt?«

»Ich wollte ihn gar nicht!«, entfuhr es Sam. »Aber Korporal Schrulle meinte…«

»War er es wert, auf ihn zu hören?«

»Ich weiß nicht, Oberfeldwebel.«

»Du weißt es nicht? Ich wette, deine Mutter hat dich nicht dazu erzogen, auf diese Weise zu denken«, sagte Mumm. Nein, das hat sie gewiss nicht, dachte er. Ob Polizist oder nicht: Sie würde dir das Fell über die Ohren ziehen, wenn sie wüsste, dass es ein schmutziger Dollar ist.

»Nein, Herr. Aber sie machen es alle, Herr. Unsere Jungs meine ich nicht, aber man braucht sich nur mal in der Stadt umzusehen. Die Mieten steigen, die Steuern ebenfalls, und es gibt immer neue Steuern, und es ist alles schrecklich, Oberfeldwebel, einfach schrecklich. Winder hat uns an seine Schergen verkauft, das ist die reine Wahrheit, Herr.«

»Hm«, erwiderte Mumm. O ja. Verkauf von Steuern. Eine tolle Erfindung. Guter alter Winder. Er hatte das Recht, Steuern zu erheben, an die Meistbietenden verschachert. Wirklich eine großartige Idee, fast so gut wie das Verbot, nach Einbruch der Dunkelheit Waffen zu tragen. Man sparte a) die Kosten, die Steuereintreiber und Finanzverwaltung verursachten, und bekam b) gleich jede Menge Bargeld im Voraus. Und die Aufgabe der Besteuerung kam c) Leuten zu, die einerseits sehr einflussreich waren und sich andererseits nicht gern in der Öffentlichkeit zeigten. Allerdings beauftragten diese Leute wiederum Leute, die nicht nur ins Licht traten, sondern es sogar verdunkelten, und es war erstaunlich, was diese Burschen alles besteuerten. Sie erhoben sogar Abgaben auf Was-starrst-du-mich-so-an-Kumpel. Wie hatte es Vetinari einmal ausgedrückt? »Die Besteuerung ist nur eine raffinierte Methode, mit Drohungen Geld zu verlangen.« Die neuen Steuereintreiber zeigten große Entschlossenheit, ihre Investitionen wieder hereinzubekommen.

Mumm erinnerte sich an jene… an diese Tage. Die Stadt hatte nie ärmer gewirkt, aber bei den Göttern: Es wurden jede Menge Steuern gezahlt.

Unter solchen Umständen fiel es schwer, einem Jungen wie Sam zu erklären, warum es falsch war, einen zusätzlichen Dollar einzustecken, wenn man Gelegenheit dazu bekam.

»Sieh es einmal so…«, sagte Mumm, als sie um eine Ecke schritten. »Würdest du einen Mörder für tausend Dollar laufen lassen?«

»Nein, Herr!«

»Tausend Dollar gäben deiner Mutter die Möglichkeit, sich an einem hübschen Ort in einem guten Teil der Stadt niederzulassen.«

»Ausgeschlossen, Oberfeldwebel. Ich gehöre nicht zu dieser Sorte.«

»Du warst einer von dieser Sorte, als du den Dollar genommen hast.«

Sie gingen weiter, begleitet von verdrossenem Schweigen. »Schmeißt du mich raus, Oberfeldwebel?«, fragte Sam schließlich.

»Für einen Dollar? Nein.«

»Aber vielleicht wäre es besser, wenn du mich rausschmeißt«, sagte der junge Sam trotzig. »Letzten Freitag mussten wir los und eine Versammlung drüben bei der Universität auflösen. Die Leute sprachen nur miteinander! Und wir mussten Befehle von einem Zivilisten entgegennehmen, und die Jungs von der Ankertaugasse waren ein wenig grob, und… die Leute hatten gar keine Waffen oder so. Ich finde das nicht richtig, Herr. Und dann brachten wir einige Leute in den Wagen, nur weil sie redeten. Und Frau Aulichs Sohn Emil kam vorletzte Nacht nicht nach Hause – angeblich hat man ihn zum Palast gebracht, weil er Seine Lordschaft ›verrückt‹ nannte. Jetzt sehen mich die Leute in unserer Straße komisch an.«

Bei den Göttern, ich erinnere mich daran, dachte Mumm. Ich habe mir damals vorgestellt, es ginge nur darum, Schurken zu verfolgen, die nach einigen Dutzend Metern aufgeben und »Bist ein guter Polizist, Chef« sagen. Ich war sicher, am Ende der ersten Woche eine Medaille zu bekommen.

»Du solltest vorsichtig sein mit dem, was du sagst, Junge«, sagte Mumm.

»Ja, aber meine Mutter meint, es gäbe nichts dagegen einzuwenden, wenn sie die Unruhestifter und Irren fortbringen, aber es sei nicht richtig, wenn sie ganz normale Leute wegschaffen.«

Bin das wirklich ich?, dachte Mumm. Hatte ich tatsächlich das politische Bewusstsein einer Kopflaus?

»Und außerdem ist er verrückt. Schnappüber sollte ihn ersetzen.«

… und den Selbsterhaltungstrieb eines Lemmings?

»Ich gebe dir einen guten Rat, Junge. Wenn du derzeit in dieser Stadt nicht weißt, mit dem du redest, so halte besser den Mund.«

»Ja, aber Schnappüber meint…«

»Jetzt hör mal. Ein Polizist plappert nicht andauernd. Er verrät nicht allen Leuten, was er weiß. Er sagt nicht, was er denkt. Er beobachtet und lauscht und lernt und wartet auf den rechten Augenblick. Sein Gehirn arbeitet die ganze Zeit über, aber sein Gesicht bleibt ausdruckslos. Bis er bereit ist. Verstanden?«

»Ja, Oberfeldwebel.«

»Gut. Kannst du mit deinem Schwert umgehen, Junge?«

»Ich habe geübt, ja.«

»Gut. Du hast geübt. Ausgezeichnet. Wenn wir von Strohsäcken angegriffen werden, die an einem Balken hängen, kann ich also auf dich zählen. Und bis dahin sei still, halte Augen und Ohren offen und lerne.«

Schnappüber ist der Mann, der uns Rettung bringt, dachte Mumm. Ja, das habe ich geglaubt. Viele Leute glaubten es. Weil er gelegentlich mit einer offenen Kutsche unterwegs war, Leute zu sich rief und mit ihnen redete. Und meistens lauteten die Gespräche ungefähr so: »Du bist also ein Zimmermann? Wundervoll! Und was ist das für eine Arbeit?« Weil er öffentlich sagte, die Steuern wären vielleicht ein wenig zu hoch. Weil er winkte.

»Bist du schon einmal hier gewesen, Oberfeldwebel?«, fragte Sam, als sie eine weitere Ecke hinter sich brachten.

»Oh, jeder war einmal in Ankh-Morpork«, erwiderte Mumm jovial.

»Es ist nur, wir machen die Ulmenstraßen-Runde, und zwar perfekt, und ich habe dir die Führung überlassen, Oberfeldwebel.«

Verdammt. In solche Schwierigkeiten konnten einen die Füße bringen. Ein Zauberer hatte Mumm einmal erzählt, dass es in der Mitte so große Ungeheuer gab, dass sie zusätzliche Gehirne in den Beinen brauchten, weil das Gehirn im Kopf zu weit entfernt war, um schnell genug zu denken. Ähnlich verhielt es sich auch mit einem Streifenpolizisten: Ihm wuchsen Gehirne in den Füßen. Ulmenstraße, nach links in die Grubengasse, erneut nach links in die Rennerei… Es war die erste Runde, die er gemacht hatte, und er brauchte dabei nicht zu denken. Er hatte damals nicht dabei gedacht.

»Ich bereite mich gut vor«, sagte er.

»Hast du Ned erkannt?«, fragte Sam.

Vielleicht war es eine gute Sache, dass er seine Füße sich selbst überließ, denn in Mumms Gehirn schrillten plötzlich Alarmglocken. »Ned?«, fragte er.

»Bevor du kamst, meinte er, dass er sich aus Pseudopolis an dich erinnert«, sagte Sam und überhörte das Läuten. »Er war dort in der Tagwache, bevor er wegen der besseren Aufstiegsmöglichkeiten hierher kam. Du seist ein großer Mann, meinte er.«

»Ich glaube, ich erinnere mich nicht an ihn«, erwiderte Mumm vorsichtig.

»So groß bist du eigentlich gar nicht, Oberfeldwebel.«

»Vermutlich war Ned damals kleiner«, sagte Mumm, während seine Gedanken riefen: Sei endlich still, Junge! Aber der Junge war… er selbst. Er kratzte an kleinen Details und zupfte an Dingen, die nicht ganz zu passen schienen. Eigentlich lief es darauf hinaus, dass er ein Polizist war. Wahrscheinlich hätte Mumm auf sein jüngeres Selbst stolz sein sollen, aber er war es nicht.

Du bist nicht ich, dachte er. Ich bezweifle, dass ich jemals so jung wie du gewesen bin. Wenn du zu mir werden sollst, so erwartet dich viel Arbeit. Dreißig verdammte Jahre wirst du auf dem Amboss des Lebens zurechtgeschlagen, du armer Kerl. Dir steht noch alles bevor.

 

Als sie wieder im Wachhaus waren, schlenderte Mumm zum Schrank mit dem Beweismaterial und den Fundsachen. Er hatte ein großes Schloss, das aber nie abgeschlossen war. Mumm fand schon bald, was er suchte. Ein unbeliebter Polizist musste vorausdenken, und er beabsichtigte, unbeliebt zu sein.

Anschließend aß er zu Abend und trank braunen Kakao, gewissermaßen der Treibstoff der Nachtwache. Und dann brach er, von Sam begleitet, mit dem Gefangenenwagen auf.

Er hatte sich gefragt, wie die Wächter vorgehen würden, und es überraschte ihn nicht festzustellen, dass sie den alten Trick »Man halte sich ganz exakt und mit hämischer Schadenfreude an den Befehl« anwandten. Beim ersten Stopp führten Obergefreiter Coates und Gefreiter Keule vier verdrießliche Schlaflose vor.

»Vier, Härr«, meldete Coates und salutierte zackig. »Von uns verhaftet. Es steht auf diesen Zetteln, die ich dir in diesem Augenblick und Moment gebe, Härr.«

»Ausgezeichnet, Obergefreiter«, erwiderte Mumm trocken, nahm die Papiere entgegen, unterschrieb eine Kopie und gab sie zurück. »Du kannst dir Silvester einen halben Tag frei nehmen. Und grüß deine Oma von mir. Hilf den Leuten in den Wagen, Sam.«

»Normalerweise kriegen wir nur vier oder fünf bei der ganzen Runde, Herr!«, flüsterte Sam, als sie den Weg fortsetzten. »Was machen wir jetzt?«

»Wir fahren mehrmals hin und her«, sagte Mumm.

»Aber die Jungs haben uns verar… Ich meine, sie haben über uns gelacht!«

»Es herrscht Ausgehverbot«, sagte Mumm. »Gesetz ist Gesetz.« Korporal Colon und Obergefreiter Wiggel warteten mit drei Übeltätern an ihrem Posten.

Einer von ihnen war Fräulein Palm.

Mumm gab Sam die Zügel, sprang vom Wagen herunter, öffnete die hintere Klappe und ließ die Treppe herab.

»Tut mir Leid, dich hier zu sehen, Fräulein«, sagte er.

»Offenbar gibt es da einen gewissen Oberfeldwebel, der sich aufspielt«, sagte Rosie Palm mit einer Stimme aus purem Eis. Hochmütig lehnte sie Mumms Hand ab und kletterte in den Wagen.

Mumm stellte fest, dass einer der beiden anderen Verhafteten ebenfalls eine Frau war. Sie war kleiner als Rosie und bedachte ihn mit einem trotzigen Blick. Sie trug einen großen, ausgepolsterten Nähkorb. Aus einem Reflex heraus griff Mumm danach, um der jungen Frau in den Wagen zu helfen.

»Tut mir Leid, Fräulein…«, begann er.

»Nimm deine Hände weg!« Sie riss den Korb zurück und trat die Treppe hinauf.

»Entschuldige«, sagte Mumm.

»Das ist Fräulein Battye«, sagte Rosie, die inzwischen auf der Bank im Wagen saß. »Sie ist Näherin.«

»Nun, ich dachte…«

»Näherin, habe ich gesagt«, betonte Fräulein Palm. »Mit Nadel und Faden. Außerdem ist sie auf Häkelarbeiten spezialisiert.«

»Äh, ist das eine besondere Art von…«, begann Mumm.

»Es ist eine besondere Art des Strickens«, kam Fräulein Battyes Stimme aus der Dunkelheit des Wagens. »Seltsam, dass du das nicht weißt.«

»Soll das heißen, du bist wirklich eine…« Mumm unterbrach sich, als Rosie die Klappe des Wagens zuzog.

»Fahr uns«, sagte sie. »Und wenn ich dich wiedersehe, John Keel, werde ich ein Wörtchen mit dir reden!«

Jemand kicherte im Wagen, und dann ertönte ein Aufschrei. Ihm ging das Geräusch eines spitzen Absatzes voraus, der einen Fuß traf.

Mumm unterschrieb den schmuddeligen Zettel, den Fred Colon ihm reichte, und gab ihn mit einem starren Gesichtsausdruck zurück, der den Korporal besorgte.

»Wohin jetzt, Oberfeldwebel?«, fragte Mumm, als der Wagen losrollte.

»Zur Ankertaugasse«, sagte Mumm. Kummervolles Murmeln drang aus dem Innern des Wagens.

»Das ist nicht richtig«, brummte Sam.

»Wir halten uns an die Regeln«, erwiderte Mumm. »Du musst lernen, warum wir Regeln haben, Gefreiter. Und sieh mich nicht so durchdringend an. Ich bin Experten auf dem Gebiet der durchdringenden Blicke begegnet, und bei dir sieht es so aus, als müsstest du dringend zum nächsten Abort.«

»Na schön, aber es ist allgemein bekannt, dass die Unaussprechlichen die Leute foltern«, murrte Sam.

»Tatsächlich?«, entgegnete Mumm. »Warum unternimmt dann niemand etwas dagegen?«

»Weil sie Leute foltern.«

Ah, wenigstens habe ich die Grundlagen der sozialen Dynamik verstanden, dachte Mumm.

Es war still neben ihm, als der Wagen durch die Straßen rumpelte, doch hinter sich hörte Mumm flüsternde Stimmen. Die von Rosie Palm war ein wenig lauter als die anderen: »Ich wette, dass es bei ihm nicht klappt.«

Wenige Sekunden später ertönte die Stimme eines Mannes. Alkohol schwang darin mit, außerdem eine auf die Blase schlagende Furcht. »Äh, Oberfeldwebel, wir… äh… glauben, die Gebühr beträgt, äh, fünf Dollar?«

»Ich glaube nicht«, erwiderte Mumm und hielt den Blick auf die feuchte Straße gerichtet.

Wieder begann hektisches Flüstern, und dann sagte die Stimme: »Äh… ich habe einen hübschen Goldring…«

»Freut mich für dich«, sagte Mumm. »Jeder sollte etwas Hübsches haben.«Er klopfte sich auf die Tasche, auf der Suche nach dem Zigarrenetui, und für einen Moment spürte er mehr Ärger als Verzweiflung und mehr Kummer als Ärger. Es gab eine Zukunft. Es musste eine geben. Er erinnerte sich an sie. Aber sie existierte nur als Erinnerung, und die war so empfindlich wie das Spiegelbild auf einer Seifenblase, und möglicherweise zerplatzte sie ebenso leicht.

»Äh… vielleicht könnte ich noch etwas drauflegen…«

»Wenn du noch einmal versuchst, mich zu bestechen, schlage ich dich grün und blau«, sagte Mumm, als sie die Ankertaugasse erreichten. »Du bist gewarnt.«

»Vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit…«, begann Rosie Palm, als die Lichter des Wachhauses in Sicht kamen.

»An einer schnellen Nummer bin ich ebenfalls nicht interessiert«, sagte Mumm und hörte, wie sie hinter ihm nach Luft schnappten. »Seid jetzt endlich still.«

Er zog an den Zügeln, ließ Marlene anhalten, sprang zu Boden und holte das Klemmbrett unter der Sitzbank hervor. »Sieben für euch«, teilte er dem an der Tür lehnenden Wächter mit.

»Nun?«, erwiderte der Mann. »Öffne die Klappe und übergib sie!«

»In Ordnung.« Mumm blätterte. »Kein Problem.« Er streckte dem Wächter das Klemmbrett entgegen. »Unterschreib hier!«

Der Mann wich zurück, als hätte ihm Mumm eine Schlange angeboten.

»Was soll das heißen, unterschreiben?«, brummte er. »Übergib die Gefangenen!«

»Du musst für sie unterschreiben«, sagte Mumm steif. »So verlangen es die Vorschriften. Wenn Gefangene von einem Gewahrsam in den nächsten überführt werden, muss das mit einer Unterschrift bestätigt werden. Es könnte mich den Job kosten, wenn ich keine Unterschrift vorweisen kann.«

»Dein Job ist nicht mal Spucke wert«, knurrte der Mann und nahm das Klemmbrett entgegen. Er starrte darauf hinab, und Mumm reichte ihm einen Stift.

»Gib mir Bescheid, wenn du bei den schwierigen Buchstaben Hilfe brauchst«, sagte er.

Der Wächter brummte, kritzelte etwas aufs Papier und reichte das Klemmbrett zurück. »Und jetzt mach die Klappe auf, bitte«, sagte er.

»Gewiss.« Mumm blickte auf das Papier. »Ich möchte jetzt deinen Ausweis sehen, wenn du gestattest.«

»Was?«

»Es ist nichts Persönliches«, sagte Mumm. »Aber wenn ich zurückkehre und dem Hauptmann dieses Papier zeige, und wenn er dann sagt, Mu… Keel, woher weißt du, dass er wirklich Heini der Hamster heißt… dann könnte ich in Verlegenheit geraten.«

»Hör mal, wir unterschreiben nicht für Gefangene!«

»Wir schon, Heini«, sagte Mumm. »Keine Unterschrift, keine Gefangenen.«

»Und du willst uns daran hindern, sie aus dem Wagen zu holen?«, fragte Heini der Hamster und trat einige Schritte vor.

»Wenn du die Klappe zu öffnen versuchst…«, begann Mumm.

»Hackst du mir die Hand ab?«

»… verhafte ich dich«, sagte Mumm. »›Behinderung‹ wäre ein guter Anfang, und im Wachhaus fallen uns bestimmt noch andere Vergehen ein, die wir dir zur Last legen können.«

»Du würdest mich verhaften? Aber ich bin genauso ein Polizist wie du.«

»Da irrst du dich«, entgegnete Mumm.

»Was ist hier… los?«, ertönte eine Stimme.

Eine kleine, hagere Gestalt erschien im Fackelschein. Heini der Hamster wich zurück und zeigte ein respektvolleres Gebaren.

»Man will uns die Gefangenen nicht übergeben, Herr«, sagte er.

»Und das ist der verantwortliche Offizier?«, fragte die Gestalt und wankte Mumm entgegen. Er ging seltsam unregelmäßig.

»Ja, Herr.«

Mumm fühlte sich von einem kühlen, aber nicht offen feindseligen Blick gemustert, von einem blassen Mann mit den Knopfaugen einer Ratte.

»Ah«, sagte der Mann. Er öffnete eine kleine Büchse und entnahm ihr eine Halstablette. »Bist duzufällig Keel? Ich… habevon dir gehört.« Die Sprechweise des Mannes war ebenso unregelmäßig wie sein Gang; mit Pausen an den falschen Stellen.

»Du hörst schnell von Neuigkeiten.«

»Normalerweise wäre es jetzt angebracht, dass du Haltung annimmst.«

»Ich sehe niemanden, vor dem ich Haltung annehmen sollte.«

»GuterHinweis. Du bist natürlich neu. Aber weißt du, wir sind dieSondergruppe… Oft halten wir es fürnotwendig… zivile Kleidung zu tragen.«

Zum Beispiel Gummischürzen, wenn ich mich recht entsinne, dachte Mumm. Laut sagte er: »Ja, Herr.« Es waren gute Worte. Sie konnten alles oder gar nichts bedeuten. Eigentlich waren sie nur Interpunktion, bis der Mann noch etwas sagte.

»Ich bin Hauptmann Schwung«, sagte der Mann. »Finddich Schwung. Wenn du den Namen komisch findest, so kannst du jetztlächeln. Dann haben… wir es hinter uns. Und du darfst nun Haltung annehmen.«

Mumm nahm Haltung an. In Schwungs Mundwinkeln zuckte es kurz.

»Gut. Ist dies dein erster Abend mit dem Gefangenenwagen?«

»Herr.«

»Und du bist früh hier. Noch dazu mit einer vollen Ladung, wie ich sehe. Nun, werfenwir einen Blick auf deine… Gefangenen.« Er spähte durchs Gitter. »Ah. Ja. Guten Abend, Fräulein Palm. Und eine Kollegin…«

»Ich erledige Häkelarbeiten!«

»… und offenbar einige Partygäste. Na ja.« Schwung trat zurück. »Sind echte Schlingel, deine Streifenpolizisten. Sie haben die Straßen gesäubert. Erlauben sich gern… einen kleinen Scherz.« Schwung streckte die Hand nach dem Griff der Klappe aus, und dann erklang ein leises Geräusch, das in der Stille so laut war wie der Donner eines Gewitters. Es war das Geräusch eines Schwerts, das sich in seiner Scheide bewegte.

Ein oder zwei Sekunden stand Schwung völlig reglos, dann schob er sich langsam die Tablette in den Mund. »Aha. Ich glaube, auf diesen kleinen Fang… können wir verzichten, meinst du nicht auch? Wir wollen… dasGesetz doch nicht zum Gespött machen. Bring die Leute fort, bring sie fort.«

»Ja, Herr.«

»Aber einen Moment noch. Wenn dugestattest… es ist ein kleines Hobby von mir…«

»Herr?«

Schwung griff in eine Tasche seines langen Mantels und holte einen großen Greifzirkel hervor. Mumm zuckte zusammen, als Schwung das Ding öffnete und damit die Breite seines Kopfes, die Breite der Nase und die Länge der Augenbrauen maß. Anschließend hielt er ihm ein metallenes Lineal ans Ohr.

Schwung murmelte dabei leise vor sich hin, ließ den Greifzirkel dann zuschnappen und wieder in der Manteltasche verschwinden. »Ich muss dirgratulieren, Feldwebel«, sagte er.

»Oberfeldwebel, Herr.«

»Oberfeldwebel, meinetwegen. Ja, ich muss dir dazu gratulieren, dass es dir gelungen ist, deine beträchtliche natürliche Benachteiligung zu überwinden. Wusstest du, dass du die Augen eines Massenmörders hast? Was dieseDinge… betrifft, irre ich mich nie.«

»Nein, Herr. Das wusste ich nicht, Herr. Werde versuchen, sie geschlossen zu halten, Herr«, sagte Mumm. Schwung lächelte nicht.

»Nun, wenn du dich eingewöhnt hast, kommst du mit Korporal, aha, Hamster hier bestimmt… bestenszurecht.«

»Bestens zurecht. Ja, Herr.«

»Ichmöchte… dich nicht länger aufhalten, Oberfeldwebel Keel.«

Mumm salutierte. Schwung nickte, drehte sich gleichzeitig um – es sah aus, als wäre er an einem Drehgelenk befestigt – und schritt zum Wachhaus zurück. Besser gesagt: Er ruckelte dorthin. Der Mann bewegte sich ebenso wie er sprach, mit einer sonderbaren Mischung unterschiedlicher Geschwindigkeiten, als würde er von Federn angetrieben. Wenn er die Hand hob, waren die ersten Zentimeter der Bewegung nur ein Schemen, und dann näherte sie sich langsam ihrem Ziel. Sätze kamen in Form von Wortschwallen und Pausen über seine Lippen. Der Mann hatte überhaupt keinen Rhythmus.

Mumm schenkte dem zornigen Korporal keine Beachtung und stieg wieder auf den Wagen. »Wir kehren zurück, Gefreiter«, sagte er. »Gute Nacht, Heini.«

Sam drehte den Wagen und wartete, bis die Räder wieder über das Kopfsteinpflaster rollten, bevor er sich an Mumm wandte und ihn aus großen Augen ansah.

»Du wolltest das Schwert ziehen, Oberfeldwebel?«, fragte er. »Das stimmt doch, oder?«

»Du solltest besser die Straße im Auge behalten, Gefreiter.«

»Aber das war Hauptmann Schwung! Und als du von dem Mann einen Beweis dafür verlangt hast, dass er Heini der Hamster ist… Ich hätte mir fast in die Hose gepi… Ich wäre fast von der Sitzbank gefallen! Du hast gewusst, dass sie nicht unterschreiben würden, stimmt’s, Oberfeldwebel? Denn wenn es ein Stück Papier gibt, auf dem geschrieben steht, dass sie jemanden haben, und wenn dann jemand Nachforschungen anstellt…«

»Lenk den Wagen, Gefreiter!« Aber der Junge hatte Recht. Aus irgendeinem Grund liebten und fürchteten die Unaussprechlichen den Papierkram. Zweifellos schufen sie eine Menge davon. Sie schrieben alles auf. Aber es gefiel ihnen nicht, in den Papieren anderer Leute aufzutauchen. So etwas beunruhigte sie.

»Ich kann einfach nicht glauben, dass wir damit durchgekommen sind, Oberfeldwebel!«

Wahrscheinlich sind wir das auch nicht, dachte Mumm. Aber derzeit hat Schwung sicher andere Sorgen. Ein großer dummer Oberfeldwebel interessiert ihn kaum.

Er drehte sich um und klopfte ans Gitter.

»Ich entschuldige mich für die Unannehmlichkeiten, meine Damen und Herren, aber offenbar sind die Unaussprechlichen heute Abend nicht im Dienst. Mir scheint, wir müssen uns selbst um die Vernehmungen kümmern. Darin haben wir kaum Erfahrung, deshalb hoffe ich, dass wir nichts falsch machen. Hört mir aufmerksam zu: Ist jemand von euch ein gefährlicher Verschwörer, der die Regierung stürzen will?«

Im Innern des Wagens herrschte verblüffte Stille.

»Na kommt schon, ich habe nicht die ganze Nacht Zeit«, sagte Mumm. »Möchte jemand von euch Lord Winder mit Gewalt stürzen?«

»Äh… nein«, erklang die Stimme von Fräulein Palm.

»Oder mit Häkelarbeiten?«

»Das habe ich gehört!«, ertönte die scharfe Stimme einer anderen Frau.

»Niemand? Schade.« Mumm seufzte. »Nun, für mich genügt das. Genügt es auch für dich, Gefreiter?«

»Äh, ja, Oberfeldwebel.«

»Nun, in dem Fall setzen wir euch auf dem Heimweg ab, und mein reizender Assistent Gefreiter Mumm wird von jedem von euch, sagen wir, einen halben Dollar für Reisespesen in Empfang nehmen, und natürlich bekommt ihr eine Quittung dafür. Danke, dass ihr mit uns gereist seid, und wir hoffen, dass ihr den Gefangenenwagen für alle weiteren Ausflüge während der Ausgangssperre wieder in Erwägung zieht.«

Mumm hörte schockiertes Flüstern hinter sich. Heutzutage sollten sich die Dinge nicht auf diese Weise zutragen. »Oberfeldwebel?«, fragte Gefreiter Mumm.

»Ja?«

»Hast du wirklich die Augen eines Massenmörders?«

»In der Tasche meiner anderen Jacke, ja.«

»Ha.« Sam schwieg einige Sekunden, und als er erneut sprach, schien ihn etwas anderes zu beschäftigen.

»Äh, Oberfeldwebel?«

»Ja, Junge?«

»Was ist eine schnelle Nummer?«

»Eine Art Marmeladenkrapfen, der sich besonders schnell zubereiten lässt.«

»Verstehe. Äh, Oberfeldwebel?«

»Ja, Junge?«

»Ich glaube, es bedeutet noch etwas anderes, Oberfeldwebel«, sagte Sam und kicherte. »Etwas, äh, Anstößiges…«

»Das ganze Leben ist ein einziger Lernprozess, Gefreiter.«

Zehn Minuten später stellten sie den Gefangenenwagen auf dem Hof des Wachhauses ab, und Mumm wusste, dass sich ein neues Gerücht in der Stadt ausbreitete. Sam hatte mit den anderen Wächtern geflüstert, als sie die Verhafteten nach Hause brachten, und niemand klatschte so gern wie Polizisten. Sie mochten die Unaussprechlichen nicht. Wie Kleinkriminelle überall waren die Wächter stolz darauf, dass es ein Niveau gab, auf das sie nicht hinabsanken. Es musste etwas unter einem geben, selbst wenn es nur Schlammwürmer waren.

 

Rosie Palm verriegelte die Tür ihrer Wohnung, lehnte sich dagegen und sah Sandra an.

»Was ist er?«, fragte Sandra und stellte ihren Nähkorb auf den Tisch. Etwas darin klapperte. »Ist er auf unserer Seite?«

»Du hast die Jungs gehört!«, erwiderte Rosie scharf. »Keine Bestechungsgelder mehr! Und dann bringt er uns zu Schwungs Mistkerlen, und dann übergibt er uns nicht! Ich könnte ihn umbringen! Ich habe ihn in der Gosse aufgelesen und ihn von Moosig zusammenflicken lassen, und jetzt treibt er irgendwelche dummen Spielchen!«

»Ja, aber was ist eine schnelle Nummer?«, fragte Sandra munter. Fräulein Palm zögerte. Sie mochte Sandra, und die zusätzliche Miete konnte sie gut gebrauchen, aber manchmal fragte sie sich, ob a) sie mit der jungen Dame reden sollte oder ob b) Sandra sie auf eine sehr sanfte, hintergründige Weise aufzog. Sie argwöhnte Letzteres, da Sandra oft mehr verdiente als sie. Es wurde allmählich peinlich.

»Es ist eine Art Marmeladenkrapfen«, sagte sie. »Jetzt solltest du besser gehen und…«

Jemand klopfte an die Tür hinter Rosie. Sie winkte Sandra durch den Perlenschnurvorhang, fasste sich und öffnete.

Ein recht kleiner Alter stand im Flur.

Alles an ihm hing hoffnungslos nach unten. Sein grauer Schnurrbart hätte von einem Walross gestohlen sein können oder von einem Schnauzer, der gerade eine sehr schlechte Nachricht bekommen hatte. Seine Schultern hingen kraftlos und apathisch herab. Selbst Teile seines Gesichts schienen den Kampf gegen die Schwerkraft verloren zu haben.

Er hielt eine Mütze in den Händen und drehte sie nervös hin und her.

»Ja?«, fragte Rosie.

»Äh, es steht ›Näherin‹ auf dem Schild«, sagte der Alte kleinlaut. »Und, nun, seit dem Tod meiner Frau, weißt du, ich bin mit diesen Dingen nie gut zurechtgekommen…«

Sein Blick kündete von purer, hilfloser Verlegenheit.

Rosie bemerkte den Sack zu seinen Füßen und hob ihn hoch. Er enthielt sehr saubere, aber auch sehr abgenutzte Socken. Jede einzelne von ihnen hatte Löcher an der Spitze und an der Ferse. »Sandra«, sagte Rosie, »ich glaube, es ist für dich…«

 

Es war so früh am Morgen, dass »spät in der Nacht« noch nicht ganz vorbei war. Grauer Dunst hing überall in den Straßen und bildete winzige, perlenartige Tropfen an Mumms Hemd, als er Anstalten machte, gegen das Gesetz zu verstoßen.

Wenn man hinter dem Wachhaus auf das Dach des Aborts kletterte und sich am Abflussrohr festhielt, so konnte man eins der oberen Fenster öffnen, wenn man mit der Handfläche genau gegen die richtige Stelle drückte.

Das war eine nützliche Information, und Mumm fragte sich, ob er sie an den jungen Sam weitergeben sollte. Jeder ehrliche Polizist sollte wissen, wie man in die eigene Wache einbrach.

Tilden war schon vor einer ganzen Weile nach Hause gehinkt. Mumm sah sich kurz in seinem Büro um und nahm mit großer Zufriedenheit zur Kenntnis, dass er nicht sah, was er nicht zu sehen erwartet hatte. Unten meldeten sich einige der gewissenhafteren Wächter ab, bevor sie nach Hause gingen. Mumm wartete in der Dunkelheit, bis sich die Tür zum letzten Mal geschlossen hatte und mehrere Minuten verstrichen waren, ohne dass er das Geräusch von Schritten hörte. Dann ging er die Treppe hinunter und betrat den Umkleideraum.

Er hatte einen Schlüssel für seinen Spind bekommen, ölte aber die Angeln, bevor er die Tür öffnete. Erstaunlicherweise enthielt der Schrank etwas, obwohl er noch gar nichts hineingelegt hatte. Ein Beutel lag auf dem Boden. Mumm griff danach…

Ausgezeichnet, Jungs.

Der Beutel enthielt Hauptmann Tildens silbernes Tintenfass.

Mumm stand auf und sah zu den anderen Spinden mit den uralten hineingeritzten Initialen und gelegentlichen Messerkratzern.

Er holte die kleine, schwarze Tuchrolle hervor, die aus dem Schrank mit dem Beweismaterial stammte. Eine Auswahl an Dietrichen glänzte im grauen Licht. Mumm war kein Genie im Umgang mit diesen Dingen, aber die einfachen Schlösser der Schränke stellten kaum eine große Herausforderung dar.

Er hatte die freie Wahl.

Anschließend kehrte er durch den Dunst zurück.

Entsetzt stellte er fest, dass er sich wieder gut fühlte. Es war ein Verrat an Sybil, der zukünftigen Wache und auch an Seiner Gnaden Sir Samuel Mumm, der an die Politik ferner Länder, den Bedarf an Arbeitskräften und das verdammte Patrouillenboot denken musste, das die Stromwache immer wieder versenkte. Und ja, er wollte zurück oder nach vorn oder seitwärts, was auch immer. Er wollte es wirklich. Er wollte so sehr nach Hause, dass seine Sehnsucht fast Substanz gewann. Natürlich wollte er das. Aber er konnte nicht zurück, noch nicht. Er war hier, und Dr. Rasen hatte ganz Recht: Man musste sich der Aufgabe stellen, die man vor sich sah. Und das bedeutete diesmal auch, im großen Spiel der Dummen Dussel auf der Straße zu überleben, und mit diesem Spiel kannte Mumm sich aus, o ja. Eine gewisse Aufregung lag darin. Es war das Wesen des Tiers.

Er ging allein, in Gedanken versunken, als Männer aus einer dunklen Seitengasse sprangen.

Der erste bekam einen Fuß in den Bauch, denn das Tier kämpfte nicht fair. Mumm wich zur Seite und packte den anderen. Ein Messer kratzte über seinen Brustharnisch, als er den Kopf senkte und den Mann mit seinem Helm kollidieren ließ.

Der Angreifer klappte zusammen und sank auf das Kopfsteinpflaster.

Mumm drehte sich zu dem ersten Mann um, der sich zusammengekrümmt hatte und keuchte, sein Messer aber in der Hand behielt. Er winkte damit wie mit einem Talisman, und die Spitze malte zittrige Achten in die Luft.

»Lass es fallen!«, sagte Mumm. »Ich fordere dich nicht noch einmal dazu auf.«

Er seufzte und zog ein Objekt aus der Hosentasche. Es war schwarz, lief spitz zu und bestand aus mit Bleikügelchen gefülltem Leder. In der modernen Wache waren diese Waffen auf Mumms Veranlassung hin verboten, aber einige Wächter hatten sie sich besorgt, und wenn er die Betreffenden für vernünftig hielt, so drückte er beide Augen zu. Manchmal musste eine Auseinandersetzung schnell beendet werden, und es gab schlimmere Alternativen.

Er schlug mit dem Totschläger nach dem Arm des Mannes und ließ dabei eine gewisse Vorsicht walten. Der Bursche wimmerte, und das Messer klapperte über die Kopfsteine.

»Deinen Kumpel lassen wir einfach ausschlafen«, sagte Mumm. »Aber du kommst mit zum Doktor, Heini. Du willst doch keinen Widerstand leisten, oder?«

Einige Minuten später öffnete Dr. Rasen die Hintertür, und Mumm rauschte an ihm vorbei, mit einem Körper über der Schulter.

»Du kümmerst dich doch um alle Arten von Leuten, nicht wahr?«, fragte Mumm.

»Innerhalb vernünftiger Grenzen, aber…«

»Dies ist ein Unaussprechlicher«, sagte Mumm. »Hat versucht, mich umzubringen. Braucht Medizin.«

»Warum ist er bewusstlos?«, fragte der Doktor. Er trug eine große Gummischürze und Gummistiefel.

»Er wollte seine Medizin nicht nehmen.«

Rasen seufzte, und mit einer Hand, die einen Mopp hielt, winkte er Mumm zu einer Tür. »Bring ihn direkt in den Operationssaal«, sagte er. »Im Wartezimmer mache ich gerade noch Herrn Salpeter sauber.«

»Was hat er angestellt?«

»Er ist geplatzt.«

Mumm, seine natürliche Neugier zügelnd, trug den Bewusstlosen in das Allerheiligste des Doktors. Es schien genauso beschaffen zu sein wie beim ersten Mal, als Mumm es gesehen hatte, aber zu dem Zeitpunkt war er kaum in der Lage gewesen, Einzelheiten zu erkennen. Es gab einen Tisch, eine Werkbank und an der einen Wand Regale mit Flaschen. Nicht zwei von ihnen hatten die gleiche Größe. In einigen schwammen Dinge.

An der anderen Wand befanden sich die Instrumente.

»Wenn ich sterbe«, sagte Rasen und betrachtete den Patienten, »lasse ich eine Glocke an meinem Grabstein befestigen und genieße es, dass ich nicht aufstehen muss, wenn die Leute klingeln. Bitte leg ihn auf den Tisch. Sieht nach einer Gehirnerschütterung aus.«

»Das liegt daran, dass ich ihn geschlagen habe«, sagte Mumm hilfreich.

»Hast du ihm auch den Arm gebrochen?«

»Ja.«

»Gute Arbeit. Leicht zu richten und mit einem Gipsverband zu versehen. Stimmt was nicht?«

Mumm blickte noch immer zu den Instrumenten. »Benutzt du das alles?«, fragte er.

»Ja«, bestätigte Rasen. »Aber einige sind experimenteller Natur.« Er machte sich an die Arbeit.

»Nun, dies hier würde ich nicht gern an mir verwenden lassen«, sagte Mumm und griff nach einem Instrument, das aussah wie zwei Paddel, die man mit einer Schnur zusammengebunden hatte.

Rasen seufzte. »Was du da in der Hand hältst, kann unter gar keinen Umständen bei dir angewandt werden«, sagte er, während er die Arbeit fortsetzte. »Es ist… femininer Natur.«

»Für die Näherinnen?«, fragte Mumm und legte die Zange rasch beiseite.

»Das da? Nein, heutzutage sind die Damen der Nacht stolz darauf, dass sie so etwas nicht brauchen. In diesem Zusammenhang ist meine Tätigkeit, sagen wir, präventiver Natur.«

»Du zeigst ihnen, wie man mit dem Fingerhut umgeht?«, fragte Mumm.

»Ja, es ist erstaunlich, wie weit man die Bedeutung einer Metapher dehnen kann.«

Mumm sah erneut auf die Paddel hinab. Sie wirkten recht beunruhigend.

»Bist du verheiratet?«, fragte Rasen. »Hat Rosie Recht?«

»Äh… ja. Aber meine Frau ist, äh, woanders.« Mumm nahm das Instrument noch einmal in die Hand und ließ es genauso schnell wieder sinken. Es klapperte.

»Nun, es ist ganz gut zu wissen, dass es bei einer Geburt nicht darum geht, Erbsen zu enthülsen.«

»Das will ich doch stark hoffen!«

»Allerdings muss ich sagen, dass Hebammen mir nur selten Einzelheiten verraten. Sie meinen, Männer sollten sich nicht in Dinge einmischen, die sie nichts angehen. Genausogut könnten wir noch in Höhlen hausen.«

Rasen sah auf den Patienten hinab. »Mit den Worten des Philosophen Skeptum, der mein Gewerbe gründete: Werde ich hierfür bezahlt?«

Mumm untersuchte den Geldbeutel am Gürtel des Mannes. »Genügen sechs Dollar?«

»Warum sollten die Unaussprechlichen dich angreifen, Oberfeldwebel? Du bist ein Polizist.«

»Ja, das bin ich, und sie nicht. Weißt du über sie Bescheid?«

»Ich habe einige ihrer Gäste zusammengeflickt, ja«, sagte Rasen, und Mumm bemerkte seine Vorsicht. In dieser Stadt zahlte es sich nicht aus, zu viel zu wissen. »Leute mit sonderbaren Verrenkungen, Verbrennungen von heißem Wachs… solche Dinge…«

»Gestern Abend bin ich mit Hauptmann Schwung aneinander geraten«, sagte Mumm. »Eigentlich war er ganz freundlich, aber ich wette, er weiß, dass es dieser Bursche und ein Freund von ihm auf mich abgesehen hatten. Es ist ganz sein Stil. Vermutlich wollte er herausfinden, wie ich reagiere.«

»Er ist nicht der Einzige, der Interesse an dir hat«, meinte Rasen. »Man hat mir mitgeteilt, dass Rosie Palm mit dir reden möchte. Ich nehme jedenfalls an, dass sie dich meint. Sie sprach vom ›undankbaren Mistkerl‹«

»Ich glaube, ich schulde ihr Geld«, sagte Mumm. »Aber ich weiß nicht, wieviel.«

»Da kann ich dir nicht weiterhelfen.« Rasen strich den Gips glatt. »Normalerweise nennt sie ihren Preis gleich zu Anfang.«

»Ich meine den Finderlohn oder was auch immer!«

»Ja, ich weiß. Da muss ich leider passen«, sagte Rasen. Mumm sah ihm eine Zeitlang bei der Arbeit zu. »Kennst du Fräulein Battye?«, fragte er dann.

»Die Näherin? Sie ist noch nicht lange hier.«

»Und sie ist wirklich eine Näherin?«

»Um der Genauigkeit willen sollte man vielleicht sagen, dass sie mit Nadel und Faden arbeitet«, sagte Dr. Rasen. »Offenbar hatte sie gehört, dass es in dieser Stadt für eine Näherin viel Arbeit gibt, und es gab einige amüsante Missverständnisse, bevor ihr jemand erklärte, was es mit den hiesigen Näherinnen auf sich hat. Dazu gehört ein kleiner Zwischenfall in der letzten Woche – ich musste eine Häkelnadel aus dem Ohr eines Mannes entfernen. Inzwischen hat sie beschlossen, bei den anderen Mädchen zu bleiben.«

»Warum?«

»Weil sie ein Vermögen verdient«, sagte der Doktor. »Hast du jemals daran gedacht, dass Leute manchmal einen Massagesalon besuchen, weil sie sich wirklich massieren lassen wollen? Überall in der Stadt haben Frauen diskrete Schilder an der Tür, auf denen geschrieben steht ›Hosen werden geflickt, während du wartest‹, und eine kleine, aber bedeutende Anzahl von Männern macht den gleichen Fehler wie Sandra. In Ankh-Morpork wimmelt es von Männern, die ihre Frauen zu Hause gelassen haben und hierher gekommen sind, um zu arbeiten, und weißt du, manchmal verspürt ein Mann gewisse Bedürfnisse. Er wünscht sich Socken ohne Löcher oder ein Hemd mit mehr als nur einem Knopf. Jene Frauen geben die Arbeit weiter. Es scheint in dieser Stadt schwierig zu sein, eine gute Näherin zu finden. Sie möchten nicht mit, äh, Näherinnen verwechselt werden.«

»Ich habe mich nur gefragt, warum sie während der Sperrstunde mit einem großen Nähkorb an der Straßenecke stand…«, sagte Mumm.

Rasen zuckte mit den Schultern. »Was weiß ich. So, ich bin fertig mit diesem Herrn. Es würde ihm helfen, eine Weile still zu liegen.« Er deutete auf die Regale mit den Flaschen. »Wie lange soll er still liegen?«

»Kannst du das bewerkstelligen?«

»O ja. Es ist keine anerkannte medizinische Praxis in Ankh-Morpork, aber da in Ankh-Morpork die anerkannte medizinische Praxis vermutlich darin besteht, ihm eins über die Rübe zu geben, dürfte er auf diese Weise besser dran sein.«

»Nein, ich meine, euch Ärzten ist es doch nicht gestattet, jemandem zu schaden, oder?«

»Das ist nur bei ganz normaler Inkompetenz zugelassen. Aber es macht mir nichts aus, ihn noch zwanzig Minuten länger schlafen zu lassen. Aber wenn du ihm eins über die Rübe geben willst, so kann ich dich nicht daran hindern. Bei Schwungs letztem Gast, den ich behandelt habe, deuteten mehrere Finger ganz in die falsche Richtung. Wenn du diesem Burschen einige Erinnerungen hinterlassen möchtest, so könnte ich dir empfindliche Stellen zeigen…«

»Nein, danke. Ich trage ihn nur durch die Hintertür und lasse ihn in irgendeiner Gasse liegen.«

»Das ist alles?«

»Nein. Dann schreibe ich meinen Namen auf den verdammten Gips. Damit er ihn sieht, wenn er erwacht. In großen Buchstaben, die sich nicht so leicht abreiben lassen.«

»Na, das nenne ich eine empfindliche Stelle«, sagte Rasen. »Du bist ein interessanter Mann, Oberfeldwebel. Machst dir Feinde wie ein echter Könner.«

»Ich bin nie an der Näherei interessiert gewesen«, meinte Mumm und warf sich den Mann über die Schulter. »Was könnte deiner Ansicht nach im Nähkorb einer Näherin enthalten sein?«

»Oh, keine Ahnung. Nadeln, Faden, Scheren, Wolle… etwas in der Art«, sagte Moosig Rasen.

»Keine sehr schweren Dinge, oder?«, fragte Mumm. »Eigentlich nicht. Warum fragst du?«

»Oh, nur so«, sagte Mumm und machte sich eine gedankliche Notiz. »Es war nur ein Gedanke. Ich breche jetzt besser auf und bringe unseren Freund hier fort, solange es noch Dunstschwaden gibt, in denen ich umherschleichen kann.«

»Gut. Wenn du zurückkehrst, ist das Frühstück fertig. Es gibt Leber. Kalbsleber.«

 

Das Tier erinnerte sich. Diesmal schlief Mumm tief und fest.

Es war ihm immer leichter gefallen, tagsüber zu schlafen. Fünfundzwanzig Jahre Nachtschicht hatten eine tiefe nächtliche Kerbe in seinem Gehirn hinterlassen. Die Dunkelheit bot bestimmte Vorteile. Er verstand es, ganz still zu stehen, eine Fähigkeit, die nur wenige beherrschten, und mit den Schatten zu verschmelzen. Er beherrschte die Kunst zu beobachten, ohne selbst gesehen zu werden.

Er erinnerte sich an Finddich Schwung. Viel davon war Geschichte. Zu der Revolte wäre es mit oder ohne Schwung gekommen, aber er war gewissermaßen die Spitze der Eiterbeule.

Er hatte die Assassinenschule besucht, und man hätte ihm nie einen Posten in der Wache geben dürfen. Er war zu intelligent für einen Polizisten. Besser gesagt: Er verfügte über die falsche Art von Intelligenz. Aber Schwung hatte Winder mit seinen Theorien beeindruckt, wurde als Feldwebel in die Wache aufgenommen und sofort zum Hauptmann befördert. Den Grund dafür kannte Mumm nicht. Vielleicht gehörte es sich nicht, dass so ein feiner Herr zusammen mit den Prolos auf Streife ging. Außerdem war er ein wenig schwach auf der Brust.

Mumm hatte nichts gegen Intellekt. Jeder, der genug Grips hatte, um einen Türknauf zu drehen, konnte in der alten Zeit ein Wächter werden. Aber um einen höheren Rang als den des Feldwebels zu erreichen, brauchte man einen Grabbelsack voller Tücke, Schläue und einer Straßenweisheit, die man bei schlechtem Licht für »Intelligenz« halten konnte.

Doch Schwung begann an der falschen Stelle. Er sah sich nicht um, beobachtete, lernte und sagte dann: »So sind die Leute. Wie werden wir mit ihnen fertig?« Nein, er setzte sich hin und dachte: »So sollten die Leute sein. Wie ändern wir sie?« Solche Überlegungen zeichneten einen Priester aus, aber nicht einen Polizisten.

Schwungs geduldige, pedantische Art hatte die Polizeiarbeit auf den Kopf gestellt.

So hatte es zunächst kein Waffengesetz gegeben. Waffen kamen bei so vielen Verbrechen in der Stadt zum Einsatz, dass Schwung glaubte, durch eine Verringerung ihrer Anzahl auch die Verbrechensquote zu senken.

Vermutlich hatte sich Schwung selbst auf die Schulter geklopft, als ihm diese Idee gekommen war. Beschlagnahmt alle Waffen – dann gibt es weniger Verbrechen. Es schien durchaus einen Sinn zu ergeben. Und es hätte auch funktioniert, wenn genug Polizisten im Einsatz gewesen wären, etwa drei pro Bürger.

Erstaunlicherweise wurden tatsächlich einige Waffen abgegeben. Doch der Haken bei der ganzen Sache, den Schwung übersehen hatte, war: Verbrecher achteten das Gesetz nicht. Das gehörte zu ihrem Job. Sie hatten kein besonderes Interesse daran, die Straßen sicherer zu machen, es sei denn für sich selbst. Und sie konnten einfach nicht fassen, was geschah. Man schien ihnen die ganze Stadt zum Geschenk zu machen.

Einige Bürger vertraten die durchaus vernünftige Ansicht, dass irgendetwas nicht stimmte, wenn nur Schurken bewaffnet waren. Viele von ihnen wurden verhaftet. Wenn der durchschnittliche Polizist einen Tritt zu viel bekommt und den Eindruck gewinnt, dass sich seine Vorgesetzten nicht darum scheren, so entwickelt er die verständliche Tendenz, jene Leute zu verhaften, die ihn nicht sofort zu erstechen versuchen, erst recht dann, wenn sie patzig sind und teurere Kleidung tragen, als er sie sich leisten kann. Die Anzahl der Verhaftungen stieg rapide, zu Schwungs großer Zufriedenheit.

Zugegeben, die meisten Leute wurden wegen Waffenbesitz nach Einbruch der Dunkelheit verhaftet, aber es kamen auch zornige Bürger hinter Gitter, die sich zu Angriffen auf die Wache hinreißen ließen. So etwas war tätlicher Angriff auf einen Beamten der Stadt ein grässliches Verbrechen, weitaus abscheulicher als die vielen Diebstähle und Überfälle, zu denen es überall kam.

Es war nicht etwa so, dass in der Stadt Gesetze fehlten. Davon gab es jede Menge. Aber es war kaum möglich, sie nicht zu brechen. Schwung schien einfach nicht begreifen zu können, dass das System dazu diente, Verbrecher zu verhaften und zu versuchen, sie in rechtschaffene Personen zu verwandeln. Stattdessen griff er sich rechtschaffene Personen und verwandelte sie in Verbrecher. Und die Wache wurde im Großen und Ganzen zu einer Bande von vielen Verbrechern.

Und dann, als der ganze verdammte Brei immer dickflüssiger wurde, erfand Schwung die Kraniometrie.

Schlechte Polizisten hatten immer besondere Methoden verwendet, um festzustellen, ob jemand schuldig war. Damals in der alten Zeit – heute benutzte man zum Beispiel Daumenschrauben, Hämmer, kleine zugespitzte Holzstücke und natürlich die gewöhnliche Schreibtischschublade, immer beliebt bei Polizisten, die es eilig hatten. Schwung brauchte so etwas nicht. Ihm genügte ein Blick auf die Augenbrauen, um den Schuldigen zu erkennen.

Er vermaß die Leute mit Greifzirkel und Lineal. Und er schrieb die Maße auf und rechnete damit. So teilte er zum Beispiel die Länge der Nase durch den Umfang des Kopfes und multiplizierte das Ergebnis mit dem Augenabstand. Das Resultat bewies ganz klar, ob man unredlich und unzuverlässig war, praktisch von Natur aus ein Verbrecher. Nachdem man anschließend zwanzig Minuten bei seinen Assistenten verbracht hatte, die weniger hoch entwickelte Ermittlungswerkzeuge einsetzten, stellte sich erstaunlicherweise heraus, dass Schwung Recht hatte.

Jeder war schuldig, auf die eine oder andere Weise. Das wusste Mumm. Jeder Polizist wusste das. Es half einem, die Autorität zu wahren: Jeder, der mit einem Polizisten sprach, fürchtete insgeheim, dass man ihm seine geheime Schuld ansehen konnte. Das war natürlich nicht der Fall. Aber deshalb sollten Polizisten Verdächtige nicht von der Straße zerren und mit einem Hammer ihre Finger zertrümmern, bis sie ihre Schuld zugaben.

Wahrscheinlich wäre Schwung mit dem Gesicht nach unten in irgendeiner Gasse geendet, wenn Winder kein nützliches Werkzeug in ihm gesehen hätte. Niemand konnte Verschwörer so gut entlarven wie Schwung. Und so wurde er zum Oberhaupt der Unaussprechlichen – im Vergleich mit den meisten von ihnen war Feldwebel Klopf der beste Polizist des Monats. Mumm hatte sich immer gefragt, wie es Schwung gelungen war, die Kontrolle zu behalten. Vielleicht erkannte der tierische Instinkt jener Mistkerle in Schwung jemanden, der die Gemeinheit auf dem langen Weg erreicht hatte und im Namen der Vernunft Scheußlichkeiten erfand, von denen der Wahnsinn nur träumen konnte.

Es war nicht leicht, in der Vergangenheit zu leben. Man konnte niemanden für etwas bestrafen, das er später tun würde, oder für das, was die Welt später herausfand. Man konnte die Leute auch nicht warnen. Mumm wusste nicht, was die Zukunft ändern konnte, aber wenn er alles richtig verstanden hatte, neigte die Geschichte dazu, die richtige Form anzunehmen. Man konnte nur die Kanten ändern, gewisse Details. Die wichtigen Dinge ließen sich nicht beeinflussen. Der Flieder würde blühen. Die Revolution stand bevor.

Nun… eine Art von Revolution. Eigentlich war das nicht das richtige Wort. Es würde für einige Stunden eine Volksrepublik der Sirupminenstraße geben (Wahrheit! Gerechtigkeit! Freiheit! Liebe zu vernünftigen Preisen! Und ein hart gekochtes Ei!), eine seltsame Kerze, die zu schnell brannte und wie ein Feuerwerkskörper endete. Es würde eine Säuberung im Haus des Schmerzes geben, und…

Wie dem auch sei… Man stellte sich der Aufgabe, die man vor sich sah, so wie es fantasielose Polizisten immer getan hatten.

Gegen ein Uhr am Nachmittag stand Mumm auf. Im Operationssaal war Rasen mit etwas beschäftigt, das jemanden wimmern ließ. Mumm klopfte an die Tür.

Nach einigen Sekunden wurde sie einen Spalt geöffnet. Doktor Rasen trug eine weiße Maske vor Mund und Nase und hielt eine sehr große Pinzette in der Hand.

»Ja?«

»Ich gehe jetzt«, sagte Mumm. »Probleme?«

»Keine großen. Fingerflink Harris hatte gestern Abend Pech beim Kartenspiel, das ist alles. Hat das Herzas ausgespielt.«

»Eine Unglückskarte?«

»Ja, wenn der Große Toni weiß, dass er sie nicht gegeben hat. Aber ich werde sie bald entfernt haben. Wenn du vorhast, heute Abend jemanden zu verletzen… könntest du das erledigen, bevor ich zu Bett gehe? Danke.« Rasen schloss die Tür.

Mumm nickte dem Holz zu und ging los, um sich die Beine zu vertreten und nach dem Mittagessen Ausschau zu halten. Es wartete auf ihn auf dem Bauchladen eines Mannes.

Es war ein recht junger Mann, aber sein Gesichtsausdruck war vertraut und erinnerte an eine Ratte, die hinter der nächsten Ecke Käse erwartete und die auch hinter der letzten Ecke Käse erwartet hatte und hinter der davor. Zwar war die Welt bisher voller Ecken ohne Käse gewesen, trotzdem hielt diese spezielle Ratte hartnäckig an der Hoffnung fest, dass hinter der nächsten Ecke ganz bestimmt Käse auf sie wartete.

Mumm starrte. Doch warum sollte er überrascht sein? So weit er sich erinnern konnte, hatte es immer jemanden gegeben, der in Ankh-Morpork verdächtige Dinge verkaufte, die angeblich aus Schweinefleisch bestanden. Der Verkäufer war zwar jünger, aber bekannt.

Die Miene des Mannes erhellte sich, als er das ihm unvertraute Gesicht sah. Er begegnete gern Leuten, die noch nie etwas von ihm gekauft hatten.

»Ah, Feldwebel… He, was bedeutet die kleine Krone?«

»Sie weist darauf hin, dass ich Oberfeldwebel bin«, erwiderte Mumm.

»Nun, Oberfeldwebel, dürfte ich dein Interesse auf ein heißes Würstchen mit Brötchen lenken? Garantiert kein Rattenfleisch. Hundert Prozent organisch. Das ganze Schweinefleisch vor dem Mischen gut rasiert.«

Warum nicht?, dachte Mumm. Magen, Leber, Nieren und Verdauungssystem nannten eine ganze Anzahl von Gründen, trotzdem griff seine Hand in die Tasche und suchte nach Münzen.

»Wie viel, Herr… äh.« Mumm erinnerte sich gerade noch rechtzeitig und blickte demonstrativ auf den Namen am Bauchladen. »… Schnapper?«

»Vier Cent, Oberfeldwebel.«

»Und damit treibst du dich selbst in den Ruin, wie?«, bemerkte Mumm fröhlich.

»Verzeihung?«, erwiderte Schnapper verwundert.

»Ich meine, mit einem solchen Preis treibst du dich selbst in den Ruin, nicht wahr?«

»Treibe mich selbst in den…«

»Ruin«, sagte Mumm verzweifelt.

»Oh.« Schnapper dachte darüber nach. »Ja. Genau. Stimmt. Das ist die Wahrheit. Du möchtest also ein Würstchen?«

»Dort steht ›Firma Schnapper, gegr.‹«, las Mumm. »Sollte das Schild nicht Auskunft darüber geben, wann du deine Firma gegründet hast?«

»Sollte es das?«, fragte Schnapper und sah auf seinen Bauchladen hinab.

»Wie lange bist du im Geschäft?«, erkundigte sich Mumm und wählte eine Pastete.

»Mal sehen… In welchem Jahr sind wir?«

»Äh… im Jahr des Tanzenden Hunds, glaube ich.«

»Dann seit Dienstag«, sagte Schnapper. Er strahlte. »Aber dies ist nur der Anfang, um das Grundkapital zusammenzubringen. In ein oder zwei Jahren werde ich ein wichtiger Geschäftsmann in dieser Stadt sein.«

»Ich glaube dir«, sagte Mumm. »Ja, ich glaube dir wirklich.« Schnapper sah erneut auf seinen Bauchladen, als Mumm fortging. »Treibe mich selbst in den Ruin, treibe mich selbst in den Ruin«, murmelte er. Dann sah er genauer hin und erbleichte. »Oberfeldwebel!«, rief er. »Iss die Pastete nicht!«

Einige Meter entfernt verharrte Mumm mit der Hand auf halbem Wege zum Mund.

»Was gibt es daran auszusetzen?«, fragte er. »Oh, wie dumm von mir… Ich meine, was gibt es speziell an dieser Pastete auszusetzen?«

»Nichts! Ich meine nur… diese sind besser!«

Mumm riskierte einen neuerlichen Blick auf den Bauchladen. Für ihn sahen die Pasteten alle gleich aus. Schnappers Pasteten wirkten recht lecker – das war ihr einziger Reiz.

»Ich sehe keinen Unterschied«, sagte er.

»Aber es gibt einen«, erwiderte Schnapper. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. »Siehst du hier? Bei deiner Pastete hat der Teig oben kleine Schweinemuster, während bei den anderen Würstchen zu sehen sind. Nun, äh, es würde mir gar nicht gefallen, wenn du glaubst, dass ich dich für ein Schwein halte oder so, wenn du sie mir zurückgibst, bekommst du eine, äh, andere, die ist nicht richtig, ich meine, es ist die falsche Pastete, die mit den Schweinen drauf…«

Mumm sah dem Mann in die Augen. Schnapper musste erst noch die freundliche Ausdruckslosigkeit lernen, die ihn dreißig Jahre des Verkaufs wahrhaft organischer Pasteten lehren würden.

Zum Entsetzen des jungen Mannes biss Mumm in die Pastete.

Sie war all das, was er erwartet hatte, und enthielt nichts, das sich identifizieren ließ.

»Lecker«, sagte er und hielt den Blick auf den leidenden Verkäufer gerichtet, als er auch den Rest verspeiste, was eine gewisse Konzentration erforderte.

»Ich glaube, deine Pasteten sind tatsächlich einzigartig, Herr Schnapper«, sagte Mumm und leckte sich die Finger ab, für den Fall, dass er später jemandem die Hand reichen wollte.

»Du hast alles gegessen?«, fragte Schnapper.

»War das falsch?«, erwiderte Mumm.

Erleichterung stieg von dem Mann auf wie Rauch von einem Feuer, in dem feuchtes Holz brannte. »Was? Nein! Es ist alles in Ordnung! Einfach bestens! Möchtest du noch eine, damit sich die erste nicht so allein fühlt?«

»Nein, ich schätze, eine ist mehr als genug«, sagte Mumm und wich zurück.

»Du hast wirklich alles gegessen?«, vergewisserte sich Schnapper.

»Das war doch richtig, oder?«, fragte Mumm.

»Oh, ja. Sicher. Natürlich!«

»Ich muss jetzt weiter«, sagte Mumm und ging über die Straße. »Ich freue mich schon auf unsere nächste Begegnung – hoffentlich habe ich dann weniger Hunger.«

Er wartete, bis er außer Sicht war, und brachte anschließend einige Ecken in dem Labyrinth aus Gassen hinter sich. Dann blieb er im Schatten einer tiefen Türöffnung stehen und tastete im Mund nach dem Pastetenstück, das sich selbst nach Schnappers Pastetenstandard als unzerkaubar erwiesen hatte.

Wenn man in einer von Schnappers berühmten Pasteten etwas fand, das noch härter oder knuspriger war als der Rest, so schluckte man es entweder und hoffte das Beste, oder man spuckte es mit geschlossenen Augen aus. Mumm stocherte zwischen Zahnfleisch und Wange und fand einen zusammengefalteten Zettel, auf dem unbekannte Säfte Flecken hinterlassen hatten.

Er entfaltete ihn. Die schmierige Schrift ließ sich gerade noch entziffern: Morphische Straße, 9 Uhr heute Abend. Kennwort: Schwertfisch.

Schwertfisch? Das Kennwort lautete immer Schwertfisch! Wenn jemand nach einem Wort suchte, das niemand erraten würde, so wählte er stets »Schwertfisch«. Es war eine der seltsamen Schrullen des menschlichen Geistes.

Das erklärte die Schuld. Eine Verschwörung. Eine weitere verdammte Verschwörung in einer Stadt voller Verschwörungen. Musste er über Verschwörungen Bescheid wissen? Nun, von dieser wusste er. Die berühmte Verschwörung der Morphischen Straße. Ha.

Mumm steckte den fleckigen Zettel in die Tasche, dann zögerte er.

Jemand bewegte sich sehr leise. Eine Art Loch überlagerte die fernen Straßengeräusche, gefüllt mit vorsichtigem Atmen. Mumms Nackenhaare richteten sich auf.

Langsam zog er den Totschläger aus der Gesäßtasche.

Welche Möglichkeiten standen ihm offen? Er war ein Polizist, und jemand schlich sich an ihn heran. Wenn der Unbekannte kein Polizist war, so hatte er Unrecht (weil er, Mumm, ein Polizist war). Wenn auch der Unbekannte ein Polizist war, so gehörte er zu Schwungs Gruppe und hatte Unrecht (weil er, Mumm, ein besserer Polizist war, und ebenso einige Dinge in der Gosse), weshalb es nicht schaden konnte, ihm eine Portion Dunkelheit zu verpassen.

Aber wie man hörte, schlichen sich Diebe, Assassinen und Schwungs Männer oft an Leute heran und waren vermutlich recht gut im lautlosen Anschleichen, während die Person, die Mumm folgte, so dicht an der Wand blieb, dass er das Kratzen hörte. Das bedeutete vermutlich, dass es eine öffentliche Person war, die bestimmte Absichten verfolgte, und allein deshalb wollte Mumm keine weiteren Knochen brechen (weil er sich für einen guten Polizisten hielt).

Schließlich traf er eine Entscheidung, trat in die Gasse und fragte: »Ja?«

Ein Junge starrte zu ihm empor. Es musste ein Junge sein. Die Natur wäre nicht so grausam, so etwas einem Mädchen anzutun. Kein einziges Merkmal war schlimmer als normal hässlich, aber ihre Kombination ergab mehr als nur die Summe der Teile. Dazu kam der Geruch. Er war nicht in dem Sinne schlecht, aber auch nicht ganz menschlich. Er hatte etwas Wildes.

»Äh…«, sagte das verhärmte Gesicht. »Hör mal, ich mache dir einen Vorschlag. Du sagst mir, wohin du gehst, und ich verfolge dich nicht mehr, einverstanden? Kostet dich nicht mehr als einen Cent, und das ist ein Sonderpreis. Manche Leute bezahlen mir viel mehr, damit ich aufhöre, ihnen zu folgen.«

Mumm sah den Jungen weiter an. Das Geschöpf trug die viel zu große, ölig glänzende und grün angelaufene Jacke eines Abendanzugs und einen Zylinder, der aussah, als hätte einmal ein Pferd auf ihn getreten. Die dazwischen sichtbaren Teile waren bedauernswert vertraut.

»O nein…«, stöhnte Mumm. »Nein, nein, nein…«

»Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Nein, nein, nein… Bei den Göttern, es musste einfach passieren…«

»Soll ich Moosig holen?«

Mumm richtete einen anklagenden Zeigefinger auf das Wesen. »Du bist Nobby Nobbs, nicht wahr?«

Der Junge wich zurück. »Vielleicht. Na und? Ist das ein Verbrechen?« Er drehte sich um und wollte weglaufen, aber Mumms Hand fiel schwer auf seine Schulter.

»Einige Leute könnten dieser Ansicht sein. Du bist Nobby Nobbs, Sohn von Maisie Nobbs und Sconner Nobbs?«

»Wahrscheinlich. Aber ich habe nichts getan!«

Mumm bückte sich und blickte in Augen, die durch eine Maske aus Schmutz in die Welt sahen. »Was ist mit einschabern, Jockel pritschen, Schure stauchen, Gitzlein stolfen, Kol reißen und Klufterei schornen?«

Echte Verwirrung bildete Falten auf Nobbys Stirn. »Was bedeutet ›Schure stauchen‹?«

Auch auf Mumms Stirn entstanden Furchen. Offenbar hatte sich der Straßenslang in dreißig Jahren geändert.

»Das Stehlen von Kleinigkeiten, die einen beim Laufen nicht behindern.«

»Nein, das nennt man ›Gasche fochen‹«, sagte Nobby und entspannte sich. »Aber nicht schlecht für jemanden, der neu ist. Was hat es mit Engelsöl auf sich?«

Das Gedächtnis zog eine Karte.

»Bestechungsgeld«, sagte Mumm.

»Und ein Galach?«, fragte Nobby und lächelte.

»Das ist leicht. Entweder ein Kaufmann oder einfach nur ein Priester.«

»Ausgezeichnet. Aber bestimmt weißt du nicht, was ›einen Klepper würzen‹ bedeutet.«

Wieder entrollte sich eine Erinnerung aus einem verstaubten Winkel des Gedächtnisses.

»Meine Güte, in deinem Alter sollte man über solche Dinge nicht Bescheid wissen«, sagte Mumm. »Davon spricht man, wenn man ein altes Pferd verkaufen und es vor den Interessenten lebhaft erscheinen lassen will. Man nimmt frischen Ingwer, hebt den Schweif und…«

»Donnerwetter!«, entfuhr es Nobby beeindruckt. »Alle sagen, dass du schnell lernst, und es scheint zu stimmen. Man könnte meinen, dass du hier geboren bist.«

»Warum hast du mich verfolgt, Nobby Nobbs?«, fragte Mumm. Der Bengel streckte eine schmutzige Hand aus. Gewisse Dinge änderten sich nie.

Mumm holte eine Münze hervor. Auf Nobbys Hand glänzte sie wie ein Diamant im Ohr eines Schornsteinfegers.

»Einer von ihnen ist eine Frau«, sagte er und grinste. Die Hand blieb ausgestreckt.

»Ich habe dir gerade eine verdammte Zehn-Cent-Münze gegeben, Junge«, knurrte Mumm.

»Ja, aber sie genügt nicht…«

Mumm packte Nobby am Revers seiner schmuddeligen Jacke, hob ihn hoch und stellte erschrocken fest, wie leicht er war.

Ein Straßenkind, dachte er. Aufgewachsen in einer Welt, die kein Pardon kennt. Es gibt Hunderte wie ihn, die am Rand der Gesellschaft zu überleben versuchen, und Nobby war einer der schlauesten unter ihnen, wenn ich mich recht entsinne. Und er war so zuverlässig wie ein Hammer aus Schokolade. Aber das macht weiter nichts. Es gab Methoden, um damit fertig zu werden.

»Was kostet es, wenn du für mich arbeitest?«, fragte Mumm.

»Die ganze Zeit.«

»Ich muss an meine Kunden denken…«

»Ja, aber ich halte dich mit einer Hand hoch«, erwiderte Mumm. Nobby dachte darüber nach, während seine zu großen Stiefel dreißig Zentimeter über dem Boden schwebten. »Die ganze Zeit?«

»Ja!«

»Äh… dafür müsste ich mir jeden Tag eine Lordschaft ansehen können…«

»Versuch’s noch einmal!«

»Äh… einen halben Dollar?«

»Ausgeschlossen. Ein Dollar pro Woche, und ich mache dir dein Leben nicht so zur Qual, wie es mir möglich wäre, Nobby«

Nobby Nobbs hing noch immer an Mumms Hand, während er sich alles durch den Kopf gehen ließ. »Ich, äh, wäre also eine Art Polizist?«, fragte er und lächelte verschlagen.

»Eine Art.«

»Der Hauptverdächtige meint, das Leben eines Polizisten sei gut, weil man Dinge klauen kann, ohne dafür eingelocht zu werden.«

»Er hat das Recht, ja«, sagte Mumm.

»Und er meint, wenn jemand eine dicke Lippe riskiert, kann man ihm ein Ding verpassen und ihn ins Kittchen bringen«, fuhr Nobby fort. »Ich möchte mal Polizist werden.«

»Wer ist der Hauptverdächtige?«

»So nennt meine Mutter den alten Sconner, meinen Vater. Äh… Zahlung im Voraus?«, fragte Nobby hoffnungsvoll.

»Was glaubst du

»Äh. Gut. Nein?«

»Richtig getippt. Aber ich sag dir was…« Mumm setzte Nobby ab. Leicht wie eine Feder, dachte er. »Du kommst mit, Junge.«

Ankh-Morpork war voller Männer, die in möblierten Zimmern wohnten – wer ein freies Zimmer hatte, vermietete es. Und abgesehen vom Stopfen und Nähen, das Fräulein Battye zur bestverdienenden Näherin in der Stadt machte, brauchten sie etwas, das Frauen am besten liefern konnten: Mahlzeiten.

Es gab zahlreiche Esslokale wie das, zu dem Mumm nun unterwegs war. Dort gab es einfaches Essen für einfache Leute, ohne Speisekarten. Man aß das, was einem vorgesetzt wurde, und zwar schnell, und man war froh, dass man es bekam. Wenn es einem nicht schmeckte… Dutzende von anderen füllten sich gern den Magen damit. Das Essen hatte Namen wie Plempe, Gekochter Aal, Labskaus, Feuchte Nelly, Bauchvoll und Sirup-Billy – deftige Speisen, die es in sich hatten und bewirkten, dass man anschließend kaum aufstehen konnte. Meistens enthielten sie viele Rüben, auch wenn das eigentlich nicht der Fall sein sollte.

Mumm bahnte sich einen Weg zur Theke und zog Nobby hinter sich her. Ein Schild verkündete: »So viel du in zehn Minuten essen kannst – 10 Cent.«

Darunter stand eine wohlbeleibte Frau mit bloßen Armen an einem großen Kessel, in dem ungewisse Dinge in grauer Flüssigkeit schwammen. Sie bedachte Mumm mit einem abschätzenden Blick und sah dann auf seinen Ärmel.

»Was kann ich für dich tun, Feldwebel?«, fragte sie. »Was ist mit Feldwebel Klopf passiert?«

»Oberfeldwebel«, sagte Mumm. »Klopf kam wohl oft hierher?«

»Zum Mittag- und Abendessen.« Das Gesicht der Frau verriet deutlich: jeweils mit Nachschlag. Und er hatte nie bezahlt. Mumm hob Nobby hoch. »Siehst du das hier?«, fragte er.

»Ist das ein Affe?«, fragte die Frau.

»Har, har, sehr komisch«, stöhnte Nobby, als Mumm ihn wieder absetzte.

»Von jetzt an kommt er für eine Mahlzeit pro Tag hierher«, sagte Mumm. »So viel er für zehn Cent essen kann.«

»Ach? Und wer bezahlt, wenn ich fragen darf?«

»Ich.« Mumm legte einen halben Dollar auf den Tisch. »Das sind fünf Tage im Voraus. Was gibt’s heute? Plempe? Das lässt Haare auf seiner Brust wachsen, wenn er jemals eine Brust bekommt. Gib ihm einen großen Teller. Bei diesem Kunden zahlst du vielleicht drauf.«

Er schob Nobby auf eine Sitzbank, stellte den Teller vor ihn hin und nahm auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches Platz.

»Du hast eine Frau erwähnt«, sagte er. »Versuch besser nicht, mich auf den Arm zu nehmen, Nobby«

»Muss ich das mit dir teilen, Oberfeldwebel?«, fragte Nobby und griff nach dem Holzlöffel.

»Es ist alles für dich. Und lass nichts übrig! Vielleicht stelle ich dich später auf die Probe«, meinte Mumm. »Eine Frau, hast du gesagt.«

»Lady Meserole, Oberfeldwebel«, antwortete Nobby undeutlich, mit dem Mund voll Gemüse und Fett. »Piekfein. Alle nennen sie Madame. Kam vor einigen Monaten aus Gennua.«

»Wann sprach sie mit dir?«

»Heute Morgen.«

»Was? Hielt sie dich einfach auf der Straße an?«

»Äh… ich habe eine Art Vertrag mit ihr, Oberfeldwebel.«

Mumm starrte ihn an. Es funktionierte besser als gesprochene Worte. Nobby wand sich voller Unbehagen hin und her.

»Um ganz ehrlich zu sein… Letzten Monat hat sie mich dabei erwischt, wie ich ihre Molle gewehlt habe. Mann, die Dame schlägt vielleicht zu – mich traf’s wie der Tritt eines Maulesels. Als ich wieder zu mir kam, hatten wir dann ein kleines Gespräch, und sie meinte, ich könnte ihr nützlich sein, wie ein Ohr auf der Straße.«

Mumm starrte noch immer, aber er war beeindruckt. Der junge Nobby war ein sehr geschickter Dieb gewesen – wer ihn erwischen wollte, musste sehr aufmerksam sein. Er legte noch etwas mehr Strenge in seinen durchdringenden Blick.

»Na schön, Oberfeldwebel, sie drohte damit, mich der Tagwache zu übergeben, wenn ich ihr nicht helfe«, gestand Nobby. »Man wandert direkt ins Kittchen, wenn einen irgendwelche feinen Leute anzeigen.«

Da hat er verdammt Recht, dachte Mumm. Privates Gesetz. »Und ich will nicht ins Kittchen, Oberfeldwebel. Dort würde ich Sconner begegnen.«

Und er hat dir die Arme gebrochen, erinnerte sich Mumm. »Und warum ist eine feine Dame an mir interessiert, Nobby?«, fragte er.

»Keine Ahnung. Hab ihr von dir, dem Gefangenenwagen, den Unaussprechlichen und von dem übrigen Kram erzählt. Sie meinte, es hörte sich nach einem interessanten Mann an. Und Rosie Palm zahlt mir einen lächerlichen Cent pro Tag, damit ich dich im Auge behalte. Und Korporal Schnuppel aus der Ankertaugasse zahlt mir einen halben Cent pro Tag, um dich zu beobachten, aber was ist heutzutage ein halber Cent wert, frage ich dich, deshalb beobachte ich dich nur ein wenig für ihn. Oh, und Obergefreiter Coates. Auch von ihm bekomme ich einen Cent.«

»Warum?«

»Weiß nicht. Er hat mich heute Morgen gefragt. Ein Cent-Job.« Nobby rülpste laut. »Besser drin als draußen. Wen soll ich für dich beobachten, Oberfeldwebel?«

»Mich«, sagte Mumm. »Falls du überhaupt noch Zeit für mich erübrigen kannst. Scheinst ja ziemlich beschäftigt zu sein.«

»Du möchtest, dass ich dir folge?«

»Nein. Berichte mir nur, was die Leute über mich sagen. Beobachte alle, die mir folgen. Halt mir den Rücken frei, sozusagen.«

»In Ordnung!«

»Gut. Und noch etwas, Nobby…«

»Ja, Oberfeldwebel?«, fragte Nobby und löffelte noch weiter Brei in sich hinein.

»Gib mir das Notizbuch, das Taschentuch und die vier Cent zurück, die du aus meinen Taschen stibitzt hast!«

Nobby öffnete den Mund, um seine Unschuld zu beteuern, wodurch Plempe auf den Teller zurücktropfte, doch dann sah er den Glanz in Mumms Augen. Stumm holte er die genannten Objekte aus verschiedenen grässlichen Taschen hervor.

»Danke«, sagte Mumm und stand auf. »Ich brauche dir sicher nicht zu erklären, was mit dir geschieht, wenn du noch einmal versuchst, mich zu beklauen.«

»Nein, Oberfeldwebel«, sagte Nobby und senkte den Blick.

»Möchtest du noch einen Teller? Viel Spaß. Ich muss jetzt zur Arbeit.«

»Du kannst dich auf mich verlassen, Oberfeldwebel!«

Als Mumm zum Wachhaus ging, dachte er: Wahrscheinlich kann ich das tatsächlich. Nobby stibitzte, was nicht niet- und nagelfest war, und er drückte sich dauernd, aber er war nicht schlecht. Man konnte ihm sein Leben anvertrauen, wenn auch keinen Dollar.

Von einem anderen Straßenhändler kaufte Mumm eine Schachtel mit Schnaufkrauts Dünnen Panatellas. Es fühlte sich nicht richtig an, sie in der Pappschachtel mit sich herumzutragen.

Ein Stimmengewirr schlug ihm entgegen, als er das Hauptbüro der Wache betrat. Wächter standen dort in kleinen Gruppen zusammen. Feldwebel Klopf bemerkte ihn und näherte sich.

»Eine ärgerliche Sache, Herr. In der vergangenen Nacht ist jemand hier eingebrochen«, meldete er mit der Andeutung eines einfältigen Lächelns.

»Tatsächlich?«, erwiderte Mumm. »Was wurde gestohlen?«

»Habe ich gesagt, dass etwas gestohlen wurde, Herr?«, fragte der Feldwebel unschuldig.

»Nein«, sagte Mumm. »Ich habe nur einen voreiligen Schluss gezogen, wenn du verstehst, was ich meine. Also, hat der Einbrecher etwas gestohlen, oder kam er hierher, um eine Schachtel mit Pralinen und vielleicht auch noch einen Korb mit Obst zu überbringen?«

»Der Unbekannte hat das silberne Tintenfass des Hauptmanns gestohlen«, sagte Klopf, immun gegen Sarkasmus. »Und es war ein Eingeweihter, wenn du meine Meinung hören willst. Die Tür oben wurde aufgebrochen, aber die Haupttür nicht. Es kommt nur ein Polizist in Frage!«

Mumm staunte über das Ausmaß an forensischer Sachkenntnis, das Klopf offenbarte. »Meine Güte, ein Polizist, der stiehlt?«, fragte er.

»Ja, ungeheuerlich«, erwiderte Klopf ernst. »Insbesondere nachdem du uns gestern eingeschärft hast, wie wichtig es ist, ehrlich zu sein und so.« Er sah an Mumm vorbei und rief: »Achtung! Der Hauptmann ist da!«

Tilden kam die Treppe herunter. Es wurde still im Zimmer, abgesehen vom Geräusch der unsicheren Schritte.

»Kein Glück, Feldwebel?«, fragte er.

»Bisher nicht, Herr«, sagte Klopf. »Ich habe Oberfeldwebel Keel gerade von der schrecklichen Sache berichtet.«

»Es war graviert«, meinte Tilden kummervoll. »Alle im Regiment ließen das einritzen, was sie sich leisten konnten. Dies ist wirklich… ärgerlich.«

»Ein Mann muss ein richtiger Mistkerl sein, um so etwas zu stehlen, Oberfeldwebel«, bemerkte Klopf.

»Finde ich auch«, sagte Mumm. »Wie ich sehe, hast du alles recht gut organisiert. Habt ihr bereits überall nachgesehen?«

»Überall«, bestätigte Klopf. »Außer in den Spinden. Wir durchsuchen nicht einfach die Schränke von Kollegen. Aber da wir jetzt alle hier sind und die Anwesenheit von Hauptmann Tilden garantiert, dass alles mit rechten Dingen zugeht… So abscheulich es auch sein mag, Hauptmann, ich bitte um Erlaubnis, die Spinde zu durchsuchen.«

»Ja, wenn es sein muss«, sagte Tilden. »Mir gefällt das nicht. Es ist unehrenhaft.«

»Nun, Herr, um zu zeigen, dass alles fair abläuft, sollten zuerst die Schränke von uns Feldwebeln durchsucht werden«, schlug Klopf vor. »Dann kann niemand behaupten, wir gingen nicht mit der nötigen Umsicht vor.«

»Ich bitte dich, Feldwebel«, sagte Tilden und lächelte schief. »Ich glaube kaum, dass du zu den Verdächtigen zählst.«

»Gerechtigkeit ist alles, Herr«, betonte Klopf. »Wir müssen ein gutes Beispiel geben, nicht wahr, Oberfeldwebel Keel?«

Mumm zuckte mit den Schultern. Klopf lächelte, holte einen Schlüsselbund hervor und winkte den Obergefreiten Coates herbei.

»Du hast die Ehre, Ned«, sagte er und strahlte. »Mein Spind zuerst.«

Die Tür wurde aufgeschlossen, und wie sich herausstellte, enthielt Klopfs Schrank das übliche unappetitliche Durcheinander eines ganz normalen Spinds. Aber kein silbernes Tintenfass. In solch einer Umgebung wäre es nach nur einem Tag schwarz angelaufen.

»Gut. Und nun den Spind von Oberfeldwebel Keel, Ned.«

Klopf sah Mumm an und strahlte noch immer, als Coates den Schlüssel ins Schloss schob. Mumm erwiderte den Blick mit ausdrucksloser Miene.

Die Tür öffnete sich knarrend.

»Meine Güte, was haben wir denn da?«, fragte Klopf und sah nicht einmal hin.

»Es ist ein Sack, Feldwebel«, sagte Coates. »Er enthält etwas Schweres.«

»Meine Güte«, sagte Klopf und sah Mumm noch immer an.

»Öffne ihn, Junge. Vorsichtig. Wir wollen doch nichts beschädigen.«

Juteleinen knisterte, und dann:

»In dem Sack ist… ein halber Ziegel«, berichtete Ned.

»Was?«

»Ein halber Ziegel, Herr.«

»Ich spare für ein Haus«, sagte Mumm. Hier und dort kicherte jemand, aber die schnelleren Denker wirkten plötzlich besorgt.

Sie wissen Bescheid, dachte Mumm. Willkommen bei Mumms Roulette, Jungs. Ihr habt das Rad gedreht, und jetzt müsst ihr raten, wohin die Kugel rollt…

»Bist du sicher?«, fragte Klopf und drehte sich zu dem offenen Spind um.

»Der Schrank enthält nur einen Sack, Feldwebel«, sagte Ned. »Und der Sack enthält einen halben Ziegel.«

»Gibt es irgendwo ein Geheimfach?«, fragte Klopf verzweifelt.

»Was, in einem Sack?«

»Also, das waren nun unsere Spinde«, sagte Mumm und rieb sich die Hände. »Wer kommt jetzt an die Reihe, Feldwebel Klopf?« Und die Kugel rollt und rollt, und alle fragen sich, wo sie liegen bleiben wird…

»Eigentlich teile ich die Meinung des Hauptmanns und glaube nicht, dass jemand von uns…«, begann Klopf, aber er brachte den Satz nicht zu Ende. Mumms Blick hätte Nieten festhämmern können.

»Wir haben mit dieser Sache begonnen und sollten sie daher auch zu Ende bringen, Feldwebel«, sagte Tilden. »Das ist nur gerecht.«

Mumm trat auf Coates zu und streckte die Hand aus. »Die Schlüssel«, sagte er.

Coates starrte ihn an.

»Die Schlüssel, Obergefreiter«, sagte Mumm.

Er nahm sie Coates aus der Hand und wandte sich den Spinden zu.

»Na schön«, brummte er. »Beginnen wir beim gut bekannten Erzspitzbuben Mumm…«

Eine Tür nach der anderen wurde geöffnet. Die Spinde mochten faszinierend sein für jemanden, der Interesse am Geruch ungewaschener Wäsche hatte und an dem, was auf vernachlässigten Socken wachsen konnte, aber sie gaben nicht ein einziges silbernes Tintenfass preis.

Dafür barg Korporal Colons Spind ein Buch mit dem Titel Die erotischen Abenteuer von Molly Oberweite. Mumm betrachtete die einfachen und fleckigen Darstellungen wie alte Freunde, die er lange nicht mehr gesehen hatte. Er erinnerte sich an das Buch. Über Jahre hinweg war es im Wachhaus herumgereicht worden, und der junge Mumm hatte viel von den Illustrationen gelernt, obwohl sich später ein großer Teil davon als falsch erwies.

Zum Glück war Hauptmann Tilden die Sicht versperrt. Mumm legte das schmuddelige Buch in den Spind zurück und sagte zu Colon, dessen Ohren rot glühten: »Befasst dich mit der Theorie, was, Fred? Ausgezeichnet. Übung macht den Meister.«

Als letzter Spind kam der von Coates an die Reihe. Ned beobachtete ihn wie ein Falke.

Die zerkratzte Tür schwang auf. Alle Hälse reckten sich. Der Schrank enthielt einen Stapel alter Notizbücher, zivile Kleidung und einen kleinen Sack mit schmutziger Wäsche.

»Überrascht?«, fragte der Obergefreite.

Nicht annähernd so wie du, dachte Mumm.

Er zwinkerte Coates zu und wandte sich ab. »Kann ich dich in deinem Büro sprechen, Hauptmann?«

»Ja, natürlich, Oberfeldwebel«, sagte Tilden und sah sich um. »Meine Güte…«

Mumm gab ihm Zeit, die Treppe emporzusteigen, folgte ihm dann ins Büro und schloss taktvoll die Tür.

»Nun, Oberfeldwebel?«, fragte Tilden und sank auf seinen Stuhl.

»Hast du überall nachsehen lassen, Herr?«, fragte Mumm.

»Natürlich, Mann!«

»Ich meine, Herr, vielleicht hast du das Tintenfass in die Schublade gestellt? Oder in den Safe?«

»Bestimmt nicht! Manchmal stelle ich es in den Safe, übers Wochenende, aber ich bin… sicher, dass ich das gestern Abend nicht getan habe.«

Mumm nahm die subtile Ungewissheit zur Kenntnis. Er wusste, dass dies auf eine kleine Gemeinheit hinauslief, denn Tilden war fast siebzig. In einem solchen Alter lernte man, das Gedächtnis nur noch als grobe Richtschnur zu benutzen.

»In der letzten Zeit haben wir alle sehr unter Druck gestanden«, fügte Mumm hinzu. Er wusste, dass Tilden nachmittags oft einschlief – Schnauzi hustete sehr laut vor seiner Tür, bevor er hineinging und ihm den Kakao brachte.

»Das stimmt«, sagte Tilden und richtete einen verzweifelten Blick auf Mumm. »Die Sache mit der Ausgangssperre. Sehr… beunruhigend. Ich würde meinen eigenen Kopf vergessen, wenn er nicht festgenagelt wäre.«

Er drehte sich um und sah zu dem grünen Safe.

»Ich hatte es erst seit zwei Monaten«, murmelte er. »Ich glaube, ich… Würdest du bitte wegsehen, Oberfeldwebel? Gehen wir dieser Sache auf den Grund…«

Mumm drehte sich um. Es klickte und knarrte, jemand schnappte nach Luft.

Tilden richtete sich auf und hielt das silberne Tintenfass in der Hand. »Ich glaube, ich habe mich selbst zum Narren gemacht, Oberfeldwebel«, sagte er.

Nein, ich habe einen Narren aus dir gemacht, dachte Mumm und bedauerte es sehr. Ich wollte das Tintenfass erst in Coates’ Spind legen, aber das brachte ich nicht fertig… nicht nach dem, was ich dort gefunden habe.

»Was hältst du davon, wenn wir sagen, es sei eine Art Test gewesen, Herr?«, schlug Mumm vor.

»Ich lüge aus Prinzip nicht, Keel!«, erwiderte der Hauptmann und fügte hinzu: »Aber ich danke dir für deinen Vorschlag. Ich weiß, dass ich nicht mehr so jung bin wie früher. Vielleicht wird es Zeit, dass ich mich in den Ruhestand zurückziehe.« Er seufzte. »Um ehrlich zu sein: Ich denke schon seit einer ganzen Weile daran.«

»Ach, so solltest du nicht reden«, sagte Mumm gezwungen fröhlich. »Du im Ruhestand – das kann ich mir gar nicht vorstellen.«

»Ja, ich schätze, ich sollte es zu Ende bringen«, murmelte Tilden und kehrte zu seinem Schreibtisch zurück. »Weißt du, dass dich einige der Männer für einen Spion halten, Oberfeldwebel?«

»Einen Spion für wen, Herr?«, fragte Mumm und dachte daran, dass Schnauzi mehr brachte als nur Kakao.

»Für Lord Winder, nehme ich an«, sagte Tilden.

»Nun, wir alle arbeiten für ihn, Herr. Aber ich erstatte allein dir Bericht, wenn dir dieser Hinweis etwas nützt.«

Tilden musterte ihn und schüttelte traurig den Kopf. »Ob Spion oder nicht, Keel: Ich muss feststellen, dass einige der Befehle, die wir in letzter Zeit bekommen, nicht richtig durchdacht sind.«

Er richtete einen herausfordernden Blick auf Mumm und schien zu erwarten, dass dieser sofort die rot glühenden Daumenschrauben hervorholte.

Mumm sah, wie schwer es dem alten Tilden fiel zuzugeben, dass Entführung, Folter und die Kriminalisierung ehrlicher Bürger keine gute Regierungspolitik waren. Solche Vorstellungen passten nicht zu seinem Weltbild. Mit der Fahne von Ankh-Morpork war er losgeritten, um gegen die Käsefresser von Quirm, die klatschianischen Handtuchköpfe oder einen anderen vom Oberkommando ausgewählten Feind zu kämpfen, und nie hatte er die Richtigkeit in Frage gestellt, denn das hielt einen Soldaten nur auf.

Tilden war mit der Überzeugung aufgewachsen, dass die Leute ganz oben immer Recht hatten. Deshalb standen sie ganz oben. Ihm fehlte das mentale Vokabular, wie ein Verräter zu denken, denn nur Verräter dachten so.

»Ich bin noch nicht lange genug hier, um mir eine Meinung zu bilden, Herr«, sagte Mumm. »Ich weiß nicht, wie die Dinge laufen, Herr.«

»Anders als früher«, murmelte Tilden.

»Wie du meinst, Herr.«

»Wie ich von Schnauzi hörte, kennst du dich hier erstaunlich gut aus. Für jemanden, der neu in der Stadt ist.«

Dieser Satz hatte einen Haken am Ende, aber Tilden war ein unerfahrener Angler.

»In allen Wachhäusern geht es ähnlich zu, Herr«, sagte Mumm. »Und natürlich bin ich schon einmal in Ankh-Morpork gewesen.«

»Natürlich«, erwiderte Tilden schnell. »Nun… ich danke dir, Oberfeldwebel. Wenn du es bitte den Männern erklären könntest…«

»Ja, Herr.«

Mumm schloss die Tür hinter sich, ging die Treppe hinunter und nahm dabei zwei Stufen auf einmal. Die unten wartenden Wächter hatten sich kaum von der Stelle gerührt. Mumm klatschte wie ein Schullehrer in die Hände.

»Na los, na los, Streifengänge warten auf euch! Bewegung! Du nicht, Feldwebel Klopf ich möchte mir dir reden

Mumm sah nicht zurück, um festzustellen, ob ihm Klopf folgte. Er trat in den Sonnenschein des späten Nachmittags, lehnte sich an eine Mauer und wartete.

Vor zehn Jahren hätte er… Berichtigung: Wenn er vor zehn Jahren nüchtern gewesen wäre, hätte er Klopf mit einigen guten gezielten Fausthieben klar gemacht, wer hier der Boss war. In dieser Zeit geschah dies häufig – als Gefreiter hatte Mumm die eine oder andere Auseinandersetzung zwischen Wächtern erlebt. Aber so etwas passte nicht zu Oberfeldwebel Keel.

Klopf kam nach draußen, aufgepumpt mit irrer, erschrockener Tapferkeit.

Als Mumm die Hand hob, zuckte der Mann tatsächlich zusammen.

»Zigarre?«, fragte er.

»Äh…«

»Ich trinke nicht«, sagte Mumm. »Aber ich genehmige mir dann und wann eine gute Zigarre.«

»Ich… äh… rauche nicht«, brachte Klopf hervor. »Hör mal, was das Tintenfass betrifft…«

»Kannst du dir vorstellen, dass er es in den Safe gestellt hat?«, fragte Mumm und lächelte.

»Hat er das?«

»Und dann hat er es vergessen«, sagte Mumm. »Das passiert uns allen, Windelbert. Die Gedanken ziehen dahin, und man weiß nicht mehr genau, was man gemacht hat.«

Das freundliche Lächeln blieb auf Mumms Lippen. Es wirkte so gut wie ein ganzer Regen aus Fausthieben. Außerdem hatte er Klopf beim Vornamen genannt. In der Öffentlichkeit sprach er ihn nie aus, um keine Panik zu verursachen.

»Du brauchst dir deshalb also keine Sorgen mehr zu machen«, sagte Mumm.

Feldwebel Windelbert Klopf verlagerte das Gewicht voller Unbehagen von einem Bein auf das andere. Er wusste nicht, ob er mit einer Sache durchgekommen war oder ob er noch tiefer in einer anderen steckte.

»Erzähl mir mehr vom Obergefreiten Coates!«, sagte Mumm.

Schläue, Berechnung und quälende Ungewissheit huschten über Klopfs Gesicht. Dann griff er zu seiner üblichen Taktik: Wenn du dich von Wölfen verfolgt glaubst, stoße jemanden vom Schlitten.

»Ned, Herr?«, erwiderte er. »Arbeitet hart, erfüllt seine Pflicht. Kann aber auch schwierig sein, unter uns gesagt.«

»Wie meinst du das? Und du brauchst mich nicht ›Herr‹ zu nennen, Windelbert. Nicht hier draußen.«

»Hält das Kinn ein wenig zu hoch, wenn du verstehst, was ich meine. Glaubt, besser zu sein als alle anderen. In dieser Hinsicht ist er ein Unruhestifter.«

»Kasernenanwalt?«

»So was in der Art, ja.«

»Sympathisiert er mit den Rebellen?«

Klopf sah unschuldig nach oben. »Könnte sein, Herr. Aber ich möchte ihn natürlich nicht in Schwierigkeiten bringen.«

Du hältst mich für einen Spion der Unaussprechlichen, dachte Mumm. Und du bietest mir Coates an. Neulich hast du ihn noch für die Beförderung vorgeschlagen. Du kleiner Wurm.

»Sollte man ihn im Auge behalten?«, fragte Mumm.

»Jaherr.«

»Interessant«, sagte Mumm, immer ein beunruhigendes Wort für die Unsicheren. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass es Klopf beunruhigte, und Mumm dachte: Meine Güte, vielleicht fühlt sich Vetinari die ganze Zeit über so…

»Einige von uns, äh, gehen nach dem Dienst in die Gebrochene Trommel«, sagte Klopf. »Sie ist rund um die Uhr geöffnet. Ich weiß nicht, ob du…«

»Ich trinke nicht«, erwiderte Mumm.

»Oh. Ja. Das sagtest du«, sagte Klopf.

»Und jetzt sollte ich mit dem jungen Mumm auf Streife gehen«, meinte Mumm. »Freut mich, dass wir dieses Gespräch hatten.«

Er ging fort und achtete darauf, nicht zurückzusehen. Sam wartete noch immer im Hauptbüro und wurde vom Sog erfasst, als vorbeirauschte.

 

»He, wer ist die Schürze da beim alten Folly?«

Die Aufsichtsschüler hielten Ausschau. Auf dem Podest am Ende des lauten Saals führte Doktor Follett, Assassinenmeister und von Amts wegen Direktor der Gildenschule, ein lebhaftes Gespräch mit, in der Tat, einer Dame. Das leuchtende Violett ihres Kleids fiel sofort auf in einer von Schwarz dominierten Umgebung, und das elegante Weiß von Folletts Haar wirkte in der Dunkelheit wie ein Fanal.

Immerhin war dies die Assassinengilde. Hier trug man Schwarz. Die Nacht war schwarz, und ein Assassine ebenso. Und Schwarz hatte Stil, und ein Assassine ohne Stil, so fanden alle, war einfach nur ein gut bezahlter, arroganter Schurke.

Die Aufsichtsschüler waren alle über achtzehn Jahre alt und durften daher Stadtviertel besuchen, von denen die jüngeren Jungen nichts wissen sollten. Mittlerweile platzten ihre Pickel nicht mehr beim Anblick einer Frau. Jetzt kniffen sie die Augen zusammen. Die meisten von ihnen hatten bereits gelernt, dass die Welt eine Auster war, die mit Gold geöffnet werden konnte, wenn ein Messer nicht genügte.

»Wahrscheinlich eine Mutter«, sagte einer von ihnen.

»Wer mag der glückliche Junge sein?«

»Ich weiß, wer, sie ist«, meinte »Ludo« Ludorum vom Viper-Haus. »Ich habe gehört, wie einige Meister über sie sprachen. Das ist Madame Roberta Meserole. Hat das alte Haus in der Leichten Straße gekauft. Angeblich hat sie in Gennua einen Haufen Geld verdient und möchte sich hier niederlassen. Vermutlich sucht sie nach Möglichkeiten der Kapitalanlage.«

»Madame?«, wiederholte Witwenmacher. »Ist das ein Ehrentitel oder eine Arbeitsbeschreibung?«

»In Gennua könnte es beides sein«, sagte jemand, und die anderen lachten.

»Folly scheint sie abfüllen zu wollen«, sagte Witwenmacher. »Sie sind schon bei der dritten Flasche Sekt. Worüber reden sie wohl?«

»Über Politik«, erwiderte Ludo. »Jeder weiß, dass Winder nicht das einzig Richtige tun wird, deshalb liegt es bei uns. Und Folly ärgert sich, weil wir bereits drei Leute verloren haben. Winder ist verdammt schlau. Es gibt überall Wachen und Soldaten.«

»Winder ist ein Blödmann«, sagte Witwenmacher.

»Ja, Witwenmacher. Für dich ist jeder ein Blödmann«, kommentierte Ludo ruhig.

»Alle anderen sind blöd.«

Witwenmacher wandte sich wieder dem Tisch zu, und eine Bewegung – besser gesagt, die Abwesenheit von Bewegung – weckte seine Aufmerksamkeit. Am anderen Ende des Tisches saß ein Assassine und las in einem Buch, das vor seinem Teller stand. Er war ganz auf seine Lektüre konzentriert, die Gabel auf halbem Wege zum Mund.

Witwenmacher zwinkerte den übrigen Aufsichtsschülern zu, nahm einen Apfel aus der nahen Schale, holte aus und warf ihn mit boshafter Zielsicherheit.

Die Gabel bewegte sich wie die Zunge einer Schlange und spießte den Apfel auf.

Der Leser blätterte um, führte die Gabel zum Mund und biss vom Apfel ab, ohne den Blick vom Buch zu lösen.

Die Aufsichtsschüler sahen Witwenmacher an; hier und dort kicherte jemand. Der junge Mann runzelte die Stirn. Der Angriff mit dem Wurfgeschoss war fehlgeschlagen, deshalb war Witwenmacher gezwungen, es mit Esprit zu versuchen, den er nicht hatte.

»Du bist ein echter Blödmann, Hunde-Freund«, sagte er.

»Ja, Witwenmacher«, erwiderte der Leser ruhig und blickte weiter in sein Buch.

»Wann legst du endlich einige anständige Prüfungen ab, Hunde-Freund?«

»Weiß nicht, Witwenmacher.«

»Hast noch nie jemanden getötet, oder, Hunde-Freund?«

»Wahrscheinlich nicht, Witwenmacher.« Der Leser blätterte wieder um. Das leise Knistern der Seite machte Witwenmacher noch wütender.

»Was liest du da?«, fragte er scharf. »Robertson, zeig mir, was der Hunde-Freund liest. Na, komm schon, her mit dem Buch!«

Der Junge neben dem Schüler, den Witwenmacher Hunde-Freund nannte, nahm das Buch und warf es über den Tisch.

Der Leser seufzte und lehnte sich zurück, als Witwenmacher einen flüchtigen Blick auf die Seiten warf.

»Seht euch das an, Leute«, sagte er. »Hunde-Freund liest ein Bilderbuch.« Er hielt es offen. »Hast es selbst mit deinen Buntstiften ausgemalt, was, Hunde-Freund?«

Der frühere Leser blickte an die Decke. »Nein, Witwenmacher. Die Illustrationen stammen von Fräulein Emelia Jane, der Schwester des Autors Lord Grimmelich Greville-Pipus. Es steht auf dem Titelbild, wie du vielleicht bemerkst.«

»Und hier ist ein hübsches Bild von einem Tiger«, fuhr Witwenmacher fort. »Warum siehst du dir Bilder an, Hunde-Freund?«

»Weil Lord Grimmelich interessante Theorien über die Kunst des Versteckens entwickelt hat, Witwenmacher«, antwortete der Leser.

»Ach? Schwarze und orangefarbene Tiger in grünen Bäumen?«, fragte Witwenmacher und schlug die Seiten grob um. »Große rote Affen in einem grünen Wald? Schwarzweiß gestreifte Zebras in gelbem Gras? Ist dies vielleicht eine Anleitung, wie man es nicht machen sollte?«

Wieder ertönte Gelächter am Tisch, aber es klang gezwungen. Witwenmacher hatte Freunde, weil er groß und reich war, aber manchmal konnte seine Gegenwart recht peinlich sein.

»Lord Grimmelich hat auch darauf hingewiesen, wie gefährlich intuitive…«

»Ist dies ein Gildenbuch, Hunde-Freund?«, fragte Witwenmacher.

»Nein, Witwenmacher. Es wurde vor einigen Jahren privat graviert, und ich konnte mir dieses Exemplar beschaffen…«

Witwenmachers Hand schoss nach vorn. Das Buch sauste davon und ließ die jüngeren Schüler am Nebentisch in Deckung gehen, bevor es im Kamin landete. Die Lehrer an den oberen Tischen sahen kurz auf und wandten sich dann wieder ihrem Essen zu.

Flammen leckten. Für ein oder zwei Sekunden brannte der Tiger hell.

»War es ein seltenes Buch?«, fragte Witwenmacher.

»Ich glaube, jetzt existiert es nicht mehr«, sagte der angebliche Hunde-Freund. »Es war die einzige Ausgabe, und die Gravierplatten sind eingeschmolzen.«

»Ärgerst du dich nie, Hunde-Freund?«

»O doch, Witwenmacher«, sagte der Leser. Er schob den Stuhl zurück und stand auf. »Ich glaube, ich gehe heute Abend früh zu Bett.« Er nickte dem Tisch zu. »Guten Abend, Witwenmacher, meine Herren…«

»Du bist ein Blödmann, Vetinari.«

»Wie du meinst, Witwenmacher.«

 

Mumm dachte besser, wenn sich seine Füße bewegten. Die körperliche Aktivität beruhigte ihn und ordnete seine Gedanken. Abgesehen von der Ausgangssperre und dem Bewachen der Tore gab es für die Nachtwache nicht viel zu tun. Das lag vor allem daran, dass sie aus inkompetenten Leuten bestand, von denen niemand Tüchtigkeit erwartete. Die Polizisten der Nachtwache gingen langsam Streife, gaben allen Leuten gefährlich genug Zeit, fortzuschlendern oder mit den Schatten zu verschmelzen, läuteten dann die Glocke und teilten der schlafenden Welt – beziehungsweise einer Welt, die bis eben geschlafen hatte – mit, dass alles gut war, obwohl es gar nicht danach aussah. Außerdem trieben sie die ruhigeren Betrunkenen und besonders sanftes Vieh zusammen.

Sie halten mich für Winders Spion, dachte Mumm. Sie glauben, meine Aufgabe bestünde darin, die Wache der Sirupminenstraße auszuspionieren. Genausogut könnte man einen Spion auf Hefeteig ansetzen.

Mumm verzichtete ganz bewusst auf eine Glocke. Der junge Sam hatte sich inzwischen eine leichtere besorgt, den Klöppel allerdings mit einem Staubtuch umhüllt – ganz nach Mumms ausdrücklichem Wunsch.

»Rollt der Wagen heute Abend los, Oberfeldwebel?«, fragte Sam, als das Zwielicht der Nacht wich.

»Ja. Colon und Keule brechen damit auf.«

»Und sie bringen Leute zur Ankertaugasse?«

»Nein«, sagte Mumm. »Ich habe sie angewiesen, alle zum Wachhaus zu bringen. Schnauzi wird ihnen jeweils einen halben Dollar abnehmen und ihre Namen aufschreiben. Vielleicht machen wir eine Verlosung.«

»Wir könnten Schwierigkeiten bekommen, Oberfeldwebel.«

»Die Ausgangssperre dient nur dazu, die Leute abzuschrecken. Sie bedeutet nicht viel.«

»Meine Mutter meinte, dass alle eine Stimme in der Stadt haben, wenn Schnappüber erst Patrizier ist«, fuhr Sam fort.

»Nicht so laut, Junge.«

»Der Tag wird kommen, an dem sich die zornigen Massen erheben und von ihrem Jochen befreien, meint der Fischhändler«, sagte Sam.

Würde ich wirklich für Schwung spionieren, wäre der Fischhändler so gut wie tot, dachte Mumm. Eine ziemliche Revolutionärin, unsere Mutter.

Er fragte sich, ob es überhaupt möglich war, diesen jungen Narren die Grundlagen der Politik zu lehren. Das war schon immer der Traum. »Ich wünschte, ich hätte damals gewusst, was ich heute weiß.« Aber wenn man älter wurde, begriff man, dass man heute ein anderer war als damals. Das frühere Selbst war ein dummer Narr. Das frühere Selbst hatte ganz am Anfang des steinigen Weges gestanden, der zum heutigen Selbst führte, und ein Teil des Weges bestand darin, ein dummer Narr zu sein.

Ein viel besserer Traum, der ruhigen Schlaf bescherte, war der, heute nicht zu wissen, was man damals nicht gewusst hatte.

»Was macht dein Vater?«, fragte Mumm, als ob er es nicht wüsste.

»Er starb vor langer Zeit, Oberfeldwebel«, antwortete Sam. »Als ich klein war. Er geriet unter einen Karren, als er die Straße überquerte, hat meine Mutter erzählt.«

Und sie war auch eine meisterhafte Lügnerin.

»Tut mir Leid, das zu hören«, sagte Mumm.

»Äh, meine Mutter meint, du wärst abends zum Tee willkommen, wo du doch allein in der fremden Stadt bist, Oberfeldwebel.«

»Möchtest du einen weiteren Rat von mir, Junge?«

»Ja, Oberfeldwebel. Ich lerne viel.«

»Gefreiten laden ihren Oberfeldwebel nicht zum Tee ein. Frag mich nicht nach dem Grund. Es ist eben so.«

»Du kennst meine Mutter nicht, Oberfeldwebel.«

Mumm hüstelte. »Mütter sind Mütter, Gefreiter. Sie sehen nicht gern Männer, die allein zurechtkommen. Sie fürchten, es könnte abfärben.«

Außerdem weiß ich, dass sie seit zehn Jahren mit den Geringen Göttern zu tun hat. Eher würde ich die Hand auf den Tisch legen und Schwung den Hammer geben, als heute durch die Unbesonnenheitsstraße zu gehen.

»Nun«, sagte Sam, »sie will Kummervollen Pudding für dich machen, Oberfeldwebel. Meine Mutter macht wirklich guten Kummervollen Pudding.«

Den besten, dachte Mumm und blickte in die Ferne. Bei den Göttern. Den allerbesten. Niemand hat ihn jemals besser gemacht.

»Das wäre… sehr nett von ihr«, brachte er hervor.

»Oberfeldwebel«, sagte Sam nach einer Weile, »warum gehen wir durch die Morphische Straße? Sie gehört nicht zu unserer Runde.«

»Ich habe die Runden getauscht«, erwiderte Mumm. »Ich will so viel wie möglich von der Stadt sehen.«

»In der Morphischen Straße gibt es nicht viel zu sehen, Oberfeldwebel.«