Sam Mumm seufzte, als er den Schrei hörte, aber er rasierte sich zu Ende, bevor er etwas unternahm.

Dann zog er seine Jacke an und schlenderte in den wunderschönen Morgen des späten Frühlings hinaus. Vögel zwitscherten in den Bäumen, Bienen summten in Blüten. Der Himmel war dunstig, und Gewitterwolken am Horizont kündigten Regen an. Doch derzeit war es noch heiß und drückend. Und in der alten Jauchegrube hinter dem Schuppen des Gärtners trat ein junger Mann Wasser.

Zumindest trat er.

Mumm wahrte einen gewissen Abstand und zündete sich eine Zigarre an. Es wäre sicher nicht klug gewesen, eine offene Flamme näher an die Grube heranzubringen. Der Sturz vom Dach des Schuppens hatte die Kruste durchbrochen.

»Guten Morgen!«, sagte er munter.

»Guten Morgen, Euer Gnaden!«, erwiderte der fleißige Treter.

Die Stimme war höher, als Mumm erwartet hatte, und er stellte fest, dass der junge Mann in der Jauchegrube eine junge Frau war. Es kam nicht völlig unerwartet – bei der Assassinengilde hatte man begriffen, dass Frauen ihren Brüdern im einfallsreichen Töten durchaus ebenbürtig waren, aber es veränderte die Situation ein wenig.

»Ich glaube, wir sind uns noch nicht begegnet, oder?«, fragte Mumm. »Obgleich du weißt, wer ich bin. Du bist…«

»Wiggs, Herr«, sagte die Schwimmerin. »Jocasta Wiggs. Es ist mir eine Ehre, dich kennen zu lernen, Euer Gnaden.«

»Wiggs?«, wiederholte Mumm. »Berühmte Familie in der Gilde. Übrigens, ›Herr‹ genügt. Ich glaube, ich habe deinem Vater einmal das Bein gebrochen.«

»Ja, Herr«, bestätigte Jocasta. »Ich soll dich von ihm grüßen.«

»Bist du nicht ein wenig zu jung für diesen Kontrakt?«, fragte Mumm.

»Es gibt keinen Kontrakt, Herr«, sagte Jocasta weiter tretend.

»Ich bitte dich, Fräulein Wiggs. Der auf meinen Kopf ausgesetzte Preis ist mindestens…«

»Die Gilde hat den Kontrakt außer Kraft gesetzt, Herr«, sagte die hartnäckige Schwimmerin. »Dein Name steht nicht mehr auf der Liste. Derzeit werden keine Aufträge angenommen, die dich betreffen.«

»Meine Güte, warum nicht?«

»Ich weiß nicht, Herr«, sagte Fräulein Wiggs. Ihre beharrlichen Anstrengungen brachten sie zum Rand der Grube, und dort entdeckte sie, dass das Mauerwerk in ausgezeichnetem Zustand und sehr glatt war und keinen Halt bot. Mumm wusste das, weil er an einem Nachmittag mehrere Stunden damit zugebracht hatte, genau diesen Zustand herzustellen.

»Warum hat man dich dann geschickt?«

»Frau Band meinte, es sei eine gute Übung«, sagte Jocasta. »Donnerwetter, diese Steine sind wirklich sehr glitschig.«

»Ja, das sind sie«, sagte Mumm. »Bist du in letzter Zeit frech zu Frau Band gewesen? Hast du sie irgendwie verärgert?«

»O nein, Euer Gnaden. Aber sie meinte, ich hätte zu großes Selbstvertrauen, und ein Außeneinsatz könnte mir sicher nützen.«

»Ah. Verstehe.« Mumm dachte an Frau Band, die zu den strengeren Lehrern der Assassinengilde zählte. Er hatte gehört, dass sie großen Wert auf praktische Lektionen legte.

»Sie hat dich also mit dem Auftrag geschickt, mich zu töten?«, fragte er.

»Nein, Herr! Es ist eine Übung! Ich habe überhaupt keine Armbrustbolzen dabei! Es ging nur darum, eine Stelle zu finden, von der aus ich auf dich zielen kann. Anschließend sollte ich zurückkehren und Bericht erstatten.«

»Frau Band würde dir glauben?«

»Natürlich, Herr«, sagte Jocasta und wirkte gekränkt. »Gildenehre, Herr.«

Mumm atmete tief durch. »Weißt du, Fräulein Wiggs, in den letzten Jahren haben ziemlich viele deiner Assassinenkollegen versucht, mich zu Hause umzubringen. Ich halte nicht viel davon, wie du vielleicht verstehst.«

»Das ist leicht einzusehen, Herr«, sagte Jocasta im Tonfall einer Person, die weiß: In einer schwierigen Situation muss sie auf den guten Willen von jemandem hoffen, der gar keinen Grund hat, guten Willen zu zeigen.

»Du wärst erstaunt über einige der Fallen, die es hier gibt«, fuhr Mumm fort. »Manche von ihnen sind sehr ausgeklügelt, wenn ich das sagen darf.«

»Ich hätte nie damit gerechnet, dass sich die Ziegel auf dem Dach so verschieben, Herr.«

»Sie sind an geschmierten Schienen befestigt.«

»Ausgezeichnet, Herr!«

»Einige der Fallen würden dich in etwas Tödliches stürzen lassen«, sagte Mumm.

»Da kann ich von Glück sagen, dass ich in diese Grube gefallen bin.«

»Oh, sie wirkt ebenfalls tödlich«, sagte Mumm. »Nach einer Weile.« Er seufzte. Natürlich ging es ihm darum, die Gilde von solchen Dingen abzuhalten, aber… Sein Name stand nicht mehr auf der Liste? Es gefiel ihm nicht, wenn ihm irgendwelche verstohlenen Gestalten nach dem Leben trachteten, Leute, die vorübergehend in den Diensten dieser oder jener Feinde standen. Andererseits hatte er darin immer eine Art Vertrauensvotum gesehen. Es zeigte, dass er die Reichen und Arroganten ärgerte, die es verdienten, geärgert zu werden.

Außerdem war die Assassinengilde leicht zu überlisten. Sie hatte strenge Regeln, an die sie sich um der Ehre willen hielt. Mumm, der sich in praktischen Bereichen nicht mit Regeln belastete, fand das durchaus in Ordnung.

Man hatte seinen Namen von der Liste gestrichen? Die einzige andere Person, die angeblich nicht auf der Liste stand, war der Patrizier Lord Vetinari. Die Assassinen verstanden das Spiel der Politik in Ankh-Morpork besser als sonst jemand, und wenn sie jemanden von ihrer Liste strichen, so glaubten sie, dass der Tod des Betreffenden nicht nur das Spiel verdarb, sondern das Spielbrett zerbrach…

»Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mich herausziehen könntest, Herr«, sagte Jocasta.

»Was? Oh, ja. Tut mir Leid, hab saubere Sachen an«, sagte Mumm. »Aber wenn ich ins Haus zurückkehre, sage ich dem Butler, dass er mit einer Leiter hierher kommen soll. Was hältst du davon?«

»Vielen Dank, Herr. Freut mich, dir begegnet zu sein, Herr.«

Mumm schlenderte zum Haus zurück. Nicht mehr auf der Liste? Konnte er Einspruch erheben? Vielleicht dachten die Assassinen…

Der Duft strich über ihn hinweg. Er sah auf.

In der Nähe blühte ein Fliederstrauch.

Er starrte wortlos.

Verdammt! Verdammt! Jedes Jahr vergaß er es. Nein, das stimmte nicht. Er vergaß es nicht. Er verstaute die Erinnerungen wie altes Silberbesteck, das nicht anlaufen sollte. Und jedes Jahr kehrten sie zurück, scharf und funkelnd, stachen ihm ins Herz. Ausgerechnet heute…

Er streckte die Hand aus, und seine Finger zitterten, als er nach einer Blüte griff und vorsichtig den Stiel brach. Er schnupperte daran, und einige Sekunden blickte er ins Nichts. Schließlich setzte er sich wieder in Bewegung und trug die Blüte vorsichtig ins Ankleidezimmer.

Willikins hatte für heute die offizielle Uniform vorbereitet. Sam Mumm sah verwundert darauf hinab, und dann fiel es ihm ein. Wachkomitee. Na schön. Der verbeulte alte Brustharnisch kam dafür nicht in Frage… Nicht für Seine Gnaden, den Herzog von Ankh und Kommandeur der Stadtwache, Sir Samuel Mumm. In dieser Hinsicht hatte sich Lord Vetinari sehr klar ausgedrückt, verdammter Mist.

Die Tatsache, dass Sam Mumm die Notwendigkeit dieser Sache einsah, machte alles noch ärgerlicher. Er verabscheute die offizielle Uniform, aber inzwischen repräsentierte er etwas mehr als nur sich selbst. Sam Mumm war in einer schmutzigen Rüstung bei Besprechungen erschienen, und selbst Sir Sam Mumm fand immer wieder einen Grund, die ganze Zeit über seine Straßenuniform zu tragen. Aber ein Herzog… Ein Herzog musste feiner aussehen. Ein Herzog konnte nicht einfach den Hintern aus der Hose hängen lassen, wenn er ausländischen Diplomaten gegenübertrat. Auch der alte Sam Mumm hatte seinen Hintern nicht aus der Hose hängen lassen, aber es wäre nicht zu einem Krieg gekommen, wenn er es doch einmal getan hätte.

Der einfache alte Sam Mumm hatte sich gewehrt, die meisten Federn entfernt und die lächerliche Strumpfhose weggeworfen. Das Ergebnis war eine Paradeuniform, deren Träger zumindest den Eindruck erweckte, männlichen Geschlechts zu sein. Aber der Helm war golden verziert, und die nach Maß fertigenden Waffenschmiede hatten einen neuen, glänzenden Brustharnisch mit goldenen Ornamenten gefertigt. Wenn Mumm ihn trug, kam er sich jedes Mal wie ein Klassenverräter vor. Er verabscheute die Vorstellung, dass man ihn für einen jener Leute hielt, die dämliche verzierte Rüstungen trugen. Er verspürte sozusagen das vergoldete schlechte Gewissen.

Er drehte die Fliederblüte zwischen den Fingern hin und her, nahm erneut den berauschenden Duft wahr. Ja… es war nicht immer so gewesen…

Jemand hatte gerade zu ihm gesprochen. Er sah auf.

»Was?«, fragte er scharf.

»Ich habe mich nach dem Befinden Ihrer Ladyschaft erkundigt«, sagte der Butler überrascht. »Ist alles in Ordnung, Euer Gnaden?«

»Was? Oh, ja. Nein. Ich bin soweit in Ordnung. Und Ihre Ladyschaft ebenfalls, danke. Ich habe bei ihr vorbeigeschaut, bevor ich nach draußen gegangen bin. Frau Zufrieden ist bei ihr. Sie meint, es dauert noch eine Weile.«

»Ich werde die Küche trotzdem anweisen, genügend heißes Wasser vorzubereiten, Euer Gnaden, nur für den Fall«, sagte Willikins und half Mumm beim Anlegen des vergoldeten Brustharnischs.

»Ja. Wozu braucht man all das Wasser, was meinst du?«

»Ich weiß es nicht, Euer Gnaden«, erwiderte Willikins. »Wahrscheinlich ist es besser, nicht danach zu fragen.«

Mumm nickte. Sybil hatte mit sanftem Nachdruck darauf hingewiesen, dass er bei dieser Angelegenheit nicht gebraucht wurde. Er musste zugeben, dass es ihm eine gewisse Erleichterung bescherte.

Er reichte Willikins die Fliederblüte. Der Butler nahm sie kommentarlos entgegen und schob sie in ein mit Wasser gefülltes Silberröhrchen, in dem sie stundenlang frisch bleiben würde. Das Röhrchen befestigte er an einem Riemen des Brustharnischs.

»Die Zeit vergeht, Euer Gnaden«, sagte er und staubte ihn mit einer kleiner Bürste ab.

Mumm holte seine Uhr hervor. »In der Tat. Auf dem Weg zum Palast mache ich einen Abstecher zum Wachhaus und unterschreibe dort, was unterschrieben werden muss. Ich bin so schnell wie möglich zurück.«

Willikins bedachte ihn mit einem Blick, in dem für einen Butler ungebührliche Sorge zum Ausdruck kam. »Ich bin sicher, Ihre Ladyschaft wird alles gut überstehen, Euer Gnaden«, sagte er. »Natürlich ist sie nicht, nicht…«

»… nicht mehr jung«, warf Mumm ein.

»Nun, sie ist reicher an Jahren als viele andere Primigravidae«, sagte Willikins glatt. »Aber sie ist auch stabil gebaut, wenn du mir diese Bemerkung gestattest, Euer Gnaden, und ihre Familie hat traditionsgemäß kaum Niederkunftsprobleme…«

»Primi was?«

»Neue Mütter, Euer Gnaden. Es wäre Ihrer Ladyschaft bestimmt lieber, wenn du irgendwelchen Schurken nachjagst, anstatt Löcher in den Bibliotheksteppich zu treten.«

»Da hast du vermutlich Recht, Willikins. Äh… Da fällt mir ein: Eine junge Frau schwimmt in der alten Jauchegrube, Willikins.«

»Sehr wohl, Euer Gnaden. Ich werde sofort den Küchenjungen mit einer Leiter dorthin schicken. Eine Nachricht für die Assassinengilde?«

»Gute Idee. Die junge Dame braucht ein Bad und saubere Klamotten.«

»Ich glaube, der Schlauch in der alten Spülküche wäre vielleicht angemessener, Euer Gnaden? Zumindest zu Anfang?«

»Guter Hinweis. Kümmere dich darum. Ich muss jetzt los.«

 

Im Hauptbüro des Wachhauses am Pseudopolisplatz rückte Feldwebel Colon geistesabwesend die Fliederblüte zurecht, die er sich wie eine Feder an den Helm gesteckt hatte.

»Sie werden sehr seltsam, Nobby«, sagte er und blätterte lustlos durch den morgendlichen Papierkram. »Typisch für Polizisten. Mir ging’s ebenso, als ich Kinder hatte. Man wird hart.«

»Was meinst du mit hart?«, fragte Korporal Nobbs, der vermutlich der beste lebende Beweis dafür war, dass es einen glatten Übergang zwischen Menschen und Tieren gab.

»Nun…«, sagte Colon und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Es ist wie… Nun, wenn du in unser Alter kommst…« Er sah Nobby an und zögerte. Schon seit einigen Jahren gab Nobby sein Alter mit »wahrscheinlich 34« an; die Familie Nobbs konnte nicht gut zählen.

»Ich meine, wenn ein Mann ein… gewisses Alter erreicht«, versuchte er es erneut, »weiß er, dass die Welt nie perfekt sein wird. Er gewöhnt sich daran, dass sie ein wenig…«

»Schmutzig ist?«, vermutete Nobby. Hinter seinem Ohr, wo für gewöhnlich eine Zigarette steckte, zeigte sich eine verwelkende Fliederblüte.

»Genau«, sagte Colon. »Man begreift, dass die Welt nie perfekt sein wird, und deshalb findet man sich mit ihr ab, klar? Aber wenn ein Kind unterwegs ist… dann sieht ein Mann die Sache plötzlich ganz anders. Er denkt: Mein Kind soll in diesem Durcheinander aufwachsen? Wird Zeit, Ordnung zu schaffen. Wird Zeit, die Welt zu verbessern. Ein Mann, der so etwas denkt, wird… eifrig… schneidig. Wenn der Kommandeur von Starkimarm erfährt, wird’s hier ganz schön rundgehen… Guten Morgen, Herr Mumm!«

»Habt ihr gerade über mich gesprochen?«, fragte Mumm und schritt an den Wächtern vorbei, als sie Haltung annahmen. Er hatte kein einziges Wort des Gesprächs mitbekommen, doch in Feldwebel Colons Gesicht konnte er lesen wie in einem offenen Buch, und dieses Buch kannte er inzwischen auswendig.

»Wir haben uns nur gefragt, ob das freudige Ereignis…«, begann Colon und brach ab, als Mumm die Treppe hocheilte, zwei Stufen auf einmal nehmend.

»Nein, es ist noch nicht so weit«, sagte Mumm und öffnete die Tür seines Büros. »Morgen, Karotte!«

Hauptmann Karotte sprang auf und salutierte. »Guten Morgen, Herr! Hat Lady…«

»Nein, Karotte, sie hat noch nicht. Was gab’s während der Nacht?«

Karottes Blick glitt zu der Fliederblüte und kehrte dann zu Mumms Gesicht zurück. »Nichts Gutes, Herr«, sagte er. »Ein weiterer Wächter wurde umgebracht.«

Mumm blieb abrupt stehen. »Wer?«, fragte er.

»Feldwebel Starkimarm, Herr. Es hatte ihn auf der Sirupminenstraße erwischt. Wieder Carcer.«

Mumm sah auf die Uhr. Es blieben noch zehn Minuten, um den Palast zu erreichen. Doch plötzlich spielte die Zeit keine Rolle mehr.

Er nahm am Schreibtisch Platz. »Zeugen?«

»Diesmal gleich drei, Herr.«

»So viele?«

»Alles Zwerge. Starkimarm war nicht einmal im Dienst, Herr.

Er hatte seine Schicht beendet, holte sich eine Rattenpastete aus einem Laden, trat auf die Straße und stieß gegen Carcer. Der Mistkerl stach ihm in den Hals und lief davon. Dachte vermutlich, wir hätten ihn gefunden.«

»Wir suchen den Mann seit Wochen! Und er lief dem armen Starkimarm über den Weg, als der Zwerg nur an sein Frühstück dachte? Ist ihm Angua auf der Spur?«

»Sie konnte ihm nur bis zu einer gewissen Stelle folgen, Herr«, sagte Karotte verlegen.

»Warum nur bis zu einer gewissen Stelle?«

»Er – nun, wir nehmen an, dass es Carcer war – ließ auf dem Hiergibt’salles-Platz eine Anisbombe fallen. Fast reines Öl.«

Mumm seufzte. Es war erstaunlich, wie sich die Leute anpassten. In der Wache gab es einen Werwolf. Das sprach sich herum, im Verborgenen. Und so entwickelten sich die Verbrecher weiter, um in einer Gesellschaft zu überleben, in der das Gesetz eine empfindliche Nase hatte. Geruchsbomben waren eine undramatische Lösung des Problems. Man ließ einfach ein Fläschchen mit reinem Pfefferminz- oder Anisöl dort auf die Straße fallen, wo viele Personen darüber hinweggingen, und plötzlich bekam es Feldwebel Angua mit hundert oder sogar tausend hin und her führenden Spuren zu tun, und abends lag sie dann mit Kopfschmerzen im Bett.

Mumm hörte verdrossen zu, als Karotte von Männern berichtete, die aus dem Urlaub zurückgerufen oder für zusätzlichen Dienst eingeteilt worden waren. Er erfuhr von befragten Informanten, gestohlenen Tauben, von offen gehaltenen Ohren, aufgewirbeltem Staub und Gras, dem man beim Wachsen zugehört hatte. Und er wusste, wie wenig das alles brachte. Die Wache bestand noch immer aus weniger als hundert Mann, die Kantinenfrau mitgezählt. Ankh-Morpork hatte eine Million Bewohner und eine Milliarde Verstecke. Die Stadt war praktisch auf Unterschlupfen errichtet worden. Und Carcer kam einem Albtraum gleich.

Mumm kannte diese Art von Wahnsinn, bei dem sich jemand ganz normal verhielt, bis er plötzlich ausrastete und jemand anderen mit einem Schürhaken erschlug, nur weil sich dieser zu laut die Nase geputzt hatte. Aber bei Carcer lag der Fall anders. In seinem Kopf steckte ein doppeltes Selbst, doch zwischen den beiden Persönlichkeiten gab es keinen Konflikt, sondern einen Wettstreit. Bei Carcer saß auf beiden Schultern ein Dämon, und sie feuerten sich gegenseitig an.

Und doch… Er lächelte die ganze Zeit über, auf eine muntere Weise, und er verhielt sich wie ein Gauner, der seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Golduhren verdiente, die nach einer Woche grün anliefen. Und er schien immer völlig davon überzeugt zu sein, dass er nichts Unrechtes getan hatte. Er stand dort neben den Leichen, mit Blut an den Händen und gestohlenem Schmuck in den Taschen, und mit einem Gesichtsausdruck verletzter Unschuld fragte er: »Ich? Was soll ich getan haben?«

Und er wirkte völlig glaubwürdig, bis man tief in die frechen, lächelnden Augen sah und ganz unten dem Blick der Dämonen begegnete…

Aber man durfte sich nicht zu viel Zeit dafür nehmen, ihm in die Augen zu sehen, denn es bedeutete, dass man nicht mehr auf seine Hände achtete, von denen eine inzwischen ein Messer hielt.

Durchschnittliche Wächter kamen mit solchen Leuten kaum zurecht. Sie erwarteten von einem Verbrecher, der sich einer Übermacht gegenübersah, dass er aufgab, einen Handel versuchte oder wenigstens stehen blieb. Sie rechneten nicht damit, dass jemand für eine Uhr tötete, die nur fünf Dollar wert war. (Bei einer Uhr im Wert von hundert Dollar sah die Sache anders aus. Immerhin war dies Ankh-Morpork.)

»War Starkimarm verheiratet?«, fragte Mumm.

»Nein, Herr. Er wohnte bei seinen Eltern im Neuen Flickschusterweg.«

Eltern, dachte Mumm. Das machte es noch schlimmer.

»Hat ihnen jemand Bescheid gegeben?«, fragte er. »Und sag jetzt bloß nicht, dass Nobby die traurige Nachricht überbracht hat. Wir wollen keinen weiteren Unsinn in der Art von ›Ich wette einen Dollar, dass du die Witwe Jackson bist‹.«

»Ich habe mich auf den Weg gemacht, Herr. Sofort nachdem wir davon erfuhren.«

»Danke. Wie haben sie es aufgenommen?«

»Mit… würdigem Ernst, Herr.«

Mumm stöhnte. Er konnte sich die Gesichter vorstellen.

»Ich schreibe ihnen den offiziellen Brief«, sagte er und zog die Schreibtischschublade auf. »Jemand soll ihn den Eltern bringen. Und lass ihnen ausrichten, dass ich später vorbeikomme. Dies ist vielleicht nicht der geeignete Zeitpunkt, um…« Nein, Augenblick, es waren Zwerge; sie schämten sich nicht, über Geld zu reden. »Sag ihnen, dass wir uns um die Einzelheiten der Pension kümmern. Er starb im Dienst, was einen Zuschlag bedeutet. Es kommt alles zusammen. Und natürlich steht es ihnen zu.« Er suchte in den Schränken. »Wo ist seine Akte?«

»Hier.« Karotte reichte sie ihm. »Man erwartet uns um zehn im Palast, Herr. Wachkomitee. Aber bestimmt zeigt man Verständnis«, fügte er hinzu, als er Mumms Gesichtsausdruck sah. »Ich räume Starkimarms Spind aus, Herr, und die Jungs machen bestimmt eine Sammlung, für Blumen und so…«

Nachdem der Hauptmann gegangen war, starrte Mumm auf ein leeres Blatt Papier hinab. Eine Akte. Er musste eine verdammte Akte bemühen. Aber heutzutage gab es so viele Wächter…

Eine Sammlung für Blumen. Und für einen Sarg. Man kümmert sich um die eigenen Leute. Das hatte Feldwebel Dickins gesagt, vor langer Zeit…

Mumm konnte nicht gut mit Worten umgehen, und geschriebene fielen ihm noch schwerer. Er warf einen Blick in die Akte, um sein Gedächtnis aufzufrischen, und dann begann er zu schreiben, gab sich dabei alle Mühe.

Es waren gute Worte, und sogar die richtigen, mehr oder weniger. Aber die Wahrheit lautete: Starkimarm war einfach nur ein anständiger Zwerg gewesen, den man dafür bezahlt hatte, ein Wächter zu sein. Er hatte sich um eine Stelle bei der Wache beworben, weil dies als eine gute Berufswahl galt. Die Bezahlung war nicht schlecht, es gab eine ordentliche Pension und eine gute medizinische Versorgung, wenn man den Mut aufbrachte, sich von Igor im Keller behandeln zu lassen. Und nach einem Jahr oder so konnte ein in Ankh-Morpork ausgebildeter Wächter die Stadt verlassen und durfte damit rechnen, in der Wache einer anderen Stadt Arbeit zu bekommen und sofort befördert zu werden. Das geschah ständig. Man nannte sie Sammys, selbst in Städten, die nie etwas von Sam Mumm gehört hatten. Darauf war Mumm durchaus stolz. »Sammys«: So nannte man Wächter, die denken konnten, ohne dabei die Lippen zu bewegen, die sich nicht bestechen ließen – besser gesagt, die sich dabei auf Bier und Krapfen beschränkten; das war selbst für Mumm die Schmiere, die alle Räder laufen ließ – und die im Großen und Ganzen vertrauenswürdig waren. Oder die zumindest ein gewisses Vertrauen verdienten.

Das Geräusch laufender Füße verriet, dass Feldwebel Detritus mit den neuesten Rekruten vom Morgenlauf zurückkehrte. Mumm hörte das Lied, das Detritus ihnen beigebracht hatte. Aus irgendeinem Grund merkte man sofort, dass es von einem Troll stammte.

 

»Ein dummes Lied jetzt singen wir!

Während wir marschieren hier!

Niemand nicht weiß, warum wir es singen!

Wir nicht können die Worte richtig reimen!«

 

»Zählt ab!«

»Eins! Zwei!«

»Zählt ab!«

»Viele! Eine Menge!«

»Zählt ab!«

»Äh… was?«

 

Es wurmte Mumm noch immer, dass viele der neuen Wächter, die die kleine Schule in der alten Limonadenfabrik besuchten, den Dienst unmittelbar nach der Probezeit quittierten. Aber das hatte auch seine guten Seiten. Inzwischen waren die Sammys fast bis Überwald verbreitet, und sie alle brachten die Beförderungen vor Ort in Schwung. Es zahlte sich aus, Namen zu kennen und zu wissen, dass man den Namen beigebracht hatte, vor ihm, Mumm, zu salutieren. Bei dem Hin und Her der Politik redeten die jeweiligen Herrscher oft nicht miteinander, aber über die Nachrichtentürme standen die Sammys ständig miteinander in Verbindung.

Mumm merkte, dass er leise die Melodie eines anderen Lieds summte. Eine Melodie, die er schon seit Jahren vergessen hatte. Sie stand mit dem Flieder in Verbindung, vereinte den Duft mit dem Lied. Mumm hielt inne und fühlte sich schuldig.

Er schrieb die letzten Worte des Briefes, als jemand an die Tür klopfte.

»Bin fast fertig!«, rief er.

»Ich binf, Herr«, sagte Obergefreiter Igor und sah herein. »Igor, Herr«, fügte er hinzu.

»Ja, Igor?«, erwiderte Mumm und fragte sich nicht zum ersten Mal, warum jemand mit Nähten überall am Kopf darauf hinweisen musste, wer er war.1

»Ich wollte nur fagen, daff ich den jungen Starkimarm wieder auf die Beine bringen könnte, Herr«, sagte Igor ein wenig vorwurfsvoll.

Mumm seufzte. Igors Gesicht offenbarte Sorge und Enttäuschung. Man hatte ihn daran gehindert, sein… Gewerbe auszuüben. Er war von Natur aus enttäuscht.

»Darüber haben wir bereits gesprochen, Igor. Es geht nicht darum, ein abgetrenntes Bein wieder anzunähen. Und überhaupt sind die Zwerge strikt gegen so etwas.«

»Es ift überhaupt nichtf Übernatürlichef daran, Herr. Ich bin ein Mann der Naturphilofophie! Und er war noch warm, alf man ihn brachte…«

»Du kennst die Regeln, Igor. Trotzdem vielen Dank. Wir wissen, dass du das Herz am rechten Fleck hast…«

»Fie find an den richtigen Flecken, Herr«, sagte Igor missbilligend.

»Genau das meine ich«, entgegnete Mumm, ohne sich etwas anmerken zu lassen.

»Oh, na gut, Herr«, sagte Igor und gab sich geschlagen. Er zögerte kurz, bevor er fragte: »Wie geht es Ihrer Ladyschaft, Herr?« Mumm hatte damit gerechnet. Es war eine schreckliche Sache, aber seine Vorstellungskraft hatte ihm bereits die Möglichkeit dargeboten, dass Igor und Sybil im gleichen Satz auftauchten. Was nicht heißen sollte, dass er Igor ablehnend gegenüberstand. Ganz im Gegenteil. Ohne Igors genialen Umgang mit der Nadel wäre so mancher Wächter nicht mehr auf den Straßen der Stadt unterwegs gewesen. Aber…

»Gut«, sagte Mumm abrupt. »Es geht ihr gut.«

»Wie ich hörte, war Frau Zufrieden ein wenig besorgt…«

»Igor, es gibt da einige Dinge… Äh, weißt du irgendetwas über Frauen und Babys?«

»Nicht in dem Finne, Herr, aber wenn ich etwaf auf der Platte liegen habe und ordentlich darin kramen kann, werde ich mit allem fertig…«

An dieser Stelle streikte Mumms Vorstellungskraft.

»Danke, Igor«, brachte er hervor, ohne dass seine Stimme zitterte. »Frau Zufrieden ist eine sehr erfahrene Hebamme.«

»Wie du meinft, Herr«, erwiderte Igor mit Zweifel in jedem Wort.

»Und jetzt muss ich gehen«, sagte Mumm. »Ein langer Tag wartet auf mich.«

Er lief die Treppe hinunter, gab den Brief Feldwebel Colon und nickte Karotte zu. Mit langen Schritten gingen sie in Richtung Palast.

Als sich die Tür geschlossen hatte, sah einer der Wächter von seinem Schreibtisch auf. Er war bisher bemüht gewesen, einen Bericht zu schreiben und, typisch für Polizisten, darin die Dinge zu erwähnen, die eigentlich hätten geschehen sollen.

»Feldwebel?«

»Ja, Korporal Fing?«

»Warum tragen einige von euch violette Blumen, Feldwebel?«

Die Atmosphäre im Wachraum veränderte sich auf subtile Weise – viele aufmerksam lauschende Ohren saugten alle Geräusche ab. Keiner der Wächter an den Tischen schrieb mehr.

»Ich meine, ich erinnere mich daran, dass du letztes Jahr eine solche Blume getragen hast, so wie Reg und Nobby, und ich habe mich gefragt, ob man das von uns allen erwartet…« Fing sprach nicht weiter. Colons normalerweise freundlich blickende Augen waren zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen und verkündeten: Du stehst auf dünnem Eis, Junge, und unter dir knackt es…

»Ich meine, unsere Hauswirtin hat einen Garten, und dort könnte ich mir leicht eine Blume besorgen…«, fuhr Fing fort, bestrebt, Selbstmord zu begehen.

»Du würdest heute eine Fliederblüte tragen?«, fragte Colon leise.

»Ich meine nur, wenn du Wert darauf legst, könnte ich gehen und…«

»Warst du dabei?«, fragte Colon und stand so plötzlich auf, dass sein Stuhl umfiel.

»Immer mit der Ruhe, Fred«, murmelte Nobby.

»Ich wollte nicht…«, begann Fing. »Ich meine… Ob ich wo dabei war, Feldwebel?«

Colon beugte sich über den Schreibtisch, bis nur noch wenige Zentimeter sein rundes, rotes Gesicht von Fings Nase trennten. »Wenn du nichts über das Wo weißt, kannst du auch nicht dabei gewesen sein«, sagte er noch immer leise. Dann richtete er sich wieder auf. »Nobby und ich haben jetzt etwas zu erledigen«, fügte er hinzu. »Rühren, Fing. Wir gehen jetzt.«

»Äh…«

Dies war kein guter Tag für Korporal Fing.

»Ja?«, fragte Colon.

»Äh… die Vorschriften, Feldwebel… Du bist der ranghöchste Offizier, und ich bin heute der Offizier vom Dienst, andernfalls würde ich dich nicht fragen… Wenn du das Wachhaus verlässt, Feldwebel, musst du mir sagen, wohin du gehst. Falls sich jemand mit dir in Verbindung setzen möchte. Ich muss es im Buch notieren. Mit dem Stift und so«, fügte er hinzu.

»Weißt du, welcher Tag heute ist, Fing?«, fragte Colon.

»Äh… der fünfundzwanzigste Mai, Feldwebel.«

»Und weißt du, was das bedeutet, Fing?«

»Äh…«

»Es bedeutet«, sagte Nobby, »dass jeder, der wichtig genug ist, um zu fragen, wohin wir gegangen sind…«

»… weiß, wohin wir gegangen sind«, sagte Colon.

Hinter ihnen fiel die Tür zu.

 

Der Friedhof der Geringen Götter war für die Leute bestimmt, die nicht wussten, was als Nächstes geschehen würde. Sie wussten nicht, woran sie glauben sollten oder ob es ein Leben nach dem Tod gab, und oft wussten sie auch nicht, was plötzlich geschehen war. Mit liebenswürdiger Ungewissheit waren sie durchs Leben gegangen, bis sie schließlich die letzte Gewissheit getroffen hatte. Unter den letzten Ruhestätten in Ankh-Morpork war dieser Friedhof die Schublade mit der Aufschrift »Verschiedenes«. Die hier Beerdigten ruhten in freudiger Erwartung von… nicht viel.

Die meisten Wächter wurden hier bestattet. Nach einigen Jahren fiel es Polizisten schwer genug, an Menschen zu glauben, geschweige denn an etwas, das sie nicht sehen konnten.

Diesmal regnete es nicht. Der Wind schüttelte die rußigen Pappeln an der Mauer und ließ sie rascheln.

»Wir hätten Blumen mitbringen sollen«, sagte Colon, als sie durch das hohe Gras gingen.

»Ich könnte einige von den frischen Gräbern stibitzen, Feldwebel«, schlug Nobby vor.

»So etwas möchte ich jetzt nicht von dir hören, Nobby«, erwiderte Colon streng.

»Entschuldige, Feldwebel.«

»Bei solch einer Gelegenheit sollte ein Mann an seine unsterbliche Seele wie-sah-wie des mächtigen, endlosen Stroms der Geschichte denken. Das würde ich tun, wenn ich du wäre, Nobby«

»Einverstanden, Feldwebel. Ich denke daran. Wie ich sehe, ist schon jemand da, Feldwebel.«

An einer Mauer wuchs ein Fliederstrauch. Besser gesagt: Irgendwann einmal war dort ein Fliederstrauch gepflanzt worden, und im Lauf der Zeit hatten sich Hunderte von geschmeidigen Schösslingen gebildet, was den Strauch in ein Dickicht verwandelte. Jeder Zweig trug malvenfarbene Blüten.

Inmitten der wuchernden Vegetation waren die Gräber gerade noch zu erkennen. Vor ihnen stand Treibe-mich-selbst-in-den-Ruin Schnapper, der am wenigsten erfolgreiche Geschäftsmann von Ankh-Morpork. Er trug eine Fliederblüte am Hut.

Er bemerkte die Wächter und nickte ihnen zu. Sie erwiderten den Gruß. Schweigend blickten sie auf die sieben Gräber hinab. Nur eins von ihnen war gepflegt. Dort glänzte ein völlig moosfreier Grabstein, der Rasen war kurz geschnitten, die steinernen Kanten makellos.

Die hölzernen Gedenktafeln der anderen Gräber waren von Moos bewachsen, doch beim mittleren war es weggekratzt worden, sodass ein Name zu lesen war:

 

JOHN KEEL

 

Darunter hatte jemand mit großer Sorgfalt folgende Worte ins Holz geritzt:

 

Wie fliegen sie nach oben

 

Ein großer Kranz aus Fliederblüten, geschmückt mit einem violetten Band, ruhte auf dem Grab. Und darauf, ebenfalls von einem violetten Band umschlungen, lag ein Ei.

»Frau Palm, Frau Battye und einige der Mädchen waren früher hier«, sagte Schnapper. »Und Madame denkt natürlich immer an das Ei.«

»Es ist nett, dass sie sich immer daran erinnern«, meinte Feldwebel Colon.

Wieder schwiegen die drei Männer, denn sie waren nicht mit einem Vokabular für solche Gelegenheiten ausgestattet. Schließlich fühlte sich Nobby verpflichtet, etwas zu sagen.

»Er gab mir einmal einen Löffel«, teilte er der Welt mit.

»Ja, ich weiß«, sagte Colon.

»Mein Vater stahl ihn mir, als er aus dem Gefängnis kam, aber es war mein Löffel«, beharrte Nobby. »Das bedeutet einem Jungen viel, ein eigener Löffel.«

»Außerdem war er der Erste, der mich zum Feldwebel ernannte«, meinte Colon. »Später bin ich natürlich wieder degradiert worden, aber ich wusste, dass ich es erneut schaffen konnte. Er war ein guter Polizist.«

»Er kaufte eine Pastete von mir«, sagte Schnapper. »Hatte gerade erst mit dem Geschäft begonnen. Er aß sie ganz. Spuckte nichts aus.« Wieder folgte Stille.

Nach einer Weile räusperte sich Feldwebel Colon, ein Hinweis darauf, dass ein gewisser Moment vorüber war. Muskeln entspannten sich.

»Wir sollten einmal mit einer Hippe hierher kommen und alles in Ordnung bringen«, sagte Colon.

»Das sagst du immer, Feldwebel, jedes Jahr«, erwiderte Nobby, als sie fortgingen. »Aber wir tun’s nie.«

»Wenn ich einen Dollar für jede Beerdigung eines Polizisten bekommen würde, bei der ich dabei gewesen bin, dann hätte ich… neunzehn Dollar und fünfzig Cent«, sagte Colon.

»Fünfzig Cent?«, wiederholte Nobby.

»Nun, Korporal Hildebiddel ist rechtzeitig aufgewacht und hat an den Sargdeckel geklopft«, erklärte Colon. »Das war vor deiner Zeit. Alle sprachen von einer erstaunlichen Genesung.«

»Herr Feldwebel?«

Die drei Männer drehten sich um. Mit einer Art Hochgeschwindigkeitsschleichen näherte sich ihnen der dürre, in Schwarz gekleidete Erste Eheliche, Totengräber des Friedhofs.

Colon seufzte. »Ja, Erster?«, fragte er.

»Guten Morgen, o ihr…«, begann der Totengräber, aber Feldwebel Colon winkte mit dem Zeigefinger.

»Hör auf damit«, sagte er. »Du bist doch schon einmal gewarnt worden. Lass den Kram mit dem ›komischen Totengräber‹. Er ist nämlich gar nicht komisch, und schon gar nicht clever. Sag einfach, was du zu sagen hast. Ohne irgendwelche dummen Dinge.«

Erster wirkte niedergeschlagen. »Nun, ihr Herren…«

»Wir kennen uns seit Jahren, Erster«, sagte Colon müde. »Versuch’s einfach.«

»Der Dekan möchte die Gräber ausheben, Fred«, sagte Erster in schmollendem Tonfall. »Mehr als dreißig Jahre sind vergangen. Wird längst Zeit für die Gruft.«

»Nein«, sagte Fred Colon.

»Aber ich habe dort unten ein hübsches Regal für sie, Fred«, bat Erster. »Ganz vorne. Wir brauchen den Platz, Fred! Hier gibt’s nur noch Stehplätze, das ist die Wahrheit! Selbst die Würmer müssen im Gänsemarsch hinein! Ganz vorne, Fred, wo ich mit ihnen reden kann, wenn ich Tee trinke. Wie wär’s damit?«

Die Wächter und Schnapper wechselten einen Blick. Die meisten Bewohner der Stadt hatten einmal die Gruft des Ersten Ehelichen besucht, wenn auch nur als Mutprobe. Für viele von ihnen war es ein Schock zu erfahren, dass eine feierliche Bestattung nicht für die Ewigkeit war, sondern nur für ein paar Jahre, damit »meine kleinen kriechenden Helfer«, wie es Erster ausdrückte, ihre Arbeit erledigen konnten. Anschließend wurden die Gruft und ein Eintrag in einem der großen Bücher zur letzten Ruhestätte.

Erster lebte dort unten, als Einziger, wie er betonte. Und er mochte die Gesellschaft.

Erster war auf gewissenhafte Art sonderbar.

»Es ist nicht deine Idee?«, fragte Fred Colon.

Erster blickte auf seine Füße. »Der neue Dekan ist ein wenig, äh, neu«, sagte er. »Du weißt schon… eifrig. Sorgt für Veränderungen.«

»Hast du ihm erklärt, warum die Gräber nicht angerührt werden dürfen?«, fragte Nobby.

»Er meinte, das sei alles längst Geschichte«, entgegnete Erster. »Seiner Ansicht nach sollten wir die Vergangenheit hinter uns lassen.«

»Hast du ihm gesagt, dass er sich an Lord Vetinari wenden soll?«, fragte Nobby.

»Ja, und er meinte, Seine Exzellenz sei bestimmt ein fortschrittlich eingestellter Mann, der sich nicht an Relikten der Vergangenheit festklammert«, erwiderte Erster.

»Scheint tatsächlich neu zu sein«, kommentierte Schnapper.

»Ja«, brummte Nobby »Klingt ganz nach jemandem, der nicht sehr alt wird. Schon gut, Erster. Du kannst sagen, dass du uns gefragt hast.«

Der Totengräber wirkte erleichtert. »Danke, Nobby. Und ich möchte noch sagen: Wenn eure Stunde schlägt, Leute, bekommt ihr ein Regal mit guter Aussicht. Ich habe eure Namen in meinem Buch notiert, für die, die nach mir kommen.«

»Nun, das ist, äh, sehr nett von dir, Erster«, sagte Colon und fragte sich, ob es das wirklich war. Aus Platzmangel wurden die Knochen in der Gruft nach Größe gelagert, nicht nach ihren Eigentümern. Es gab Zimmer mit Rippen und ganze Alleen aus Oberschenkelknochen. Und die Regale beim Eingang waren voller Totenschädel, denn eine Gruft ohne Totenschädel verdiente es nicht, Gruft genannt zu werden. Wenn einige der Religionen Recht hatten und eines Tages tatsächlich eine körperliche Wiederauferstehung anstand, dann drohte ein ziemliches Durcheinander, überlegte Colon.

»Ich habe genau die richtige Stelle für…«, begann Erster und unterbrach sich. Verärgert streckte er den Arm aus. »Ihr wisst doch, dass ich ihn hier nicht sehen will!«

Die Männer drehten sich um. Korporal Reg Schuh schritt mit feierlichem Ernst über den Kiesweg, einen ganzen Strauß Fliederblüten an den Helm gebunden. Über der Schulter trug er eine Schaufel mit langem Griff.

»Es ist nur Reg«, sagte Fred. »Er hat ein Recht darauf, hier zu sein, Erster. Das weißt du.«

»Er ist tot! Und ich dulde keine Toten auf meinem Friedhof!«

»Hier wimmelt’s von ihnen, Erster«, sagte Schnapper in dem Versuch, den Totengräber zu beruhigen.

»Ja, aber die laufen nicht herum!«

»Komm schon, Erster, du regst dich jedes Jahr auf«, sagte Fred Colon. »Er kann doch nichts für die Art und Weise, wie er ums Leben gekommen ist. Ein Zombie muss nicht unbedingt eine schlechte Person sein. Er ist ein nützlicher Bursche, Reg. Außerdem wär’s hier viel ordentlicher, wenn sich jeder so um sein Grab kümmern würde wie er. Morgen, Reg.«

Reg Schuh nickte den vier Männern zu, als er näher kam. Sein Gesicht war grau, aber ein Lächeln stand darauf.

»Und er hat seine eigene Schaufel mitgebracht«, grummelte Erster. »Abscheulich!«

»Ich habe das, was er macht, immer für recht, äh, nett gehalten«, sagte Fred. »Lass ihn in Ruhe, Erster. Wenn du jetzt Steine nach ihm wirfst wie im vorletzten Jahr, wird Kommandeur Mumm davon erfahren, und dann gibt’s Ärger. Du kennst dich aus mit… mit…«

»Leichen«, warf Nobby ein.

»Aber… Nun, du warst nicht dabei, Erster«, sagte Colon. »So ist das eben. Aber Reg war dabei. Und wenn du nicht dabei warst, Erster, kannst du es auch nicht verstehen. So, und jetzt geh los und zähl wieder die Schädel, ich weiß, dass dir das gefällt. Tschüs, Erster.«

Erster Ehelicher sah ihnen nach, und Feldwebel Colon glaubte, einen Maß nehmenden Blick zu spüren.

»Ich habe mich immer über seinen Namen gewundert«, sagte Nobby und winkte zum Abschied. »Ich meine… Ehelicher?«

»Man kann es einer Mutter nicht vorwerfen, wenn sie stolz ist, Nobby«, erwiderte Colon.

 

»Worüber sollte ich sonst noch Bescheid wissen?«, fragte Mumm, als er sich zusammen mit Karotte einen Weg durch das Gedränge auf den Straßen bahnte.

»Wir haben einen Brief von den Schwarzbandlern2 bekommen, Herr. Sie weisen darauf hin, dass die Speziesharmonie in der Stadt einen großen Schritt vorankäme, wenn du bereit wärst…«

»Sie wollen einen Vampir in der Wache?«

»Ja, Herr. Ich glaube, viele Mitglieder des Wachkomitees halten es trotz deiner Bedenken für eine gute Idee…«

»Sehe ich wie eine Leiche aus?«

»Nein, Herr.«

»Dann lautet die Antwort nein. Was sonst noch?«

Karotte blätterte in den Unterlagen, die dick in der Klammer eines Klemmbretts steckten. »Die Times berichtet, dass Borograwien Mouldawien überfallen hat«, sagte er.

»Sollten wir uns darüber freuen? Kann mich nicht daran erinnern, wo das ist.«

»Beide Länder gehörten früher zum Dunklen Reich, Herr. Direkt neben Überwald.«

»Auf welcher Seite stehen wir?«

»Die Times meint, wir sollten das kleine Mouldawien gegen den Aggressor unterstützen, Herr.«

»Mir gefällt Borograwien bereits«, sagte Mumm. In der vergangenen Woche hatte die Times eine wenig schmeichelhafte Karikatur von ihm gebracht, und was noch schlimmer war: Sybil hatte um das Original gebeten und es rahmen lassen. »Was bedeutet das für uns?«

»Vermutlich mehr Flüchtlinge, Herr.«

»Bei den Göttern, wir haben keinen Platz mehr! Warum kommen sie alle hierher?«

»Sie suchen nach einem besseren Leben, Herr.«

»Nach einem besseren Leben?«, wiederholte Mumm. »Hier?«

»Ich glaube, in ihrer Heimat stehen die Dinge schlechter, Herr«, sagte Karotte.

»Um was für Flüchtlinge handelt es sich?«

»Größtenteils um Menschen, Herr.«

»Soll das heißen, dass die meisten von ihnen Menschen sind, oder ist jedes einzelne Individuum größtenteils menschlich?«, erkundigte sich Mumm. Wenn man eine Weile in Ankh-Morpork gelebt hatte, lernte man, die richtigen Fragen zu stellen.

»Äh, abgesehen von den Menschen scheint es in der betreffenden Region nur eine andere nennenswerte Spezies zu geben, die so genannten Kwetsch, Herr. Sie leben im tiefen Wald und sind von Kopf bis Fuß behaart.«

»Tatsächlich? Nun, vermutlich finden wir mehr über sie heraus, wenn man uns bittet, einen von ihnen in die Wache aufzunehmen«, sagte Mumm bitter. »Und sonst?«

»Eine Nachricht, die zu Hoffnung Anlass gibt, Herr«, sagte Karotte und lächelte. »Erinnerst du dich an die Jugendbande, die sich ›Steinklopfer‹ nennt?«

»Was ist damit?«

»Sie hat gerade ihren ersten Troll aufgenommen.«

»Wie bitte? Ich dachte, die Burschen hätten es sich zum Ziel gesetzt, Trolle zu verprügeln! Das ist doch der Sinn der ganzen Sache!«

»Offenbar findet der junge Kalzit ebenfalls Gefallen daran, Trolle zu verdreschen.«

»Und das ist gut?«

»Ich schätze, in gewisser Weise ist es ein Schritt nach vorn, Herr.«

»Vereint im Hass, meinst du?«

»Ich denke schon, Herr«, sagte Karotte. Er blätterte vor und zurück. »Was habe ich sonst noch? O ja, das Patrouillenboot ist erneut gesunken…«

Was habe ich falsch gemacht?, dachte Mumm, als die Litanei weiterging. Früher einmal bin ich Polizist gewesen. Ein richtiger Polizist. Ich habe Verbrecher verfolgt. Ich war ein Jäger. Ich war das, was ich am besten konnte. Allein das Gefühl der Straße unter den Stiefelsohlen verriet mir, wo in der Stadt ich mich befand. Und was ist aus mir geworden? Ein Herzog! Kommandeur der Wache! Ein Politiker! Ich muss wissen, wer Tausende von Meilen entfernt gegen wen kämpft, nur für den Fall, dass es deshalb hier bei uns Unruhen gibt!

Wann bin ich zum letzten Mal auf Streife gegangen? Letzte Woche? Vor einem Monat? Und es ist nie eine richtige Streife, weil die Feldwebel allen mitteilen, dass ich unterwegs bin, und jeder verdammte Obergefreite hat seinen Brustharnisch auf Hochglanz poliert und sich rasiert, wenn ich eintreffe, selbst wenn ich durch die Seitenstraßen schleiche (und zumindest dieser Gedanke machte ihn ein wenig stolz, denn es bedeutete, dass die Feldwebel der Wache nicht dumm waren). Ich stehe nicht mehr die ganze Nacht im Regen. Ich kämpfe nicht mehr mit irgendeinem Halunken im Rinnstein um mein Leben. Ich laufe nicht mehr, sondern schlendere nur. All das hat man mir genommen. Und wofür?

Bequemlichkeit, Einfluss, Geld, eine wundervolle Ehefrau…

…äh…

Nun, das war eine gute Sache, natürlich, aber… trotzdem…

Verdammt. Aber ich bin kein Polizist mehr. Heute bin ich ein… ein Verwalter. Ich muss mit dem verfluchten Komitee reden, als bestünde es aus Kindern. Ich besuche Empfänge und trage eine verdammte Spielzeugrüstung. Es ist alles Politik und Papierkram. Es ist alles zu groß.

Wo sind die Tage geblieben, an denen alles so einfach war?

Dahingewelkt wie der Flieder, dachte Mumm. Sie betraten den Palast und gingen die Treppe hinauf zum Rechteckigen Büro.

Der Patrizier von Ankh-Morpork stand am Fenster und sah nach draußen, als sie eintraten. Sonst hielt sich niemand im Zimmer auf.

»Ah, Mumm«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Ich habe damit gerechnet, dass du dich verspätest. Unter den besonderen Umständen hielt ich es für besser, die Mitglieder des Komitees fortzuschicken. Sie bedauerten es ebenso wie ich, von Starkimarms Tod zu hören. Zweifellos hast du den offiziellen Brief geschrieben.«

Mumm warf Karotte einen fragenden Blick zu. Der Hauptmann rollte mit den Augen, hob und senkte die Schultern. Vetinari fand Dinge sehr schnell heraus.

»Ja, das stimmt«, bestätigte Mumm.

»Und noch dazu an einem so schönen Tag wie heute«, sagte Vetinari. »Allerdings ist ein Gewitter hierher unterwegs, wie ich sehe.« Er drehte sich um. Eine Fliederblüte zierte seine Jacke.

»Geht es Lady Sybil gut?«, fragte er und setzte sich.

»Das weißt du vermutlich besser als ich«, erwiderte Mumm.

»Gewisse Dinge brauchen Zeit«, sagte Vetinari glatt und rückte die Papiere auf seinem Schreibtisch zurecht. »Mal sehen, mal sehen… Es gab da noch einige kleine Angelegenheiten, um die ich mich kümmern wollte… Ah, der übliche Brief von unseren religiösen Freunden im Tempel der Geringen Götter.« Er zog ihn aus dem Stapel und legte ihn beiseite. »Ich glaube, ich werde den neuen Dekan zum Tee einladen und ihm die Angelegenheit erklären. Nun, abgesehen davon… Ah, ja, die politische Situation in… Ja?«

Die Tür öffnete sich. Drumknott, der Sekretär des Patriziers, kam herein.

»Eine Nachricht für Seine Gnaden«, sagte er, reichte sie aber Lord Vetinari. Der Patrizier schob sie sehr höflich über den Schreibtisch, und Mumm entfaltete den Zettel.

»Eine Semaphor-Nachricht!«, entfuhr es ihm. »Wir haben Carcer in der Neuen Aula in die Enge getrieben! Ich muss sofort dorthin!«

»Wie aufregend«, sagte Lord Vetinari und stand ruckartig auf. »Der Ruf zur Jagd. Aber ist es notwendig, dass du dich persönlich darum kümmerst, Euer Gnaden?«

Mumm bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick. »Ja«, erwiderte er. »Denn wenn ich mich nicht auf den Weg mache, wird irgendein armer Kerl versuchen, den Mistkerl zu verhaften. Das lernen die Wächter in der Ausbildung.« Er wandte sich an Karotte. »Gib die Meldung sofort weiter, Hauptmann! Winksprüche über die Nachrichtentürme, Tauben, Kuriere, alles. Jeder soll diesem Ruf folgen. Aber niemand – ich wiederhole: niemand soll versuchen, ihn ohne die Hilfe vieler anderer Wächter gefangen zu nehmen! Verstanden? Und Knuddel Winzig soll losfliegen! Oh, verdammt…«

»Was ist, Herr?«, fragte Karotte.

»Die Nachricht stammt von Kleinpo. Sie hat die Mitteilung direkt hierher geschickt. Was macht sie dort draußen? Sie gehört zur forensischen Abteilung, nicht zu den Streifen! Meine Güte, sie wird versuchen, sich an die Vorschriften zu halten!«

»Sollte sie das nicht?«, fragte Vetinari.

»Nein. Carcer braucht einen Pfeil ins Bein, nur um seine Aufmerksamkeit zu wecken. Man muss zuerst schießen…«

»Und später Fragen stellen?«, vermutete Vetinari.

Mumm zögerte kurz an der Tür. »Es gibt nichts, das ich ihn fragen möchte.«

 

Auf dem Hiergibt’salles-Platz musste Mumm seinen Schritt verlangsamen, um wieder zu Atem zu kommen, und darüber ärgerte er sich sehr. Vor einigen Jahren wäre er gerade erst richtig in Schwung gekommen! Doch das über die Ebene heranziehende Gewitter trieb die Hitze vor sich her, und es geziemte sich nicht für den Kommandeur, keuchend am Ort des Geschehens einzutreffen. Als er hinter einer Marktbude innehielt und nach Luft schnappte, musste er feststellen, dass er nicht einmal genug Atem für einen längeren Satz hatte.

Zu seiner großen Erleichterung wartete eine völlig unverletzte Grinsi Kleinpo an der Universitätsmauer auf ihn. Sie salutierte. »Zur Stelle, Herr«, sagte sie.

»Mm«, erwiderte Mumm.

»Ich habe zwei Trolle bei der Verkehrskontrolle bemerkt und sie zur Wasserbrücke geschickt, Herr«, sagte Korporal Kleinpo. »Dann erschien Feldwebel Detritus, und ich habe ihn aufgefordert… ihn gebeten, das Universitätsgelände durchs Haupttor zu betreten und einen hohen Ort aufzusuchen. Als Feldwebel Colon und Nobby eintrafen, habe ich sie zur Größenbrücke gesandt…«

»Warum?«, fragte Mumm.

»Weil ich bezweifle, dass er sich in diese Richtung wenden wird«, erwiderte Grinsi, wobei ihr Gesicht ein sorgfältiges Bild der Unschuld zeigte. Mumm musste sich darauf konzentrieren, mit dem Nicken aufzuhören. »Es kamen immer mehr Wächter, und ich habe sie aufgefordert, den ganzen Bereich zu umstellen. Wie dem auch sei: Ich glaube, er ist irgendwo dort oben und bleibt dort.«

»Warum?«

»Wie soll er sich den Weg durch einen ganzen Haufen Zauberer freikämpfen, Herr? Seine beste Chance besteht darin, über die Dächer zu klettern und an irgendeinem ruhigen Ort auf den Boden zurückzukehren. Dort oben gibt es viele Verstecke, und er könnte es bis zur Pfirsichblütenstraße schaffen, ohne herunterzukommen.«

Forensische Abteilung, dachte Mumm. Ha! Und mit ein bisschen Glück weiß der Bursche nichts von Knuddel.

»Gut überlegt«, sagte er.

»Danke, Herr. Hättest du etwas dagegen, näher an die Mauer heranzutreten, Herr?«

»Warum?«

Etwas schlug auf das Pflaster auf. Von einem Augenblick zum anderen stand Mumm flach an die Mauer gepresst.

»Er hat eine Armbrust, Herr«, sagte Grinsi. »Wir glauben, sie stammt von Starkimarm. Aber er kann nicht besonders gut damit umgehen.«

»Ausgezeichnet, Korporal«, sagte Mumm schwach. »Gute Arbeit.« Er sah zum Platz zurück. Wind zerrte an den Markisen der Marktbuden. Die Verkäufer bedeckten ihre Waren und blickten gelegentlich zum Himmel empor.

»Wir können ihn nicht einfach dort oben lassen«, fuhr er fort. »Wenn er aufs Geratewohl schießt, wird er früher oder später jemanden treffen.«

»Warum sollte er aufs Geratewohl schießen, Herr?«

»Carcer braucht keinen Grund«, sagte Mumm. »Er braucht nur einen Vorwand.« Eine Bewegung weckte seine Aufmerksamkeit, und er lächelte.

Ein großer Vogel stieg über der Stadt auf.

 

Der Reiher brummte klagend und versuchte, in weiten Kreisen an Höhe zu gewinnen. Die Stadt drehte sich unter Korporal Knuddel Winzig, als er die Knie noch fester an den Leib des Vogels presste und ihn mit dem Wind fliegen ließ. Kurze Zeit später landete der Reiher auf dem Kunstturm, dem höchsten Gebäude der Stadt, und kam nach einigen torkelnden Schritten zum Stehen.

Mit einer geübten Bewegung durchschnitt der Gnom den Strick, mit dem das mobile Semaphor befestigt war, und sprang dann in den Kompost aus Efeulaub und alten Rabennestern, der auf dem Turm eine Art Teppich bildete.

Der Reiher beobachtete ihn mit großäugiger Dummheit. Knuddel hatte ihn auf die übliche Weise der Gnome gezähmt: Man malte sich grün an, wartete im Sumpf und quakte; wenn dann ein Reiher kam, um einen zu fressen, lief man über seinen Schnabel nach oben und gab dem Vogel eins auf die Rübe. Bis er wieder zu sich kam, hatte man ihm das spezielle Öl – Knuddel war einen ganzen Tag lang mit der Herstellung beschäftigt gewesen, und der Gestank hatte alle Wächter aus dem Wachhaus vertrieben – in die Nasenlöcher gepustet, und dann sah der Vogel einen an und glaubte, seine Mutter zu sehen.

Ein Reiher war nützlich, denn er konnte Ausrüstung tragen. Für Verkehrspatrouillen zog Knuddel einen Sperber vor, weil er besser über einer Stelle kreisen konnte.

Er ließ die Arme des tragbaren Semaphors an dem Pfahl einrasten, den er hier vor einigen Wochen vorbereitet hatte, zog dann ein winziges Fernrohr aus der Satteltasche des Reihers, band es an die steinerne Kante und blickte fast senkrecht in die Tiefe. Knuddel mochte solche Momente. Nur bei diesen Gelegenheiten waren alle anderen kleiner als er selbst.

»Nun… mal sehen, was wir sehen können«, brummte er.

Er sah die Universitätsgebäude. Er sah den Uhrturm des Alten Tom und die unverkennbare Masse von Feldwebel Detritus, der zwischen den nahen Schornsteinen kletterte. Das gelbe Licht des heranziehenden Unwetters spiegelte sich auf den Helmen der Wächter wider, die tief unten durch die Straßen eilten. Und dort, geduckt hinter einer Brüstung…

»Na bitte«, sagte Knuddel leise und streckte die Hand nach den Griffen des Semaphors aus.

 

»D…T…R…T…S Stop N…W…T Stop L…T…R Stop T…M«, sagte Grinsi.

Mumm nickte. Detritus befand sich auf dem Dach unweit des Alten Tom. Und Detritus trug eine Belagerungsarmbrust, die nicht einmal drei Männer hätten heben können und die so umgebaut war, dass sie ein ganzes Pfeilbündel abfeuerte. Die an dem Vorgang beteiligten Kräfte ließen die Pfeile meistens in der Luft zerbrechen, was dazu führte, dass das Ziel von einer sich ausdehnenden Wolke aus brennenden Splittern getroffen wurde. Mumm hatte verboten, diese Waffe gegen Personen einzusetzen, aber sie bot eine ausgezeichnete Möglichkeit, in ein Gebäude zu gelangen. Man konnte damit Vorder- und Hintertür gleichzeitig öffnen.

»Er soll einen Warnschuss abgeben«, sagte Mumm. »Wenn er Carcer mit dem Ding trifft, finden wir nicht einmal seine Leiche.« Und es gefiele mir sehr, seine Leiche zu finden, dachte er.

»Ja, Herr.« Grinsi zog zwei weiße Signalarme hinter dem Gürtel hervor, wandte sich dem Kunstturm zu und winkte eine kurze Nachricht. Der ferne Knuddel schickte eine Antwort.

»D…T…R…T…S Stop W…R…N…S…H…S…S«, murmelte Grinsi, als sie den Rest der Mitteilung winkte.

Wieder kam eine kurze Bestätigung zurück. Dann stieg eine rote Rakete vom Turm auf und explodierte, was alle aufmerksam werden ließ. Mumm beobachtete, wie die Mitteilung weitergegeben wurde.

Überall bei den Universitätsgebäuden gingen Wächter in Deckung. Sie wussten, was Detritus’ Armbrust anrichten konnte.

Der Troll brauchte einige Sekunden, um die Buchstabenkombination zu verstehen. Dann ertönte in der Ferne ein dumpfes Pochen, gefolgt von einem Geräusch, das nach dem Summen höllischer Bienen klang, und dann krachte es. Dachziegel und Mauerwerk barsten. Trümmerstücke regneten auf den Hiergibt’salles-Platz hinab. Ein ganzer Schornstein, komplett mit einer kräuselnden Rauchfahne, knallte nur wenige Meter neben Mumm auf die Straße.

Das Prasseln von Mörtel- und Holzstücken schloss sich an, gefolgt von einem sanften Schauer aus Taubenfedern.

Mumm schüttelte den Staub von seinem Helm. »Ja, ich schätze, jetzt ist er gewarnt«, sagte er.

Ein halber Wetterhahn landete neben dem Schornstein.

Grinsi blies einige Federn von ihrem Fernrohr und richtete es auf den Kunstturm. »Knuddel teilt mit, dass er sich jetzt nicht mehr bewegt, Herr«, berichtete sie.

»Tatsächlich? Was für eine Überraschung.« Mumm rückte seinen Gürtel zurecht. »Und jetzt kannst du mir deine Armbrust geben. Ich gehe nach oben.«

»Herr, du hast gesagt, dass niemand versuchen soll, ihn zu verhaften! Deshalb habe ich dir die Nachricht geschickt!«

»Stimmt. Ich werde ihn verhaften. Jetzt. Während er seine Körperteile zählt, um sich zu vergewissern, dass er noch alles beisammen hat. Gib Detritus Bescheid, denn ich möchte nicht als hundertsechzig Pfund Appetithäppchen enden. Und klapp den Mund ruhig wieder zu! Bis wir uns weitere Waffen, Rüstungen und Verstärkung besorgt haben, ist der Bursche irgendwo untergetaucht.«

Bei den letzten Worten lief er bereits.

Mumm erreichte eine Tür und sprang hindurch. In der Neuen Aula wohnten Studenten, aber es war erst halb elf, die meisten von ihnen lagen noch im Bett. Einige Gesichter spähten in den Flur, als Mumm zur Treppe eilte und seinen Weg nach oben fortsetzte, langsamer und seiner Zukunft weniger sicher. Im obersten Stock zögerte er. Er war schon einmal hier gewesen… Ja, dort stand eine Tür einen Spaltbreit offen, gewährte Blick auf Mopp und Eimer, was darauf hindeutete, dass es sich um das Zimmer des Hausmeisters handelte.

Und ganz hinten führte eine Leiter aufs Dach.

Mumm spannte vorsichtig die Armbrust.

Carcer verfügte also ebenfalls über eine Armbrust der Wache. Es waren gute, klassische Ein-Schuss-Modelle, doch es dauerte eine Weile, sie erneut zu laden. Wenn Carcer auf Mumm schoss, ohne zu treffen, so hatte er damit eine Chance vertan. Eine zweite würde er kaum bekommen.

Mumm kletterte die Leiter hoch, und das Lied fiel ihm wieder ein.

»Sie fliegen mit den Füßen nach oben, mit den Füßen, mit den Füßen…«, hauchte er.

Er verharrte dicht unter dem Rand der offenen Dachklappe. Carcer fiel bestimmt nicht auf den alten Helm-am-Stock-Trick herein, nicht mit nur einem Schuss. Es blieb Mumm also nichts anderes übrig, als ein Risiko einzugehen.

Er hob den Kopf, drehte ihn schnell und duckte sich wieder, um eine Sekunde später durch die Öffnung zu hechten. Er rollte sich ab, kam halb hoch und stellte fest: Er lebte noch. Es war niemand in der Nähe.

Neben ihm neigte sich ein Giebeldach nach oben. Mumm schlich los, duckte sich neben einen Schornstein, in dem Holzsplitter steckten, und blickte zum Turm.

Der Himmel darüber war blauschwarz. Unwetter gewannen viel Persönlichkeit, wenn sie über die weite Ebene zogen, und dieses wirkte wie ein Champion. Doch helles Sonnenlicht fiel auf den Kunstturm, und ganz oben flackerten die kleinen Punkte von Knuddels verzweifelten Signalen.

O…O…O

Wächter in Schwierigkeiten. Einem Bruder droht Gefahr.

Mumm wandte sich um. Niemand näherte sich ihm. Vorsichtig schob er sich um den Schornstein herum, und dort war Carcer. Er steckte zwischen zwei anderen Schornsteinen, für alle verborgen – nur Mumm und Knuddel auf dem Kunstturm konnten ihn sehen.

Carcer zielte.

Mumm drehte den Kopf und hielt nach dem Ziel Ausschau.

Etwa fünfzig Meter entfernt kletterte Karotte übers Dach des Forschungstrakts für hochenergetische Magie.

Der verdammte Narr hatte es noch nie gut verstanden, sich zu verstecken. Oh, er duckte sich und kroch, aber dadurch wirkte er irgendwie noch auffälliger. Er beherrschte nicht die Kunst, sich unsichtbar zu denken. Dort war er nun und stapfte durch das Chaos auf dem Dach, ebenso deutlich zu sehen wie eine große Ente in einer kleinen Badewanne. Und er hatte sich ohne Unterstützung aufs Dach begeben.

Narr…

Carcer zielte sorgfältig. Auf dem Dach des Forschungstrakts lagen alte Ausrüstungsgegenstände aller Art durcheinander, und Karotte befand sich nun hinter der erhöhten Plattform mit den so genannten »Zaubererkugeln« – sie leiteten überschüssige Magie ab, wenn bei Experimenten weiter unten etwas schief ging, was recht häufig geschah. Hinter der Plattform bot Karotte kein besonders gutes Ziel.

Mumm hob seine Armbrust.

Donner… rollte. Es klang nach einem gewaltigen Eisenwürfel, der über die Treppe der Götter rollte, ein knisterndes, grollendes Krachen, das den Himmel zerriss und die Gebäude der Stadt erzittern ließ.

Carcer sah auf und bemerkte Mumm.

 

»Was machsn da, Kumpel?«

Knuddel wich nicht von dem Fernrohr zurück. Selbst eine Brechstange hätte ihn jetzt nicht davon trennen können.

»Haltet die Klappe, ihr blöden Raben!«, brummte er.

Beide Männer hatten geschossen und das Ziel verfehlt, weil sie bestrebt gewesen waren, gleichzeitig zu schießen und in Deckung zu gehen.

Etwas Hartes klopfte an Knuddels Schulter.

»Was isn los da unten, Kumpel?«, erklang eine beharrliche Stimme.

Knuddel drehte den Kopf. Mehr als zehn verwahrloste Raben standen hinter ihm und sahen aus wie alte Männer in schlecht sitzenden schwarzen Mänteln. Sie waren die besonderen Vögel des Kunstturms. Über Hunderte von Generationen hatten sie in einer Umgebung mit hoher magischer Strahlung gelebt, was die schon von Natur aus recht intelligenten Tiere noch intelligenter werden ließ. Allerdings wurden sie nie in dem Sinne gescheit. Die Intelligenz dieser Raben war eher eine beharrliche Dummheit, durchaus angemessen für Geschöpfe, für die das aufregende Panorama der Stadt tief unten eine Art Fernsehen darstellte.

»Haut ab!«, rief Knuddel und wandte sich wieder dem Fernrohr zu. Er sah Carcer laufen, und Mumm folgte ihm, und dann kam der Hagel

Er machte die Welt weiß. Er hämmerte auf das Dach des Kunstturms und ließ Knuddels Helm dröhnen. Hagelkörner so groß wie sein Kopf prallten vom Gestein ab und trafen ihn von unten. Er fluchte, schirmte sich das Gesicht mit den Armen ab und wurde andauernd von Splittern getroffen – jeder von ihnen stellte eine Zukunft voller Schmerzen in Aussicht –, als er über das rollende Eis glitt. Er gelangte zu einem efeuverhangenen Bogen zwischen zwei Türmchen, wo der Reiher Zuflucht gesucht hatte, und dort ging er in Deckung. Zwar trafen ihn auch hier umherfliegende Bruchstücke von Hagelkörnern, aber wenigstens konnte er sehen und atmen.

Ein Schnabel stieß hart gegen seinen Rücken.

»Was passiert’n jetzt, Kumpel?«

 

Carcer landete schwer auf dem Bogen zwischen dem Studentenhaus und den Hauptgebäuden, verlor auf den Ziegeln fast das Gleichgewicht und zögerte. Der Armbrustbolzen eines Wächters weiter unten streifte sein Bein.

Mumm ließ sich hinter Carcer auf den Bogen fallen, als der Hagel begann.

Die beiden Männer fluchten und rutschten, als einer dem anderen über den Bogen folgte. Carcer erreichte eine Efeuranke, die zum Dach der Bibliothek führte, und sofort kletterte er daran empor. Eis brach unter ihm.

Mumm griff nach dem Efeu, als Carcer auf dem flachen Dach verschwand. Er drehte den Kopf, als er ein Krachen hinter sich hörte, und sah Karotte, der versuchte, sich über die Mauer des Forschungstrakts zu nähern. Der Hagel umgab ihn mit einem Schein aus Eissplittern.

»Bleib dort!«, rief Mumm.

Karottes Antwort verlor sich im Prasseln.

Mumm winkte und griff nach dem Efeu, als sein Fuß rutschte. »Bleib da!«, schrie er. »Das ist ein Befehl! Komm nicht näher!« Dann zog er sich am nassen, kalten Efeu hoch.

Der Wind ließ nach, und letzte Hagelkörner prallten vom Dach. Mumm verharrte dicht unter dem Rand des Daches, suchte mit den Füßen in dem Gewirr aus alten, verschlungenen Stängeln nach Halt, griff dann nach oben und nahm seine ganze Kraft zusammen. Von einem Augenblick zum anderen zog und stieß er sich hoch. Die linke Hand war bereit, griff nach dem Stiefel, der auf ihn zuschwang, drückte ihn nach oben, was Carcer aus dem Gleichgewicht brachte. Er fiel nach hinten und versuchte sofort, wieder aufzustehen. Mumm zog sich ganz aufs Dach, trat vor und rutschte aus. Carcer und er bemühten sich, erneut auf die Beine zu kommen, und fielen dann einmal mehr.

Im Liegen trat Carcer nach Mumms Schulter, wodurch sie in entgegengesetzte Richtungen auseinander rutschten. Dann drehte er sich und kroch auf allen vieren zur großen Kuppel der Bibliothek, die aus Glas und Metall bestand. Er griff nach einer rostigen Einfassung, zog sich hoch und holte ein Messer hervor.

»Komm und hol mich«, sagte er. Wieder grollte Donner.

»Das muss ich nicht«, erwiderte Mumm. »Es genügt, wenn ich warte.« Bis ich wieder zu Atem gekommen bin, dachte er.

»Warum hast du es auf mich abgesehen? Was soll ich getan haben?«

»Ein paar Morde«, erwiderte Mumm. »Fällt dir dazu etwas ein?«

Hätte verletzte Unschuld Geld gebracht, wäre Carcers Gesicht ein Vermögen wert gewesen. »Ich weiß überhaupt nichts von…«

»Mir machst du nichts vor, Carcer. Spar dir die Mühe.«

»Willst du mich lebend schnappen, Euer Gnaden?«

»Eigentlich nicht. Aber manche Leute mögen es nicht, wenn zu viel Blut fließt.«

Auf der linken Seite klapperten Ziegel, und es pochte dumpf, als eine riesige Belagerungsarmbrust auf den Rand eines nahen Daches gestützt wurde. Dahinter stieg Detritus’ Kopf auf.

»Entschuldige bitte, Herr Mumm. Es war schwer, in all dem Hagel zu klettern. Tritt einfach zurück.«

»Du willst den Burschen auf mich schießen lassen?« Carcer warf das Messer weg. »Auf einen unbewaffneten Mann?«

»Der zu fliehen versucht«, sagte Mumm. Die Dinge entwickelten sich in die falsche Richtung. Er spürte es.

»Wer, ich? Oh, ich bleibe hier stehen, haha.«

Und da war es. Das verdammte Lachen, das sich dem verdammten Grinsen hinzugesellte. Es war nie weit entfernt, und »Haha« wurde ihm nicht wirklich gerecht. Es war eher eine besondere Modulation der Stimme, ein aufreizend herablassendes Glucksen, das verkündete: Dies ist alles sehr lustig, und du hast den Witz nicht verstanden.

Leider konnte man niemanden nur wegen eines ärgerlichen Lachens erschießen. Und er blieb tatsächlich stehen. Wenn er zu fliehen versuchte… dann war es gerechtfertigt, auf ihn zu schießen. Zugegeben, der Schütze hieß in diesem Fall Detritus, und rein theoretisch war es möglich, dass er mit seiner Waffe nur Verletzungen zufügte, aber wahrscheinlich würden sich die Verletzten im nächsten Gebäude wiederfinden.

Carcer wartete einfach und beleidigte die Welt durch seine Existenz.

Und dann trat er plötzlich auf den unteren Hang der Bibliothekskuppel. Die Glasflächen, zumindest diejenigen, die den Hagel überstanden hatten, knarrten im eisernen Gerüst.

»Bleib stehen!«, befahl Mumm. »Komm da runter!«

»Wohin könnte ich schon gehen?«, fragte Carcer und lächelte. »Ich warte nur darauf, dass du mich verhaftest. He, von hier aus kann ich dein Haus sehen!«

Was ist unter der Kuppel?, fragte sich Mumm. Wie weit reichen die Bücherregale nach oben? Es gibt mehrere Etagen in der Bibliothek. Wie Galerien. Vom Erdgeschoss kann man bis zur Kuppel emporsehen. Könnte man vom Rand der Kuppel auf eine Galerie springen?

Es wäre riskant, aber wenn einem keine andere Wahl blieb… Vorsichtig näherte er sich dem Kuppelrand. Carcer kletterte ein wenig höher.

»Ich warne dich, Carcer…«

»Nur ein bisschen Spaß, Herr Gnaden, haha! Man kann niemandem vorwerfen, seine letzten Minuten in Freiheit genießen zu wollen.«

Von hier aus kann ich dein Haus sehen…

Mumm trat auf die Kuppel. Carcer juchzte.

»Ausgezeichnet, Euer Mumm!«, sagte er und kletterte zur höchsten Stelle.

»Mach dich nicht über mich lustig, Carcer. Das wird dir schlecht bekommen.«

»Noch schlechter als das, was mich ohnehin erwartet?« Carcer sah durch eine zerbrochene Scheibe nach unten. »Ziemlich tief, Herr Mumm. Ich schätze, wenn man aus dieser Höhe fällt, ist man sofort tot. Was meinst du?«

Mumm sah nach unten, und Carcer sprang.

Es lief nicht so, wie er es sich erhoffte. Mumm hatte so etwas erwartet. Nach einem komplizierten Moment lag Carcer auf dem eisernen Gerüst, den einen Arm unter sich, den anderen ausgestreckt – Mumm schlug ihn immer wieder gegen das Metall, bis sich das Messer aus der Hand löste und wegrutschte.

»Bei den Göttern, für wie blöd hältst du mich?«, knurrte Mumm. »Du wirfst nur dann ein Messer weg, wenn du noch eins hast, Carcer.«

Mumms Gesicht war ihm jetzt nahe genug, um in die Augen über dem munteren Grinsen zu blicken und zu sehen, wie die Dämonen winkten.

»Du tust mir weh, und das ist nicht erlaubt!«

»Oh, ich möchte nicht, dass dir etwas zustößt, Carcer«, sagte Mumm. »Ich möchte dich vor dem Patrizier sehen und hören, wie du einmal etwas zugibst. Ich möchte sehen, wie das verdammte Grinsen aus deinem Gesicht verschwindet. Feldwebel Detritus!«

»Härr!«, rief der Troll vom anderen Dach.

»Gib ein Signal. Weitere Wächter sollen hierher kommen. Ich bleibe mit Carcer hier oben und sorge dafür, dass er keine Zicken macht.«

»In Ordnung, Herr.« Wieder klapperten bedauernswerte Dachziegel, und der Troll verschwand.

»Du hättest Hauptmann Karotte nicht fortschicken sollen«, brummte Carcer. »Es gefällt ihm nicht, Wächter zu sehen, die unschuldige Zivilisten schikanieren…«

»Es stimmt schon, dass er die Feinheiten des tatsächlichen Polizeiwesens noch lernen muss«, sagte Mumm und hielt Carcer weiter fest. »Außerdem tue ich dir nicht weh, sondern beschütze dich. Ich bewahre dich davor, in die Tiefe zu stürzen.«

Erneut donnerte es. Der Himmel war nicht einfach nur schwarz, sondern auch mit rosaroten und purpurnen Flecken gesprenkelt, die wie Quetschungen aussahen. Mumm sah, dass sich die Wolken wie Schlangen in einem Sack bewegten, während es unentwegt grollte. Er fragte sich, ob die Zauberer mit dem Wetter herumgespielt hatten.

Plötzlich geschah etwas mit der Luft. Sie roch nach verbranntem Metall und Feuerstein. Der Wetterhahn am höchsten Punkt der Kuppel begann sich zu drehen.

»Ich halte dich nicht für blöd, Herr Mumm…«

»Was?«, fragte Mumm und sah nach unten. Carcer lächelte fröhlich.

»Ich sagte, ich halte dich nicht für dumm, Herr Mumm. Ich wusste, dass ein schlauer Polizist wie du damit rechnet, dass ich zwei Messer habe.«

»Ja, genau«, sagte Mumm. Er spürte, wie sich seine Haare aufrichteten und versuchten, auf ihrer Spitze zu stehen. Kleine blaue Raupen aus Licht knisterten über das eiserne Gerüst der Kuppel und über seine Rüstung.

»Herr Mumm?«

»Was ist?«, fragte er scharf. Rauch stieg vom Lager des Wetterhahns auf.

»Ich habe drei Messer, Herr Mumm«, sagte Carcer und hob den Arm.

Dann kam der Blitz.

 

Fenster explodierten, und eiserne Regenrinnen schmolzen. Dächer sprangen nach oben und krachten zurück. Gebäude erbebten.

Dieses Gewitter war über die Ebene gekommen und hatte die natürliche Hintergrundmagie vor sich her geschoben. Jetzt lud es sie auf einmal ab.

Nachher hieß es, dass der Blitz den Laden eines Uhrmachers in der Straße Schlauer Kunsthandwerker traf, so dass alle Uhren stehen blieben. Das war noch gar nichts. In der Bäckerstraße wurden ein Mann und eine Frau, die sich überhaupt nicht kannten, elektrisch angezogen und mussten nach zwei Tagen anstandshalber heiraten. In der Assassinengilde entwickelte der Waffenmeister plötzlich eine Anziehungskraft für Metall, mit fatalen Folgen, da er sich zum betreffenden Zeitpunkt in der Rüstkammer aufhielt. Eier brieten in ihren Körben, Apfel rösteten in den Regalen der Obsthändler. Kerzen entzündeten sich selbst. Wagenräder barsten auseinander. Die aus Zinn bestehende Badewanne des Erzkanzlers der Unsichtbaren Universität löste sich vom Boden, zischte durchs Arbeitszimmer, flog vom Balkon und landete einige Stockwerke tiefer auf dem achteckigen Rasen, ohne mehr als eine Tasse voll Seifenwasser zu verschütten.

Erzkanzler Mustrum Ridcully erstarrte mit der Scheuerbürste auf seinem Rücken und blickte sich um.

Dachziegel fielen zu Boden. Das Wasser im nahen Zierteich kochte.

Ridcully duckte sich, als ein ausgestopfter Dachs, dessen Herkunft nie festgestellt werden konnte, über den Rasen flog und eine Fensterscheibe zertrümmerte.

Er zuckte zusammen, als ihn ein kurzer, unerklärlicher Schauer aus Zahnrädern traf, die um ihn herum zu Boden prasselten.

Er hob die Brauen, als sechs Wächter über den achteckigen Platz stürmten und die Treppe der Bibliothek hinaufeilten.

Dann griff der Erzkanzler nach den Seiten der Badewanne und stand auf. Schäumendes Wasser strömte an ihm herab, so wie an einem uralten Leviathan, der aus den Tiefen des Meeres emporstieg.

»Stibbons!«, donnerte er, und seine Stimme hallte von den imposanten Mauern wider. »Wo zum ist mein Hut

Er setzte sich und wartete.

Einige Minuten war es still, und dann kam Ponder Stibbons, Leiter der Abteilung für unratsame angewandte Magie, durch die Tür und lief mit Ridcullys spitzem Hut über den Rasen.

Der Erzkanzler nahm ihn entgegen und rammte ihn sich auf den Kopf.

»Na schön«, sagte er und stand erneut auf. »Würdest mir jetzt erklären hier vorgeht? Und schlägt der Alte Tom?«

»Magie hat entladen, Herr! Ich jemanden, um den Mechanismus blockieren!«, rief Ponder, um sich in der Geräusche zerstörenden Stille verständlich zu machen.3

Vom großen Uhrturm kam ein kratzendes metallisches Geräusch. Ponder und Ridcully warteten einige Momente, aber der Lärm der Stadt blieb normal, darunter das Krachen einstürzender Mauern und ferne Schreie.

»Na schön«, sagte Ridcully so, als müsste er der Welt zugestehen, dass sie sich zumindest Mühe gab. »Was hatte das alles zu bedeuten, Stibbons? Und warum sind Polizisten in der Bibliothek?«

»Ein magisches Gewitter, Herr. Mehrere tausend Gigathaum. Und ich glaube, die Wächter verfolgen einen Verbrecher.«

»Sie können nicht einfach in die Bibliothek laufen, ohne zu fragen«, sagte Ridcully, stieg aus der Wanne und trat vor. »Ich meine, wozu bezahlen wir unsere Steuern?«

»Äh, eigentlich bezahlen wir gar keine Steuern, Herr«, erwiderte Ponder und lief dem Erzkanzler hinterher. »Wir versprechen, Steuern zu zahlen, wenn uns die Stadt darum bittet, vorausgesetzt, die Stadt verspricht, nie mit einer solchen Bitte an uns heranzutreten, Herr. Wir leisten eine freiwillige…«

»Nun, zumindest haben wir eine Vereinbarung, Stibbons.«

»Ja, Herr. Darf ich darauf hinweisen…«

»Und das bedeutet, die Wächter müssen um Erlaubnis bitten. Der elementare Anstand muss gewahrt bleiben«, sagte Ridcully fest. »Und ich bin der Rektor dieser Universität!«

»Da wir gerade beim Anstand sind, Herr, du bist nicht…«

Ridcully trat durch die offene Tür der Bibliothek.

»Was geht hier vor?«, fragte er.

Die Wächter drehten sich um und starrten ihn an. Ein großer Schaumklecks, der bisher erstklassige Dienste bei der Wahrung elementaren Anstands geleistet hatte, glitt langsam zu Boden.

»Nun?«, kam es scharf von Ridcullys Lippen. »Habt ihr noch nie einen Zauberer gesehen?«

Ein Wächter nahm Haltung an und salutierte. »Hauptmann Karotte, Herr. Wir, äh, haben nie so viel von einem Zauberer gesehen, Herr.«

Ridcully bedachte ihn mit dem verwunderten Blick, der sonst Leuten vorbehalten blieb, die schwer von Begriff waren.

»Wovon redet er da, Stibbons?«, fragte er aus dem Mundwinkel.

»Du, äh, bist nicht angemessen gekleidet, Herr.«

»Was? Ich habe doch den Hut auf.«

»Ja, Herr…«

»Hut = Zauberer, Zauberer = Hut. Alles andere ist Firlefanz. Außerdem bin ich sicher, dass wir alle Männer von Welt sind«, fügte Ridcully hinzu und sah sich um. Zum ersten Mal nahm er die anwesenden Wächter genau wahr. »Und Zwerge von Welt… äh… und Trolle von Welt, wie ich sehe… und… auch Frauen von Welt… äh…« Der Erzkanzler schwieg kurz und fragte dann: »Stibbons?«

»Ja, Herr?«

»Wärst du so nett, mir meinen Mantel zu holen?«

»Natürlich, Herr.«

»Und leih mir unterdessen deinen Hut…«

»Du hast bereits einen Hut auf dem Kopf«, erwiderte Ponder.

»In der Tat, da hast du völlig Recht«, sagte Ridcully langsam durch ein starres Grinsen. »Und jetzt, Stibbons, möchte ich, dass du mir deinen Hut leihst, und zwar jetzt sofort, bitte.«

»Oh«, sagte Ponder. »Äh… ja…«

Einige Minuten später stand ein sehr sauberer, anständiger und angezogener Erzkanzler in der genauen Mitte der Bibliothek und blickte zur beschädigten Kuppel empor. Neben ihm sah Ponder Stibbons missmutig auf einige magische Instrumente. Aus irgendeinem Grund hatte er beschlossen, seinen Kopf unbedeckt zu lassen, obwohl er seinen Hut zurückbekommen hatte.

»Überhaupt nichts?«, fragte Ridcully:

»Ugh«, sagte der Bibliothekar.4

»Du hast überall gesucht?«

»Er kann in dieser Bibliothek nicht überall suchen, Herr«, sagte Ponder. »Dazu wäre mehr Zeit erforderlich, als überhaupt existiert. Aber er hat alle weltlichen Regale abgesucht. Äh.«

Karotte sah Ponder an. »Könntest du bitte erklären, was das ›Äh‹ bedeutet?«

»Du weißt doch, dass wir uns hier in einer magischen Bibliothek befinden. Selbst unter normalen Umständen gibt es über den Büchern einen Bereich mit hohem magischen Potenzial.«

»Ich bin schon einmal hier gewesen«, sagte Karotte.

»Dann weißt du auch, dass die Zeit in Bibliotheken… flexibler ist?«, fragte Ponder. »Mit der zusätzlichen Energie des Gewitters könnte es möglich sein…«

»Willst du vielleicht andeuten, dass er in der Zeit versetzt wurde?«, fragte der Wächter.

Ponder war beeindruckt. Er war nicht in dem Glauben aufgewachsen, dass sich Wächter durch Klugheit auszeichneten. Er achtete darauf, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen.

»Wenn es nur so einfach wäre«, erwiderte er. »Der Blitz scheint dem Vorgang eine zufällige laterale Komponente hinzugefügt zu haben…«

»Eine was?«, fragte Ridcully.

»Du meinst, er wurde in Zeit und Raum versetzt?«, erkundigte sich Karotte. Ponder war fassungslos. Nichtzauberer sollten auf keinen Fall so schnell verstehen können.

»Nicht in dem Sinne«, erwiderte er und gab auf. »Ich muss das noch genauer untersuchen, Erzkanzler. Einige der ermittelten Werte können unmöglich stimmen.«

 

Mumm wusste, dass er wach war. Er erinnerte sich an Dunkelheit und Regen und einen schrecklichen Schmerz im Gesicht.

Er entsann sich auch an einen anderen Schmerz, im Nacken, an das Gefühl, hierhin und dorthin gezerrt zu werden.

Jetzt gab es Licht.

Mumm sah es durch die geschlossenen Lider. Beziehungsweise durch das geschlossene linke Lid. Die rechte Gesichtshälfte schien allein aus Pein zu bestehen. Er hielt das Auge geschlossen und konzentrierte sich auf seine Ohren.

Jemand ging umher. Metall klickte. Die Stimme einer Frau erklang. »Er ist wach.«

»Bist du sicher?«, fragte ein Mann. »Woher willst du das wissen?«

»Ich habe gelernt zu erkennen, ob ein Mann schläft oder nicht«, sagte die Frau.

Mumm öffnete das linke Auge und stellte fest, dass er auf einer Art Tisch lag. Eine junge Frau lehnte neben ihm an der Wand. Kleidung und Haltung genügten Mumms Polizistenhirn, um sie zu identifizieren: eine Näherin. Aber nicht eine der intelligenteren. Der Mann trug einen langen, schwarzen Umhang und einen albernen Schlapphut, der ebenfalls eine Identifikation erlaubte: Hilfe, ich bin in den Händen eines Doktors!

Er setzte sich abrupt auf.

»Wenn du mich anrührst, verpasse ich dir eine!«, rief er und versuchte, die Beine vom Tisch zu schwingen. Die Hälfte seines Kopfes ging in Flammen auf.

»An deiner Stelle würde ich es ruhig angehen lassen«, sagte der Doktor und drückte ihn sanft zurück. »Das war ein sehr scheußlicher Schnitt. Und rühr die Augenklappe nicht an!«

»Schnitt?«, wiederholte Mumm, und seine Finger berührten den dicken Stoff einer Augenklappe. Erinnerungen flackerten auf. »Carcer! Hat ihn jemand geschnappt?«

»Wer auch immer dich angegriffen hat – er ist entkommen«, sagte der Doktor.

»Nach dem Sturz?«, fragte Mumm. »Er dürfte zumindest gehinkt haben! Hör mal, ich muss…«

Und dann bemerkte er all die anderen Dinge. Er hatte sie nacheinander zur Kenntnis genommen, aber erst jetzt reichte ihm das Unterbewusstsein die komplette Liste.

Er trug seine Kleidung nicht mehr…

»Was ist mit meiner Uniform passiert?«, fragte er. Er bemerkte den Ich habe es ja gesagt-Blick, den die Frau dem Doktor zuwarf.

»Der Angreifer hat dich bis auf die Unterhose ausgezogen und dich auf der Straße liegen gelassen«, sagte sie. »Ich habe einige passende Sachen bei mir gefunden. Es ist erstaunlich, was die Leute alles zurücklassen.«

»Wer hat meine Rüstung genommen?«

»Namen kenne ich nicht«, sagte die Frau. »Ich sah einige Männer, die mit irgendwelchen Dingen davonliefen.«

»Gewöhnliche Diebe? Haben sie keine Quittung hinterlassen?«

»Nein!« Die Frau lachte. »Warum sollten sie?«

»Dürfen wir irgendwelche Fragen stellen?«, ließ sich der Doktor vernehmen, während er seine Instrumente reinigte.

Dies war nicht richtig…

»Nun, ich meine… danke, ja«, sagte Mumm.

»Wie heißt du?«

Mumms Hand verharrte auf halbem Weg zum Gesicht. »Soll das heißen, du kennst mich nicht?«

»Sollten wir dich kennen?«, fragte der Doktor.

Dies war nicht richtig

»Wir sind hier doch in Ankh-Morpork, oder?«, vergewisserte sich Mumm.

»Äh, ja.« Der Doktor wandte sich an die Frau. »Er hat einen Schlag an den Kopf bekommen, aber ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm ist.«

»Ich vergeude meine Zeit«, sagte die Frau. »Wer bist du?«

Alle in der Stadt kannten Mumm. Bei der Gilde der Näherinnen war das zweifellos der Fall. Und der Doktor schien nicht dumm zu sein. Vielleicht war dies nicht der geeignete Zeitpunkt, um die Wahrheit zu sagen. Möglicherweise befand er sich hier an einem Ort, der für einen Polizisten ungesund sein konnte. Es mochte Gefahren mit sich bringen, Mumm zu sein.

»Keel«, sagte er. Der Name fiel ihm einfach so ein. Den ganzen Tag über, seit der Fliederblüte, hatte er dicht unter der Oberfläche seines Denkens gewartet.

»Ja, gut«, sagte die Frau und lächelte. »Möchtest du dir auch einen Vornamen einfallen lassen?«

»John«, sagte Mumm.

»Sehr originell. Nun… John, es ist keine Seltenheit, dass hier halbnackte Männer in den Straßen liegen. Und komischerweise möchten sie nicht ihren wahren Namen oder ihren Wohnort nennen. Du bist nicht der Erste, den Dr. Rasen hier zusammengeflickt hat. Ich bin Rosie. Und jetzt ist eine kleine Gebühr fällig, verstehst du? Für uns beide.«

»Schon gut, ich weiß, wie das läuft«, sagte Mumm und hob die Hände. »Dies sind die Schatten, stimmt’s?« Beide nickten. »Na gut. Danke. Ich habe natürlich kein Geld dabei, aber wenn ich nach Hause komme…«

»Ich begleite dich.« Die Frau reichte ihm einen längst aus der Mode geratenen Mantel und ein Paar uralte Stiefel. »Ich möchte nicht, dass du unterwegs Probleme bekommst, zum Beispiel durch einen plötzlichen Gedächtnisschwund.«

Mumm nickte, aber vorsichtig. Sein Gesicht schmerzte, und er fühlte sich überall wund, und er trug Sachen, die nach einem Abort stanken. Er wollte zum Wachhaus zurück, sich dort waschen, umziehen und einen kurzen Bericht schreiben, bevor er heimkehrte. Diese junge Dame konnte eine Nacht in der Zelle verbringen und am nächsten Tag der Näherinnengilde übergeben werden. Dort hielt man nichts von Geldschneiderei dieser Art. So etwas war schlecht fürs Geschäft.

»Na schön«, sagte er und zog die Stiefel an. Sie waren zu eng, und die Sohlen bestanden aus dünner, feuchter Pappe.

Dr. Rasen winkte vage und schien seinen Patienten damit zu entlassen. »Er gehört dir, Rosie. Trag die Klappe einige Tage, Herr Keel. Mit ein wenig Glück ist das Auge danach in Ordnung. Jemand hat mit einem sehr scharfen Messer zugestoßen. Ich habe mir alle Mühe gegeben, und die Naht ist gut, aber es wird eine scheußliche Narbe zurückbleiben.«

Erneut hob Mumm die Hand und tastete nach der Augenklappe.

»Und rühr das Ding nicht an!«, sagte Rasen scharf.

»Komm jetzt… John«, sagte Rosie. »Bringen wir dich nach Hause.«

Sie trat nach draußen. Wasser tropfte von den Dachvorsprüngen, aber der Regen hatte nachgelassen.

»Ich wohne auf der anderen Seite des Pseudopolisplatzes«, sagte Mumm.

»Geh voraus«, sagte Rosie.

Sie hatten noch nicht das Ende der Straße erreicht, als Mumm zwei dunkle Gestalten bemerkte, die ihnen folgten. Er wollte sich umdrehen, aber Rosie schloss die Hand um seinen Arm und hinderte ihn daran.

»Lass sie in Frieden, und sie lassen dich in Frieden«, sagte sie. »Sie begleiten uns nur zum Schutz.«

»Zu meinem oder deinem Schutz?«

Rosie lachte. »Zu unser beider.«

»Ja, geh nur weiter, werter Herr, und wir sind so leise wie kleine Mäuse«, ertönte eine schrille Stimme hinter ihnen. Eine etwas tiefere Stimme fügte hinzu: »Ja, Schätzchen. Sei ein braver Junge, dann kann Tante Dutzie darauf verzichten, ihre Handtasche zu öffnen.«

»Das sind Dutzie und Putzie!«, entfuhr es Mumm. »Die Schmerzlichen Schwestern! Sie wissen genau, wer ich bin!« Er drehte sich um.

Die dunklen Gestalten – beide trugen altmodische Strohhüte – wichen zurück. In der Düsternis erklangen einige metallische Geräusche, und Mumm versuchte, sich ein wenig zu entspannen. Zwar standen die Schmerzlichen Schwestern mehr oder weniger auf der gleichen Seite wie die Wache, aber man wusste nie genau, woran man mit ihnen war. Genau das machte sie so nützlich. Jeder Freier, der in einem der Freudenhäuser den Frieden störte, fürchtete die Schwestern weit mehr als die Wache. Die Wache hatte Regeln. Und die Wache hatte nicht Dutzies Handtasche. Und Putzie konnte mit ihrem Papageien-Regenschirm schreckliche Dinge anrichten.

»Ich bitte euch«, sagte Mumm. »Dutzie? Putzie? Macht keinen Unsinn.«

Etwas berührte ihn an der Brust. Er senkte den Kopf und sah einen Regenschirm, an dessen Spitze ein Papagei aus Holz steckte. »Geh weiter, werter Herr«, sagte eine Stimme.

»Solange du noch Zehen hast, Schätzchen«, fügte eine andere Stimme hinzu.

»Ist wahrscheinlich eine gute Idee«, sagte Rosie und zog an Mumms Arm. »Aber ich weiß, dass du sie beeindruckt hast.«

»Woher weißt du das?«

»Du liegst nicht zusammengekrümmt am Boden und gibst blubbernde Geräusche von dir. Komm jetzt, geheimnisvoller Mann.«

Mumm blickte nach vorn und hielt nach dem blauen Licht der Wache vom Pseudopolisplatz Ausschau. Es würde nicht mehr lange dauern, bis alles einen Sinn ergab.

Aber als er die Wache erreichte, sah er kein blaues Leuchten über dem Eingang. Oben hinter den Fenstern brannte Licht.

Mumm hämmerte an die Tür, bis sie sich einen Spalt öffnete.

»Was in aller Welt geht hier vor?«, fragte er die Nase und das Auge – mehr war von dem Mann hinter der Tür nicht zu sehen. »Und geh mir aus dem Weg!«

Er stieß die Tür auf und trat ein.

Es war nicht das Wachhaus, zumindest nicht hier drin. Er sah die vertraute Treppe, aber eine Wand teilte das Haftzimmer, und Teppiche lagen auf dem Boden, und Gobelins hingen an den Wänden… Und ein Hausmädchen hielt ein Tablett und starrte, ließ das Tablett fallen und schrie…

»Wo sind meine Leute!«, rief Mumm.

»Du gehst auf der Stelle, hast du gehört? Du kannst nicht einfach so hereinplatzen! Hinaus mit dir!«

Mumm drehte sich zu dem Alten um, der die Tür geöffnet hatte. Er sah wie ein Butler aus und hielt einen Knüppel in der Hand. Vielleicht war Nervosität der Grund oder einfach nur das Alter: Das Ende des Knüppels zitterte unter Mumms Nase. Er griff nach dem Ding und warf es zu Boden.

»Was ist hier los?«, fragte er. Der Alte schien ebenso verwirrt zu sein wie er selbst.

Ein seltsamer, hohler Schrecken regte sich in Mumm. Durch die offene Tür eilte er zurück nach draußen in die feuchte Nacht. Rosie und die Tanten waren mit der Dunkelheit verschmolzen, typisch für Geschöpfe der Nacht, die Schwierigkeiten witterten. Mumm lief zur Königsstraße, stieß andere Fußgänger beiseite und wich gelegentlich einem Karren aus.

Er schöpfte neue Hoffnung, als er die Teekuchenstraße erreichte und sich der Zufahrt von Nummer Eins zuwandte. Zwar wusste er nicht, was er hier vorfinden würde, aber der Ort sah normal aus, und es brannten Fackeln zu beiden Seiten der Tür. Vertrauter Kies knirschte unter seinen Füßen.

Er wollte an die Tür klopfen, überlegte es sich dann aber anders und läutete.

Wenige Momente verstrichen, und dann öffnete ein Butler die Tür.

»Dem Himmel sei Dank!«, stieß Mumm hervor. »Ich bin’s. Hab einen Kampf hinter mir. Nichts, um das man sich Sorgen machen müsste. Wie geht es…«

»Was willst du?«, fragte der Butler kühl. Er trat einen Schritt zurück ins Licht der Flurlampen. Mumm hatte den Mann noch nie zuvor gesehen.

»Was ist mit Willikins passiert?«, fragte er.

»Mit dem Küchenjungen?« Die Stimme des Butlers war jetzt eisig. »Wenn du ein Verwandter bist, solltest du am Lieferanteneingang fragen. Du müsstest eigentlich wissen, dass es sich für dich nicht gehört, zum Haupteingang zu kommen.«

Mumm fragte sich, wie er dieses Problem lösen sollte, aber seine Faust zeigte weniger Geduld. Sie schickte den Mann zu Boden.

»Hab keine Zeit für so was«, sagte Mumm, stieg über den Butler hinweg und wölbte die Hände zu einem Trichter vor dem Mund.

»Frau Zufrieden? Sybil?«, rief er und fühlte, wie der Schrecken in ihm Knoten bildete.

»Ja?«, kam eine Stimme aus dem Zimmer, das Mumm immer »scheußlicher rosaroter Salon« genannt hatte. Sybil trat in den Flur. Es war Sybil. Die Stimme stimmte, und das galt auch für Augen und Haltung. Aber das Alter stimmte nicht. Dies war ein Mädchen, viel zu jung für Sybil…

Sie sah von Mumm zu dem Butler auf dem Boden. »Hast du Forsythe niedergeschlagen?«, fragte sie.

»Ich… äh… ich… es… es war ein Versehen«, stotterte Mumm und wich zurück. Sybil nahm ein Schwert von der Wand, das nicht allein der Zierde diente. Mumm wusste nicht, ob seine Frau jemals gelernt hatte, mit einer solchen Waffe umzugehen, aber eine rund einen Meter lange scharfe Klinge wirkt bedrohlich genug, wenn sie von einem zornigen Amateur geschwungen wird. Manchmal haben Amateure Glück.

Mumm wich hastig zurück. »Ein Versehen«, wiederholte er. »Das falsche Haus… eine Verwechslung…« Er stolperte fast über den am Boden liegenden Butler und verwandelte das Taumeln in einen Lauf, der ihn durch die Tür hinunterbrachte.

Nasse Blätter strichen über ihn hinweg, als er an den Sträuchern vorbei zum Tor wankte. Dort lehnte er sich an die Mauer und schnappte nach Luft.

Die verdammte Bibliothek! Hatte er nicht schon einmal gehört, dass man dort durch die Zeit gehen konnte? All die vielen magischen Bücher zusammengepresst… Das ergab Seltsames.

Sybil war so jung gewesen. Sie hatte wie sechzehn ausgesehen! Kein Wunder, dass es am Pseudopolisplatz kein Wachhaus gab! Es war erst vor einigen Jahren eingerichtet worden!

Regenwasser durchdrang die billige Kleidung. Zu Hause… irgendwo… wartete ein großer Ledermantel auf ihn, gut geölt, herrlich warm…

Denk nach, denk nach! Gib dich nicht dem Schrecken hin…

Sollte er versuchen, mit Sybil zu reden und ihr alles zu erklären? Immerhin war sie Sybil. Nett zu durchnässten Geschöpfen. Doch selbst ein besonders weiches Herz mochte sich erhärten, wenn ein grober, verzweifelter Mann mit einer frischen Narbe und Kleidung hereinplatzte und behauptete, der zukünftige Gemahl zu sein. Eine junge Frau konnte so etwas falsch verstehen, und das wollte er vermeiden, solange sie ein Schwert in der Hand hielt. Außerdem lebte Lord Käsedick vermutlich noch, und er war ein blutrünstiger alter Teufel gewesen, soweit Mumm wusste.

Er sackte an der Mauer in sich zusammen und griff in die Tasche, um eine Zigarre hervorzuholen. Erneut zitterte das Entsetzen in ihm.

Die Tasche enthielt nichts. Überhaupt nichts. Weder Schnaufkrauts Dünne Panatellas noch ein Etui…

Das Etui war eine Sonderanfertigung für ihn gewesen. Es war leicht gewölbt und steckte in seiner Tasche, seit Sybil es ihm geschenkt hatte. Es war so sehr Teil von ihm, wie ein Ding Teil eines Menschen sein konnte.

»Wir sind hier, und dies ist jetzt.« Obergefreiter Besuch, ein strenger Gläubiger der omnianischen Religion, deklamierte manchmal dieses Zitat aus seinem heiligen Buch. In die weniger hochtrabende Polizistensprache übersetzt bedeutete es Mumms Meinung nach: Kümmere dich um das, was du vor dir siehst.

Ich bin hier, dachte Mumm. Und dies ist jetzt. Weniger bewusste Teile seines Gehirns fügten hinzu: Hier hast du keine Freunde. Kein Zuhause. Keine Aufgabe. Hier bist du allein.

Nein, nicht allein, sagte ein Teil, der noch viel tiefer in ihm steckte als der Schrecken und immer Wache hielt.

Jemand beobachtete ihn.

Eine Gestalt löste sich aus den feuchten Schatten der Straße und näherte sich. Das Gesicht konnte Mumm nicht erkennen, aber das war auch gar nicht nötig. Er wusste, dass es das spezielle Lächeln eines Raubtiers lächelte, das sein Opfer unter der Pranke weiß und außerdem weiß, dass auch das Opfer darüber Bescheid weiß, ein Opfer, das verzweifelt versuchen wird, sich so zu verhalten, als führten sie ein ganz normales, freundliches Gespräch, denn es wünscht sich nichts sehnlicher als das…

Du möchtest hier nicht sterben, sagte der tiefe, dunkle Teil von Mumms Seele.

»Hast du ein Streichholz?«, fragte das Raubtier. Es machte sich nicht einmal die Mühe, eine Zigarette zu zeigen.

»Oh, natürlich«, sagte Mumm. Er gab vor, auf seine Taschen klopfen zu wollen, doch stattdessen wirbelte er herum, streckte den Arm aus und traf den heranschleichenden Mann am Ohr. Anschließend sprang er dem Streichholzsucher entgegen, schlang ihm den Arm um die Kehle und riss ihn von den Beinen.

Es hätte geklappt. Später wusste er, dass es wirklich geklappt hätte. Ja, es hätte geklappt, wenn nicht die beiden anderen Halunken gewesen wären. Einem von ihnen trat er gegen die Kniescheibe, bevor sich die Garotte um seinen Hals schloss.

Man zog ihn hoch, und die Narbe heulte Schmerz, als er den Strick zu lockern versuchte.

»Halt ihn fest«, sagte eine Stimme. »Seht euch nur an, was er mit Jez gemacht hat. Verdammt! Ich trete ihm in die…«

Die Schatten bewegten sich. Mumm rang nach Luft, und sein linkes Auge tränte. Er bekam nur halb mit, was geschah. Jemand ächzte, und einige sehr seltsame Geräusche erklangen, und dann ließ der Druck an seinem Hals plötzlich nach.

Er sank nach vorn, keuchte und kam mühsam auf die Beine. Zwei Männer lagen auf dem Boden. Einer von ihnen krümmte sich und blubberte leise. In der Ferne, und die Entfernung wuchs schnell, rannte jemand.

»Zum Glück haben wir dich noch rechtzeitig gefunden«, sagte eine Stimme direkt hinter Mumm.

»Für einige andere war es kein Glück, Schätzchen«, sagte eine Stimme direkt daneben.

Rosie trat vor und löste sich aus den Schatten. »Du solltest besser mit uns zurückkehren. Wenn du weiter so herumläufst, stößt dir früher oder später etwas zu. Komm. Natürlich bringe ich dich nicht zu mir…«

»Natürlich nicht«, murmelte Mumm.

»Aber ich schätze, Moosig kann einen Platz für dich finden.«

»Moosig Rasen!«, entfuhr es Mumm. Ihm wurde plötzlich schwindelig. »Das ist er! Der Doktor! Ich erinnere mich!« Er versuchte, den Blick des einen müden Auges auf die junge Frau zu richten. Ja, die Knochenstruktur war richtig. Das Kinn… Mit einem solchen Kinn war nicht zu spaßen. Ein solches Kinn setzte sich durch. »Rosie… Du bist Frau Palm!«

»Fräulein Palm«, erwiderte sie kühl, während die Schmerzlichen Schwestern schrill kicherten.

»Nun, ich meine…« Mumm unterbrach sich. Nur den älteren Damen ihres Gewerbes gebührte der Ehrentitel »Frau«. Diese Rosie war noch zu jung…

»Ich habe dich nie zuvor gesehen«, sagte Rosie. »Ebenso wenig wie Dutzie und Putzie, und sie haben ein erstaunlich gutes Gedächtnis für Gesichter. Aber du benimmst dich wie der Herr im Haus, John Keel.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Es liegt an der Art, wie du stehst. Offiziere stehen so. Du isst gut. Vielleicht ein wenig zu gut. Es wäre nicht schlecht für dich, ein paar Pfund zu verlieren. Und du hast überall Narben. Ich habe sie bei Moosig gesehen. Deine Beine sind von den Knien abwärts gebräunt, was auf ›Wächter‹ hindeutet, denn die sind mit bloßen Beinen unterwegs. Aber ich kenne jeden Wächter in der Stadt, und du gehörst nicht zu ihnen. Vielleicht bist du beim Militär. Du kämpfst instinktiv und wirst dabei ziemlich gemein. Das bedeutet, du bist daran gewöhnt, in einem Handgemenge um dein Leben zu kämpfen, und das ist seltsam, denn es bedeutet ›Fußsoldat‹, nicht ›Offizier‹. Es heißt, man hätte dir eine gute Rüstung abgenommen, und auch das weist auf einen Offizier hin. Aber du trägst keine Ringe, und das heißt wieder Fußsoldat – Ringe bleiben an Dingen hängen, und auf diese Weise kann man einen Finger verlieren. Und du bist verheiratet.«

»Woher weißt du das

»Das kann jede Frau feststellen«, sagte Rosie Palm glatt. »Und nun… pass gut auf. Wir sind nach dem Abendläuten draußen, und das ist verboten. Um uns kümmert sich die Wache nicht, aber bei dir sähe die Sache vermutlich anders aus.«

Abendläuten, dachte Mumm. Ausgangssperre. Das lag viele Jahre zurück. Vetinari hatte nie eine Ausgangssperre verhängt. So etwas war schlecht fürs Geschäft.

»Ich glaube, ich habe das Gedächtnis verloren, als man mich überfallen hat«, sagte er. Das klang gut, fand Mumm. Er brauchte jetzt vor allem einen ruhigen Ort, an dem er nachdenken konnte.

»Ach? Und ich glaube, ich bin die Königin von Herscheba«, erwiderte Rosie. »Du solltest Folgendes nicht vergessen, werter Herr: Ich helfe dir nicht, weil ich an dir interessiert bin, obgleich sich eine gewisse makabre Faszination mit der Frage verbindet, wie lange du wohl am Leben bleibst. Wäre es nicht eine kalte, nasse Nacht gewesen, hätte ich dich auf der Straße liegen lassen. Ich bin eine hart arbeitende junge Frau und möchte nicht in Schwierigkeiten geraten. Aber du siehst aus wie ein Mann, der sich einige Dollar besorgen kann, und ich werde eine Rechnung stellen.«

»Ich lasse das Geld auf der Frisierkommode zurück«, sagte Mumm.

Der Schlag ins Gesicht stieß ihn gegen die Mauer.

»Nimm das als Hinweis darauf, dass ich überhaupt keinen Sinn für Humor habe«, sagte Rosie und schüttelte Leben in ihre Hand zurück.

»Äh… entschuldige bitte«, brachte Mumm hervor, »ich wollte nicht… Ich meine… Danke für alles. Im Ernst. Aber dies ist keine gute Nacht.«

»Das sehe ich.«

»Sie ist schlimmer, als du vermutest. Glaub mir.«

»Wir alle haben unsere Probleme. Glaub mir«, sagte Rosie.

Mumm war froh, dass ihnen die Schmerzlichen Schwestern folgten, als sie in die Schatten zurückkehrten. Dies waren die alten Schatten, und Rasen wohnte nur eine Straßenbreite davon entfernt. Die Wache kam nie hierher. Die neuen Schatten waren nicht viel besser als die alten, aber die Leute hatten wenigstens gelernt, was passierte, wenn man einen Wächter angriff. Bei den Schmerzlichen Schwestern sah die Sache anders aus. Niemand griff die Schwestern an.

Ich sollte schlafen, dachte Mumm. Vielleicht ist dies alles nicht geschehen, wenn ich morgen früh erwache.

»Sie war nicht da, oder?«, fragte Rosie nach einer Weile. »Deine Frau? Das war Lord Käsedicks Haus. Hast du Ärger mit ihm?«

»Bin dem Mann nie begegnet«, erwiderte Mumm geistesabwesend.

»Du kannst von Glück sagen, dass uns jemand gesagt hat, wohin du gelaufen bist. Diese Männer… Wahrscheinlich arbeiten sie für irgendein hohes Tier. Drüben in Ankh nehmen sie das Gesetz selbst in die Hand. Ein verdächtiger Mann, der sich dort herumtreibt, wo er nichts verloren hat… Man muss sicherstellen, dass er nichts anstellen kann, und wenn man ihn dabei ausraubt – wen kümmert’s?«

Ja, dachte Mumm. So war das eben. Privileg. Privates Recht. Zwei Arten von Personen lachen über das Gesetz: diejenigen, die es brechen, und die anderen, die es schaffen. Nun, heute ist das nicht mehr so .

Aber ich bin hier nicht im Heute. Verdammte Zauberer…

Die Zauberer. Natürlich! Morgen statte ich ihnen einen Besuch ab und erkläre alles. Ganz einfach! Sie verstehen bestimmt. Sicher können sie mich dorthin zurückschicken, woher ich gekommen bin! Es gibt eine ganze Universität voller Leute, die sich um diese Angelegenheit kümmern können! Es ist überhaupt nicht mehr mein Problem!

Erleichterung füllte seinen Leib mit einem warmen, rosaroten Nebel. Er brauchte nur die Nacht hinter sich zu bringen…

Aber warum warten? Die Zauberer hatten rund um die Uhr geöffnet. Magie machte nicht einfach zu. Mumm erinnerte sich an Streifengänge spät in der Nacht, an das Licht, das er dabei hinter einigen Universitätsfenstern gesehen hatte. Er konnte einfach…

Moment. Der Gedanke eines Polizisten ging ihm durch den Kopf. Die Schwestern liefen nicht. Dafür waren sie berühmt. Sie schlossen ganz langsam zu einem auf. Alle »ungezogenen Jungen«, wie sie es nannten, schliefen extrem schlecht, weil sie wussten: Die Schwestern kamen langsam näher, hielten nur inne, um irgendwo Tee zu trinken oder einen interessanten Wohltätigkeitsbasar zu besuchen. Aber Mumm war gelaufen, den ganzen Weg bis zur Teekuchenstraße, im Dunkeln, vorbei an Karren und vielen Leuten, die vor dem Abendläuten heimkehren wollten. Niemand hatte auf ihn geachtet, und selbst wenn man ihm Aufmerksamkeit geschenkt hätte… Ich kenne hier niemanden, dachte er und korrigierte den Gedanken sofort: Niemand kennt mich.

»Wer hat dir gesagt, wohin ich gelaufen bin?«, fragte er wie beiläufig.

»Oh, einer der alten Mönche«, sagte Rosie.

»Welche alten Mönche?«

»Wer weiß das schon? Ein kleiner, kahlköpfiger Mann mit Umhang und Besen. Es gibt immer irgendwelche Mönche, die irgendwo singen und betteln. Ich bin ihm in der Fleißigen Straße begegnet.«

»Und du hast ihn nach mir gefragt?«

»Was? Nein. Er drehte sich einfach zu mir um und sagte: ›Herr Keel ist zur Teekuchenstraße gelaufen.‹ Und dann fegte er weiter.«

»Er fegte?«

»Ja. Fegen ist heilig für sie. Ich glaube, sie wollen vermeiden, auf Ameisen zu treten. Oder sie fegen ihre Sünden fort. Oder sie mögen es einfach nur sauber. Spielt es irgendeine Rolle, was Mönche tun?«

»Und dir erschien überhaupt nichts seltsam daran?«

»Warum denn? Ich dachte, du bist vielleicht von Natur aus freundlich zu Bettlern!«, erwiderte Rosie scharf. »Mir war es völlig gleich. Wie dem auch sei: Ich glaube, Dutzie hat dem Mönch etwas in den Napf gelegt.«

»Was?«

»Würdest du sie danach fragen?«

Die Mehrheit von Mumm dachte: Spielt es irgendeine Rolle, was Mönche tun? Vielleicht hatte einer von ihnen eine Offenbarung, sie mögen so etwas. Na und? Geh zu den Zauberern, erkläre alles, und überlass es ihnen, das Problem zu lösen.

Doch der Polizist in Mumm dachte: Woher wissen irgendwelche kleinen Mönche, dass ich Keel heiße? Da stimmt doch was nicht. Ich rieche den Braten…

Die Mehrheit sagte: Es ist ein dreißig Jahre alter Braten. Und der Polizist sagte: Ja. Deshalb riecht er ja.

»Hör mal, ich muss los und was überprüfen«, sagte er. »Ich… Wahrscheinlich komme ich zurück.«

»Nun, ich kann dich nicht an die Kette legen«, entgegnete Rosie. Sie lächelte grimmig. »Das kostet extra. Aber wenn du nicht zurückkehrst und mit dem Gedanken spielst, in dieser Stadt zu bleiben, so werden die Schmerzlichen Schwestern…«

»Ich verspreche dir, dass mir absolut nichts daran liegt, Ankh-Morpork zu verlassen«, sagte Mumm.

»Das klang wirklich überzeugend«, meinte Rosie. »Also geh. Inzwischen ist Sperrstunde, aber warum glaube ich, dass du dich nicht darum scherst?«

Als er im Dunkeln verschwand, trat Dutzie zu Rosie. »Möchtest du, dass wir ihm folgen, Schätzchen?«

»Lass nur.«

»Du hättest Putzie erlauben sollen, ihm einen kleinen Stoß zu geben, Schätzchen. Das macht die Männer langsamer.«

»Ich glaube, bei diesem Mann wäre ein ziemlich harter Stoß notwendig, um ihn auch nur etwas langsamer zu machen. Und wir wollen keine Schwierigkeiten. Nicht ausgerechnet jetzt. Wir sind zu nahe.«

 

»Um diese Zeit solltest du nicht draußen sein, Freundchen.« Mumm drehte sich um. Er hatte gegen das geschlossene Tor der Universität gehämmert.

Drei Wächter standen hinter ihm. Einer von ihnen hielt eine Fackel und der zweite einen Bogen. Der dritte war ganz offensichtlich zu dem Schluss gelangt, dass auch schwere körperliche Arbeit zu den Aktivitäten dieser Nacht gehören würde.

Mumm hob langsam die Hände.

»Ich schätze, er möchte die Nacht in einer hübschen kalten Zelle verbringen«, sagte der Mann mit der Fackel.

Lieber Himmel, dachte Mumm. Der Wer-ist-der-beste-Komiker-Wettbewerb. Polizisten sollten sich nicht auf ein derartiges Niveau hinabbegeben, aber gelegentlich geschah so etwas.

»Ich wollte die Universität besuchen«, sagte er.

»Ach ja?«, erwiderte der Wächter ohne Fackel und Bogen. Er war wohlbeleibt, und Mumm bemerkte die fleckigen Streifen eines Feldwebels. »Wo wohnst du?«

»Nirgends«, sagte Mumm. »Ich bin gerade in der Stadt eingetroffen. Und können wir auch gleich den Rest hinter uns bringen? Ich habe keine Arbeit und auch kein Geld. Und weder das eine noch das andere ist ein Verbrechen.«

»Während der Sperrstunde unterwegs?«, fragte der Feldwebel. »So spät auf den Beinen?«

»Ich kann mich auch setzen, wenn dir das lieber ist«, sagte Mumm.

»Du wirst dich setzen müssen, nachdem wir dir die Beine gebrochen haben, har, har«, sagte einer der Wächter. Er verstummte, als Mumm ihn ansah.

»Ich möchte mich beschweren, Feldwebel«, sagte Mumm. »Worüber?«

»Über dich«, sagte Mumm. »Und über die Gebrüder Gegrinse hier. Ihr macht es einfach nicht richtig. Wenn man jemanden verhaften will, so darf man dabei keine Zeit verlieren. Du hast eine Dienstmarke und eine Waffe. Und er hält die Hände hoch und hat ein schlechtes Gewissen. Jeder hat ein schlechtes Gewissen. Er fragt sich, was du weißt und was du beabsichtigst, und deine Absicht sollte es sein, ihm sofort Fragen zu stellen, mit scharfer Stimme. Du reißt keine dummen Witze, denn das macht dich zu menschlich, und du lässt ihn nicht zur Ruhe kommen, damit er keinen klaren Gedanken fassen kann, und vor allem erlaubst du ihm nicht, sich so zu bewegen, deinen Arm zu packen und ihn hochzuziehen, sodass er fast bricht, und dein Schwert zu ergreifen und es dir so an die Kehle zu halten. Sag deinen Leuten, sie sollen ihre Schwerter sinken lassen. So wie sie damit winken… Sie könnten jemanden verletzen.«

Der Feldwebel ächzte.

»Na schön«, sagte Mumm. »Und noch etwas, Feldwebel… Dies soll ein Schwert sein? Schärfst du es gelegentlich? Oder verwendest du es wie eine Keule? So, ihr macht jetzt Folgendes: Ihr legt eure Waffen dort in die Ecke, und dann lasse ich den Feldwebel los und laufe durch die Gasse dort. Und wenn ihr eure Waffen wieder in der Hand haltet – und ich rate euch, mich nicht ohne Waffen zu verfolgen –, bin ich längst verschwunden. Ende des Problems. Irgendwelche Fragen?«

Die drei Wächter schwiegen. Dann hörte Mumm ein sehr leises und sehr nahes Geräusch. Es war das Rascheln der Haare in seinem Ohr, als sie von der Spitze eines Armbrustbolzens beiseite geschoben wurden.

»Ja, ich habe eine Frage«, erklang eine Stimme hinter Mumm. »Hörst du jemals auf deinen eigenen Rat?«

Mumm spürte den Druck der Armbrust an seinem Kopf und fragte sich, wie weit der Bolzen fliegen würde, wenn der Unbekannte den Auslöser durchzog. Zwei oder drei Zentimeter wären schon zu weit gewesen.

Manchmal blieb einem nichts anderes übrig. Mit übertriebener Vorsicht ließ er das Schwert fallen und den Feldwebel los, trat dann langsam zur Seite, während der vierte Wächter weiter auf ihn zielte.

»Ich bleibe hier einfach breitbeinig stehen, einverstanden?«, sagte er.

»Ja«, grollte der Feldwebel und drehte sich um. »Ja, dadurch sparen wir Zeit. Obwohl: Für dich haben wir die ganze Nacht Zeit. Gut gemacht, Obergefreiter. Es wird noch ein richtiger Wächter aus dir.«

»Ja, gut gemacht«, sagte Mumm und sah zu dem jungen Mann mit der Armbrust. Aber der Feldwebel nahm bereits Anlauf.

 

Einige Zeit später. Schmerz war aufgeflammt.

Mumm lag auf einem harten Zellenbett und versuchte, die Pein zu verscheuchen. Es war nicht so schlimm gewesen, wie es hätte kommen können. Die Wächter verstanden es nicht einmal, jemanden richtig durch die Mangel zu drehen. Sie wussten nicht, dass man jemanden mit Tritten und Schlägen rollen konnte, und die meiste Zeit über waren sie sich selbst im Weg gewesen.

Gefiel ihm dies? Der Schmerz gefiel ihm nicht. Darauf hätte er gern verzichtet. Einen solchen Schmerz konnte man nur ertragen, wenn man das Bewusstsein verlor, und genau das war geschehen. Aber es gab ein kleines Etwas in ihm, das sich manchmal bei einer schwierigen Verhaftung nach einer langen Verfolgungsjagd regte, ein Etwas, das selbst dann noch schlagen wollte, wenn die Schläge längst ihren Zweck erfüllt hatten. Freude ging damit einher. Mumm nannte es »das Tier«. Es blieb verborgen, bis man es brauchte, und dann, wenn man es brauchte, kam es zum Vorschein. Schmerz weckte es, und Furcht. Er hatte Werwölfe mit den bloßen Händen getötet, außer sich vor Zorn und Entsetzen, dabei tief in seinem Innern das Blut des Tiers geschmeckt… Und jetzt schnüffelte es.

»Hallo, Herr Mumm, haha. Ich habe mich schon gefragt, wann du erwachen würdest.«

Er setzte sich abrupt auf. Die Zellen waren nicht nur auf der Flurseite vergittert. Auch zwischen ihnen gab es Gitter – wer darin saß, sollte keinen Zweifel daran haben, in einem Käfig zu stecken. Und in der nächsten Zelle, die Hände hinterm Kopf gefaltet, lag Carcer.

»Na los«, sagte Carcer. »Streck die Hände durchs Gitter und versuch, mich zu ergreifen. Möchtest du herausfinden, wie lange es dauert, bis die Wächter hier sind?«

»Wenigstens haben sie dich ebenfalls erwischt«, erwiderte Mumm.

»Nicht für lange, nicht für lange. Ich bin ein Stehaufmännchen, haha. Besucher in der Stadt, hat sich verirrt und der Wache geholfen, tut mir Leid, euch Umstände gemacht zu haben, hier ist etwas für eure Mühe… Du hättest die Wächter nicht daran hindern sollen, sich bestechen zu lassen, Herr Mumm. Das macht das Leben aller Beteiligten viel leichter, haha.«

»Irgendwie kriege ich dich schon, Carcer.«

Carcer steckte sich einen Finger in die Nase, drehte ihn, zog ihn heraus, betrachtete das, was daran klebte, und schnippte es zur Decke hinauf.

»Tja, und genau an dieser Stelle wird’s ‘n bisschen schwierig, Herr Mumm. Weißt du, ich bin nicht von vier Wächtern hereingetragen worden. Ich habe keine Angehörigen der Wache angegriffen oder versucht, in die Universität einzubrechen…«

»Ich habe an die Tür geklopft!«

»Ich glaube dir, Herr Mumm. Aber du weißt ja, wie Polizisten sind. Man sieht sie schief an, und sofort behaupten sie, man hätte gegen alle Gesetze verstoßen, die jemals erlassen wurden. Abscheulich, was sie einem ehrlichen Mann anhängen können, haha.«

Mumm wusste darüber Bescheid. »Du hast also Geld«, sagte er.

»Natürlich, Herr Mumm. Ich bin ein Gauner. Und weißt du was? Es ist noch einfacher, ein Gauner zu sein, wenn niemand weiß, dass man ein Gauner ist, haha. Aber wenn man ein Polizist sein will, müssen die Leute daran glauben, dass man ein Polizist ist. Dumme Sache, was? Du weißt doch, dass wir in der Vergangenheit sind, oder?«

»Ja, so scheint es«, erwiderte Mumm. Es gefiel ihm nicht, mit Carcer zu reden, aber derzeit gab es keine anderen Gesprächspartner.

»Wo bist du gelandet, wenn ich fragen darf?«

»In den Schatten.«

»Ich auch. Zwei Burschen kamen und wollten mich ausrauben. Mich! Kannst du dir das vorstellen, Herr Mumm? Aber sie hatten Geld dabei, und deshalb kann ich mich eigentlich nicht beschweren. Ja, ich glaube, hier wird’s mir gefallen. Ah, da kommt einer unserer tapferen Jungs…«

Ein Wächter schritt durch den Flur und schwang einen Schlüsselbund. Er war schon etwas älter, und Mumm kannte den Typ: Solche Polizisten bekamen die Arbeit, bei der das Schwingen von Schlüsselbunden wahrscheinlicher ist als das von Schlagstöcken. Sein auffälligstes Merkmal war eine Nase, doppelt so breit und halb so lang wie eine gewöhnliche Nase. Er sah Mumm kurz an, ging dann weiter zu Carcers Zelle und schloss auf.

»Du«, sagte er. »Schwirr ab.«

»Ja, Herr, danke, Herr«, sagte Carcer, verließ die Zelle und deutete auf Mumm. »Nehmt euch bloß vor dem in Acht, Herr. Er ist ein Tier. Anständige Leute sollten nicht in der gleichen Zelle mit ihm eingesperrt sein, Herr.«

»Du sollst abschwirren.«

»Schwirre schon, Herr. Danke, Herr.« Carcer zwinkerte Mumm kurz zu und schwirrte ab.

Der Wärter wandte sich Mumm zu. »Und wie heißt du, hnah?«

»John Keel«, sagte Mumm.

»Tatsächlich?«

»Ja. Und ich bin bereits verprügelt worden, herzlichen Dank, einmal genügt. Ich möchte jetzt gehen.«

»Oh, du möchtest gehen, wie? Hnah! Du möchtest, dass ich dir diese Schlüssel gebe, hnah, und vielleicht auch noch fünf Cent aus der Armenkasse, hnah, für deine Mühe, wie?«

Der Mann stand sehr dicht vor dem Gitter und grinste wie jemand, der sich irrtümlicherweise für intelligent hält. Wenn Mumms Reflexe schneller waren – und daran zweifelte er nicht –, konnte er den alten Narren packen, ihn an die Gitterstäbe ziehen und seine Nase noch breiter machen. Für Psychopathen war wirklich alles einfacher.

»Die Freiheit würde genügen«, sagte er und widerstand der Versuchung.

»Du gehst nirgends hin, hnah, abgesehen von einem Besuch beim Hauptmann«, sagte der Wärter.

»Du meinst Hauptmann Tilden?«, fragte Mumm. »Das stimmt doch, oder? Raucht wie ein Schlot? Hat ein Messingohr und ein Holzbein?«

»Ja, und er kann dich erschießen lassen, hnah, wie passt dir das in den Kram?«

Auf dem voll gepackten Schreibtisch von Mumms Gedächtnis kam das Kaffeedeckchen der Erinnerung unter der Teetasse des Vergessens zum Vorschein.

»Du bist Schnauzi«, sagte er. »Habe ich Recht? Irgendein Bursche brach dir die Nase, und sie ist nicht ordentlich gerichtet worden! Und dir tränen dauernd die Augen – deshalb hat man dich unbefristet für den Zellendienst eingeteilt…«

»Kenne ich dich?«, fragte Schnauzi und sah Mumm aus misstrauisch blickenden, tränenden Augen an.

»Mich? Nein!«, erwiderte Mumm schnell. »Ich habe Leute über dich reden gehört. Kümmert sich praktisch um alles im Wachhaus, heißt es. Ein sehr gerechter Mann, sagen die Leute. Streng, aber gerecht. Spuckt nie in den Brei, pinkelt nie in den Tee. Und bringt nie etwas durcheinander.«

Die sichtbaren Teile von Schnauzis Gesicht verzogen sich zur verärgerten Grimasse eines Mannes, der nicht mehr ganz mitkommt.

»Ach, ja?«, brachte er hervor. »Nun, hnah, ich halte die Zellen immer sauber, das stimmt.« Die Entwicklung der Dinge schien ihn zu verwirren, aber es gelang ihm erneut, eine finstere Miene aufzusetzen. »Du bleibst hier, Freundchen, und ich sage dem Hauptmann, dass du wach bist.«

Mumm legte sich wieder hin und betrachtete orthographisch falsche und anatomisch gewagte Graffiti an der Decke. Von oben kam eine laute Stimme, und gelegentlich erklang ein aufdringliches »Hnah!« von Schnauzi.

Dann hörte er die Schritte des Wärters auf der Treppe.

»Na so was«, sagte er im Tonfall von jemandem, der sich darauf freut, dass eine dritte Partei bekommt, was sie verdient. »Zufälligerweise sollst du sofort zum Hauptmann kommen. Lässt du dich von mir fesseln, hnah, oder soll ich die anderen Jungs rufen?«

Mögen die Götter dir beistehen, dachte Mumm. Vielleicht hatte der Schlag, durch den Schnauzis Nase zu einem breiten Fladen geworden war, ihm irgendwie das Gehirn zermanscht. Man musste schon ein ganz besonderer Idiot sein, um zu versuchen, einen gefährlichen Gefangenen ganz allein zu fesseln. Wenn er das bei Carcer versucht hätte, wäre er seit fünf Minuten ein toter Idiot.

Der Wärter öffnete die Tür. Mumm stand auf und streckte die Hände aus. Schnauzi zögerte kurz, bevor er ihm die Schellen anlegte. Es zahlte sich immer aus, zu einem Wärter höflich zu sein – vielleicht wurden einem dadurch die Hände nicht auf den Rücken gebunden. Ein Mann mit beiden Händen vor sich genoss ziemlich viel Freiheit.

»Du gehst vor mir die Treppe hoch«, sagte Schnauzi und hob eine recht gefährlich aussehende Armbrust. »Wenn du auch nur versuchst, schnell zu gehen, hnah, trifft dich der Bolzen dort, wo er einen langsamen Tod bewirkt.«

»Streng, aber gerecht«, sagte Mumm. »Streng, aber gerecht.«

Langsam stieg er die Treppe hinauf und hörte Schnauzis schnaufenden Atem hinter sich. Wie viele Leute mit einem begrenzten intellektuellen Horizont nahm Schnauzi das, was er konnte, sehr ernst. So hätte er zum Beispiel einen erfrischenden Mangel an Skrupel gezeigt, von seiner Waffe Gebrauch zu machen.

Mumm erreichte das obere Ende der Treppe und erinnerte sich daran, stehen zu bleiben.

»Hnah, nach links«, sagte Schnauzi hinter ihm. Mumm nickte sich selbst zu. Und dann die erste Tür rechts. Die Erinnerungen kehrten zurück, in einer großen Welle. Dies war die Sirupminenstraße. Das erste Wachhaus. Hier hatte alles begonnen.

Die Tür des Hauptmanns stand offen. Der müde wirkende Alte hinter dem Schreibtisch sah auf.

»Setz dich«, sagte Tilden kühl. »Danke, Schnauzi.«

Mumms Erinnerungen an Hauptmann Tilden waren gemischter Natur. Er hatte zum Militär gehört, bevor er diesen Job als eine Art Pension bekam, und das war eine üble Sache für einen hochrangigen Polizisten. Es bedeutete, dass er sich an die Obrigkeit wandte, Befehle von ihr entgegennahm und ihr gehorchte. Mumm hingegen hielt es für besser, die Befehle der Obrigkeit entgegenzunehmen, sie dann durch ein feines Netz der Vernunft zu filtern und eine großzügige Portion kreativen Missverständnisses beizugeben, vielleicht auch noch beginnende Taubheit. Die Obrigkeit begab sich schließlich nur selten auf das Niveau der Straße herab. Tilden legte zu großen Wert auf polierte Brustharnische und zackige Paraden. Auch davon brauchte man etwas, zugegeben. Man durfte nicht zulassen, dass die Leute herumgammelten. Aber obwohl Mumm es nie laut gesagt hätte: Es gefiel ihm, hier und dort einen zerbeulten Brustharnisch zu sehen. Es bedeutete nämlich, dass jemand die Beulen hineingeschlagen hatte. Und wenn man in den Schatten lauerte, wollte man bestimmt nicht glänzen…

An der einen Wand hing die Fahne von Ankh-Morpork, ihr Rot zu einem vagen Orange verblichen. Angeblich salutierte Tilden jeden Morgen vor ihr. Auf dem Schreibtisch stand ein ziemlich großes Tintenfass, verziert mit einem goldenen Regimentswappen. Schnauzi putzte es jeden Morgen auf Hochglanz. Tilden hatte das Militär nie ganz verlassen.

Doch Mumm brachte dem Alten auch Verständnis entgegen. Er war ein erfolgreicher Soldat gewesen, soweit man das sagen konnte. Meistens hatte er auf der Seite des Siegers gestanden. Mit guter, wenn auch langweiliger Taktik hatte er mehr Feinde getötet als eigene Männer durch eine aufregende, aber schlechte Taktik. Er war auf seine eigene Art und Weise freundlich und einigermaßen gerecht gewesen. Die Männer der Wache hatten Kreise um ihn gebildet, ohne dass er etwas davon bemerkte.

Tilden bedachte Mumm mit dem Langen-Blick-in-Verbindung-mit-Papierkram. Er sollte folgende Botschaft vermitteln: Wir wissen alles über dich, und deshalb solltest du uns alles über dich erzählen. Aber er war nicht besonders gut darin.

Mumm erwiderte den Blick ungerührt.

»Wie lautet dein Name?«, fragte Tilden, als er begriff, dass Mumm der bessere Starrer war.

»Keel«, sagte Mumm. »John Keel.« Und… Ach, zum Henker… »Hör mal, du hast da nur ein Stück Papier, das irgendetwas bedeutet, und zwar den Bericht des Feldwebels, wenn er überhaupt schreiben kann.«

»Ich habe hier zwei Dokumente, um ganz genau zu sein«, sagte der Hauptmann. »Das zweite betrifft den Tod von John Keel. Nun?«

»Für eine Prügelei mit der Wache?«

»Angesichts der derzeitigen angespannten Lage wäre das genug für die Todesstrafe«, sagte Tilden und beugte sich vor. »Aber, ha, vielleicht ist das in diesem Fall gar nicht notwendig, weil John Keel gestern gestorben ist. Du hast ihn zusammengeschlagen und ausgeraubt, nichwahr? Du hast sein Geld genommen, dich aber nicht um die Briefe geschert, weil Leute wie du nicht lesen können, nichwahr? Deshalb weißt du nicht, dass John Keel ein Polizist war.«

»Was?«

Mumm starrte in das faltige Gesicht mit dem triumphierenden Schnurrbart und den kleinen, trüben blauen Augen.

Und plötzlich drang das Geräusch fleißigen Fegens aus dem Flur. Der Hauptmann sah an Mumm vorbei, knurrte und warf einen Stift.

»Der Kerl soll verschwinden!«, rief er. »Was hat er um diese Zeit in der Nacht hier zu suchen?«

Mumm drehte den Kopf. Ein dürrer, verhutzelt wirkender, bärtiger Mann stand in der Tür, kahlköpfig wie ein Baby. Er lächelte dumm und hielt einen Besen.

»Er kostet nicht viel, Herr, hnah, und er macht hier am besten sauber, wenn’s ruhig ist, hnah«, murmelte Schnauzi und griff nach dem stockdünnen Ellenbogen des kleinen Mannes. »Komm, Herr Luhtzeh…«

Die Armbrust zielte nicht mehr auf Mumm. Und er hatte mehrere Pfund Metall an den Händen, oder um es anders auszudrücken: Seine Arme waren ein Hammer. Er stand auf…

 

Mumm erwachte und blickte an die Decke. Irgendwo in der Nähe brummte es dumpf. Eine Tretmühle? Eine Wassermühle?

Es war eine abgedroschene Frage, aber über manche Dinge musste man Bescheid wissen.

»Wo bin ich?«, fragte er. Nach kurzem Zögern fügte er hinzu:

»Diesmal?«

»Bravo«, antwortete eine Stimme hinter ihm. »Vom Erwachen zum Sarkasmus in nur fünf Sekunden!«

Das Gefühl der Luft deutete auf einen großen Raum hin, und über die Wände huschendes Licht verriet, dass irgendwo hinter Mumm Kerzen brannten.

»Es wäre mir recht, wenn du mich für einen Freund hieltest«, sagte die Stimme.

»Für einen Freund? Warum?«, erwiderte Mumm. Er roch Zigarettenrauch in der Luft.

»Jeder sollte einen Freund haben«, meinte die Stimme. »Ah, wie ich sehe, hast du gerade bemerkt, dass du noch immer Handschellen trägst…«

Das sagte die Stimme, weil Mumm ganz plötzlich aufgestanden und nach vorn gesprungen war…

Mumm erwachte und blickte an die Decke. Irgendwo in der Nähe brummte es dumpf. Eine Tretmühle? Eine Wassermühle? Dann verknoteten sich seine Gedanken auf höchst unangenehme Weise.

»Was ist gerade passiert?«, fragte er.

»Ich dachte mir, dass du das vielleicht noch einmal versuchst«, sagte der unsichtbare Freund. »Wir kennen hier einige Tricks, wie du erfahren wirst. Setz dich hin. Ich weiß, dass du viel hinter dir hast, aber wir dürfen keine Zeit verlieren. Eigentlich ist es zu früh, doch ich hielt es für besser, dich da herauszuholen, bevor die Sache wirklich schlimm wurde… Herr Mumm.«

Mumm erstarrte. »Wer bist du?«, fragte er.

»Offiziell heiße ich Lu-Tze, Herr Mumm. Aber du kannst mich Kehrer nennen, weil wir Freunde sind.«

Mumm setzte sich vorsichtig auf und drehte den Kopf.

Eine Art… Schrift bedeckte die schattigen Wände, aber sie erinnerte an die des Mittlands und bestand fast nur aus kleinen Bildern.

Eine Kerze stand auf einer Untertasse. Etwas weiter hinten zeichneten sich zwei Zylinder in der Düsternis ab, jeder so breit wie ein Mann und doppelt so hoch. Sie ruhten in massiven Holzlagern, einer über dem anderen. Beide drehten sich langsam und schienen viel größer zu sein, als ihre Ausmaße nahe legten. Das Brummen ging von ihnen aus, füllte den ganzen Raum. Ein sonderbarer violetter Dunst hing in der Luft.

Zwei in gelbe Umhänge gehüllte Gestalten kümmerten sich um die Zylinder, doch Mumms Aufmerksamkeit galt dem kleinen, dürren und kahlköpfigen Mann, der neben der Kerze auf einer umgedrehten Kiste saß. Er rauchte eine ekelhafte Selbstgerollte von der Art, die Nobby bevorzugte, und schien ein ausländischer Mönch zu sein. Er sah genauso aus wie die Mönche, die Mumm gelegentlich mit Bettelnäpfen auf der Straße gesehen hatte.

»Offenbar bist du so weit in Ordnung, Herr Mumm«, sagte Kehrer.

»Du warst im Wachhaus, nicht wahr?«, fragte Mumm. »Schnauzi nannte dich Luhtzeh!«

»Ja, Herr Mumm. Lu-Tze. Während der vergangenen zehn Tage habe ich dort jede Nacht gefegt. Für zwei Cent und alle Tritte, denen ich ausweichen konnte. Ich habe auf dich gewartet.«

»Und du hast Rosie Palm gesagt, wohin ich gelaufen bin? Du warst der Mönch auf der Brücke?«

»Ja. Ich wollte sicher sein, dass sie rechtzeitig zur Stelle war.«

»Woher weißt du, wer ich bin?«

»Reg dich nicht auf, Herr Mumm«, sagte Kehrer ruhig. »Ich bin hier, um dir zu helfen… Euer Gnaden. Und ich bin dein Freund, denn weit und breit gibt es keine andere Person, die bereit wäre, dir zu glauben, wenn du von… Gewittern und Stürzen aus großer Höhe erzählen würdest. Zumindest keine geistig gesunde«, fügte er hinzu.

Mumm saß eine halbe Minute lang still da, und Lu-Tze beobachtete ihn beim Schweigen.

»Gut, Herr Mumm«, sagte Kehrer. »Du denkst nach. Das gefällt mir bei einem Mann.«

»Dies ist Magie, oder?«, fragte Mumm schließlich.

»Etwas in der Art, ja«, sagte Kehrer. »Eben haben wir dich in der Zeit zurückversetzt. Nur um einige Sekunden. Damit du nichts anstellst, was du später bereust. Nach all dem, was du hinter dir hast, kann ich durchaus verstehen, dass du dir jemanden vorknöpfen möchtest. Aber wir möchten doch nicht, dass dir etwas zustößt.«

»Wie bitte? Ich hatte fast die Hände an deinem Hals!«

Kehrer lächelte ein entwaffnendes Lächeln. »Möchtest du rauchen?«, fragte er, griff unter seinen Umhang und holte eine krumme Selbstgerollte hervor.

»Danke, aber ich habe meine eigenen…«, begann Mumm automatisch. Seine Hand verharrte auf halbem Weg zur Tasche.

»Oh, ja«, sagte Kehrer. »Das silberne Etui. Ein Hochzeitsgeschenk von Sybil, nicht wahr? Wirklich schade.«

»Ich möchte nach Hause«, flüsterte Mumm. Während der vergangenen zwölf Stunden hatte er nur geruht, nicht geschlafen.

Diesmal saß Kehrer schweigend da, und man hörte allein das Brummen der Zylinder.

»Du bist Polizist, Herr Mumm«, sagte er schließlich. »Für eine Weile möchte ich, dass du auch in mir einen Polizisten siehst. Meine Kollegen und ich… wir sorgen dafür, dass… Dinge geschehen. Oder auch nicht. Stell jetzt keine Fragen. Nick einfach nur.«

Mumm zuckte stattdessen mit den Schultern.

»Gut. Nehmen wir mal an, dass wir dich bei unserem Streifengang fanden, während du, bildlich gesprochen, am Samstagabend im Rinnstein lagst und ein anzügliches Lied über eine Schubkarre gesungen hast…«

»Ich kenne keine anzüglichen Lieder über Schubkarren!«

Kehrer seufzte. »Über Igel? Oder Sahnetorten? Oder einsaitige Fiedeln? Es spielt keine Rolle. Wir haben dich weit von dem Ort entfernt gefunden, an dem du eigentlich sein solltest, und wir möchten, dass du heimkehrst, aber es ist nicht so einfach, wie du vielleicht glaubst.«

»Ich bin in die Vergangenheit geraten. Wegen der verdammten Bibliothek! Jeder weiß, dass die Magie darin Seltsames geschehen lässt!«

»Nun, ja. Das ist der Hauptgrund. Es wäre allerdings richtiger zu sagen, dass du in ein wichtiges Ereignis verwickelt wurdest.«

»Kann mich jemand zurückbringen? Bist du dazu imstande?«

»Nun…«, begann Kehrer verlegen.

»Die Zauberer können es bestimmt«, sagte Mumm. »Morgen früh gehe ich zu ihnen und bitte sie um Hilfe!«

»Ach, tatsächlich? Ich wäre gern dabei. Dies sind nicht die Zauberer unter dem anständigen alten Ridcully. Und du bist nicht Seine Gnaden Kommandeur Sir Samuel Mumm. Du bist ein ziemlich wild aussehender Bursche, der eine wirre Geschichte von Gewittern und einer Reise durch die Zeit erzählt. Und deine Zuhörer sind unerfreuliche, verschlagene Leute. Du kannst von Glück sagen, wenn sie nur über dich lachen. Wie dem auch sei: Selbst wenn sie dir helfen wollten – sie stünden vor dem gleichen Problem.«

»Und das wäre?«

»Du kannst nicht zurückgebracht werden. Noch nicht.«

Zum ersten Mal seit Beginn des Gesprächs zeigte Kehrer so etwas wie Unbehagen. »Das große Problem, dem ich mich derzeit gegenübersehe, besteht darin, dass ich dir von einigen Dingen erzählen sollte, die ich dir unter gar keinen Umständen verraten darf. Aber du bist ein Mann, der nicht zufrieden ist, solange er nicht Bescheid weiß. Das respektiere ich. Solange du unzufrieden bist, wirst du uns nicht helfen. Ich weiß, dass ich von dir kaum erwarten kann, mir zu glauben…«

Das Brummen der großen Zylinder klang plötzlich anders, und Mumm spürte etwas Sonderbares – es fühlte sich an, als hätte sein ganzer Körper gerade Plib gemacht.

»Hier ist jemand, dem du glauben würdest…«

»Moment mal«, sagte Mumm und starrte Kehrer an. »Was ist mit deiner Zigarette geschehen?«

»Hmm?«

»Eben hattest du noch eine halbe Selbstgerollte in der Hand, und jetzt ist sie weg!«

»Ich hab den Rest vor zehn Minuten ausgedrückt«, erwiderte Kehrer. »Lasst sie rollen, Jungs.«

Das Brummen der rotierenden Zylinder veränderte sich ein wenig.

Sam Mumm sah sich selbst in der Mitte des Raums stehen. »Das bin ich!«

»Ja, genau«, bestätigte Kehrer. »Und jetzt hör dir gut zu.«

»Hallo, Sam«, sagte der andere Mumm und sah ihn dabei nicht direkt an. »Ich kann dich nicht sehen, aber angeblich kannst du mich sehen. Erinnerst du dich an den Fliederduft? Du hast an die gedacht, die gestorben sind. Und dann hast du Willikins beauftragt, die junge Frau aus der Jauchegrube zu holen und abzuspritzen. Und, äh… du hast einen Schmerz in der Brust, der dir Sorgen macht und von dem du niemandem erzählt hast… Das dürfte genügen. Jetzt weißt du, dass ich du bin. Es gibt da einige Dinge, von denen ich dir nichts erzählen kann. Ich darf davon wissen, weil ich mich…« Der andere Mumm unterbrach sich, blickte zur Seite und schien einer Stimme zu lauschen, die nur er hören konnte. »… in einer Zeitschleife befinde. Äh… man könnte sagen, dass ich zwanzig Minuten deines Lebens bin, an die du dich nicht erinnerst. Weißt du noch, als du etwas Sonderbares gespürt hast, so als…«

 

… hätte sein ganzer Körper gerade Plib gemacht.

Kehrer stand auf. »Ich verabscheue das«, sagte er, »aber wir sind im Tempel, und hier können wir die Paradoxa dämpfen. Auf die Beine, Herr Mumm. Jetzt erkläre ich dir alles.«

»Du hast doch gesagt, das könntest du nicht!«

Kehrer lächelte. »Brauchst du Hilfe bei den Handschellen?«

»Was, bei diesem alten Schnappzu Modell Eins? Nein, gib mir nur einen Nagel und zwei Minuten. Wieso bin ich im Tempel?«

»Ich habe dich hierher gebracht.«

»Hast du mich getragen?«

»Nein. Ich habe dich geführt. Deine Augen waren natürlich verbunden. Und dann, als wir hier eintrafen, habe ich dir etwas zu trinken gegeben…«

»Daran erinnere ich mich nicht!«

»Natürlich nicht. Das war ja der Sinn des Getränks. Nicht sehr mystisch, aber es erfüllt seinen Zweck. Wir möchten schließlich nicht, dass du hierher zurückkehrst. Immerhin soll dieser Ort geheim bleiben…«

»Du hast an meinem Gedächtnis herumgepfuscht? Das verbitte ich mir…« Mumm stand halb auf, aber Kehrer hob beschwichtigend die Hand.

»Keine Sorge, keine Sorge. Ich habe dich nur… einige Minuten vergessen lassen«, sagte er.

»Wie viele Minuten?«

»Nur einige wenige. Und es waren auch Kräuter in dem Getränk. Die sind gut für die Gesundheit. Und dann ließen wir dich schlafen. Sei unbesorgt, niemand ist hinter uns her. Man wird überhaupt nicht merken, dass du fort gewesen bist. Siehst du das hier?«

Kehrer griff nach dem offenen Tornister, der neben seinem Stuhl lag. Er hatte Riemen wie ein Rucksack, und darin sah Mumm einen Zylinder.

»Dies ist ein so genannter Zauderer, eine kleinere Version der anderen dort drüben, die wie die Wäschemangel deiner Großmutter aussehen«, sagte der Mönch. »Ich möchte keine technischen Einzelheiten nennen, nur so viel: Wenn er sich dreht, bewegt er die Zeit um dich herum. Hast du verstanden, was ich dir gerade gesagt habe?«

»Nein!«

»Na schön. Es ist ein magischer Ranzen. Bist du jetzt zufrieden?«

»Fahr fort«, sagte Mumm grimmig.

»Du hast einen solchen Tornister getragen, und ich habe dich vom Wachhaus hierher geführt. Und weil du ihn getragen hast, bist du gewissermaßen außerhalb der Zeit gewesen. Nach diesem Gespräch bringe ich dich zum Wachhaus zurück, und der alte Hauptmann wird überhaupt keinen Unterschied bemerken. Während wir im Tempel sind, vergeht keine Zeit in der auswärtigen Welt. Die Zauderer sorgen dafür. Wie ich schon sagte: Sie bewegen die Zeit um uns herum. Eigentlich bewegen sie uns in der Zeit zurück, und zwar im gleichen Ausmaß, in dem uns die Zeit nach vorn bewegt. Wir haben hier noch andere Zauderer. Sie halten die Lebensmittel frisch. Was kann ich dir sonst noch sagen…? Oh, ja. Es fällt dir leichter, den Überblick zu behalten, wenn du dir vorstellst, dass eins nach dem anderen geschieht.«

»Dies ist wie ein Traum«, sagte Mumm. Es klickte, als sich eine Handschelle öffnete.

»Ja, nicht wahr?«, erwiderte Kehrer ruhig.

»Und kann mich dein magischer Ranzen nach Hause bringen? Kann er mich in der Zeit bewegen, bis ich die richtige Stelle erreiche?«

»Dieser Zauderer hier? Hah! Nein. Er eignet sich nur für kleine Dinge…«

»Hör mal, Kehrer, ich habe den letzten Tag damit verbracht, auf einem hohen Dach gegen einen verdammten Mistkerl zu kämpfen, zweimal zusammengeschlagen, einmal zurechtgeflickt und, hah, sogar eingelocht zu werden. Ich glaube, ich sollte dir für irgendetwas danken, aber ich weiß beim besten Willen nicht, wofür. Ich will endlich klare Antworten von dir! Ich bin der Kommandeur der Wache in dieser Stadt!«

»Du meinst wohl, du wirst es einmal sein«, entgegnete Kehrer.

»Nein! Eben hast du gesagt, dass es hilft, wenn ich mir vorstelle, dass eins nach dem anderen geschieht! Also, gestern, in meinem Gestern, war ich Kommandeur der Wache, und das bin ich noch immer. Es ist mir gleich, was alle anderen denken. Die anderen kennen nicht alle Fakten!«

»Halt diesen Gedanken gut fest«, sagte Kehrer und stand auf. »Na schön, Kommandeur. Du willst Antworten. Machen wir einen Spaziergang im Garten.«

»Kannst du mich nach Hause bringen?«

»Noch nicht. Es ist meine sachkundige Meinung, dass du aus einem bestimmten Grund hier bist.«

»Einem bestimmten Grund? Ich bin von der verdammten Kuppel gefallen!«

»Das hat dabei geholfen, ja. Beruhige dich, Herr Mumm. Es war alles eine große Belastung, das verstehe ich.«

Kehrer führte ihn hinaus. Draußen lag ein großes Büro, in dem der besondere Lärm stiller, zielstrebiger Aktivität herrschte. Zwischen den alten, zerkratzten Schreibtischen standen weitere Zylinder wie die in dem großen Raum. Einige von ihnen drehten sich langsam.

»Ist sehr beschäftigt, unsere Ankh-Morpork-Abteilung«, sagte Kehrer. »Wir mussten die Läden auf der anderen Seite kaufen.« Er zog eine Schriftrolle aus einem Korb neben einem Schreibtisch, warf einen Blick darauf, ließ sie wieder in den Korb fallen und seufzte. »Und alle sind überarbeitet«, fügte er hinzu. »Wir sind die ganze Zeit über hier. Und wenn ich ›die ganze Zeit‹ sage, so weiß ich, wovon ich rede.«

»Aber was macht ihr?«, fragte Mumm.

»Wir lassen Dinge geschehen.«

»Geschehen sie nicht ohnehin?«

»Kommt darauf an, welche Dinge geschehen sollen. Wir sind die Geschichtsmönche, Herr Mumm. Wir sorgen dafür, dass die Geschichte passiert.«

»Ich habe nie von euch gehört, und ich kenne diese Stadt so gut wie meine Westentasche.«

»Ja. Und wie oft siehst du in deiner Westentasche nach, Herr Mumm? Wir sind in der Tonstraße, wenn du’s unbedingt wissen willst.«

»Was? Die bekloppten Mönche in ihrem seltsamen ausländischen Gebäude, zwischen dem Pfandleiher und dem Laden mit Gebrauchtwaren? Die Burschen, die auf der Straße herumtanzen, auf Trommeln schlagen und schreien?«

»Bravo, Herr Mumm. Es ist bemerkenswert, wie sehr man verborgen bleibt, wenn man ein bekloppter Mönch ist, der auf der Straße tanzt und trommelt.«

»Als ich ein Kind war, stammte der größte Teil meiner Kleidung aus jenem Laden in der Tonstraße«, sagte Mumm. »Alle, die wir kannten, besorgten sich dort ihre Klamotten. Gehörte einem Ausländer, der einen komischen Namen hatte…«

»Bruder Sang Tzu Tzen«, sagte Kehrer. »Kein besonders erleuchteter Mitarbeiter, aber ein Genie im Verkauf von Gebrauchtwaren aus vierter Hand.«

»So sehr abgetragene Hemden, dass sie praktisch durchsichtig waren, und Hosen, die wie Glas glänzten«, sagte Mumm. »Und am Ende der Woche lag die Hälfte davon beim Pfandleiher.«

»Ja«, erwiderte Kehrer. »Man versetzte seine Sachen beim Pfandleiher, aber man kaufte sie dort nie, denn so tief wollte niemand sinken.«

Mumm nickte. Ganz unten auf der Leiter waren die Sprossen dichter beisammen, und – meine Güte – wie sehr die Frauen darauf achteten. Auf ihre eigene Art und Weise waren sie so hochmütig wie Herzoginnen. Man hatte nicht viel, aber an einem gewissen Niveau hielt man fest. So billig und alt die Kleidung auch sein mochte: Man konnte sie wenigstens schrubben. Hinter der Eingangstür gab es nichts Stehlenswertes, aber vor der Tür war es sauber genug, um dort zu Abend zu essen, wenn man sich ein Abendessen leisten konnte. Und nie kaufte jemand seine Sachen beim Pfandleiher. Wer sich dazu hinreißen ließ, fiel von der untersten Sprosse. Nein, man kaufte sie bei Herrn Sonnenschein, und man fragte nie, woher er sie bekam.

»Ich habe Sachen aus dem Gebrauchtwarenladen getragen, als ich zu meiner ersten richtigen Arbeit ging«, sagte Mumm. »Scheint Jahrhunderte her zu sein.«

»Nein«, sagte Kehrer. »Es geschah erst letzte Woche.«

Stille dehnte sich aus. Das einzige Geräusch war das Brummen der Zylinder im Zimmer.

Dann fügte Kehrer hinzu: »Du musst doch daran gedacht haben.«

»Warum? Den größten Teil meiner Zeit in dieser Zeit habe ich damit verbracht, zusammengeschlagen zu werden, bewusstlos zu sein oder zu versuchen, nach Hause zurückzukehren! Du meinst, ich bin irgendwo dort draußen?«

»Oh, ja. Gestern Abend hast du die Situation für deine Gruppe gerettet und deine Armbrust auf einen gefährlichen Schurken gerichtet, der den Feldwebel angriff.«

Die Stille dehnte sich noch weiter und füllte das Universum.

Schließlich sagte Mumm: »Nein. Ausgeschlossen. So etwas ist nie geschehen. Ich würde mich daran erinnern. Und ich erinnere mich an viele Dinge aus den ersten Wochen meines Dienstes.«

»Interessant«, erwiderte Kehrer. »Aber steht nicht geschrieben ›Es geschieht viel, von dem wir nichts erfahren‹? Herr Mumm, du brauchst jetzt ein wenig Erbauung im Garten der Innenstadtruhe.«

 

Es war tatsächlich ein Garten, und er ähnelte den Gärten, die man in Gegenden wie der Tonstraße vorfand. Der graue Boden bestand zum größten Teil aus dem Staub alter Ziegel, älterem Katzendreck und halb verfaultem Unrat. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein Abort mit drei Löchern. Er war dicht neben dem Tor zur Gasse installiert, sodass die Abholer des Abtrittsdüngers nicht weit zu gehen brauchten.

Daneben stand ein kleiner Steinzylinder und drehte sich langsam.

Der Garten bekam nur wenig Licht. Solche Gärten bekamen nie genug davon. Sie erhielten nur Licht aus zweiter Hand, Licht, das zuerst den reicheren Leuten in den höheren Gebäuden diente. Manchmal wurden in den Gärten Tauben, Kaninchen oder Schweine gehalten. Gelegentlich versuchte sogar jemand, Gemüse anzupflanzen, obwohl er es eigentlich besser wissen sollte. In solchen Gärten konnten nur magische Bohnen den echten Sonnenschein erreichen.

In diesem hatte sich trotzdem jemand Mühe gegeben. Kies unterschiedlicher Größe bedeckte den größten Teil des Bodens und war zu Wirbeln und Bögen geharkt worden. Hier und dort lag ein einzelner größerer Stein, hinter dessen Positionierung vermutlich tiefsinnige Gedanken standen.

Mumm blickte über den Steingarten hinweg und suchte verzweifelt nach etwas, das seine Aufmerksamkeit verdiente.

Er glaubte zu wissen, was der Gestalter beabsichtigt hatte, doch unglücklicherweise blieb es bei den guten Absichten. Immerhin war dies Ankh-Morpork. Der Müll erreichte jeden Ort. Man wurde ihn vor allem dadurch los, dass man ihn über eine Mauer warf. Früher oder später würde ihn jemand weiterverkaufen oder sogar essen.

Ein junger Mönch harkte den Kies mit großer Sorgfalt. Er verneigte sich respektvoll, als Kehrer näher trat.

Der kahlköpfige Alte nahm auf einer steinernen Bank Platz.

»Sei so gut und hol uns zwei Tassen Tee, Junge«, sagte er. »Einer grün mit Jak-Butter. Orange für Herrn Mumm, in einer kleinen Kanne gekocht, mit zwei Würfeln Zucker und der Milch von gestern, nicht wahr?«

»So mag ich ihn am liebsten«, murmelte Mumm und setzte sich.

Kehrer atmete tief durch. »Und ich lege gern Gärten an«, sagte er. »Das Leben sollte ein Garten sein.«

Mumms Blick glitt erneut über den Kies. »Na schön«, brummte er. »Kies und Steine, ja, das sehe ich. Das mit dem Müll ist ein Jammer. Er taucht überall auf, was?«

»Ja«, sagte Lu-Tze. »Er gehört zum Muster.«

»Was? Die alte Zigarettenpackung?«

»Natürlich«, sagte Kehrer. »Sie verkörpert das Element der Luft.«

»Und der Katzendreck?«

»Er erinnert uns daran, dass Disharmonie, wie eine Katze, jeden Ort erreicht.«

»Und die Kohlblätter? Und das benutzte Keinesorge?«5

»Wir bringen uns in Gefahr, wenn wir die Rolle des Organischen in der totalen Harmonie vergessen. Was scheinbar zufällig im Muster erscheint, gehört zu einer höheren Struktur, die wir nur erahnen können. Dies ist eine sehr wichtige Tatsache und hat auch für dich Bedeutung.«

»Und die Bierflasche?«

Zum ersten Mal, seit Mumm dem Mönch begegnet war, runzelte dieser die Stirn.

»Irgendein Blödmann wirft am Freitagabend auf dem Rückweg von der Taverne immer eine Bierflasche über die Mauer. Wenn es nicht verboten wäre, bekäme der Kerl eine gehörige Ohrfeige von mir.«

»Sie gehört nicht zu einer höheren Struktur?«

»Vielleicht doch. Wer weiß? Und wen kümmert’s? Meine Güte, solche Sachen gehen mir auf die Tonsur«, sagte Kehrer. Er setzte sich und legte die Hände auf die Knie, woraufhin Ruhe und Gelassenheit wieder flossen. »Nun, Herr Mumm… Weißt du, dass das Universum aus sehr kleinen Dingen besteht?«

»Wie bitte?«

»Wir müssen uns allmählich nach oben arbeiten, Herr Mumm. Du bist ein intelligenter Mann. Ich kann nicht dauernd behaupten, dass Magie hinter allem steckt.«

»Bin ich wirklich hier? In dieser Stadt? Ich meine, mein jüngeres Selbst?«

»Natürlich. Warum auch nicht? Äh, wo war ich stehen geblieben? Ah ja. Das Universum besteht aus sehr kleinen Dingen, und…«

»Dies ist keine gute Zeit, um in der Wache zu dienen. Ich erinnere mich! Es gab die Ausgangssperre. Und das war nur der Anfang!«

»Kleine Dinge, Herr Mumm«, sagte Kehrer scharf. »Das musst du wissen.«

»Na schön. Wie klein sind die kleinen Dinge?«

»Sehr klein. So klein, dass sie sich manchmal seltsam verhalten.«

Mumm seufzte. »Jetzt soll ich vermutlich fragen: Was meinst du mit seltsam?«

»Ich bin froh, dass du diese Frage gestellt hast. Um nur ein Beispiel zu nennen: Sie können an mehreren Orten zugleich sein. Denk nach, Herr Mumm.«

Mumm versuchte, sich auf etwas zu konzentrieren, das vermutlich der weggeworfene Pappteller der Unendlichkeit war. Ihm gingen viele schreckliche Gedanken durch den Kopf, und erstaunlicherweise war es fast eine Erleichterung, sie beiseite zu schieben und über die Worte des Mönchs nachzudenken. So verhielt sich das Gehirn. Mumm erinnerte sich an einen Messerstich, der ihn das Leben gekostet hätte, wäre Feldwebel Angua nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen. Er hatte blutend auf dem Boden gelegen und sich sehr für das Muster des Teppichs interessiert. Die Sinne sagten: Uns bleiben nur noch ein oder zwei Minuten, deshalb sollten wir alles ganz genau aufzeichnen…

»Das kann nicht stimmen«, sagte er. »Wenn diese Bank aus vielen sehr kleinen Dingen besteht, die an mehreren Orten zugleich sein können – warum steht sie dann still?«

»Man gebe dem Mann eine kleine Zigarre!«, jubelte Kehrer. »Das ist das große Problem, Herr Mumm. Und nach unserem Abt lautet die Antwort: Die Sitzbank ist an vielen Orten gleichzeitig. Ah, da kommt der Tee. Und damit die Sitzbank an vielen Orten gleichzeitig sein kann, besteht das Multiversum aus vielen alternativen Universen. Eine massenhafte Massenhaftigkeit an Universen. So wie die größte Zahl, die sich jemand vorstellen kann. Um all den Quanten Platz genug zu bieten. Geht das zu schnell für dich?«

»Oh, Quanten«, sagte Mumm. »Und alternative Universen. Darüber weiß ich Bescheid. Du meinst, man trifft in diesem Universum eine Entscheidung, und im nächsten eine andere. Bei einem Empfang habe ich einmal gehört, wie die Zauberer darüber sprachen. Sie… diskutierten über den Ruhmvollen Fünfundzwanzigsten Mai.«

»Und was sagten sie?«

»Oh, es ging um den üblichen Kram. Alles wäre anders ausgegangen, wenn die Rebellen die Tore und Brücken richtig bewacht hätten. Und dass man mit einem Frontalangriff nicht aus einer Belagerung ausbrechen kann. Die Zauberer meinten, dass in gewisser Weise alles irgendwo passiert…«

»Und du hast ihnen geglaubt?«

»Es klingt völlig hirnrissig. Aber manchmal fragt man sich: Was wäre geschehen, wenn ich bei der Gelegenheit anders gehandelt hätte…«

»Wie die Frage, was passiert wäre, wenn du deine Frau umgebracht hättest?«

Mumms Mangel an Reaktion beeindruckte Kehrer.

»Dies ist ein Test, nicht wahr?«

»Du lernst schnell, Herr Mumm.«

»Aber du kannst sicher sein: In einem anderen Universum habe ich dich gepackt und dir eine geknallt.«

Wieder lächelte Kehrer jenes ärgerliche kleine Lächeln, das darauf hinwies, dass er ihm nicht glaubte.

»Du hast deine Frau nicht umgebracht«, sagte er. »Nirgends. Wie groß auch immer das Multiversum sein mag: Es gibt keinen Ort, an dem Sam Mumm, so wie er heute ist, Lady Sybil umgebracht hat. Aber die Theorie lässt in dieser Hinsicht keinen Zweifel zu. Wenn etwas geschehen kann, ohne gegen die Naturgesetze zu verstoßen, so geschieht es. Bei dir ist das nicht der Fall. Und doch funktioniert die Theorie der ›vielen Universen‹. Ohne sie wäre niemand imstande, irgendeine Entscheidung zu treffen.«

»Und?«

»Es ist also wichtig, wie sich die Leute verhalten!«, sagte Kehrer. »Sie erfinden andere Gesetze. Was sie tun, ist wichtig! Der Abt geriet deshalb in große Aufregung. Er hätte sich fast an seinem Zwieback verschluckt. Es bedeutet, das Multiversum ist nicht unendlich, und persönliche Entscheidungen haben eine größere Bedeutung als bisher angenommen. Die Leute können durch ihr individuelles Tun die Welt verändern.«

Kehrer bedachte Mumm mit einem durchdringenden Blick. »Herr Mumm, du denkst jetzt: Ich bin hier in der Vergangenheit, und verdammt und zugenäht: Vermutlich läuft es darauf hinaus, dass ich der Feldwebel sein werde, der mir alles beibringt.«

»Mir sind gewisse Gedanken durch den Kopf gegangen. Heutzutage nähme die Wache jeden dahergelaufenen Burschen auf, wegen der Ausgangssperre und der allgemeinen Überwachung. Und… ja, ich erinnere mich an Keel, und ja, er hatte eine Narbe und trug eine Augenklappe, aber ich bin ganz sicher, dass er nicht ich gewesen ist.«

»Genau. Das Universum funktioniert nicht so. Ein gewisser John Keel – ein Wächter aus Pseudopolis, der wegen der besseren Bezahlung nach Ankh-Morpork kam – nahm dich unter seine Fittiche. Er hat wirklich existiert und war nicht du. Aber hat er dir jemals davon erzählt, dass er von zwei Männern überfallen wurde, kurz nachdem er die Kutsche verlassen hatte?«

»Meine Güte, ja«, sagte Mumm. »Die beiden Straßenräuber. Davon hatte er die Narbe. Ein guter alter Willkommensgruß von Ankh-Morpork. Aber er war ziemlich stark und wurde mit beiden fertig, kein Problem.«

»Diesmal waren es drei«, sagte Kehrer.

»Nun, drei sind natürlich schwieriger, aber…«

»Du bist der Polizist. Rate mal, wie der dritte Mann hieß, Herr Mumm.«

Mumm brauchte kaum nachzudenken. Die Antwort kam aus den dunklen Tiefen seines schwärzesten Verdachts. »Carcer?«

»Er hat sich schnell eingelebt, ja.«

»Der Mistkerl lag in der Nebenzelle und brüstete sich damit, dass er Geld erbeutet hat!«

»Und ihr sitzt beide hier fest, Herr Mumm. Dies ist nicht mehr eure Vergangenheit. Nicht genau. Es ist eine Vergangenheit. Und sie führt zu einer Zukunft. Vielleicht ist es deine Zukunft, vielleicht aber auch nicht. Möchtest du jetzt nach Hause und Carcer hier zurücklassen, in einer Welt, in der der echte John Keel tot ist? Dann gäbe es kein Zuhause mehr für dich. Denn wenn du diese Vergangenheit so zurücklassen würdest, wie sie jetzt beschaffen ist, gäbe es keinen anständigen Mann, von dem der junge Mann die Prinzipien ordentlicher Polizeiarbeit lernen könnte. Dann müsste er von Leuten wie Feldwebel Klopf, Korporal Schrulle und Obergefreiter Colon lernen. Und das wäre bei weitem noch nicht das Schlimmste.«