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Als er die Straße betrat, bekam er plötzlich Angst, denn er wusste, dass er zum ersten Mal in seinem Leben einen menschlichen Geruch verbreitete. Er selbst aber fand, dass er stinke, ganz widerwärtig stinke. Und er konnte sich nicht vorstellen, dass andere Menschen seinen Duft nicht ebenfalls als stinkend empfänden, und wagte es nicht, direkt in die Schenke zu gehen, wo Runel und der Haushofmeister des Marquis auf ihn warteten. Es schien ihm weniger riskant, die neue Aura erst in anonymer Umgebung zu erproben.

Durch die engsten und dunkelsten Gassen schlich er zum Fluss hinunter, wo die Gerber und die Stoffärber ihre Ateliers besaßen und ihr stinkendes Geschäft betrieben. Wenn ihm jemand begegnete, oder wenn er an einem Hauseingang vorüberkam, wo Kinder spielten oder alte Frauen saßen, zwang er sich, langsamer zu gehen und seinen Duft in einer großen geschlossenen Wolke um sich her zu tragen.

Er war von Jugend angewohnt, dass Menschen, die an ihm vorübergingen, keinerlei Notiz von ihm nahmen, nicht aus Verachtung - wie er einmal geglaubt hatte -, sondern weil sie nichts von seiner Existenz bemerkten. Es war kein Raum um ihn gewesen, kein Wellenschlag, den er, wie andre Leute, in der Atmosphäre schlug, kein Schatten, sozusagen, den er über das Gesicht der andern Menschen hätte werfen können. Nur wenn er direkt mit jemandem zusammengestoßen war, im Gedränge oder urplötzlich an einer Straßenecke, dann hatte es einen kurzen Augenblick der Wahrnehmung gegeben; und mit Entsetzen meistens prallte der Getroffene zurück, starrte ihn, Grenouille, für ein paar Sekunden an, als sehe er ein Wesen, das es eigentlich nicht geben dürfte, ein Wesen, das, wiewohl unleugbar da, auf irgendeine Weise nicht präsent war - und suchte dann das Weite und hatte seiner augenblicks wieder vergessen...

Jetzt aber, in den Gassen Montpelliers, spürte und sah Grenouille deutlich - und jedesmal, wenn er es wieder sah, durchrieselte ihn ein heftiges Gefühl von Stolz -, dass er eine Wirkung auf die Menschen ausübte. Als er an einer Frau vorüberging, die über einen Brunnenrand gebeugt stand, bemerkte er, wie sie für einen Augenblick den Kopf hob, um zu sehen, wer da sei, und sich dann, offenbar beruhigt, wieder ihrem Eimer zuwandte. Ein Mann, der mit dem Rücken zu ihm stand, drehte sich um und schaute ihm eine ganze Weile lang neugierig nach. Kinder, denen er begegnete, wichen aus - nicht ängstlich, sondern um ihm Platz zu machen; und selbst wenn sie seitlich aus den Hauseingängen gelaufen kamen und unvermittelt auf ihn stießen, erschraken sie nicht, sondern schlüpften wie selbstverständlich an ihm vorbei, als hätten sie eine Vorahnung von seiner sich nähernden Person gehabt.

Durch mehrere solche Begegnungen lernte er, die Kraft und Wirkungsart seiner neuen Aura präziser einzuschätzen, und wurde selbstsicherer und kecker. Er ging rascher auf die Menschen zu, strich dichter an ihnen vorbei, spreizte gar einen Arm ein wenig weiter ab und streifte wie zufällig den Arm eines Passanten. Einmal rempelte er, scheinbar aus Versehen, einen Mann an, den er überholen wollte. Er blieb stehen, entschuldigte sich, und der Mann, der noch gestern von Grenouilles plötzlicher Erscheinung wie vom Donner gerührt gewesen wäre, tat, als sei nichts geschehen, nahm die Entschuldigung an, lächelte sogar kurz und klopfte Grenouille auf die Schulter.

Er verließ die Gassen und trat auf den Platz vor dem Dom Saint-Pierre. Die Glocken läuteten. Zu beiden Seiten des Portals drängten sich Menschen. Eine Trauung war eben zu Ende. Man wollte die Braut sehen. Grenouille lief hin und mischte sich unter die Menge. Er drängte, bohrte sich in sie hinein, dorthin wollte er, wo die Menschen am dichtesten standen, hautnah sollten sie um ihn sein, direkt unter die Nasen wollte er ihnen seinen eigenen Duft reiben. Und er spreizte die Arme mitten in der drangvollen Enge und spreizte die Beine und riss sich den Kragen auf, damit der Duft ungehindert von seinem Körper abströmen könne... und seine Freude war grenzenlos, als er merkte, dass die andern nichts merkten, rein gar nichts, dass alle diese Männer und Frauen und Kinder, die ringsum an ihn gepresst standen, sich so leicht betrügen ließen und seinen aus Katzenscheiße, Käse und Essig zusammengepantschten Gestank als den Geruch von ihresgleichen inhalierten und ihn, Grenouille, die Kuckucksbrut in ihrer Mitte, als einen Menschen unter Menschen akzeptierten.

An seinen Knien spürte er ein Kind, ein kleines Mädchen, das zwischen den Erwachsenen verkeilt stand. Er hob es hoch, in heuchlerischer Fürsorge, und nahm es auf den Arm, damit es besser sehen könne. Die Mutter duldete es nicht nur, sie dankte es ihm, und die Kleine jauchzte vor Vergnügen.

So stand Grenouille wohl eine Viertelstunde im Schoß der Menge, ein fremdes Kind gegen die scheinheilige Brust gedrückt. Und während die Hochzeitsgesellschaft vorbeizog, begleitet vom dröhnenden Glockengeläut und vom Jubel der Menschen, über die ein Regen von Münzen herabprasselte, brach in Grenouille ein anderer Jubel los, ein schwarzer Jubel, ein böses Triumphgefühl, das ihn zittern machte und berauschte wie ein Anfall von Geilheit, und er hatte Mähe, es nicht wie Gift und Galle über all diese Menschen herspritzen zu lassen und ihnen jubelnd ins Gesicht zu schreien: dass er keine Angst vor ihnen habe; ja kaum noch sie hasse; sondern dass er sie mit ganzer Inbrunst verachte, weil sie stinkend dumm waren; weil sie sich von ihm belügen und betrügen ließen; weil sie nichts waren, und er war alles! Und wie zum Hohn presste er das Kind enger an sich, machte sich Luft und schrie mit den ändern im Chor: «Hoch die Braut! Es lebe die Braut! Es lebe das herrliche Paar!»

Als die Hochzeitsgesellschaft sich entfernt hatte und die Menge sich aufzulösen begann, gab er das Kind seiner Mutter zurück und ging in die Kirche, um sich von seiner Erregung zu erholen und auszuruhen. Im Innern des Domes stand die Luft voll Weihrauch, der in kalten Schwaden aus zwei Räucherpfannen zu beiden Seiten des Altars hervorquoll und sich wie eine erstickende Decke über die zarteren Gerüche der Menschen legte, die eben noch hier gesessen hatten. Grenouille hockte sich auf eine Bank unter dem Chor.

Mit einem Mal kam eine große Zufriedenheit über ihn. Keine trunkene, wie er sie damals im Schüsse des Berges bei seinen einsamen Orgien empfunden hatte, sondern eine sehr kalte und nüchterne Zufriedenheit, wie sie das Bewusstsein der eigenen Macht gebiert. Er wusste jetzt, wozu er fähig war. Mit geringsten Hilfsmitteln hatte er, dank seinem eigenen Genie, den Duft des Menschen nachgeschaffen und ihn auf Anhieb gleich so gut getroffen, dass selbst ein Kind sich von ihm hatte täuschen lassen. Er wusste jetzt, dass er noch mehr vermochte. Er wusste, dass er diesen Duft verbessern konnte. Er würde einen Duft kreieren können, der nicht nur menschlich, sondern übermenschlich war, einen Engelsduft, so unbeschreiblich gut und lebenskräftig, dass, wer ihn roch, bezaubert war und ihn, Grenouille, den Träger dieses Dufts, von ganzem Herzen lieben musste.

Ja, lieben sollten sie ihn, wenn sie im Banne seines Duftes standen, nicht nur ihn als ihresgleichen akzeptieren, ihn lieben bis zum Wahnsinn, bis zur Selbstaufgabe, zittern vor Entzücken sollten sie, schreien, weinen vor Wonne, ohne zu wissen, warum, auf die Knie sollten sie sinken wie unter Gottes kaltem Weihrauch, wenn sie nur ihn, Grenouille, zu riechen bekamen! Er wollte der omnipotente Gott des Duftes sein, so wie er es in seinen Phantasien gewesen war, aber nun in der wirklichen Welt und über wirkliche Menschen. Und er wusste, dass dies in seiner Macht stand. Denn die Menschen konnten die Augen zumachen vor der Größe, vor dem Schrecklichen, vor der Schönheit und die Ohren verschließen vor Melodien oder betörenden Worten. Aber sie konnten sich nicht dem Duft entziehen. Denn der Duft war ein Bruder des Atems. Mit ihm ging er in die Menschen ein, sie konnten sich seiner nicht erwehren, wenn sie leben wollten. Und mitten in sie hinein ging der Duft, direkt ans Herz, und unterschied dort kategorisch über Zuneigung und Verachtung, Ekel und Lust, Liebe und Hass. Wer die Gerüche beherrschte, der beherrschte die Herzen der Menschen.

Ganz gelöst saß Grenouille auf der Bank im Dom von Saint-Pierre und lächelte. Er war nicht euphorischer Stimmung, als er den Plan fasste, Menschen zu beherrschen. Es war kein wahnsinniges Flackern in seinen Augen, und keine verrückte Grimasse überzog sein Gesicht. Er war nicht von Sinnen. So klaren und heiteren Geistes war er, dass er sich fragte, warum überhaupt er es wollte. Und er sagte sich, dass er es wolle, weil er durch und durch böse sei. Und er lächelte dabei und war sehr zufrieden. Er sah ganz unschuldig aus, wie irgendein Mensch, der Glücklich ist.

Eine Weile lang blieb er so sitzen, in andächtiger Ruhe, und atmete die weihrauchsatte Luft in tiefen Zügen ein. Und wieder ging ein heiteres Schmunzeln über sein Gesicht: Wie miserabel dieser Gott doch roch! Wie lächerlich schlecht doch der Duft gemacht war, den dieser Gott von sich verströmen ließ. Nicht einmal echter Weihrauchduft war es, was aus den Pfannen qualmte. Schlechtes Surrogat war es, verfälscht mit Lindenholz und Zimtstaub und Salpeter. Gott stank. Gott war ein kleiner armer Stinker. Er war betrogen, dieser Gott, oder er war selbst ein Betrüger, nicht anders als Grenouille - nur ein um so viel schlechterer!