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Er sah fürchterlich aus. Die Haare reichten ihm bis zu den Kniekehlen, der dünne Bart bis zum Nabel. Seine Nägel waren wie Vogelkrallen, und an Armen und Beinen, wo die Lumpen nicht mehr hinreichten, den Körper zu bedecken, fiel ihm die Haut in Fetzen ab.
Die ersten Menschen, denen er begegnete, Bauern auf einem Feld nahe der Stadt Pierrefort, rannten schreiend davon, als sie ihn sahen. In der Stadt selbst dagegen machte er Sensation. Die Leute liefen zu Hunderten zusammen, um ihn zu begaffen. Manche hielten ihn für einen entkommenen Galeerensträfling. Manche sagten, er sei gar kein richtiger Mensch, sondern eine Mischung aus einem Menschen und einem Bären, eine Art Waldwesen. Einer, der früher zur See gefahren war, behauptete, er sehe aus wie der Angehörige eines wilden Indianerstammes in Cayenne, welches jenseits des großen Ozeans liege. Man führte ihn dem Bürgermeister vor. Dort wies er zum Erstaunen der Versammelten seinen Gesellenbrief vor, machte seinen Mund auf und erzählte in ein wenig kollernden Worten - denn es waren die ersten Worte, die er nach siebenjähriger Pause von sich gab -, aber gut verständlich, dass er auf seiner Wanderschaft von Räubern überfallen, verschleppt und sieben Jahre lang in einer Höhle gefangengehalten worden sei. Er habe in dieser Zeit weder das Sonnenlicht noch einen Menschen gesehen, sei mittels eines von unsichtbarer Hand ins Dunkle herabgelassenen Korbes ernährt und schließlich mit einer Leiter befreit worden, ohne zu wissen, warum, und ohne seine Entführer oder Retter je gesehen zu haben. Diese Geschichte hatte er sich ausgedacht, denn sie schien ihm glaubhafter als die Wahrheit, und sie war es auch, denn dergleichen räuberische Überfülle geschahen in den Bergen der Auvergne, des Languedoc und in den Cevennen durchaus nicht selten. Jedenfalls nahm sie der Bürgermeister anstandslos zu Protokoll und erstattete über den Vorfall Bericht an den Marquis de la Taillade-Espinasse, Lehensherrn der Stadt und Mitglied des Parlaments in Toulouse.
Der Marquis hatte schon mit vierzig Jahren dem Versailler Hofleben den Rücken gekehrt, sich auf seine Güter zurückgezogen und dort den Wissenschaften gelebt. Aus seiner Feder stammte ein bedeutendes Werk über dynamische Nationalökonomie, in welchem er die Abschaffung aller Abgaben auf Grundbesitz und landwirtschaftliche Erzeugnisse sowie die Einführung einer umgekehrt progressiven Einkommenssteuer vorschlug, die den ärmsten am härtesten traf und ihn somit zur stärkeren Entfaltung seiner wirtschaftlichen Aktivitäten zwang. Durch den Erfolg des Büchleins ermuntert, verfasste er ein Traktat über die Erziehung von Knaben und Mädchen im Alter zwischen fünf und zehn Jahren, wandte sich hierauf der experimentellen Landwirtschaft zu und versuchte, durch die Übertragung von Stiersamen auf verschiedene Grassorten ein animalovegetabiles Kreuzungsprodukt zur Milchgewinnung zu züchten, eine Art Euterblume. Nach anfänglichen Erfolgen, die ihn sogar zur Herstellung eines Käses aus Grasmilch befähigten, der von der Wissenschaftlichen Akademie von Lyon als «von ziegenhaftem Geschmack, wenngleich ein wenig bitterer» bezeichnet wurde, musste er seine Versuche wegen der enormen Kosten des hektoliterweise über die Felder versprühten
Stiersamens einstellen. Immerhin hatte die Beschäftigung mit agrarbiologischen Problemen sein Interesse nicht nur an der sogenannten Ackerscholle, sondern an der Erde überhaupt und an ihrer Beziehung zur Biosphäre geweckt.
Kaum hatte er die praktischen Arbeiten an der Milcheuterblume beendet, stürzte er sich mit ungebrochenem Forscherelan auf einen großen Essay über die Zusammenhänge zwischen Erdnähe und Vitalkraft. Seine These war, dass sich Leben nur in einer gewissen Entfernung von der Erde entwickeln könne, da die Erde selbst ständig ein Verwesungsgas verströme, ein sogenanntes «fluidum letale», welches die Vitalkräfte lahme und über kurz oder lang vollständig zum Erliegen bringe. Deshalb seien alle Lebewesen bestrebt, sich durch Wachstum von der Erde zu entfernen, wüchsen also von ihr weg und nicht etwa in sie hinein; deshalb trägen sie ihre wertvollsten Teile himmelwärts: das Korn die Ähre, die Blume ihre Blüte, der Mensch den Kopf; und deshalb müssten sie auch, wenn das Alter sie beuge und wieder zur Erde hinkrümme, unweigerlich dem Letalgas verfallen, in das sie sich durch den Zerfallsprozess nach ihrem Tode schließlich selbst verwandelten.
Als dem Marquis de la Taillade-Espinasse zu Ohren kam, es habe sich in Pierrefort ein Individuum gefunden, welches sieben Jahre lang in einer Höhle - also völlig umschlossen vom Verwesungselement Erde gehaust habe, war er außer sich vor Entzücken und ließ Grenouille sofort zu sich in sein Laboratorium bringen, wo er ihn einer gründlichen Untersuchung unterzog. Aufs Anschaulichste fand er seine Theorie bestätigt: Das fluidum letale hatte Grenouille schon dermaßen angegriffen, dass sein fünfundzwanzigjähriger Körper deutlich greisenhafte Verfallserscheinungen aufwies. Einzig die Tatsache - so erklärte Taillade-Espinasse -, dass Grenouille während seiner Gefangenschaft Nahrung von erdfernen Pflanzen, vermutlich Brot und Früchte, zugeführt worden seien, habe seinen Tod verhindert. Nun könne der frühere Gesundheitszustand nur wiederhergestellt werden durch die gründliche Austreibung des Fluidums vermittels eines von ihm, Taillade-Espinasse, ersonnenen Vitalluftventilations-Apparates. Einen solchen habe er im Speicher seines Stadtpalais in Montpellier stehen, und wenn Grenouille bereit wäre, sich als wissenschaftliches Demonstrationsobjekt zur Verfügung zu stellen, wolle er ihn nicht nur von seiner hoffnungslosen Erdgasverseuchung befreien, sondern ihm auch noch ein gutes Stück Geld zukommen lassen...
Zwei Stunden später saßen sie im Wagen. Obwohl sich die Straßen in einem miserablen Zustand befanden, schafften sie die vierundsechzig Meilen nach Montpellier in knapp zwei Tagen, denn der Marquis ließ es sich trotz seines vorgeschrittenen Alters nicht nehmen, persönlich auf Kutscher und Pferde einzupeitschen und bei mehreren Deichsel-und Federbrüchen selbst mit Hand anzulegen; so begeistert war er von seiner Trouvaille, so begierig, sie raschestens einer gebildeten Öffentlichkeit zu präsentieren. Grenouille hingegen durfte die Kutsche kein einziges Mal verlassen. Er hatte in seinen Lumpen, von einer mit feuchter Erde und Lehm getränkten Decke vollständig umhüllt, dazusitzen. Zu essen bekam er während der Reise rohes Wurzelgemüse. Auf diese Weise hoffte der Marquis, die Erdfluidumverseuchung noch eine Weile im Idealzustand zu konservieren.
In Montpellier angekommen, ließ er Grenouille sofort in den Keller seines Palais verbringen, verschickte Einladungen an sämtliche Mitglieder der medizinischen Fakultät, des Botanikervereins, der Landwirtschaftsschule, der chemo-physikalischen Vereinigung, der Freimaurerloge und der übrigen Gelehrtengesellschaften, deren die Stadt nicht weniger als ein Dutzend besaß. Und einige Tage später - genau eine Woche nachdem er die Bergeinsamkeit verlassen hatte - fand sich Grenouille auf einem Podest in der großen Aula der Universität von Montpellier einer vielhundertköpfigen Menge als die wissenschaftliche Sensation des Jahres präsentiert.
In seinem Vortrag bezeichnete ihn Taillade-Espinasse als den lebenden Beweis für die Richtigkeit der letalen Erdfluidumtheorie. Während er ihm nach und nach die Lumpen vom Leibe riss, erklärte er den verheerenden Effekt, den das Verwesungsgas auf Grenouilles Körper ausgeübt habe: Da sehe man Pusteln und Narben, hervorgerufen durch Gasverätzung; dort auf der Brust ein riesiges glänzendrotes Gaskarzinom; allenthalben eine Zersetzung der Haut; und sogar eine deutliche fluidale Verkrüppelung des Skeletts, die als Klumpfuß und Buckel sichtbar hervortrete. Auch seien die inneren Organe Milz, Leber, Lunge, Galle und Verdauungstrakt schwer gasgeschädigt, wie die Analyse einer Stuhlprobe, die sich in einer Schüssel zu Füßen des Demonstranten für jedermann zugänglich befinde, zweifelsfrei erwiesen habe. Zusammenfassend könne daher gesagt werden, dass die Lähmung der Vitalkräfte aufgrund siebenjähriger Verseuchung durch «fluidum letale Taillade» schon so weit fortgeschritten sei, dass Demonstrant - dessen äußere Erscheinung im übrigen bereits signifikant maulwurfhafte Züge aufweise - mehr als ein dem Tode denn als ein dem Leben zugewandtes Wesen bezeichnet werden müsse. Dennoch mache Referent sich anheischig, den an und für sich Todgeweihten mittels einer Ventilationstherapie in Kombination mit Vitaldiät innerhalb von acht Tagen wieder soweit herzustellen, dass die Anzeichen für eine vollständige Heilung jedermann in die Augen springen werde, und fordere die Anwesenden auf, sich vom Erfolg dieser Prognose, der dann freilich als gültiger Beweis für die Richtigkeit der letalen Erdfluidumstheorie angesehen werden müsse, binnen Wochenfrist zu überzeugen.
Der Vortrag war ein Riesenerfolg. Heftig applaudierte das gelehrte Publikum dem Referenten und defilierte dann am Podest vorbei, auf dem Grenouille stand. In seiner konservierten Verwahrlosung und mit seinen alten Narben und Verkrüppelungen sah er tatsächlich so beeindruckend fürchterlich aus, dass ihn jedermann für halb verwest und unrettbar verloren hielt, obwohl er selbst sich durchaus gesund und kräftig fühlte. Manche der Herren beklopften ihn fachmännisch, vermaßen ihn, schauten ihm in Mund und Auge. Einige richteten das Wort an ihn und erkundigten sich nach seinem Höhlenlöwen und nach seiner jetzigen Befindlichkeit. Er hielt sich jedoch streng an eine im voraus erteilte Anweisung des Marquis und antwortete auf solche Fragen nur mit einem gepressten Röcheln, wobei er mit beiden Händen hilflose Gesten gegen seinen Kehlkopf machte, um damit kundzutun, dass auch dieser bereits vom «fluidum letale Taillade» zerfressen sei.
Am Ende der Veranstaltung packte ihn Taillade-Espinasse wieder ein und verfrachtete ihn nach Hause auf den Speicher seines Palais. Dort schloss er ihn im Beisein einiger ausgewählter Doktoren der medizinischen Fakultät in den Vitalluftventilationsapparat, einen aus dichtverfugten Fichtenbrettern gefertigten Verschlag, der mittels eines weit über das Dach hinausreichenden Ansaugekamins mit letalgasfreier Höhenluft durchflutet wurde, welche durch eine am Boden angebrachte Lederventilklappe wieder entweichen konnte. In Betrieb gehalten wurde die Anlage von einer Staffel von Bediensteten, die Tag und Nacht dafür sorgten, dass die im Kamin eingebauten Ventilatoren nicht zur Ruhe kamen. Und während Grenouille auf diese Weise von einem ständigen reinigenden Luftstrom umgeben war, wurden ihm in stündlichem Abstand durch ein seitlich eingearbeitetes doppelwandiges Luftschleusentürchen diätetische Speisen erdferner Provenienz dargeboten: Taubenbrühe, Lerchenpastete, Ragout von Flugenten, eingemachtes Baumobst, Brot von extra hochwachsenden Weizensorten, Pyrenäenwein, Gemsenmilch und Eischaumcreme von Hühnern, die im Dachboden des Palais gehalten wurden.
Fünf Tage lang dauerte diese kombinierte Entseuchungs-und Revitalisierungskur. Dann ließ der Marquis die Ventilatoren anhalten und verbrachte Grenouille in einen Waschraum, wo er in Bädern von lauwarmem Regenwasser mehrere Stunden eingeweicht und schließlich mit Nussölseife aus der Andenstadt Potosi von Kopf bis Fuß gewaschen wurde. Man schnitt ihm die Finger-und Zehennägel, reinigte seine Zähne mit feingeschlämmtem Dolomitenkalk, rasierte ihn, kürzte und kämmte seine Haare, coiffierte und puderte sie. Ein Schneider wurde bestellt, ein Schuster, und Grenouille bekam ein seidenes Hemd verpasst, mit weißem Jabot und weißen Rüschen an den Manschetten, seidene Strümpfe, Rock, Hose und Weste aus blauem Samt und schöne Schnallenschuhe von schwarzem Leder, deren rechter geschickt den verkrüppelten Fuß kaschierte. Höchsteigenhändig legte der Marquis weiße Talkumschminke auf Grenouilles narbiges Gesicht, tupfte ihm Karmesin auf Lippen und Wangen und verlieh den Augenbrauen mit Hilfe eines weichen Stifts von Lindenholzkohle eine wirklich edle Wölbung. Dann stäubte er ihn mit seinem persönlichen Parfum ein, einer ziemlich simplen Veilchennote, trat einige Schritte zurück und brauchte lange Zeit, sein Entzücken in Worte zu fassen.
«Monsieur», begann er endlich, «ich bin von mir begeistert. Ich bin erschüttert über meine Genialität. Ich habe an der Richtigkeit meiner fluidalen Theorie zwar nie gezweifelt; natürlich nicht; sie aber in praktizierter Therapie so herrlich bestätigt zu finden, erschüttert mich. Sie waren ein Tier, und ich habe einen Menschen aus Ihnen gemacht. Eine geradezu göttliche Tat. Erlauben Sie, dass ich gerührt bin! - Treten Sie vor diesen Spiegel dort, und schauen Sie sich an! Sie werden zum ersten Mal in Ihrem Leben erkennen, dass Sie ein Mensch sind; kein besonders außergewöhnlicher oder irgendwie hervorragender, aber doch immerhin ein ganz passabler Mensch. Gehen Sie, Monsieur! Schauen Sie sich an, und bestaunen Sie das Wunder, das ich an Ihnen vollbracht habe!»
Es war das erste Mal, dass jemand «Monsieur» zu Grenouille gesagt hatte.
Er ging zum Spiegel und sah hinein. Bis dato hatte er auch noch nie in einen Spiegel gesehen. Er sah einen Herrn in feinem blauem Gewand vor sich, mit weißem Hemd und Seidenströmpfen, und er duckte sich ganz instinktiv, wie er sich immer vor solch feinen Herren geduckt hatte. Der feine Herr aber duckte sich auch, und indem Grenouille sich wieder aufrichtete, tat der feine Herr dasselbe, und dann erstarrten beide und fixierten sich.
Was Grenouille am meisten verblüffte, war die Tatsache, dass er so unglaublich normal aussah. Der Marquis hatte Recht: Er sah nicht besonders aus, nicht gut, aber auch nicht besonders hässlich. Er war ein wenig klein geraten, seine Haltung war ein wenig linkisch, das Gesicht ein wenig ausdruckslos, kurz, er sah aus wie Tausende von anderen Menschen auch. Wenn er jetzt hinunter auf die Straße ginge, würde kein Mensch sich nach ihm umdrehen. Nicht einmal ihm selbst würde ein solcher, wie er jetzt war, irgendwie auffallen, wenn er ihm begegnete. Es sei denn, er würde riechen, dass dieser jemand, außer nach Veilchen, sowenig räche wie der Herr im Spiegel und er selbst, der davorstand.
Und doch waren vor zehn Tagen die Bauern noch schreiend auseinandergelaufen bei seinem Anblick. Er hatte sich damals nicht anders Gefühlt als jetzt, und jetzt, wenn er die Augen schloss, fühlte er sich kein bisschen anders als damals. Er sog die Luft ein, die an seinem Körper aufstieg und roch das schlechte Parfum und den Samt und das frischgeleimte Leder seiner Schuhe; er roch das Seidenzeug, den Puder, die Schminke, den schwachen Duft der Seife aus Potosi. Und plötzlich wusste er, dass es nicht die Taubenbrühe und der Ventilationshokuspokus gewesen waren, die einen normalen Menschen aus ihm gemacht hatten, sondern einzig und allein die paar Kleider, der Haarschnitt und das bisschen kosmetischer Maskerade.
Er öffnete blinzelnd die Augen und sah, wie der Monsieur im Spiegel ihm zublinzelte und wie ein kleines Lächeln um seine karmesinroten Lippen strich, ganz so, als wolle er ihm signalisieren, dass er ihn nicht gänzlich unsympathisch finde. Und auch Grenouille fand, dass der Monsieur im Spiegel, diese als Mensch verkleidete, maskierte, geruchlose Gestalt, nicht so ganz ohne sei; zumindest schien ihm, als könnte sie würde man ihre Maske nur vervollkommnen - eine Wirkung auf die äußere Welt tun, wie er, Grenouille, sie sich selbst nie zugetraut hätte. Er nickte der Gestalt zu und sah, dass sie, während sie wieder nickte, verstohlen die Nüstern blähte...