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Die nächsten Tage verbrachte er damit, sich auf dem Berg einzurichten - denn das stand für ihn fest, dass er diese begnadete Gegend so schnell nicht mehr verlassen würde. Als erstes schnupperte er nach Wasser und fand es in einem Einbruch etwas unterhalb des Gipfels, wo es in einem dünnen Film am Fels entlangrann. Es war nicht viel, aber wenn er geduldig eine Stunde lang leckte, hatte er seinen Feuchtigkeitsbedarf für einen Tag gestillt. Er fand auch Nahrung, nämlich kleine Salamander und Ringelnattern, die er, nachdem er ihnen den Kopf abgeknipst hatte, mit Haut und Knochen verschlang. Dazu aß er trockene Flechten und Gras und Moosbeeren. Diese nach bürgerlichen Maßstäben völlig undiskutable Ernährungsweise verdross ihn nicht im mindesten. Schon in den letzten Wochen und Monaten hatte er sich nicht mehr von menschlich gefertigter Nahrung wie Brot und Wurst und Käse ernährt, sondern, wenn er Hunger verspürte, alles zusammengefressen, was ihm an irgendwie Essbarem in die Quere gekommen war. Er war nichts weniger als ein Gourmet. Er hatte es überhaupt nicht mit dem Genuss, wenn der Genuss in etwas anderem als dem reinen Körperlosen Geruch bestand. Er hatte es auch nicht mit der Bequemlichkeit und wäre zufrieden gewesen, sein Lager auf blankem Stein einzurichten. Aber er fand etwas Besseres.

Nahe der Wasserstelle entdeckte er einen natürlichen Stollen, der in vielen engen Windungen in das Innere des Berges führte, bis er nach etwa dreißig Metern an einer Verschüttung endete. Dort, am Ende des Stollens, war es so eng, dass Grenouilles Schultern das Gestein berührten, und so niedrig, dass er nur gebückt stehen konnte. Aber er konnte sitzen, und wenn er sich krümmte, konnte er sogar liegen. Das genügte seinem Bedürfnis nach Komfort vollkommen. Denn der Ort hatte unschätzbare Vorzüge: Am Ende des Tunnels herrschte selbst tagsüber stockfinstere Nacht, es war totenstill, und die Luft atmete eine feuchte, salzige Kühle. Grenouille roch sofort, dass noch kein lebendes Wesen diesen Platz je betreten hatte. Es überfiel ihn beinahe ein Gefühl von heiliger Scheu, als er ihn in Besitz nahm. Sorgsam breitete er seine Pferdedecke auf den Boden, als bedecke er einen Altar, und legte sich darauf. Er fühlte sich himmlisch wohl. Er lag im einsamsten Berg Frankreichs fünfzig Meter tief unter der Erde wie in seinem eigenen Grab. Noch nie im Leben hatte er sich so sicher Gefühlt - schon gar nicht im Bauch seiner Mutter. Es mochte draußen die Welt verbrennen, hier würde er nichts davon merken. Er begann still zu weinen. Er wusste nicht, wem er danken sollte für so viel Glück. In der folgenden Zeit ging er nur noch ins Freie, um an der Wasserstelle zu lecken, sich rasch seines Urins und seiner Exkremente zu entledigen, und um Echsen und Schlangen zu jagen. Nachts waren sie leicht zu erwischen, denn sie hatten sich unter Steinplatten oder in kleine Höhlen zurückgezogen, wo er sie mit seiner Nase aufspürte.

Zum Gipfel hinauf stieg er während der ersten Wochen wohl noch ein paar Mal, um den Horizont abzuwittern. Bald aber war dies mehr eine lästige Gewohnheit als eine Notwendigkeit geworden, denn kein einziges Mal hatte er Bedrohliches gerochen. Und so stellte er schließlich die Exkursionen ein und war nur noch darauf bedacht, so schnell wie möglich in seine Gruft zurückzukehren, wenn er die fürs schiere überleben allernötigsten Verrichtungen hinter sich gebracht hatte. Denn hier, in der Gruft, lebte er eigentlich. Das heißt, er saß weit über zwanzig Stunden am Tag in vollkommener Dunkelheit und vollkommener Stille und vollkommener Bewegungslosigkeit auf seiner Pferdedecke am Ende des steinernen Ganges, hatte den Rücken gegen das Geröll gelehnt, die Schultern zwischen die Felsen geklemmt, und genügte sich selbst.

Man weiß von Menschen, die die Einsamkeit suchen: Büßer, Gescheiterte, Heilige oder Propheten. Sie ziehen sich vorzugsweise in Wüsten zurück, wo sie von Heuschrecken und wildem Honig leben. Manche wohnen auch in Höhlen und Klausen auf abgelegenen Inseln oder hocken sich - etwas spektakulärer - in Käfige, die auf Stangen montiert sind und hoch in den Lüften schweben. Sie tun das, um Gott näher zu sein. Sie kasteien sich mit der Einsamkeit und tun Buße durch sie. Sie handeln im Glauben, ein gottgefälliges Leben zu führen. Oder sie warten monate-oder jahrelang darauf, dass ihnen in der Einsamkeit eine göttliche Mitteilung zukomme, die sie dann eiligst unter den Menschen verbreiten wollen.

Nichts von alledem traf auf Grenouille zu. Er hatte mit Gott nicht das geringste im Sinn. Er büßte nicht und wartete auf keine höhere Eingebung. Nur zu seinem eigenen, einzigen Vergnügen hatte er sich zurückgezogen, nur, um sich selbst nahe zu sein. Er badete in seiner eigenen, durch nichts mehr abgelenkten Existenz und fand das herrlich. Wie seine eigene Leiche lag er in der Felsengruft, kaum noch atmend, kaum dass sein Herz noch schlug - und lebte doch so intensiv und ausschweifend, wie nie ein Lebemann draußen in der Welt gelebt hat.