|106|Irland – auf Sünden gebaut

Als ich Anfang November 2010 nach Dublin flog, war die irische Regierung gerade eifrig dabei, ihre Bürger über den erlittenen Verlust hinwegzutrösten. Es war zwei Jahre her, dass ein Grüppchen irischer Politiker und Banker beschlossen hatte, sämtliche Schulden der größten irischen Banken abzusichern, doch die Menschen merkten erst jetzt, was das eigentlich bedeutete. Die Zahlen waren erdrückend. Die Anglo Irish Bank, von der die irische Regierung zwei Jahre zuvor behauptet hatte, sie litte unter einem »Liquiditätsproblem«, räumte allein Verluste in Höhe von 34 Milliarden Euro ein. Ein Amerikaner, der in Dollars denkt, müsste diesen Betrag etwa mit 100 multiplizieren, damit er sich für ihn so anhört wie »34 Milliarden Euro« für einen Iren. Das wären dann 3,4 Billionen Dollar. Nur bei einer einzigen Bank, wohlgemerkt. Dabei beliefen sich die Darlehen der Anglo Irish Bank, die größtenteils an irische Bauträger erfolgt waren, insgesamt auf 72 Milliarden Euro. Mit anderen Worten: Die Bank hatte knapp die Hälfe ihres investierten Kapitals in den Sand gesetzt.

Die beiden anderen irischen Großbanken, die Bank of Ireland und vor allem die Allied Irish Banks (AIB), blieben Irlands schmutziges kleines Geheimnis. Beide waren älter als |107|die Republik Irland selbst (die Bank of Ireland wurde 1783 gegründet, die Allied Irish entstand aus der Fusion dreier Institute, die aus dem 19. Jahrhundert stammten) – und offenbar ebenfalls pleite. Die beiden altehrwürdigen Banken befanden sich mehrheitlich im Besitz des irischen Staates, der jedoch weniger darüber verlauten ließ als über Anglo Irish. Da sie nicht nur hohe Summen an irische Bauträger verliehen hatten, sondern auch an irische Eigenheimkäufer, waren ihre Verluste natürlich horrend – und ähnlich geartet wie die der noch jungen Anglo Irish. In einer Zeit, in der die Kapitalisten ihr Bestes taten, um den Kapitalismus zu vernichten, zeichneten sich die irischen Banker durch besondere Zerstörungswut aus. Kommentar von Theo Phanos, dessen Londoner Hedgefonds in Irland investiert ist: »Anglo Irish war vermutlich die schlechteste Bank der Welt. Noch schlechter als die isländischen Banken.«

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Die Finanzmisere in Irland wies einige Parallelen zur Lage in Island auf. Sie wurde von der Sorte Mann verursacht, die den Rat ihrer Frauen ignoriert, vielleicht doch mal lieber anzuhalten und nach dem Weg zu fragen. Doch während der isländische Mann ausländisches Geld hergenommen hatte, um damit im Ausland auf Eroberungszüge zu gehen – prestigeträchtige britische Gesellschaften zum Beispiel, ganze Stücke von Skandinavien –, verwendete der irische Mann das ausländische Geld, um Irland zu erobern. Als die Iren vor dem Haufen Geld im dunklen Kämmerlein saßen, wollten sie im Grunde Irland damit kaufen. Und zwar voneinander. Ein irischer Wirtschaftswissenschaftler namens Morgan Kelly, der die Verluste der irischen Banken am realistischsten eingeschätzt hatte, hat die Einbußen sämtlicher irischen Banken aus Immobiliengeschäften |108|grob auf plus/minus 106 Milliarden Euro kalkuliert (Amerikaner: bitte an 10,6 Billionen Dollar denken). Stellt man das den irischen Staatseinnahmen gegenüber, würden die Verluste irischer Banken allein die nächsten vier Jahre lang jeden Cent der in Irland gezahlten Steuern aufzehren.

Angesichts dieser astronomischen Verluste ist die irische Wirtschaft quasi unvermeidlich zusammengebrochen. Wer nach Dublin fliegt, der ist erstmals seit 15 Jahren gegen den Strom unterwegs. Wieder einmal verlassen Iren ihr Land, und mit ihnen scharenweise zugewanderte Arbeitnehmer. Ende 2006 betrug die Arbeitslosenquote etwas mehr als 4 Prozent, jetzt sind es 14 – Tendenz steigend. Sie ist dabei, auf Werte zu klettern, wie sie zuletzt Mitte der 1980er Jahre vorlagen. Noch vor wenigen Jahren konnte Irland billiger Geld aufnehmen als Deutschland. Wenn es jetzt überhaupt noch Kredit bekommt, zahlt es dafür 6 Prozent höhere Zinsen als die Bundesrepublik – wieder ein Echo aus vergangenen Zeiten. Das irische Haushaltsdefizit – 2007 hatte das Land einen Haushaltsüberschuss – liegt jetzt bei 32 Prozent seines BIP und damit auf dem höchsten Stand, der je in der Eurozone erreicht wurde. Professionelle Kreditanalysefirmen halten Irland inzwischen für das Land mit der dritthöchsten Ausfallwahrscheinlichkeit weltweit. Damit ist es für globale Investoren vielleicht nicht ganz so risikobehaftet wie Venezuela, doch riskanter als der Irak. Es besitzt auf jeden Fall eindeutig Drittweltniveau.

Als ich in Irland ankam, wirkte die irische Politik wie in einer Zeitschleife gefangen. In Island war die unternehmerfreundliche konservative Partei rasch aus dem Amt katapultiert worden und die Frauen hatten die Alphamännchen aus den Reihen der Banker und Regierungspolitiker verdrängt. |109|Auch in Griechenland waren die korrupten, unternehmerfreundlichen »Jeder-Grieche-für-sich-selbst«-Konservativen geschasst worden und die neue Regierung versucht, einen Gemeinsinn zu fördern oder wenigstens die Bürger zu überreden, künftig keine Steuern mehr zu hinterziehen. (Der neue griechische Premierminister ist nicht nur ein aufrechter Mann, sondern außerdem kaum ein »richtiger« Grieche.) Irland war das erste europäische Land, das erleben musste, wie sein gesamtes Bankensystem kollabierte. Dennoch blieb die unternehmerfreundliche konservative Partei Fianna Fáil (»Fiena Foil« ausgesprochen) bis Februar 2011 im Amt. Es gibt weder eine Tea-Party-Bewegung noch irgendwelche ernst zu nehmenden Proteste. Die einzige offensichtliche politische Veränderung im Land betraf die Rolle der Ausländer. Der neue Chef der Bankenaufsicht, ein Engländer, kam von den Bermudas. In der irischen Regierung und in den irischen Banken wimmelt es nur so von amerikanischen Investmentbankern, australischen Managementberatern und gesichtslosen Eurobeamten, die im irischen Finanzministerium schlicht als »die Deutschen« bezeichnet werden. Wenn Sie nachts durch die Straßen schlendern und durchs Fenster in die Restaurants schauen, sehen Sie dort wichtig anmutende Männer in Anzügen sitzen, die alleine essen und wichtig anmutende Papiere studieren. Auf eine seltsame neue Art war Dublin nun Besatzungszone: wie Hanoi um 1950. »Das Problem mit Irland ist, dass man nicht mehr mit Iren arbeiten darf«, erzählte mir ein irischer Bauträger. Er ächzte unter mehreren hundert Millionen Euro Schulden, die er nie im Leben zurückzahlen könnte.

Irlands Rückschritt ist deshalb so beunruhigend, weil er Fragen in Bezug auf den zuvor erzielten Fortschritt aufwirft: Selbst jetzt weiß niemand so ganz genau, wieso es den Iren |110|zunächst so gut ging. Von 1845 bis 1852 erlebte das Land den größten Bevölkerungsschwund der Weltgeschichte: Von 8 Millionen Einwohnern wanderten 1,5 Millionen aus. Eine weitere Million Iren verhungerte oder starb an den Folgen der Unterernährung. Innerhalb von zehn Jahren wurde aus einem der am dichtesten besiedelten Länder Europas eines der bevölkerungsärmsten. Die Gründung des irischen Staates im Jahr 1922 mochte wirtschaftliche Hoffnungen geweckt haben. Die Iren hatten nun eine eigene Zentralbank und konnten eine eigene Wirtschaftspolitik betreiben. Doch bis zum Ende der 1980er Jahre gelang ihnen nicht, was die Ökonomen sich von ihnen erhofft hatten: an den Lebensstandard ihrer Nachbarn anzuknüpfen. Noch in den 1980er Jahren lebte von nur 3,2 Millionen Iren eine Million unterhalb der Armutsgrenze.

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Was sich seitdem in Irland vollzogen hat, ist beispiellos in der Wirtschaftsgeschichte. Mit Beginn des neuen Jahrtausends sank die Armutsrate unter 6 Prozent und Irland war nach Angaben der Bank of Ireland das zweitreichste Land der Welt. Wie war es dazu gekommen? Ein cleverer junger Ire, der Ende der 1990er eine Stelle bei Bear Stearns ergattert hatte und nach fünf Jahren in New York und London heimkehrte, fühlte sich arm. In den letzten zehn Jahren hatte man im irischen Immobiliengeschäft meistenteils schneller und mehr Geld verdienen können als im amerikanischen Investmentbanking. Wie war es dazu gekommen? Erstmals in der Geschichte strömten Menschen und Geld nach Irland – nicht in die andere Richtung. Das drastischste Beispiel dafür sind die Polen. Die polnische Regierung führt zwar nicht offiziell Buch über die Bewegungen ihrer Erwerbstätigen, doch nach Schätzungen |111|des Außenministeriums haben seit dem Beitritt zur Europäischen Union eine Million Polen ihr Land verlassen, um im Ausland zu arbeiten – und auf dem Höhepunkt der Entwicklung im Jahr 2006 befand sich eine Viertelmillion von ihnen in Irland. Damit sich in den Vereinigten Staaten ein entsprechender demografischer Verzerrungseffekt ergäbe, müssten 17,5 Millionen Mexikaner Green Cards erhalten.

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Wie kam das alles? Es gibt viele Theorien: die Beseitigung von Handelsbarrieren, die Entscheidung, kostenlos weiterführende Bildung anzubieten, eine in den 1980er Jahren eingeführte niedrige Körperschaftsteuer, die Irland zur Steueroase für ausländische Unternehmen machte. Der interessanteste Aspekt wurde vielleicht von zwei Bevölkerungswissenschaftlern der Harvard University, David E. Bloom und David Canning, in ihrem Aufsatz »Contraception and the Celtic Tiger« (»Empfängnisverhütung und der keltische Tiger«) aufgegriffen. Bloom und Canning führten als eine der Hauptursachen für den irischen Boom den drastischen Anstieg des Anteils von Iren im erwerbsfähigen Alter gegenüber anderen Altersgruppen ins Feld. Dieser Anstieg war die Folge des Einbruchs der irischen Geburtenrate, welcher wiederum aus dem Beschluss von 1979 zur Legalisierung der Empfängnisverhütung resultierte. Für die Nation bestand quasi eine umgekehrte Beziehung zwischen der Befolgung der päpstlichen Anordnungen und ihrer Befähigung, sich aus der Armut zu erheben: Aus dem langsamen Niedergang der katholischen Kirche in Irland erwuchs ein Wirtschaftswunder.

Die Harvard-Demografen räumten ein, dass ihre Theorie die Entwicklungen in Irland nur zum Teil erklärte. Was dem |112|irischen Erfolg wirklich zugrunde lag, ist bis heute nicht restlos geklärt. »Es war, als würde auf einer Waldeslichtung ein Fabelwesen auftauchen«, schreibt der bekannte irische Historiker R.F. Foster, »und die Wirtschaftsexperten sind sich immer noch nicht ganz im Klaren, wie es dazu kam.« Weil die Iren nicht wussten, warum sie plötzlich so erfolgreich waren, ist vielleicht verzeihlich, dass sie auch keine Vorstellung davon hatten, wie erfolgreich sie sein sollten. Sie hatten den Sprung aus abnormer Armut in abnormen Wohlstand geschafft, ohne zwischendurch so etwas wie Normalität zu erleben. Als die Finanzmärkte Anfang des neuen Jahrtausends praktisch jedermann unbegrenzt Kredit gewährten – als ganze Nationen in das besagte dunkle Kämmerlein mit dem Haufen Geld geführt wurden und vor der Frage standen, was sie denn nun damit anfangen sollten –, befanden sich die Iren bereits in einer extrem heiklen geistigen Verfassung. Sie hatten den größten Teil des Jahrzehnts wie unter einem Zauber verbracht.

Ein paar Monate nachdem der Zauber vorbei war, stellten die Wächter der Kurzzeitparkplätze des Dubliner Flughafens fest, dass ihre Tageseinnahmen bröckelten. Dabei war der Parkplatz voll. Sie standen vor einem Rätsel. Doch dann fiel ihnen auf, dass es sich jeden Tag um die gleichen Autos handelte. Die daraufhin benachrichtigte Dubliner Polizei ermittelte, dass es sich um die Fahrzeuge polnischer Bauarbeiter handelte – gekauft mit Geld, das ihnen große irische Banken geliehen hatten. Die Gastarbeiter hatten die Autos einfach stehen lassen und waren nach Hause geflogen. Ein paar Monate später schickte die Bank of Ireland drei Inkassobeauftragte nach Polen, um zu sehen, was noch einzutreiben war, doch vergebens. Die Polen waren unauffindbar. Wären da nicht |113|ihre Autos auf dem Parkplatz, hätte man fast glauben können, es hätte sie nie gegeben.

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Morgan Kelly ist Ökonomieprofessor am University College Dublin, hielt es aber bis vor kurzem nicht für seine Aufgabe, viel über die Wirtschaft vor seiner Nase nachzudenken. Er veröffentlichte ein paar höchst angesehene akademische Abhandlungen über Themen, die sogar in Fachkreisen als abgehoben galten (»The Economic Impact of the Little Ice Age« – »Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Kleinen Eiszeit«). »Ich stolperte rein zufällig über diese Katastrophe«, erzählt er. »Ich habe mich nie für die irische Wirtschaft interessiert. Ich fand sie klein und langweilig.« Kelly erlebte, wie die Häuserpreise explodierten und wie junge irische Finanzmanager, die kurz zuvor noch in seinen Vorlesungen gesessen hatten, erklärten, warum ihnen der Boom keine Sorgen bereite. Ihm bereitete sehr wohl Sorgen, was er da sah und hörte. »Etwa Mitte 2006 erschienen plötzlich viele meiner ehemaligen Studenten, die bei Banken arbeiteten, im Fernsehen!«, erzählt er. »Auf einmal waren sie Wirtschaftsexperten der Banken – nette junge Leute, wirklich. Und sie sagten alle das Gleiche: ›Es wird eine sanfte Landung geben.‹«

Diese Aussage kam ihm gleich absurd vor. Immobilienblasen enden nie mit einer sanften Landung. Eine Blase lebt allein von den Erwartungen der Menschen. In dem Moment, in dem die Leute nicht mehr daran glauben, dass die Häuserpreise ewig weitersteigen, merken sie, was für schlechte langfristige Geldanlagen Immobilien geworden sind, und flüchten aus dem Markt. Und dann kommt es zum Crash. Es lag also in der Natur von Immobilienbooms, mit einem Crash zu enden – und ebenso lag es wohl in der Natur von Morgan Kelly, ins |114|Grübeln zu geraten, wenn seine ehemaligen Studenten im irischen Fernsehen die Finanzexperten gaben. »Ich habe einfach angefangen zu googeln«, berichtete er.

Beim Googeln erfuhr Kelly, dass mittlerweile ein Fünftel der irischen Erwerbsbevölkerung in der Bauwirtschaft beschäftigt war. Das irische Baugewerbe war so angewachsen, dass es knapp ein Viertel des irischen BIP ausmachte. In einer »normalen« Volkswirtschaft waren es nicht einmal 10 Prozent. Und dabei wurden in Irland nur halb so viele neue Häuser gebaut wie in Großbritannien, wo mehr als 15-mal so viele Menschen Wohnraum brauchten. Er erfuhr, dass der Durchschnittspreis für ein Eigenheim in Dublin seit 1994 um über 500 Prozent gestiegen war. In manchen Stadtteilen waren die Mieten auf unter 1 Prozent des Kaufpreises gefallen. Das bedeutete, dass man ein Haus, das eine Million Euro kostete, für nicht einmal 833 Euro im Monat mieten konnte. Die Anlageerträge auf irische Grundstücke waren lächerlich gering, es erschien unsinnig, Kapital nach Irland zu lenken, um weitere zu erschließen. Die irischen Häuserpreise ließen auf eine Wirtschaftswachstumsrate schließen, mit der Irland in 25 Jahren dreimal so reich sein würde wie die Vereinigten Staaten. (»Das wäre ein höheres Kurs-Gewinn-Verhältnis als bei Google«, wie Kelly es formulierte.) Woher sollte dieses Wachstum kommen? Seit 2000 waren die irischen Exporte stagniert und die Wirtschaft hatte sich auf den Bau von Häusern, Büros und Hotels fixiert. »Wettbewerbsfähigkeit spielte keine Rolle«, meint Kelly. »Es stand einfach fest, dass wir von nun an reich werden würden, indem wir einander Häuser bauten.«

Der endlose Zustrom von billigem Geld aus dem Ausland hatte aus dem Nationalcharakter einen neuen Zug herausgekitzelt. »Wir sind eigentlich hartgesottene, pessimistische Menschen«, |115|erklärt Kelly. »Wir haben kein Auge fürs Positive.« Doch seit der Jahrtausendwende benahmen sich viele, als wäre jeder nächste Tag sonniger als der letzte. Die Iren hatten den Optimismus entdeckt.

Ihr Immobilienboom erinnerte an ein dunkles Familiengeheimnis, das gewahrt bleiben konnte, solange niemand Fragen stellte – und der Boom wurde nicht hinterfragt, solange er sich zu halten schien. Immerhin – als sich der Wert irischer Immobilien erst von den Mieten abgekoppelt hatte, gab es praktisch keine Zahlen mehr, die sich nicht rechtfertigen ließen. Als der irische Unternehmer Denis O’Brien für sein eindrucksvolles Anwesen in der Shrewsbury Road in Dublin 35 Millionen Euro zahlte, hielt man das nur so lange für teuer, bis die Frau des Immobilienentwicklers Sean Dunne 58 Millionen Euro für ein renovierungsbedürftiges 370-Quadratmeter-Domizil eine Straße weiter auf den Tisch blätterte. Doch sobald man den Anstieg der Preise mit anderen Immobilienbooms verglich, erhielt die Diskussion eine ganz neue Grundlage. Die Argumentation funktionierte nicht mehr. Die Vergleiche, die sich Morgan Kelly dabei unwillkürlich aufdrängten, betrafen die Häuserblasen in den Niederlanden in den 1970er Jahren (nachdem in Holland Erdgas entdeckt worden war) und im Finnland der 1980er Jahre (nach Ölfunden vor der finnischen Küste). Doch ganz gleich, welche Beispiele er aufgriff – allein schon die Vorstellung, dass Irland kein Ausnahmefall war, machte Angst. »In Bezug auf die Häuserpreise gibt es ein ehernes Gesetz«, schrieb er. »Je stärker sie im Verhältnis zu Einkommen und Mieten anziehen, desto tiefer fallen sie im Anschluss.«

Kellys Problem war nun, was er mit diesen Gedanken anfangen sollte, nachdem sie ihm gekommen waren. »Das war |116|eigentlich nicht mein Thema«, erzählt er. »Ich befasste mich mit mittelalterlicher Bevölkerungstheorie.« Als ich auf ihn stieß, hatte Kelly bereits das gesamte irische Establishment in Wirtschaft und Politik verärgert und verunsichert. Selbst war er jedoch weder das eine noch das andere, und besonders aufmerksamkeitsversessen auch nicht. Er ist kein Freund großer Medienauftritte. Er arbeitet in einem Büro, das erbaut wurde, als Irlands höhere Bildung noch auf Linoleumfußböden unter Neonröhren und umgeben von Blechregalen stattfand. Es erinnert eher an eine Werkstatt als an eine Kaderschmiede für die Immobilien- und Finanzwirtschaft – und es gefällt ihm so. Er wirkt ein bisschen mutwillig, unverstellt und ganz offensichtlich vernünftig – obwohl man dieses Wort in Irland mit Vorsicht verwenden sollte. Zwar stellt er sein Licht nicht unbedingt unter den Scheffel, ist aber eindeutig kein Selbstdarsteller. Trotz Jahren an der Hochschule und einem Doktortitel von Yale konnte er sich eine gewisse kindliche Neugier bewahren. »Ich war wie der Passagier auf einem Schiff«, schildert er, »der einen großen Eisberg sieht. Und der deshalb zum Kapitän geht und ihn fragt: Ist das ein Eisberg?«

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Seine Warnung an den Schiffskapitän erschien in Form des ersten Zeitungsartikels, den er in seiner Laufbahn verfasste. Dessen Kernaussage war: »Es ist durchaus im Bereich des Möglichen, dass die Preise [für irische Immobilien] in Relation zu den Einkommen um 40 bis 50 Prozent fallen könnten.« Im oberen Marktsegment, so vermutete er, könnten sie sogar um ganze 66 Prozent einbrechen. Diesen ersten Artikel schickte er an die nicht eben auflagenstarke Irish Times. »Aus einer Laune heraus«, erzählt er. »Ich war im Grunde gar nicht |117|sicher, ob ich überhaupt glaubte, was ich da geschrieben hatte. Mein Standpunkt war stets: ›Man kann die Zukunft nicht vorhersagen.‹« Dabei hatte Kelly die Zukunft sogar unheimlich exakt vorhergesagt. Doch glauben konnte ihm nur, wer akzeptierte, dass Irland keine exotische Ausnahmeerscheinung in der Finanzgeschichte der Menschheit war. »Ich erreichte nichts«, stellt Kelly fest. »Mein Artikel wurde allgemein belächelt. Was fällt diesen versponnenen Eierköpfen wohl als Nächstes ein? – so oder ähnlich sahen die Reaktionen aus.«

Nun, dieser spezielle versponnene Eierkopf erkannte als Nächstes den offensichtlichen Zusammenhang zwischen den irischen Immobilienpreisen und den Banken des Landes. Schließlich wurde die Bautätigkeit größtenteils von den irischen Banken finanziert. Sollte der Immobilienmarkt zusammenbrechen, stünden die Banken vor enormen Verlusten. »Ich begriff allmählich, was da vorging«, berichtet Kelly. »Der durchschnittliche Wert und die Zahl der neu abgeschlossenen Hypotheken erreichten im Sommer 2006 ihren Höhepunkt. Allerdings wurden die Kreditstandards danach sichtlich gelockert.« Die Banken vergaben weiterhin immer minderwertigere Kredite, doch die Menschen, die Geld aufnahmen, um Häuser zu kaufen, wurden zunehmend misstrauisch. »Was passierte, war Folgendes«, sagt Kelly. »Eine Menge Leute bekam langsam kalte Füße.« Der unvermeidliche Stimmungsumschwung auf dem Markt würde verheerende Folgen für die irischen Banken haben – und für die Wirtschaft. Die Verluste der Banken würden diese zwingen, die Kreditvergabe auf rentable Unternehmen zu beschränken. Die Bürger des Landes, die ihren Banken Geld schuldeten, würden ihre Ausgaben reduzieren. Vor allem aber – und das war womöglich das |118|Schlimmste – würde die gesamte Bautätigkeit, mittlerweile Grundlage der ganzen Wirtschaft, zum Erliegen kommen.

Da schrieb Kelly seinen zweiten Zeitungsartikel, in dem er mehr oder weniger den Kollaps der irischen Banken prophezeite. Er verwies darauf, dass sich die Banken und die Wirtschaft in Irland im vergangenen Jahrzehnt grundlegend verändert hatten. 1997 finanzierten sich die Banken ausschließlich aus irischen Einlagen, 2005 bezogen sie ihr Kapital überwiegend aus dem Ausland. Die deutschen Kleinanleger, die irischen Banken am Ende Mittel zum Weiterverleihen innerhalb Irlands zur Verfügung gestellt hatten, konnten ihr Geld mit einem Mausklick abziehen. Seit 2000 war der auf Bauwirtschaft und Immobilien entfallende Anteil an irischen Bankkrediten von (den in Europa üblichen) 8 Prozent auf 28 Prozent gestiegen. 100 Milliarden Euro – im Grunde also der Gesamtbetrag aller irischen Bankeinlagen – waren in die Hände gewerblicher irischer Bauträger übergegangen. 2007 liehen irische Banken dieser Branche 40 Prozent mehr Geld als noch sieben Jahre zuvor der gesamten irischen Bevölkerung. »Nun könnte man vermuten, dass der Umstand, dass irische Banken Spekulanten 100 Milliarden Euro Spielgeld in die Hand gedrückt hatten – im sicheren Wissen, dass der Steuerzahler für die meisten Verluste geradestehen würde –, für die irische Zentralbank ein Grund zur Sorge war«, schrieb Kelly. »Doch weit gefehlt.«

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Seinen zweiten Artikel schickte Kelly an eine Zeitung mit höherer Auflage – den Irish Independent. Dessen Chefredakteur schrieb zurück, er empfinde den Text als anstößig und werde ihn nicht veröffentlichen. Also wendete sich Kelly an die Sunday Business Post, deren Chefredakteur den Artikel zwar annahm, |119|aber sich mit der Veröffentlichung Zeit ließ. Die Journalisten hielten es mit den Bankern und verschmolzen positive Prognosen für die Immobilienpreise mit Vaterlandsliebe und Engagement für das »Team Irland«. (»Es hieß immer: ›Entweder seid ihr für oder gegen uns‹«, erzählt ein namhafter irischer Bankanalyst aus Dublin.) Am Ende ging Kelly doch wieder zur Irish Times, die seinen Artikel im September 2007 abdruckte.

Es folgte eine kurze und aus Kellys Sicht fruchtlose Kontroverse. Der für die Öffentlichkeitsarbeit zuständige Mitarbeiter des University College Dublin rief den Chef der Wirtschaftsfakultät an und bat ihn, jemanden aufzutreiben, der eine akademische Gegendarstellung zu Kellys Artikel verfassen würde. (Der Fakultätsleiter lehnte ab.) Dann wurde er per Telefon attackiert von Matt Moran, einem leitenden Mitarbeiter der Anglo Irish Bank. »Er sagte immer wieder: ›Die Bauträger, die bei uns Darlehen aufnehmen, sind so unglaublich reich – die wollen uns nur einen Gefallen tun, wenn sie sich bei uns Geld leihen.‹ Er wollte mit mir streiten, aber am Ende aßen wir gemeinsam zu Mittag. Wir sind schließlich Iren.« Außerdem trudelten bei Kelly jede Menge besorgt klingender Mitteilungen von Finanzleuten aus London ein, aber die ließen ihn kalt. »Ich habe den Eindruck, dass es auf den Finanzmärkten ein Grüppchen von Analysten gibt, die nichts anderes tun, als sich den ganzen Tag lang gegenseitig Schreckensbotschaften zu schicken.« Wie sehr sein kleiner Artikel die Denkweise maßgeblicher Akteure beeinflusste, sollte Kelly nie erfahren.

Erst fast ein Jahr später, am 29. September 2008, fand sich Morgan Kelly zu seiner Verblüffung als Gegenstand des öffentlichen Interesses wieder. Die Aktienkurse der drei wichtigsten |120|irischen Banken, Anglo Irish, AIB und Bank of Ireland, waren während einer einzigen Börsensitzung zwischen einem Fünftel und der Hälfte abgesackt und es hatte ein Run auf die Einlagen irischer Banken eingesetzt. Die irische Regierung war drauf und dran, sämtliche Verbindlichkeiten der sechs größten irischen Banken zu garantieren. Die plausibelste Erklärung dafür hatte Morgan Kelly geliefert: Die irische Wirtschaft war zu einem riesigen Schneeballsystem verkommen und das Land im Grunde bankrott. Doch das widersprach so krass der Geschichte, die von irischen Regierungsvertretern und leitenden Bankmanagern verbreitet wurde – dass die Banken ein »Liquiditätsproblem« hätten und die Anglo Irish »fundamental solide« sei –, dass kein gemeinsamer Nenner gefunden werden konnte. Der Regierung lag ein eilig zusammengeschusterter Bericht von Merrill Lynch vor, der besagte, dass »alle irischen Banken rentabel und gut kapitalisiert« seien. Kellys Auffassung wich von der offiziell vertretenen Ansicht unvereinbar ab. Entweder glaubte man das eine oder das andere. Und wer war vor September 2008 schon geneigt, jemandem zu glauben, der sich in seinem Büro vergrub und sein Leben darauf verschwendete, die Auswirkungen der Kleinen Eiszeit auf die englische Bevölkerung zu beschreiben? »Ich trat im Fernsehen auf«, berichtet Kelly. »Zum ersten und zum letzten Mal.«

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Kellys Kollegen von der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät des University College verfolgten seine Verwandlung vom ernst zu nehmenden Akademiker in einen amüsanten Spinner und später zum verstörend weitsichtigen Guru mit Interesse. Darunter auch Colm McCarthy, der während der irischen Rezession Ende der 1980er Jahre bei der Kürzung der Staatsausgaben |121|eine maßgebliche Rolle gespielt hatte und sich mit der Schnittmenge von Finanzwirtschaft und öffentlicher Meinung bestens auskannte. Nach McCarthys Ansicht ereignete sich der Umschwung der in den Köpfen der irischen Durchschnittsbürger herrschenden Meinung – und ihre Bereitschaft, Kellys Geschichte ernst zu nehmen – gegen 22 Uhr am 2. Oktober 2008. An jenem Abend gab der Chef der irischen Bankenaufsicht, Patrick Neary – zeit seines Lebens Zentralbankbürokrat und inzwischen über 60 – ein Live-Interview im irischen Fernsehen. Der Moderator klang, als habe er gerade die gesammelten Werke von Morgan Kelly gelesen. Der irische Bankenaufseher dagegen wirkte, als habe man ihn aus einem Loch gezogen, in das er möglichst schnell wieder verschwinden wollte. Sein kleiner Schnurrbart zitterte, als er auswendig gelernte Antworten auf Fragen stammelte, die gar nicht gestellt worden waren – während er die tatsächlich gestellten Fragen ignorierte.

Ein Bankensystem steht und fällt mit dem Vertrauen. Es ist nur so lange lebensfähig, solange die Menschen daran glauben. Zwei Wochen zuvor hatte der Zusammenbruch von Lehman Brothers weltweit Zweifel an den Banken geweckt. Die irischen Banken waren nicht so geführt worden, dass sie solchen Zweifeln standhalten konnten. Ihr Management hatte vielmehr auf blindes Vertrauen gesetzt. Und nun bekamen die Iren endlich einen Eindruck von dem Mann, der für ihre Sicherheit verantwortlich war: der geisteskranke Onkel, der aus dem Keller entsprungen war, in den ihn die Familie gesperrt hatte. Da war er, auf ihren Fernsehschirmen, und behauptete stur, die Probleme der irischen Banken hätten überhaupt nichts mit den von ihnen vergebenen Krediten zu tun … wo doch jeder, der Augen im Kopf hatte, sehen konnte – an den |122|überall leer stehenden Hochhäusern und unbewohnten Wohnanlagen –, dass die Darlehen der Banken nicht nur faul, sondern nachgerade irrwitzig waren. »Alle Iren pflegten die Vorstellung, dass da irgendwo in Irland ein weiser alter Greis saß, der auf ihr Geld aufpasste – und nun hatten sie dieses Männchen erstmals zu Gesicht bekommen«, beschreibt McCarthy das Ganze. »Und bei seinem Anblick sagten sie: Wer zum Teufel war das denn? Das soll der Typ sein, der für unser Geld verantwortlich ist?? Da brach die Panik aus.«

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Am Morgen des Tages, an dem die irische Regierung ihren brutalen neuen Haushalt vorstellen wollte, nahm ich meinen Platz auf der Besuchergalerie des irischen Parlaments ein. Neben mir saß eine Referentin von Joan Burton, die als Finanzsprecherin der Labour Party seinerzeit gute Aussichten hatte, Irlands nächste Finanzministerin zu werden – sozusagen als zufällige Erbin einer heillosen Misere. Unten im Plenarsaal blieben die meisten Sitze leer, doch ein paar Politiker, darunter auch Burton, diskutierten über das Thema, das seit zwei Jahren ununterbrochen auf der Tagesordnung stand: die Finanzkrise des Landes.

Als Erstes fällt dem Beobachter einer irischen Parlamentsdebatte auf, dass die Teilnehmer alles zweimal sagen – einmal auf Englisch, einmal auf Gälisch. Da es in Irland niemanden gibt, der kein Englisch spricht, und die große Mehrheit nicht Gälisch kann, wirkt das wie eine gezwungene Geste, die viel Zeit kostet. Auf meine Frage, ob sie Gälisch sprechen, antworten mir mehrere irische Politiker mit unbehaglicher Miene nervös: »Es reicht, um durchzukommen.« Die irischen Politiker sprechen ungefähr so gut Gälisch wie der Hausfrauenverband |123|Ostwestfalen-Lippe Französisch. Doch die Frage »Wieso machen sie sich dann überhaupt die Mühe?« geht natürlich am Thema vorbei. Auf Schritt und Tritt wird alles Englische nachgeahmt und gleichzeitig – mitunter verzweifelt – nach Unterscheidung gestrebt. Das Beharren der Iren auf ihrer »Irishness« – ihre Einbildung, sie seien stärker heimatverbunden als andere Nationen – zieht sich durch alle Bevölkerungsschichten und hat durchweg einen prahlerischen Anstrich. Ganz oben stehen ein paar sehr reiche Iren, die patriotisch daherreden, aber ihren offiziellen Wohnsitz im Ausland haben, damit sie in Irland keine Steuern zahlen müssen. Das untere Ende bilden die typischen Emigrationswellen der irischen Geschichte. Die Iren und ihr Land sind wie ein Liebespaar, dessen Leidenschaft angefacht wird durch den Verdacht, dass am Ende die Trennung stehen könnte. Und diese Zweifel übertönt man doch lieber mit einer wortgewaltigen Vaterlandsliebe.

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An diesem Tag steht für das Dáil (»Doil« gesprochen), wie die Iren ihr Parlament nennen, neben Verlautbarungen zum Haushalt noch ein Punkt auf dem Programm, der an sich kontrovers sein müsste: die Abstimmung darüber, ob Wahlen anberaumt werden sollen, um die vier vakanten Sitze zu besetzen. Die regierende Partei Fianna Fáil hält eine knappe Mehrheit von zwei Sitzen und erzielt in Umfragen ein Ergebnis von 15 Prozent, weil sie gemeinhin als Verursacherin der Finanzkatastrophe gilt. Würden unmittelbar Wahlen abgehalten, müsste sie abtreten. Das ist allerdings eine ausgesprochen radikale Vorstellung, da diese Partei Irland praktisch seit seiner Gründung als unabhängiger Staat im Jahr 1922 mehr oder minder durchgehend regiert hat. Doch sie kann der Forderung nach |124|Vergabe der freien Sitze erfolgreich trotzen, bis sie im Februar 2011 abgewählt wird.

Eine Glocke ruft zur Abstimmung und die irischen Abgeordneten strömen herein. Ein paar Minuten vor der Stimmabgabe schließt sich die Tür zur Kammer und es postieren sich Wachen davor. Wer zu spät kommt, darf seine Stimme nicht mehr abgeben. Der Saal ist durch eine Glaswand von der Besuchergalerie getrennt. Ich frage meine ortskundige Begleitung danach. »Sie soll nicht verhindern, dass die Menschen ihre Regierung mit Gegenständen bewerfen«, meint sie und erklärt mir ihre wahre Bewandtnis. Vor ein paar Jahren kam ein irischer Abgeordneter zu spät. Die Türen waren bereits geschlossen. Da rannte er auf die Besuchergalerie, sprang von dort drei Meter auf die Pressegalerie hinunter und hangelte sich über die Absperrung zum Saal. Seine Stimme wurde angenommen, doch danach errichtete man die Glasabtrennung. Man missbilligte das Schlupfloch, belohnte aber denjenigen, der es clever für sich zu nutzen verstand. Das, so meint sie, sei typisch irisch.

Der Erste, der seinen Platz einnimmt, ist Bertie Ahern, von Juni 1997 bis Mai 2008 Premierminister und wichtigster politischer Akteur. Ahern ist für zweierlei bekannt: für seine Bauernschläue ebenso wie für gern zitierte abgrundtief dämliche Aussprüche. Tony Blair schrieb ihm für seine geschickte Vermittlung bei den Friedensverhandlungen in Nordirland geniale Qualitäten zu. Doch zur Erklärung der Finanzkrise sagte er tatsächlich: »Lehman’s war eine globale Investmentbank. Sie hatte ihre Testikel überall.« Während der letzten Tage seiner Amtszeit beteuerte Ahern krampfhaft, er habe keine Schmiergelder von Bauträgern angenommen – zum Teil deshalb, weil sich so viele seiner Amtshandlungen offenbar nur |125|damit erklären ließen, dass er dafür Geld von der Immobilienbranche erhalten hatte. Doch auch Bertie Ahern glaubte offensichtlich an das irische Immobilienwunder. Nachdem Morgan Kelly seinen Artikel veröffentlicht hatte, der den Zusammenbruch der irischen Banken prophezeite, beantwortete Ahern eine Frage dazu mit dem berühmten Ausspruch: »Wer als Zuschauer untätig am Spielfeldrand sitzt und stänkert, der lässt Chancen verstreichen. Warum sich Menschen, die das tun, nicht gleich einen Strick kaufen, ist mir schleierhaft.«

Jetzt ist Ahern nur mehr einer von vielen Hinterbänklern in Armesünderhaltung mit einem von geplatzten Äderchen marmorierten Gesicht. Um seine Tage zu füllen, hat er eine Nebentätigkeit aufgenommen und schreibt eine Sportkolumne für Rupert Murdochs Sonntagsblättchen News of the World – so ziemlich der anrüchigste Journalistenjob der Welt.3 Aherns Stern strahlt nicht mehr so hell wie früher. Als der Landboom in Irland vom Wunder in die Katastrophe umschlug, geschah das gleiche mit dem Ansehen einiger wichtiger Leute – und womöglich auch mit ihrem Selbstwertgefühl. Ein irischer Börsenmakler hat mir erzählt, dass sich viele der ehemaligen Banker, von denen manche zu seinen Kunden zählen, »sogar physisch verändert« haben. Er hatte gerade erlebt, wie Eugene Sheehy, der ehemalige CEO von Allied Irish Banks, in einem Restaurant von anderen Gästen in die Enge getrieben worden war. Sheehy war einst ein glatter, von sich überzeugter Mensch gewesen, dessen Autorität außer Frage stand. »Wenn du ihn heute sehen würdest«, so mein Börsenmakler-Freund, »würdest du ihm eine Tasse Tee spendieren.«

|126|Die irische Immobilienblase unterschied sich aber in mehrerlei Hinsicht von der amerikanischen. So war sie zum Beispiel in keiner Form getarnt. Sie ging nicht mit komplexem Financial Engineering einher, das einfache Sterbliche nicht mehr durchblickten. Und sie war auch nicht so zynisch. Die wenigsten irischen Finanziers oder Immobilienunternehmer haben jetzt noch eine Zukunft. In Amerika gingen die Banken in die Knie, doch ihre Topmanager verdienten trotzdem Millionen. In Irland gingen die großen Tiere mit ihren Banken unter. Sean Fitzpatrick, ein Kind aus der Arbeiterklasse, der sich zum Bankmanager hochgearbeitet und die Anglo Irish Bank praktisch aus dem Nichts aufgebaut hatte, gilt weithin als der Architekt des irischen Unglücks. Heute ist er nicht nur bankrott, sondern kann sich in der Öffentlichkeit auch nicht mehr blicken lassen. Wer seinen Namen erwähnt, erlebt, wie total Unbeteiligte empört anprangern, wie er Millionenkredite verschleierte, die seine Bank an ihn ausreichte. Unerwähnt bleibt, was er mit dem Geld anfing: Er investierte es nämlich in Anleihen von Anglo Irish! Als die Bank pleiteging, gehörte Fitzpatrick zu den Gläubigern. Er hatte (noch im April 2008!) für fünf Millionen Euro nachrangige variabel verzinsliche Schuldtitel von Anglo Irish gekauft.

Die Spitzenmanager aller drei Großbanken verhielten sich ähnlich: Sie kauften bis kurz vor dem Zusammenbruch Aktien ihrer eigenen Unternehmen und zahlten weiter Dividenden aus, als hätten sie so viel Geld, dass sie es auch verbrennen könnten. Praktisch alle großen Bauträger, die leichtsinnig gehandelt hatten, unterzeichneten persönliche Bürgschaften für ihre Kredite. Weit verbreitet ist die Ansicht, sie müssten irgendwo Berge von Geld versteckt haben, doch die Beweislage spricht bislang eher dagegen. Das Irish Property Council |127|hat seit dem Crash 29 Selbstmorde von Bauträgern verzeichnet – in einem Land, in dem Selbstmord oft nicht öffentlich wird und die Dunkelziffer entsprechend hoch ist. »Ich habe immer allen geraten: ›Nehmt ein bisschen Geld vom Tisch.‹ Doch die Wenigsten haben das auch getan«, sagt Dermont Desmond, ein irischer Milliardär, der Anfang der 1990er Jahre mit Software ein Vermögen verdiente, was mittlerweile als altes Geld gilt.

Die irischen Neureichen mochten ein Schneeballsystem angestoßen haben, doch immerhin hatten sie selbst daran geglaubt – so wie eine größere Anzahl irischer Normalbürger, die für astronomische Summen Häuser kauften. Mit 87 Prozent ist die Wohneigentumsquote in Irland eine der höchsten der Welt. So etwas wie regresslose Hypotheken gibt es in Irland nicht. Wer zu viel für sein Haus gezahlt hat, kann nicht einfach der Bank den Schlüssel auf den Tisch knallen und seiner Wege gehen. Er muss persönlich für das aufgenommene Geld geradestehen. In ganz Irland können sich Menschen nicht von Verpflichtungen durch Häuser oder Bankkredite befreien. Die Iren werden ihnen erzählen, nicht zuletzt wegen ihrer traurigen, von Enteignung geprägten Geschichte, dass Wohneigentum für sie nicht nur eine Möglichkeit darstellt, Miete zu sparen, sondern ein Zeichen für Freiheit. Und im eifrigen Streben nach Freiheit haben sich die Iren ihr eigenes Gefängnis gebaut. Und ihre Führungsspitze hat ihnen dabei geholfen.

***

Kurz vor dem Ertönen der Schlussglocke kommen zwei Männer in die Kammer, die den Iren eingeredet haben, sie seien nicht nur für ihre eigenen desaströsen Finanzentscheidungen verantwortlich, sondern auch für die ihrer Banken: Premierminister |128|Brian Cowen und Finanzminister Brian Lenihan. Wie der Oppositionsführer und der dritthöchste Funktionär ihrer eigenen Partei sind beide Kinder von Politikern, die während ihrer Amtszeit verstarben. In Irland ist Politik Familiensache. Cowen war zufällig von 2004 bis Mitte 2008 Finanzminister – in der allerheikelsten Phase also. Auf den ersten Blick wirkt er nicht wie eine Führungspersönlichkeit. Er bewegt sich träge und schwerfällig, seine Gesichtszüge sind durch seine Körperfülle geprägt, sein natürlicher Gesichtsausdruck wirkt eher verwirrt. Ein paar Wochen zuvor hatte er sich vormittags landesweit im Radio geäußert und klang dabei für das geübte irische Ohr angetrunken. Mein weniger trainierter Gehörsinn nahm ihn nur als angeschlagen wahr, doch die Öffentlichkeit neigt nicht zur Nachsicht. (Vier verschiedene irische Quellen versicherten mir sehr nachdrücklich, Cowen habe Irlands Bankgarantie über 440 Milliarden Euro aus einem Pub an die Europäische Zentralbank gefaxt.) Und es stimmt schon: Als Prototyp für einen Mann, der gern mal einen über den Durst trinkt, wäre der irische Premierminister erste Wahl. Brian Lenihan, der Cowen auf den plumpen Fersen folgt, wirkt dagegen wie ein Zehnkämpfer in Hochform.

An jenem Tag beschließt das Parlament nicht ganz unerwartet das dennoch Unglaubliche: Drei der vier leeren Sitze sollen nicht durch Abstimmung besetzt werden. Dann wird die Sitzung vertagt und ich verbringe eine Stunde mit Joan Burton. Von den großen Parteien Irlands kann die Labour Party noch am ehesten mit einer abweichenden Meinung und Kritik am irischen Kapitalismus aufwarten. Als eine von nur 18 Abgeordneten des irischen Unterhauses, die gegen die Bürgschaft für die Bankschulden votierten, genießt Burton |129|selten gewordene Glaubwürdigkeit. In unserem einstündigen Gespräch wirkt sie auf mich geradlinig, intelligent und im Grunde ermutigend. Doch ihre Rolle im irischen Drama ist genauso klar umrissen wie die Morgan Kellys: Sie ist die warnende Mutter, auf die keiner hört. Wenn sie spricht, hört man förmlich die Ausrufezeichen, und ihre weinerliche Stimme geht den Iren auf die Nerven – und wird sogar auf nationalen Radiosendern parodiert. Als ich sie frage, was sie denn anders machen würde als die irische Regierung, wirkt auch sie ratlos. Wie jeder irische Politiker ist sie auf Gnade und Ungnade Kräften ausgeliefert, die sich ihrer Kontrolle entziehen. Die irischen Bankschulden sind jetzt irische Staatsschulden, und jede Anspielung auf einen Ausfall lässt die Kosten für die Kreditaufnahme im Ausland, ohne die Irland zurzeit nicht auskommt, weiter steigen. »Wussten Sie, dass die Iren mittlerweile Experten für Anleihen sind?«, fragt Burton. »Sie sagen inzwischen sogar 100 Basispunkte statt 1 Prozent! Sie haben einen ganz neuen Wortschatz entwickelt!«

Je klarer das Ausmaß der irischen Verluste, desto geringer die Bereitschaft privater Anleger, den irischen Banken auch nur Tagesgeld anzuvertrauen. Das Interesse an längerfristigen Bankanleihen ist vollständig erloschen. Die Europäische Zentralbank ist ohne viel Aufhebens in die Bresche gesprungen. Eine der am aufmerksamsten verfolgten Zahlen in Europa ist der Betrag, den die EZB irischen Großbanken geliehen hat. Ende 2007, als die Märkte noch durch Unglauben gelähmt waren, hatten die Banken 6,5 Milliarden Euro aufgenommen; im Dezember 2008 waren es schon 45 Milliarden. Während meines Gesprächs mit Burton stieg die Summe von rund 86 Milliarden auf ein neues Hoch von 97 Milliarden. Das bedeutet: Irische Banken haben sich von November 2007 bis |130|Oktober 2010 97 Milliarden Euro bei der Europäischen Zentralbank geliehen, um private Gläubiger zu bedienen. Im September 2010 war der letzte große Batzen fällig, den die irischen Banken ihren Anleihegläubigern schuldeten: 26 Milliarden Euro. Sobald die Anleihen vollständig getilgt waren, schloss sich ein Fenster für die irische Regierung. Eine Bankenpleite würde von nun an nicht mehr die Zahlungsunfähigkeit privater Investoren nach sich ziehen, sondern die Rechnung würde direkt den europäischen Regierungen präsentiert. Genau aus diesem Grund gibt es übrigens in Dublin so viele wichtig anmutende, allein zu Abend esssende Ausländer. Jeder von ihnen ist hier, um dafür zu sorgen, dass irgendwer sein Geld wiederkriegt.

Ein Maßstab dafür, wie schwer es den Iren fällt, ihre ausländischen Finanzregenten vor den Kopf zu stoßen, ist die Geschwindigkeit, mit der Burton sich weigert, einen solchen Ausfall auch nur anzudenken. Sie ist in keinster Weise für die privaten Schulden der Banken verantwortlich, und dennoch – bei der leisesten Andeutung der Möglichkeit, sich Verpflichtungen einfach zu entziehen, scheut sie schon zurück. Ja, sie steht sogar auf und geht. »Oh, ich muss weiter«, sagt sie. »Ich habe einen Termin beim Finanzminister zur Überbringung der schlechten Nachrichten.« Lenihan hat eine nichtöffentliche Sitzung mit der Opposition beantragt, damit deren Anführer als Erste Näheres über den drakonischen neuen Haushalt Irlands erfahren. Diese Sitzung findet aber nicht im Parlamentsgebäude statt, wo die Medien in Schach gehalten werden könnten, sondern in einem nahe gelegenen Haus, das von Medienvertretern belagert werden kann. »Wir wollten die Sitzung hier abhalten, aber er hat sie nach draußen verlegt«, sagt Burton. »Er will uns als Überbringer der Hiobsbotschaft einsetzen |131|– beim Hinausgehen sollen wir sie den Journalisten mitteilen.« Sie lächelt. »Das hat er sich clever ausgedacht.«

***

Brian Lenihan war einer der wenigen irischen Politiker, die sich noch im Dunstkreis der Macht befanden und bei den Menschen aufs Dublins Straßen nicht schon allein durch ihr Auftreten Stürme der Verachtung oder des Gelächters auslösten. Seinen Job hatte er erst wenige Wochen vor der Krise übernommen und wurde daher nicht für ihre Entstehung verantwortlich gemacht. Er war Jurist, kein Finanzmanager oder Immobilienspezialist, und konnte sich nachweislich gut über Wasser halten, ohne Schmiergelder von Bauträgern zu kassieren. Er stammte aus einer politisch engagierten Familie, die ihrem Land in Ehren gedient haben soll – oder zumindest ohne die Politik zur persönlichen Bereicherung zu missbrauchen. Im Dezember 2009 wurde bei ihm Bauchspeicheldrüsenkrebs festgestellt. Jeder, der jemals auch nur flüchtig Kontakt zu einer irisch-katholischen Familie hatte, weiß, dass das Familienmitglied, dem das Schicksal zuletzt am übelsten mitgespielt hat, praktisch Narrenfreiheit genießt. Es kann tun und lassen, was es will, und der Rest der Familie schweigt gequält dazu. Seit der Nachricht von der Erkrankung Lenihans – die kam, als er selbst erst wenige Tage Bescheid wusste, und offenbar noch bevor er seine Kinder in Kenntnis setzte – war er weitgehend aus der Schusslinie. Die öffentlichen Meinungsumfragen, in denen die Iren den Finanzminister deutlich positiver beurteilen als andere Politiker seiner Partei, zeugten von einem verbreiteten unausgesprochenen Respekt vor seiner Tapferkeit.4

|132|Doch Brian Lenihan war auch trickreich, wie Joan Burton anmerkte. Es geht schon auf 20 Uhr zu, als ich mit ihm in einem Besprechungszimmer des Finanzministeriums zusammentreffe. Er hat fast den ganzen Tag lang die härtesten Einschnitte bei den Ausgaben und die größten Steuererhöhungen in der irischen Geschichte vor Irlands Politikern verteidigt, ohne sich genauer dazu zu äußern, wer konkret für die Verluste der Banken einstehen wird. (Damit wartet er bis nach der einzigen Nachwahl, die mit Genehmigung des Dáil abgehalten wird.) Er lächelt. »Warum interessieren sich alle so für Irland?«, fragt er beinahe unschuldig. »Uns wird derzeit wirklich viel zu viel Interesse entgegengebracht.«

»Vielleicht, weil Sie interessant sind?«, kontere ich.

»Aber nein«, sagt er ganz ernst. »Das sind wir doch gar nicht.«

Und dann versucht er, den Zusammenbruch der irischen Wirtschaft möglichst zu bagatellisieren. Diese eigenartige soziale Verantwortung zur Verharmlosung einer Monstrositätenschau ist heute wesentlicher Bestandteil der Aufgaben eines irischen Finanzministers. Gerade als der durchgeknallte Onkel aus dem Keller entkam, stolperte die betrunkene Tante durch die Vordertür. Vor den Augen der versammelten Familie und vieler einflussreicher Gäste stürzten sie sich aufeinander und metzelten sich mit ihren Jagdmessern nieder. Jetzt muss der treu sorgende Familienvater den Augenzeugen dieser Tat einreden, dass sie gar nicht gesehen haben, was sie glauben, gesehen zu haben.

Doch die Anzeichen dafür, dass in Irland gerade etwas ausgesprochen Fragwürdiges passiert ist, sind allzu deutlich. Keine zwei Kilometer von dem Konferenztisch entfernt, an dem wir uns zusammensetzen, ist immer noch die Mondlandschaft |133|aus riesigen zwei Jahre alten Kratern zu sehen, wo vordem Büroparks entstehen sollten. Komplett fertiggestellte Wolkenkratzer stehen leer, in ihren Eingangshallen sammelt sich das Wasser. Das Skelett eines Hochhauses ragt empor, auf beiden Seiten von je einem Kran flankiert, förmlich in Klammern gesetzt. Dort wollte die Anglo Irish Bank einziehen. Ein leer stehendes neues Konferenzzentrum, das 75 Millionen Euro an Baukosten verschlungen hat, wurde nie an das Kanal- und Wassersystem Dublins angeschlossen. Für eine städtische Mülldeponie zahlte ein Bauträger 2006 412 Millionen Euro. Sie ist heute einschließlich der Sanierungskosten minus 30 Millionen Euro wert. »Irland ist ein absoluter Ausnahmefall«, meint William Newsom, der 40 Jahre Erfahrung in der Bewertung von Immobilien für Savills in London hat. »Es gibt ganze Landstriche mit unerschlossenen Grundstücken, für die eine Planungsgenehmigung vorliegt, oder mit teilerschlossenen Anwesen, die praktisch keinen Wert haben.« Auf seinem Höhepunkt ist der irische Wahn wie in einer Zeitschleife gefangen und kann nun von der Allgemeinheit besichtigt werden. Es gibt sogar eine leere Starbucks-Filiale im Herzen eines Viertels, das als globales Finanzzentrum London Konkurrenz machen sollte; dort gerinnt allmählich ein Karton Magermilch neben einer silbernen Barista-Kanne. Genauso gut könnte der Finanzminister vor Pompeji stehen und behaupten, der Vulkanausbruch sei nicht der Rede wert gewesen. Das bisschen Lava!

***

Tatsächlich sagt er: »Wir sind hier nicht in Island. Wir sind kein Hedgefonds, der von 300 000 Bauern und Fischern bevölkert wird. Irland fällt nicht in die 80er oder 90er Jahre zurück. Das hat viel kleinere Dimensionen.« Dann ergeht er |134|sich in einem Monolog, der im Grunde auf Folgendes hinausläuft: Irlands Probleme sind lösbar, und ich habe die Lage im Griff.

Im September 2008 war das offensichtlich nicht der Fall. Am 17. September befanden sich die Finanzmärkte im Aufruhr. Zwei Tage zuvor war Lehman Brothers pleitegegangen und die Aktien irischer Banken befanden sich im Sturzflug. Große Konzerne zogen ihre Einlagen ab. An jenem Abend rief Lenihan zu später Stunde bei David McWilliams an, ehemals Research-Analyst bei UBS in Zürich und London. Er war nach Dublin zurückgekehrt und zum Autor und Medienstar avanciert. McWilliams hatte sich zum irischen Immobilienboom unmissverständlich skeptisch geäußert. Zwei Wochen zuvor war er gemeinsam mit Lenihan im Fernsehen aufgetreten. Damals war es ihm so vorgekommen, als sei Lenihan von den Unruhen auf den Finanzmärkten gänzlich unbeeindruckt. Derselbe Lenihan wollte nun bei McWilliams vorsprechen, um sich Rat zum weiteren Vorgehen hinsichtlich der irischen Banken einzuholen.

In McWilliams’ charmant indiskretem Buch Follow the Money wird eine bizarre Szene beschrieben. Lenihan kommt nach 45 Minuten Fahrt aus Dublin am Haus von McWilliams an, marschiert in die Familienküche und zieht einen Strang rohen Knoblauch aus der Tasche seines Jacketts. »Dann begann er das Gespräch mit den Worten, wenn seine Kollegen wüssten, dass er bei mir wäre, gäbe es Krieg«, schreibt McWilliams. Der Finanzminister blieb bis zwei Uhr morgens, schälte und verzehrte Knoblauchzehen und saugte gierig auf, was ihm McWilliams zu sagen hatte. McWilliams beschlich das Gefühl, dass der Minister den Ratschlägen nicht so ganz vertraute, die er aus seinem Umfeld erhielt – und dass er nicht |135|nur besorgt, sondern regelrecht orientierungslos war. Mir sagte er, der Finanzminister sei nach seinem Eindruck »total durcheinander« gewesen.

Eine Woche später heuerte das irische Finanzministerium Investmentbanker von Merrill Lynch als Berater an. Böse Stimmen würden sagen, wer 2008 Merrill Lynch um Finanzberatung bat, hatte ohnehin Probleme, doch das wäre nicht ganz fair. Schließlich arbeitete dort der Bankenanalyst, der die irischen Banken am treffendsten und aussagekräftigsten beurteilt hatte. Sein Name: Philip Ingram. Ende 20 und ein bisschen verschroben – an der Universität Cambridge hatte er ursprünglich eine Karriere in der Zoologie angepeilt – war Ingram etwas durchaus Originelles und Nützliches gelungen: Er hatte neues Licht in die Methodik gebracht, wie irische Banken gewerbliche Immobilien beliehen.

Der Markt für gewerbliche Hypotheken ist in aller Regel nicht so transparent wie der für Eigenheimdarlehen. Die Geschäfte zwischen Banken und Bauträgern stellen einmalige Transaktionen dar und ihre Konditionen sind nur wenigen Insidern bekannt. Die Parteien eines Kreditgeschäfts behaupten stets, es sei gut durchdacht. Der Analyst einer Bank musste sie wohl oder übel beim Wort nehmen. Doch Ingram betrachtete die irischen Banken mit Misstrauen. Er hatte Morgan Kellys Zeitungsartikel gelesen und Kelly sogar in seinem Büro im University College aufgesucht. Wie Ingram es sah, bestand ein eklatanter Unterschied zwischen dem, was die irischen Banken sagten, und dem, was sie taten. Um sich Klarheit zu verschaffen, ignorierte er ihre Aussagen und suchte sich kenntnisreiche Insider des Marktes für gewerbliche Immobilien. Diese interviewte er nach Journalistenmanier. Am 13. März 2008 – sechs Monate vor dem Einsturz der irischen Immobilienpyramide |136|– veröffentlichte Ingram einen Bericht, der einfach wörtlich zitierte, was die Marktkenner ihm über die Kredite verschiedener Banken an Entwickler gewerblicher Immobilien mitgeteilt hatten. Die irischen Banken vergaben in Irland viel riskantere Kredite als in Großbritannien, doch selbst dort, so der Bericht, zählten sie zu den waghalsigsten Kreditgebern. In dieser Kategorie belegten Anglo Irish, Bank of Ireland und AIB die ersten drei Plätze – in dieser Reihenfolge.

***

Ein paar Stunden lang war der Bericht von Merrill Lynch der heißeste Lesestoff auf den Londoner Finanzmärkten – bis Merrill Lynch ihn zurückzog. Merrill war federführendes Konsortialmitglied bei der Platzierung von Anglo-Irish-Anleihen und Corporate Broker von AIB. Man hatte am Wachstum des irischen Bankgeschäfts gut verdient. Kaum dass Phil Ingram seinen Bericht versendet hatte, riefen die Banken schon ihre Kundenbetreuer bei Merrill Lynch an und drohten mit dem Abbruch der Geschäftsbeziehungen. Derselbe Manager der Anglo Irish Bank, der schon Morgan Kelly am Telefon angebrüllt hatte, telefonierte jetzt mit einem Research-Analysten von Merrill, um seinem neuen Ärger Luft zu machen. (»Sie haben da meiner Meinung nach eine Scheißarbeit geleistet!«) Ingrams Vorgesetzte bei Merrill Lynch zitierten ihn zu Sitzungen mit eigenen Anwälten, die seinen Bericht umschrieben, seine pointierten Aussagen entschärften und die vernichtenden Zitate von Marktinsidern herausstrichen – und deren zahlreiche Verweise auf irische Banken gleich mit. Ingrams direkter Vorgesetzter in der Research-Abteilung, ein Mann namens Ed Allchin, musste sich persönlich bei den Investmentbankern von Merrill für den Ärger entschuldigen, den er |137|ihnen bereitet hatte. Von diesem Augenblick an wurde alles, was Ingram über irische Banken schrieb, von den Merrill-Lynch-Anwälten überarbeitet und zensiert. Ende 2008 setzte ihn Merrill vor die Tür.

Es ist schwer vorstellbar, dass die Investmentbanker bei Merrill Lynch nicht irgendwann gewusst haben sollen, dass die irischen Banken in einem draufgängerischen Markt mit besonderer Leichtfertigkeit handelten. Doch in ihrem sechsseitigen Memo an Brian Lenihan – für das Merrill Lynch vom irischen Steuerzahler mit 7 Millionen Euro honoriert wurde – behielten sie eventuelle Vorbehalte strikt für sich. »Alle irischen Banken sind rentabel und gut kapitalisiert«, schrieben die Berater von Merrill Lynch und legten in ihren weiteren Ausführungen nahe, dass ihr Problem nicht etwa die faulen Kredite seien, die sie vergeben hätten, sondern die Panik auf dem Markt. Das Memo von Merrill Lynch führte eine Reihe möglicher Reaktionen der irischen Regierung auf einen potenziellen Run auf irische Banken auf. Dabei verzichtete man ausdrücklich auf die Empfehlung einer bevorzugten Vorgehensweise. Die Analyse des Problems lief aber auf eine Garantie für die Banken als vernünftigste Handlungsoption hinaus. Immerhin waren die Banken ja »fundamental solide«. Durch die Zusage, alle Verluste zu übernehmen, würden sich die Märkte rasch beruhigen – und die irischen Banken wären umgehend wieder in Topform. Und da es keine Verluste geben werde, würde das Versprechen nichts kosten.

Was genau auf der Sitzung am Abend des 29. September 2008 besprochen wurde, ist erstaunlicherweise bis heute nicht so ganz bekannt. Die Regierung hat Anfragen auf Herausgabe der von den Teilnehmern angefertigten Notizen auf der Grundlage des Gesetzes über Informationsfreiheit zurückgewiesen. |138|Abgesehen vom Premierminister und den Mitgliedern der Bankenaufsicht saßen am Konferenztisch des Finanzministeriums nur noch die Chefs zweier noch nicht in Ungnade gefallener irischer Großbanken: AIB und Bank of Ireland. Sie logen Brian Lenihan entweder an, was das Ausmaß ihrer Verluste betraf, oder kannten dieses selbst nicht. Oder beides. »Damals sagten sie alle das Gleiche: ›Wir halten nichts Minderwertiges‹«, erzählt mir ein irischer Bankenanalyst. Damit meinten sie, dass sie es vermieden hatten, Kredite an fragwürdige US-Schuldner zu vergeben. Tunlichst verschwiegen wurde aber, dass ganz Irland im Zuge des allgemeinen Marktrauschs minderwertig geworden war. An sich solide irische Kreditnehmer waren allein durch die Höhe der zum Kauf überteuerter irischer Immobilien aufgenommenen Darlehen unsolide geworden. Die große Ironie der irischen Blase bestand darin, dass eine Nation, die sich endlich aus Jahrhunderten der Schuldknechtschaft herausgekämpft hatte, wieder in diese zurückfiel.

Der Bericht von Merrill Lynch, der den Banken bescheinigte, sie seien »fundamental solide«, untermauerte alle Geschichten, die die Banken dem Finanzminister auftischten. Der Bankenaufseher der irischen Regierung, Patrick Neary, bestätigte Merrills Urteil. Morgan Kelly galt nach wie vor als intellektueller Wirrkopf. Zumindest war damals niemand zugegen, der ihn ernst genommen hätte. Die Anglo-Irish-Aktie war am selben Tag um 46 Prozent gefallen, bei AIB betrugen die Kursverluste 15 Prozent. Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass eines der Institute oder auch alle beide zu Anfang der nächsten Börsensitzung am Ende sein könnten. Ohne staatliches Eingreifen würden die übrigen Banken von Anglo Irish mit in den Abgrund gerissen werden. Lenihan stand vor folgender Wahl: Sollte er den Menschen glauben, die ihn umgaben, |139|oder den Finanzmärkten? Sollte er der Familie vertrauen oder den Experten? Er hielt sich an die Familie. Irland sagte seine Unterstützung zu. Und das war sein Untergang.

***

Schon damals erschien die Entscheidung merkwürdig. Genau wie die großen amerikanischen Geldinstitute schafften es die irischen Banken, einer Menge Leute weiszumachen, sie seien so eng mit der Wirtschaft verflochten, dass ihr Scheitern auch viele andere Bereiche in die Knie zwingen würde. Doch das traf zumindest nicht in jedem Fall zu. Die Anglo Irish Bank verfügte über lediglich sechs Filialen, keine Geldautomaten und, mit Ausnahme der Bauträger, keine substanziellen Beziehungen zur irischen Wirtschaft. Sie vergab Kredite für den Erwerb von Land und für Bauprojekte – mehr nicht. Das tat sie mit Geld, das sie sich im Ausland geliehen hatte. Ihrem Wesen nach war sie nicht systemgefährdend. Das wurde sie erst durch die Vergemeinschaftung ihrer Verluste.

Und überhaupt – wenn die Iren ihre Banken retten wollten, warum hatten sie dann nicht nur die Einlagen garantiert? Zwischen Einlegern und Anleiheinhabern gibt es einen wesentlichen Unterschied: Einleger können flüchten. Die unmittelbare Gefahr für die Banken bestand darin, dass Sparer, die ihr Geld bei ihnen deponiert hatten, dieses abheben und die Banken mittellos zurücklassen würden. Die Anleger, denen die Anleihen irischer Banken über rund 80 Milliarden Euro gehörten, steckten jedoch fest. Sie konnten ihr Geld nicht aus der Bank herausziehen. Und ihre 80 Milliarden Euro entsprachen ziemlich genau den am Ende erlittenen Verlusten der irischen Banken. Diese privaten Anleihegläubiger hatten keinerlei Anspruch darauf, mit Hilfe des irischen Staates heil aus der |140|Sache herauszukommen. Ja, sie rechneten gar nicht damit. Erst kürzlich sprach ich mit einem ehemaligen leitenden Wertpapierhändler von Merrill Lynch, der am 29. September 2008 ein großes Paket Anleihen einer irischen Bank hielt. Er hatte bereits versucht, sie zum halben Preis an die Emittentin zurückzuverkaufen – will heißen, er war bereit, einen enormen Verlust in Kauf zu nehmen, nur um sie loszuwerden. Als er am Morgen des 30. September aufwachte, besaßen seine Anleihen auf einen Schlag wieder ihren vollen Wert. Die irische Regierung hatte sie garantiert! Er konnte sein Glück kaum fassen.

Diese Episode wiederholte sich auf vielen Finanzmärkten. Menschen, die privat Wetten abgeschlossen und danebengelegen hatten und die gar nicht erwarteten, ihr Geld komplett zurückzubekommen, wurden ausbezahlt – mit irischem Steuergeld.

Rückblickend und in dem Wissen, dass die Verluste der irischen Banken in der Weltgeschichte beispiellos sind, erscheint die Entscheidung, für diese Verluste geradezustehen, nicht nur merkwürdig, sondern selbstmörderisch. Eine Handvoll irischer Banker hat Schulden angehäuft, die sie nie zurückzahlen konnten – in der Größenordnung von 100 Milliarden Euro. Vielleicht wussten sie nicht, was sie taten – getan haben sie es trotzdem. Diese Schulden waren Privatsache. Die Gläubiger waren Investoren aus aller Welt. Dennoch nahm es das irische Volk auf sich, sie zu tilgen, als handele es sich um staatliche Verbindlichkeiten. Zwei Jahre lang laborierten die Iren unter dieser untragbaren Last, und es gab kaum Proteststimmen. Mehr noch, sämtliche politischen Entscheidungen seit dem 29. September 2008 haben dafür gesorgt, dass die Leute noch fester am Haken hängen. Im Januar 2009 verstaatlichte die irische Regierung Anglo Irish und deren Verlust in Höhe von |141|34 Milliarden Euro (Tendenz steigend). Ende 2009 richtete sie die National Asset Management Agency ein, das irische Pendant zum Troubled Asset Relief Program (TARP), dem 2008 aufgelegten Rettungsfonds der USA. Anders als die US-Regierung zogen die Iren die Sache aber durch und kauften schrottige Anlagen irischer Banken für 80 Milliarden Euro.

***

Eine einzige Entscheidung besiegelte Irlands Schicksal. Doch als ich Lenihan darauf anspreche, reagiert er unwirsch, als sei das kein geeignetes Gesprächsthema. Das sei eigentlich keine Entscheidung gewesen, meint er, denn er habe ja keine Wahl gehabt. Der irische Finanzmarkt sei in Anlehnung an englisches Recht geregelt und danach genössen die Inhaber von Anleihen den gleichen Status wie herkömmliche Einleger. Es hätte also gegen das Gesetz verstoßen, kleine Leute mit Einlagen in der Bank zu schützen, ohne auch die Großinvestoren zu retten, die irische Bankanleihen hielten.

Das weckt Erinnerungen. Als US-Finanzminister Hank Paulson merkte, dass die Entscheidung, Lehman Brothers fallen zu lassen, nicht als kühn und prinzipientreu, sondern vielmehr als verheerend gewertet wurde, hatte auch er behauptet, er habe das nur getan, weil ihm das Gesetz keine andere Möglichkeit ließ. Ähnlich wie seinerzeit Paulson vergaß auch Lenihan im Eifer des Gefechts, das Gesetz zu erwähnen, das verlangte, die privaten Kreditgeber der Banken abzufinden. Das fiel den beiden erst viel später ein. In beiden Fällen war die Erklärung legalistisch: eng gefasst korrekt, doch grundsätzlich falsch. Die irische Regierung hatte es stets in der Hand, selbst den Inhabern erstrangiger Anleihen Verluste aufs Auge zu drücken, wenn sie das denn gewollt hätte. »Führende Leute |142|haben vergessen, dass die Regierung gewisse Befugnisse hat«, wie Morgan Kelly es formuliert. »Man kann Menschen zum Militärdienst verpflichten. Man kann sie in den sicheren Tod schicken. Man kann Gesetze ändern.«

Am 30. September 2008 rechtfertigte Lenihan die Garantie für die Bankschulden in der Hitze des Gefechts mit demselben Argument wie Merrill Lynch: um »Ansteckungseffekte« zu verhindern. Man brauchte den Finanzmärkten nur zu sagen, dass ein Kredit an eine irische Bank ein Kredit an den irischen Staat war, und schon würden sich die Investoren beruhigen. Denn wer würde die Kreditwürdigkeit des irischen Staates anzweifeln? Ein paar Monate später, als der Verdacht aufkam, dass die Bankverluste so hoch waren, dass sie den irischen Staat in den Bankrott treiben könnten, lieferte Lenihan eine neue Erklärung für das Geschenk der Regierung an private Investoren: Die Anleihen befänden sich im Besitz irischer Sparkassen. Bis dahin hatte die Regierung stets behauptet, sie wisse nicht, wer die Bankanleihen hielt. Nun sagten sie, wenn die irische Regierung die Verluste nicht übernähme, würden die irischen Sparer die Rechnung bezahlen. Anders ausgedrückt: Im Grunde retteten die Iren sich selbst. Doch das stimmte nicht. Es folgte ein empörter Aufschrei der irischen Sparkassen. Sie hielten keine solchen Anleihen und missbilligten das großzügige Geschenk der Regierung an die Anleiheinhaber. Ein investigativer Finanzblog namens Guido Fawkes war irgendwie an eine Liste der ausländischen Inhaber von Anleihen gekommen: deutsche Banken, französische Banken, deutsche Investmentfonds, Goldman Sachs. (Ja – auch die Iren trugen ihr Scherflein zu Goldman bei.)

***

|143|In ganz Europa sind Menschen, die dachten, ihre Berufsbezeichnung sei »Finanzminister«, abrupt zu der Erkenntnis gekommen, dass ihre Aufgabe tatsächlich im Vertrieb von Staatsanleihen besteht. Die Verluste irischer Banken haben Irland ganz offensichtlich in den Ruin getrieben, doch der irische Finanzminister möchte darüber nicht sprechen. Stattdessen erklärt er mir gleich mehrfach, Irland sei bis zum nächsten Sommer »voll finanziert«. Das bedeutet, die irische Regierung hat genug Geld in der Kasse, um bis nächsten Juli ihre Rechnungen zu bezahlen.

Erst auf dem Weg zur Tür wird mir die Belanglosigkeit dieser Feststellung bewusst. Die ungeschminkte Wahrheit ist: Seit September 2008 ist Irland mit jedem Tag mehr der Gnade seiner Gläubiger ausgeliefert. Um flüssig zu bleiben, haben Irlands Banken, die jetzt dem irischen Staat gehören, bei der EZB kurzfristige Kredite über 85 Milliarden Euro aufgenommen. Eine Woche später wird Lenihan von der Europäischen Union gezwungen werden, den IWF nach Irland zu rufen, die Kontrolle über die irischen Finanzen aus der Hand zu geben und ein Rettungspaket in Anspruch zu nehmen. Die irische Bevölkerung weiß es noch nicht, doch während der Finanzminister und ich an seinem Konferenztisch sitzen, hat die Europäische Zentralbank das Interesse an der Vergabe von Krediten an irische Banken verloren. Und Brian Lenihan muss sich bald vors irische Parlament stellen und zum vierten Mal erklären, warum nicht zugelassen werden kann, dass private Investoren irischer Banken Verluste erleiden dürfen. »Es ist schlicht unmöglich für dieses Land, dessen Banken so stark auf internationale Investoren angewiesen sind, gegen die Wünsche der EZB einseitig Inhaber erstrangiger Anleihen nicht zu bedienen«, wird er sagen.

|144|Dabei gab es eine Zeit, da hatten die Wünsche der EZB für Irland keine so große Bedeutung. Das war, bevor die irische Regierung ausländische Inhaber von Anleihen irischer Banken mit EZB-Geld abfand.

***

Einmal alle zehn Jahre versuche ich mich am Fahren auf der falschen Straßenseite, was jedes Mal mit der Zerstörung der Seitenspiegel diverser links geparkter Fahrzeuge endet. Als ich mich deshalb nach einem Iren umsah, der mich chauffieren sollte, stieß ich auf einen Mann, den ich Ian McRory nennen will. Er ist Ire, Fahrer und ganz offensichtlich noch einiges andere. Er verfügt über ein Navigationssystem, das militärischen Ansprüchen zu genügen scheint, und über überraschende Kenntnisse dunkler und geheimer Angelegenheiten. »Ich befasse mich auch mit Personenschutz und dergleichen«, erzählt er, als ich frage, was er denn sonst noch so mache, wenn er nicht gerade Finanzkrisentouristen kreuz und quer durch Irland kutschiere. Mehr sagt er nicht. Als ich später den Namen eines ehemals wohlhabenden irischen Bauträgers erwähne, meint er nebenhin, als sei das weiter nichts Besonderes, er habe sich »Zugang verschafft« zum Ferienhaus des Mannes und Fotos der Räumlichkeiten gemacht »für einen Bekannten, der es vielleicht kaufen möchte«.

Ian hat ganz offensichtlich ein gutes Gespür dafür, was ich oder irgendjemand im ländlichen Irland interessant finden könnte. So sagt er etwa: »Da drüben ist ein ganz typischer Feenring«, und erläutert dann unterhaltsam, dass solche Kreise aus Steinen oder Pilzen, wie sie auf irischen Feldern anscheinend von Natur aus vorkommen, mythische Wesen beherbergen, wie die heimischen Bauern glauben. »Die Iren |145|glauben tatsächlich an Feen?«, frage ich und kann den so typischen Ring, auf den Ian gerade gedeutet hat, trotz angestrengter Blicke nicht erkennen. »Na ja, wenn Sie auf die Leute zugehen und sie direkt fragen: ›Glaubt ihr an Feen?‹, werden das die meisten abstreiten«, entgegnet er. »Doch bitten Sie mal einen, den Elfenring auf seinem Grund und Boden auszuheben. Das macht keiner. Und das ist für mich Glaube.« Recht hat er. Es ist ein taktischer Glaube, der nur existiert, weil der Unglaube so wenig Vorteile bietet – genau wie die vormals herrschende Überzeugung, dass die Grundstückspreise in Irland für alle Zeiten weiter steigen könnten.

Die Autobahn aus Dublin hinaus führt an verlassenen Baustellen und entvölkerten Wohngebieten vorbei. »Wir können unterwegs an Bauruinen anhalten«, meint Ian, als wir die Ausläufer der Stadt hinter uns lassen, »doch wenn wir bei jeder einzelnen stoppen, kommen wir nicht weit.« Wir passieren nasse grüne Felder, die von Kartoffelbauern in kleine Parzellen unterteilt wurden, und hie und da einen Weiler. Aber selbst die bewohnten Orte wirken trostlos. Aus den ländlichen Regionen Irlands wandern noch immer Menschen ab. Zu ihren Nachteilen gehört vom Standpunkt des Außenstehenden das Wetter. »Hier regnet es entweder schon oder es wird gleich regnen«, erklärt Ian. »Ich habe mal einen Schwarzen aus Afrika durchs Land gefahren. Es regnete die ganze Zeit über. Da sagte er zu mir: ›Ich verstehe nicht, wie die Menschen das aushalten. Das ist ja, als lebte man unter einem Elefanten.‹«

Die nassen Hecken, die entlang der Autobahn angelegt wurden, um die nassen Häuser gegen die nasse Straße abzuschirmen, verbergen inzwischen von der nassen Straße aus die nassen Häuser. SO SIEHT DAS DORF DER ZUKUNFT AUS ist |146|auf einem tropfenden Schild zu lesen, das ein Dorf zeigt, das niemals gebaut werden wird. Wir suchen willkürlich eine Siedlung aus, die einigermaßen fertiggestellt wirkt, und verlassen die Autobahn. Sie liegt für sich allein: ein außerhalb geplanter Vorort ohne Einbindung in das Stadtumland. GLEANN RIADA steht wichtigtuerisch auf dem Schild am Ortseingang. Dabei besteht die Siedlung nur aus ein paar Dutzend Häusern auf einem Feld, ohne Anbindung nach außen, und endet in leeren, unkrautüberwucherten Betonplatten. Man sieht genau: In dem Moment, als die irischen Banken den Geldhahn zudrehten, brach der Bauunternehmer seine Zelte ab und die polnischen Arbeiter gingen nach Hause. »Die Leute, die hier noch gearbeitet haben, glaubten selber nicht mehr an die Fertigstellung«, behauptet Ian. Die Betonplatte ist, ebenso wie die fertigen Häuser, von Rissen durchzogen, wie man sie nach größeren Erdbeben sieht; hier waren sie aber die Folge von Schlamperei. In den Häusern liegt Unrat und Schutt auf dem Boden, Armaturen wurden aus der Küche herausgerissen, Schimmel überzieht spinnwebenartig die Wände. Solche Szenen hatte ich zuletzt in New Orleans gesehen, nach dem Wirbelsturm Katrina.

Irlands Umweltministerium veröffentlichte 2009 seine erste Bestandsaufnahme der Neubauten im Land, nachdem es 2 846 Wohnbauprojekte inspiziert hatte, von denen viele Geisterstädte sind. Die Regierung erteilte Baugenehmigungen für 180 000 Wohneinheiten, von denen über 100 000 unbewohnt herumstehen. Von den bewohnten sind manche nach wie vor unfertig. Die Bautätigkeit ist praktisch vollkommen zum Erliegen gekommen. In Irland leben nicht genug Menschen, um die ganzen neuen Häuser zu füllen. Fragt man irische Bauträger, wer ihrer Ansicht nach in den ländlichen Gegenden leben |147|solle, hört man stets dasselbe verlegene Lachen und kriegt dieselbe Liste von Kandidaten vorgelegt: Polen, Ausländer auf der Suche nach einem Zweitwohnsitz, ganze Ministerien voller irischer Beamter, die im Rahmen eines umfangreichen geplanten Umsiedlungsprogramms umziehen sollten, das jedoch nie verwirklicht wurde, außerdem die in der Diaspora lebenden 70 Millionen Menschen mit Wurzeln in Irland. Das Problem, auf das während des Booms niemand so richtig aufmerksam wurde, war bloß, dass Menschen außerhalb Irlands, auch solche mit genetischen Verbindungen zu dem Land, kein Interesse am Erwerb von Häusern in Irland hatten. »Das ist kein internationaler Immobilienmarkt«, erklärt Ronan O’Driscoll, ein Vertreter der Dubliner Savills-Niederlassung. »Es gibt keine ausländischen Käufer. Und es hat zu keiner Zeit welche gegeben.« Dublin war nie London. Und das irische Hinterland wird nie mit den Naturschönheiten der Cotswolds im Herzen Englands gleichziehen.

***

Welchen Weg ganze Nationen einschlugen, als ihnen grenzenlos Geld zur Verfügung stand, konnte einem viel über ihren Charakter verraten: ihre Wünsche, ihre Hemmungen, ihr heimliches Selbstbild. Gleichermaßen aufschlussreich war aber, wie sie reagierten, als der Geldstrom versiegte. In Griechenland wurde vom Staat Geld aufgenommen. Die Schulden sind die Schulden des griechischen Volkes, das jedoch nichts damit zu tun haben will. Die Griechen sind bereits gewaltbereit auf die Straße gegangen und waren schnell bei der Hand mit Sündenböcken, denen man die eigenen Probleme in die Schuhe schieben konnte: Mönche, Türken, ausländische Banker. Griechische Anarchisten verschicken jetzt Briefbomben |148|an deutsche Politiker und werfen Molotowcocktails auf ihre Polizisten. In Irland wurde das Geld von wenigen Banken aufgenommen, doch die Menschen scheinen nicht nur bereit, es zurückzuzahlen, sondern tun dies praktisch ohne zu Murren. Im Herbst 2008, als die Regierung mit bedürftigkeitsorientierter Gesundheitsversorgung drohte, gingen in Dublin alte Menschen auf die Straße. Ein paar Tage nach meiner Ankunft folgten die Studenten, deren Protest aber weniger öffentlicher Aufschrei als vielmehr Theater war – und womöglich auch eine Ausrede, um Lehrveranstaltungen zu schwänzen. (Auf einem der Transparente stand: SCHLUSS MIT SO WAS.) Ich sprach zwei Studenten an, als sie sich gerade von der Veranstaltung entfernten, und wollte wissen, warum sie sich alle gelbe Striche auf die Gesichter gemalt hatten. Sie schauten einander kurz an. »Keine Ahnung!«, sagte schließlich einer und brach in Gelächter aus.

Ansonsten herrschte … Stille. Inzwischen sind über drei Jahre vergangen, seit die irische Regierung die Verluste irischer Banken auf das irische Volk übertragen hat. In dieser Zeit hat es nur zwei augenfällige Akte sozialer Unruhe in Irland gegeben. Anfang 2009, auf der ersten Hauptversammlung von AIB nach dem Kollaps, bewarf ein älterer Mitbürger die Führungsriege der Bank mit faulen Eiern. Und im September 2010 pinselte ein Bauunternehmer aus Galway namens Joe McNamara bankerfeindliche Sprüche auf seinen Zementmischer, kletterte in die Kabine, fuhr durchs ganze Land und ließ den Wagen vor den Toren des Parlaments stehen, nachdem er die Bremsen blockiert hatte. Der betagte Eierwerfer war rasch vergessen, doch McNamara hielt sich etwas länger in den Nachrichten. Er weigerte sich, Interviews zu geben. »Joe ist ein zurückhaltender Mensch«, erklärte mir sein Anwalt. »|149|Er hat gesagt, was er zu sagen hatte. Er möchte keinen Medienrummel.«

Bevor er seinen Zementmischer in der Einfahrt zum Parlamentsgebäude stehen ließ, war McNamara nur ein kleiner Bauunternehmer. Er legte Fundamente und hatte wie viele Handwerker aus der Pampa einen Kredit von der Anglo Irish Bank erhalten. So begann seine Karriere als Immobilienentwickler. Er zog nach Galway, in eine schicke neue Anlage gleich neben einem Golfplatz. Der Grund für seine finanzielle Notlage aber lag etwa eine Stunde vor der Stadt, in einem Ferienhotel, das er in dem kleinen Dorf bauen wollte, in dem er aufgewachsen war – Keel auf der abgelegenen Insel Achill. »Achill«, wiederholt Ian, nachdem ich ihm verraten habe, wohin er mich fahren soll. Dann schweigt er eine Minute lang, als wolle er mir Zeit geben, es mir anders zu überlegen. »Um diese Jahreszeit ist Achill ziemlich deprimierend.« Wieder denkt er eine Minute lang nach. »Aber na ja, im Sommer kann es auch ziemlich deprimierend sein.«

Es dämmert bereits, als wir über die kleine Brücke auf die Insel rollen. Auf beiden Seiten der einspurigen Straße, die sich über die Insel schlängelt, erstrecken sich Torfmoore. Das sieht weniger nach einem »Touristenziel« aus als nach »Ende der Welt«. (»Der nächste Halt ist dann Neufundland«, witzelt Ian.) Das Achill Head Hotel – Joes erstes Projekt, das noch von seiner Exfrau geführt wird – hat geschlossen und liegt im Dunkeln. Doch da – mitten in McNamaras winzigem Heimatort Keel – liegt die Quelle aller finanziellen Sorgen des Mannes: ein gigantisches schwarzes Loch, umgeben von Bulldozern und Baumaterial. 2005 hatte er damit begonnen, ein bescheidenes einstöckiges Hotel mit zwölf Zimmern zu bauen. Im April 2006 hatte er seine Pläne angesichts des explodierenden |150|irischen Immobilienmarktes erweitert und die Genehmigung zum Bau eines vielstöckigen Luxushotels beantragt. Genau zu diesem Zeitpunkt schlug der Markt um. »Wir sind im Juni 2006 weggegangen«, erzählte mir der Savills-Makler Ronan O’Driscoll. »Im September kamen wir zurück und alles hatte einfach aufgehört. Wie kann es sein, dass alle auf einmal beschließen, dass es Zeit zum Aufhören ist – dass es Wahnsinn ist?«

Seit vier Jahren wird das Dorf nun schon durch die Hotelbaustelle verschandelt. Doch erst im Mai 2010 drohte die Anglo Irish Bank, die McNamara das Geld für das Projekt geliehen hatte, mit Zwangsverwaltung. Das irische Konkursrecht war nicht auf spektakuläre Fehlschläge ausgelegt – vielleicht, weil die Menschen, die das Gesetz verfassten, auch nie an spektakuläre Erfolge dachten. Wenn eine Bank den Konkurs über einen Iren eröffnet, schreibt sie anschließend einen Brief an seine Familie und informiert diese über die Insolvenz – und die Schande. Eine Konkursmitteilung wird in einer nationalen und einer lokalen Tageszeitung veröffentlicht. Zwölf Jahre lang darf ein irischer Bankrotteur nicht mehr als 650 Euro Kredit aufnehmen, maximal 3 100 Euro an Vermögenswerten besitzen und nicht ohne amtliche Erlaubnis ins Ausland reisen. Zwölf Jahre lang kann ein Teil seines Einkommens direkt an seine Gläubiger weitergeleitet werden. »Das ist nicht wie in den Vereinigten Staaten, wo ein Konkurs fast eine Ehre darstellt«, erklärt Patrick White vom Irish Property Council. »Hier wird man praktisch aus dem gewerblichen Leben ausgestoßen.«

Es gibt da eine alte Finanzregel, die neuerdings auch auf Irland zutrifft: Wenn du der Bank 5 Millionen schuldest, gehörst du der Bank. Aber wenn du der Bank 5 Milliarden |151|schuldest, gehört die Bank dir. Über die Außenstände der großen irischen Bauträger – also all jener mit Bankschulden über 20 Millionen Euro – wird jetzt hinter verschlossenen Türen verhandelt. Weil sie dem Staat geholfen haben, ihre Immobilienportfolios zu verwalten oder flüssig zu machen, wurde den größten Bankrotteuren der Konkurs erspart. Kleinere Unternehmer wie McNamara befinden sich in einer weitaus prekäreren Lage. Zwar scheint niemand zu wissen, wie viele es von ihnen gibt, doch ihre Zahl ist eindeutig groß. Irlands National Asset Management Agency kontrolliert gewerbliche Immobiliendarlehen über rund 80 Milliarden Euro. Ein irischer Immobilienexperte namens Peter Bacon, der die NAMA bei ihrer Gründung beriet, teilte kürzlich mit, dass sich die kleineren irischen Immobiliendarlehen (also solche unter 20 Millionen Euro) seiner Rechnung nach insgesamt auf weitere 80 Milliarden Euro summierten. Eine sehr große Zahl ehemaliger irischer Handwerksunternehmen befindet sich in der gleichen Situation wie Joe McNamara. Und eine sehr hohe Anzahl irischer Eigenheimbesitzer ist in ganz ähnlicher Lage.

Der Unterschied zwischen McNamara und allen anderen: Er hat sich beschwert, und zwar öffentlich. Was er im Anschluss allerdings offenbar bedauerte. Ich spürte seine Exfrau auf und rief sie an, doch sie lachte nur und schickte mich zum Teufel. Am Ende erreichte ich McNamara sogar persönlich über sein Handy. Er brummte aber nur, dass er keine weitere Aufmerksamkeit auf sich ziehen möchte, und legte auf. Erst als ich ihm eine SMS schickte, ich sei auf dem Weg in seinen Heimatort, veranlasste ihn das, mit mir zu kommunizieren. »Was wollen Sie denn in Keel????«, brüllte er gleich mehrfach per SMS. »Sagen Sie mir, wozu fahren Sie nach Keel???« Dann verfiel er erneut in Schweigen. »Das Problem mit den Iren«, |152|erklärt mir Ian, als wir uns von dem schwarzen Loch entfernen, das Joe McNamara ruiniert hat, »ist, dass sie ungeheuer viel Druck aushalten. Doch wenn sie darunter zerbrechen, dann drehen sie durch.« (Einen Monat später tauchte McNamara wieder aus der Versenkung auf und schrie sich von einem Baukran aus, den er quer durchs Land gefahren und wieder vor dem Parlament geparkt hatte, die Seele aus dem Leib.)

***

Zwei Dinge fallen jedem Iren auf, wenn er nach Amerika kommt, wie mir irische Freunde verraten haben: die Weite und der anscheinend hemmungslose Drang der Menschen, über private Probleme zu sprechen. Einem Amerikaner, der nach Irland reist, fallen ebenfalls zwei Dinge auf: wie klein alles ist und wie zugeknöpft die Menschen. Hat ein Ire ein persönliches Problem, verkriecht er sich damit in einem Loch wie ein Eichhörnchen mit einer Nuss, wenn der Winter kommt. Er quält sich und manchmal auch seine Lieben. Niemals aber wird er, wenn sich das Schicksal gegen ihn gewendet hat, mit anderen darüber sprechen. Die berühmte irische Gabe des Tratschens ist in Wirklichkeit nur der Deckmantel für alles, was Ihnen die Iren nicht erzählen.

Soweit ich sehen konnte, hatte sich der Teil der irischen Bevölkerung, der bereit war, wegen der erlittenen Unbilden auf die Barrikaden zu gehen, am 10. November 2010 auf einen reduziert: den Eierwerfer. Also fahren wir am nächsten Tag zu ihm und halten vor einem bescheidenen älteren Reihenhaus in einem Vorort von Dublin. Der fröhliche ältere Herr, der uns in einem adretten weinroten Pullover und ordentlich gebügelten Hosen die Türe öffnet, verfügt neben anderen Eigenschaften auch über erstklassige Manieren. Er besitzt die Fähigkeit, |153|erfreut zu wirken, wenn Wildfremde an der Tür klingeln, und sie glaubwürdig willkommen zu heißen. Auf dem Tisch in Gary Keoghs kleinem aufgeräumtem Esszimmer liegt ein Buch, das seine Enkelkinder gebastelt haben. Es ist vom Mai 2009. Granddad’s eggcellent Adventure heißt es.

In den Monaten nach der Rettung der Banken durch Brian Lenihan befasste sich Keogh zum ersten Mal im Leben näher mit dem Verhalten irischer Banker. Seine eigenen AIB-Aktien, die einst als so sicher wie Bargeld oder Gold galten, verloren rasch an Wert, doch die Topmanager der Bank zeigten nicht die Spur von Reue oder Scham. Der AIB-Verwaltungsratsvorsitzende Dermot Gleeson und sein CEO Eugene Sheehy waren ihm ein besonderer Dorn im Auge. »Die beiden haben sich immer wieder hingestellt und gesagt: ›Unsere Bank ist hundertprozentig solide‹«, erklärt Keogh. »Als ob alles in schönster Ordnung sei!« Er wollte plötzlich mehr wissen über diese Menschen, denen er stets blind vertraut hatte. Und was sich ihm enthüllte – nämlich hoch bezahlte Zeit- und Geldverschwender –, brachte ihn noch mehr in Rage. »Der Verwaltungsratsvorsitzende genehmigte sich selbst 475 000 für die Leitung von zwölf Sitzungen!«, echauffiert er sich immer noch.

Was Keogh feststellte, war und ist der schockierendste und gleichzeitig vertrauteste Aspekt des irischen Dilemmas: wie leichtfertig althergebrachte Finanzinstitute ihre Traditionen und Prinzipien über Bord warfen. Mit der Anglo Irish war eine neue Bank auf den Plan getreten, die vorgeblich eine neue und bessere Methode entdeckt hatte, Bankgeschäfte zu tätigen. Anglo reagierte unglaublich schnell. Ein irischer Bauträger konnte am Spätnachmittag mit einer neuen Idee bei der Bank vorsprechen und noch am selben Abend mit mehreren hundert Millionen Euro nach Hause gehen. Anglo konnte das |154|Geld so rasch auszahlen, weil sie das Bankgeschäft zur Familiensache erklärt hatte. Gefiel ihr der Kunde, hielt sie sich nicht damit auf, sein Projekt zu analysieren.

Statt auf den Irrsinn dieses Ansatzes hinzuweisen, schlossen sich die beiden alten irischen Banken ihm einfach widerspruchslos an. Ein irischer Geschäftsmann namens Denis O’Brien saß 2005 im Verwaltungsrat der Bank of Ireland, als diese mit dem verblüffenden Wachstum von Anglo Irish konfrontiert wurde. (Die Bank war drauf und dran, ihre Größe in nur zwei Jahren zu verdoppeln.) »Ich weiß noch, wie der CEO hereinkam und sagte: ›Wir werden 30 Prozent Wachstum im Jahr verzeichnen‹«, erzählte mir O’Brien. »Ich fragte, und wie zum Teufel wollen Sie das machen? Im Bankgeschäft betragen die Wachstumsraten allenfalls 5 bis 7 Prozent im Jahr.«

Sie schafften es, indem sie es Anglo Irish nachtaten: Sie stellten irischen Bauträgern Schecks aus, damit diese irisches Land aufkaufen konnte – zu jedem Preis. Die Allied Irish Banks, die ihre Kreditsachbearbeiter danach bezahlten, wie viel Geld sie verliehen, richteten eine Abteilung ein, die im Scherz ABA genannt wurde (Anybody but Anglo – jeder außer Anglo). Sie sollte Anglo die größten Kunden aus der Baubranche abspenstig machen – genau die Leute also, die die spektakulärsten Konkurse in der irischen Geschichte hinlegen würden. Im Oktober 2008 veröffentlichte die Irish Times eine Liste der fünf größten Immobilientransaktionen der vorangegangenen drei Jahre. Das Geld für zehn der fünfzehn Projekte stammte von Allied Irish. Anglo Irish finanzierte nur ein einziges. Der insolvente Immobilienentwickler Simon Kelly, der bei verschiedenen irischen Banken persönlich mit 200 Millionen Euro in der Kreide steht und als Gesellschafter mit anderen Partnern weitere 2 Milliarden Euro schuldig geblieben ist, |155|erzählte in einer landesweit ausgestrahlten Radiosendung, das einzige Mal in seiner Laufbahn, dass ein Bankmitarbeiter ungehalten wurde, sei gewesen, als er einen Kredit zurückzahlte – an Anglo Irish, mit Geld, das er bei Allied Irish aufgenommen hatte. Die ehemaligen Manager von Anglo Irish, die ich interviewt habe (inoffiziell, da sie alle untergetaucht sind), sprechen von ihren älteren, respektableren Nachahmern mit einer gewissen Verwunderung. »Ja, wir waren außer Kontrolle«, geben sie unverblümt zu. »Aber diese Leute waren total verrückt

Gary Keogh hat darüber nachgedacht, wie sich Irland seit seiner Jugend verändert hat, als das Land bitterarm war. »Ich habe damals Kronkorken gesammelt«, erzählt er. »Und heute nimmt das staatliche Gesundheitswesen nicht einmal mehr Krücken zurück? Das kann doch nicht sein! Uns geht es viel zu gut.« Anders als die meisten Menschen, die er kennt, hat Keogh keine Schulden. »Ich hatte nichts zu verlieren«, erklärt er. »Ich schuldete niemandem etwas. Deshalb konnte ich das tun!« Außerdem war er gerade von einer schweren Erkrankung genesen, was ihm das Gefühl gab, er könne sich einiges erlauben. »Ich hatte soeben eine neue Niere bekommen und war sehr froh darüber«, sagt er. »Das muss wohl eine Niere von Che Guevara gewesen sein.« Er schildert seinen ausgeklügelten Plan wie ein Attentäter den perfekten Mord. »Ich hatte nur zwei faule Eier«, erzählt er, »aber die waren richtig faulig! Ich hatte sie ja schließlich sechs Wochen lang in der Garage liegen!«

Die AIB-Hauptversammlung vom März 2009 war die erste, die er jemals besucht hatte. Und er machte sich Sorgen, dass etwas schiefgehen könnte, gibt er zu. Weil er befürchtete, keinen Parkplatz zu finden, fuhr er mit dem Bus. Weil er befürchtete, |156|die Eier könnten zerbrechen, bastelte er eigens einen Schutzbehälter. Weil er befürchtete, sich nicht zurechtzufinden, plante er genügend Zeit ein, um den Veranstaltungsort zu inspizieren. »Ich stand zeitig an der Tür und machte vorab einen Erkundungsrundgang«, wie er es formuliert. »Ich wollte wissen, was da auf mich zukam.« Sein Eierbehälter war zu groß, um ihn hineinzuschmuggeln. Deshalb warf er ihn schon draußen weg. »Ich hatte in jeder Jackentasche ein Ei«, berichtet er. Weil er befürchtete, die Eier könnten zu schlüpfrig sein für einen sicheren Griff und Wurf, hatte er jedes dünn in Zellophan gewickelt. »Ich positionierte mich auf dem vierten Platz in der vierten Reihe«, beschreibt er. »Nicht zu nah, aber auch nicht zu weit weg.« Dann wartete er auf den richtigen Moment.

Und der kam schnell. Die Topmanager hatten kaum ihre Plätze auf dem Podium eingenommen, als sich schon unaufgefordert ein Aktionär erhob, um eine Frage zu stellen. Da blaffte der AIB-Verwaltungsratsvorsitzende Gleeson: »Setzen Sie sich!«

»Der hielt sich für einen Diktator!«, meint Keogh, der schon jetzt die Nase voll hatte. Er stand auf und rief: »Ich habe mir euren Mist lange genug angehört! Sie sind ein verfluchter Dreckskerl!« Und dann eröffnete er das Feuer.

»Er dachte, ich hätte auf ihn geschossen«, erzählt er heute mit einem verschmitzten Lächeln. »Das erste Ei traf nämlich sein Mikrofon, und das knallte ganz schön!« Es spritzte auf das Schulterpolster von Gleesons Anzug. Das zweite Ei verfehlte den CEO, zerbarst aber auf dem AIB-Zeichen hinter ihm.

Da griffen auch schon die Sicherheitskräfte ein. »Es hieß, ich würde verhaftet und verklagt werden, doch dazu kam es |157|nicht«, berichtet er. Natürlich nicht: Es war schließlich im Grunde ein Familienstreit gewesen. Die Wachleute wollten ihn hinausbringen, aber in Wirklichkeit verließ er den Ort des Geschehens allein und setzte sich in den nächsten Bus nach Hause. »Der Vorfall ereignete sich um zehn nach zehn morgens«, erzählt er. »Um zehn vor elf war ich schon wieder zurück. Um zehn nach elf klingelte das Telefon. Ich wurde eine Stunde lang im Radio interviewt.« Dann brach, wenn auch nur kurz, die Hölle los. »Die Presse belagerte mein Haus und ließ mir keine Ruhe«, fährt er fort. Doch ihm war das gleich. Ihn hielt dort nichts. Er hatte getan, was er tun wollte, und sah keinen Grund für weiteres Aufheben. Am nächsten Morgen um sechs bestieg er in Dublin ein Flugzeug und brach zu einer lange geplanten Mittelmeerkreuzfahrt auf.