Als ich in Hamburg ankam, schien das Schicksal der Finanzwelt von den Launen der Deutschen abzuhängen. Moody’s war im Begriff, die portugiesischen Staatsanleihen zu Junkbonds herabzustufen, und Standard & Poor’s hatte angedeutet, dass Italien als Nächstes an der Reihe sein könne. Auch Irland drohte der Ramschstatus, und die Furcht ging um, der Nachfolger des spanischen Ministerpräsidenten Zapatero könnte nach den Wahlen im Herbst die Gelegenheit beim Schopfe packen und verkünden, dass das Land weit größere Auslandsschulden hatte, als sein Vorgänger zugab. Und dann war da noch Griechenland. Von den 126 Ländern, deren Schulden von Rating-Agenturen bewertet werden, stand Griechenland auf Platz 126. Hellas war nun ganz offiziell das Land, das mit der größten Wahrscheinlichkeit seine Schulden nicht zurückzahlen würde. Die Deutschen waren nicht nur die wichtigsten Gläubiger der verschiedenen abgebrannten europäischen Nationen, sie stellten außerdem deren einzige Hoffnung auf künftige Kredite dar. Sie waren die moralische Instanz, die entschied, was als Finanzgebaren durchging und was nicht. Wie mir ein führender Mitarbeiter der Bundesbank mitteilte: »Wenn wir nein sagen, dann heißt das nein. Ohne Deutschland geht überhaupt nichts.« Vor einem Jahr, als die |159|Griechen in Deutschland als Betrüger beschimpft wurden, fragten Zeitungen auf der Titelseite, warum die bankrotten Hellenen nicht einfach ein paar Inseln verkauften – für den Griechen auf der Straße eine Beleidigung. Im Juni dieses Jahres begann die griechische Regierung mit dem Verkauf von Inseln, genauer gesagt erstellte sie eine Liste von tausend Objekten, die sich in Staatsbesitz befanden – Golfplätze, Strände, Flughäfen, Äcker, Straßen – und die sie verkaufen wollte, um ihre Schulden zu bezahlen. Die Idee dazu stammte nicht von den Griechen.
Außer den Deutschen selbst kommt vermutlich kaum jemand auf den Gedanken, in Hamburg Urlaub zu machen. Aber da gerade Ferien waren, war die Stadt von deutschen Touristen überlaufen. Als ich den Hotelportier nach Sehenswürdigkeiten fragte, sah er mich an, zögerte ein wenig und meinte dann: »Die meisten gehen auf die Reeperbahn.« Genau deswegen war ich nach Hamburg gekommen.
Vielleicht liegt es an dem Talent der Deutschen, den Nicht-Deutschen immer wieder Schwierigkeiten zu bereiten, dass sich so viele Wissenschaftler bemüht haben, die Deutschen zu verstehen. Aus dieser nach wie vor boomenden und oft sehr ernsthaften Literatur ragt ein Büchlein mit dem witzigen Titel Life Is Like a Chicken Coop Ladder (zu deutsch etwa: »Das Leben ist eine Hühnerleiter«) aus Jahr 1984 heraus. Auf seinen wenigen Seiten versucht der Autor Alan Dundes, ein renommierter Anthropologe, dem deutschen Charakter auf die Spur zu kommen, indem er deutsche Geschichten und Schwänke analysiert. Dabei gelangt er zu dem Schluss, dass sich viele Volkserzählungen und Redewendungen um Ausscheidungsprodukte drehen: »Scheiße, Dreck, Mist, Arsch … Volkslieder, Geschichten, Sprichwörter, Rätsel und die Alltagssprache |160|sind Zeugnis des besonderen Interesses der Deutschen an diesem Bereich des menschlichen Verhaltens.«
Um seine Theorie zu untermauern, fährt Dundes eine erschreckende Menge von Beweisen auf. Beispielsweise erwähnt er den »Geldscheißer«, dem, wie der Name andeutet, Münzen aus dem After fallen. In München wurde das erste Nachttopfmuseum Europas eröffnet. Das Wort »Scheiße« kann extrem flexibel eingesetzt werden – beispielsweise galt »mein Scheißerle« früher sogar als Kosewort. Eines der ersten Bücher, das Johannes Gutenberg, der Pionier des Buchdrucks, nach der Bibel druckte, war ein »Laxierkalender«, sprich ein Abführ-Ratgeber. Daneben existiert eine ganze Menge deutscher Sprichwörter und Redensarten, die fäkale Bilder bemühen, zum Beispiel »etwas in die Scheiße reiten«.
Mit auffälliger Besessenheit verfolgte Dundes diese Vorliebe die deutsche Geschichte hindurch. Dem für seine Kraftausdrücke bekannten Martin Luther (»Aus einem traurigen Arsch kommt kein fröhlicher Furz«) soll angeblich die Idee für die Reformation auf dem Topf gekommen sein. Mozarts Briefe verrieten eine »Begeisterung für Fäkalsprache, die ihresgleichen sucht«. Und eines von Hitlers Lieblingswörtern sei »Scheißkerl« gewesen – mit diesem freundlichen Spitznamen bedachte er offenbar nicht nur andere, sondern auch sich selbst. Nach dem Krieg behaupteten Hitlers Leibärzte im Verhör, ihr Patient habe erstaunliche Energie auf die Begutachtung seiner Exkremente verwendet, und angeblich gefiel es ihm, wenn Frauen ihren Darm auf ihm entleerten. Dundes spekuliert, vielleicht sei Hitler den Deutschen deshalb so sympathisch erschienen, weil sie eine Gemeinsamkeit teilten: einen öffentlich zur Schau getragenen Ekel vor allem Schmutz und eine dahinter verborgene private Obsession. »Diese Mischung |161|– außen sauber, innen schmutzig – gehört zum nationalen Charakter der Deutschen«, behauptet Dundes.
Als Anthropologe beschäftigte sich Dundes vor allem mit der Alltagskultur. (Wer sich für die Rolle der Koprophilie in der Literatur interessiert, dem sei das Buch The Call of Human Nature: The Role of Scatology in Modern German Literature [auf Deutsch etwa: »Der Ruf der Natur. Fäkalsprache in der modernen deutschen Literatur«] des Literaturwissenschaftlers Dieter Rollfinke empfohlen.) Bei seinem Besuch in Hamburg interessierte sich der Anthropologe vor allem für das Schlamm-Catchen. Nackte Frauen prügeln sich in einem Schlammbad, und die Zuschauer tragen Badekappen, um sich nicht schmutzig zu machen. »So kann das Publikum den Schmutz genießen und bleibt selbst sauber«, schreibt Dundes. Das trifft auch ungefähr die Rolle der Deutschen in der Eurokrise.
***
Eine Woche zuvor hatte ich mich in Berlin mit Jörg Asmussen, dem 44-jährigen Staatssekretär im Finanzministerium, getroffen. Deutschland ist heute das einzige Land der entwickelten Welt, das keine Angst haben muss, dass seine Wirtschaft zusammenbricht, wenn Investoren seine Anleihen nicht mehr kaufen. Während in Griechenland die Arbeitslosigkeit inzwischen ein neues Rekordhoch von 16,2 Prozent erreicht hat, ist sie in Deutschland auf ein Zwanzig-Jahres-Tief von 6,9 Prozent gesunken. Die Deutschen scheinen die Finanzkrise ohne größere wirtschaftliche Folgeschäden überstanden zu haben. Sie haben einfach ihre Badekappen aufgezogen, um nicht besudelt zu werden, während sich ihre Banker im Schlamm wälzten. Daher beobachten die Finanzmärkte die Deutschen seit gut einem Jahr mit Argusaugen, aber bislang, ohne sie |162|durchschaut zu haben: Sie könnten es sich vermutlich leisten, für die Schulden der übrigen Europäer geradezustehen, aber werden sie das auch? Sind sie jetzt Europäer, oder immer noch Deutsche? Jede Äußerung von Mitgliedern der Bundesregierung zu diesem Thema brachte die Börse zum Beben – und es wurde vieles geäußert. Die meisten Politiker schlossen sich lediglich der öffentlichen Meinung an und brachten ihr Unverständnis und ihren Zorn über die Verantwortungslosigkeit der übrigen Europäer zum Ausdruck. Asmussen ist einer der Politiker, denen die Presse jedes Wort von den Lippen abliest. Er und Finanzminister Wolfgang Schäuble nehmen an jedem Gespräch zwischen der deutschen Regierung und den Pleitekandidaten teil.
Das Finanzministerium, ein Gebäude aus den dreißiger Jahren, ist ein Monument des Größenwahns und des schlechten Geschmacks der Nationalsozialisten. Der gesichtslose Klotz ist so riesig, dass man zwanzig Minuten benötigt, um wieder zum Ausgang zu finden, wenn man die falsche Richtung eingeschlagen hat. Ich schlage die falsche Richtung ein und laufe dann keuchend und schwitzend zurück. Schließlich gelange ich an einen vertraut wirkenden Innenhof: Der einzige Unterschied zu den historischen Fotos ist, dass Hitler nicht mehr durch die Tür marschiert und die Adler mit den Hakenkreuzen entfernt wurden. »Das war Görings Reichsluftfahrtministerium«, sagt mir der Mitarbeiter der Presseabteilung, seltsamerweise ein Franzose, der bereits auf mich wartet. Dann erklärt er mir, dass das Gebäude deshalb so riesig ist, weil Göring wollte, dass auf dem Dach Flugzeuge starten und landen konnten.
Ich bin drei Minuten zu spät dran, aber der Staatssekretär lässt mich ganze fünf Minuten warten, was in Deutschland |163|schon beinahe als Kapitalverbrechen gilt. Ausgiebiger als nötig entschuldigt er sich für die Verspätung. Mit seiner randlosen Brille erinnert mich Asmussen an einen Regisseur. Er wirkt durchtrainiert und hat kein einziges Haar auf dem Kopf, aber nicht, weil sie ihm ausgegangen wären, sondern aus freien Stücken. Bei durchtrainierten weißen Männern ist der kahlrasierte Schädel meist ein Statement: »Seht her, ich brauche kein Körperfett und keine Haare.« Nebenbei wirkt es, als wollten sie alle, die beides vielleicht doch noch brauchen, als Weicheier abtun. Der Staatssekretär lacht auch genauso, wie man es von einem durchtrainierten Glatzkopf erwarten würde. Statt den Mund zu öffnen und die Luft entweichen zu lassen, schürzt er die Lippen und stößt sie durch die Nase aus. Mag sein, dass er genauso lachen muss wie andere Männer, aber er benötigt weniger Luft dazu. Sein Schreibtisch ist ein Muster der Disziplin. Alles deutet auf rege Betriebsamkeit hin – Schreibblöcke, Post-its, Mappen – aber sämtliche Gegenstände sind in perfekten 90-Grad-Winkeln arrangiert und an den Kanten des Schreibtischs ausgerichtet. Als einziges persönliches Element fällt mir an der Wand neben seinem Schreibtisch ein großes, weißes Schild ins Auge:
»Das Geheimnis des Erfolgs ist,
den Standpunkt des anderen zu verstehen.«
Henry Ford
Ich bin überrascht. Das ist so gar nicht das Motto, das ich von einem durchtrainierten Kahlkopf erwartet hätte. Das ist ja … soft. Der Staatssekretär stellt meinen ersten Eindruck vollends auf den Kopf, als er mit beinahe leichtsinniger Klarheit über |164|Dinge spricht, die andere Finanzstaatssekretäre eigentlich von Berufs wegen verheimlichen würden. Unaufgefordert erzählt er mir, er habe gerade den jüngsten internen Bericht des Weltwährungsfonds zu den Reformfortschritten der griechischen Regierung gelesen.
»Die Regierung hat die versprochenen Maßnahmen nicht in ausreichendem Maße umgesetzt«, stellt er kühl fest. »Außerdem haben sie ein massives Problem beim Steuereinzug. Die Steuergesetzgebung an sich ist in Ordnung. Nur das Einzugsverfahren muss vollkommen überholt werden.«
Die Griechen haben mit anderen Worten keine Lust, ihre Steuern zu bezahlen. Aber das ist nur eine von vielen griechischen Sünden. »Sie kommen mit der Strukturreform nicht voran. Der Arbeitsmarkt verändert sich zwar, aber viel zu langsam«, fährt er fort. »Für eine Arbeit, für die ein deutscher Arbeitnehmer heute 55 000 Euro verdient, bekommt ein griechischer nach den Entwicklungen der letzten zehn Jahre 70 000 Euro.« Um Lohnbeschränkungen zu umgehen, zahlte die griechische Regierung ihren Beamten 14 Monatsgehälter. »Das Verhältnis zwischen Regierung und Bürgern muss sich ändern«, fährt Asmussen fort. »Aber das ist nicht in drei Monaten zu schaffen, das braucht seine Zeit.« Deutlicher könnte er es nicht ausdrücken: Wenn Deutsche und Griechen nebeneinander in einer gemeinsamen Währungsunion existieren wollen, dann müssen sich die Griechen ändern.
Das wird aber vermutlich so viel Zeit in Anspruch nehmen, dass es nicht mehr ins Gewicht fällt. Die Griechen haben nicht nur einen gewaltigen Schuldenberg angehäuft, sondern nach wie vor stehen sie vor einem riesigen Haushaltsdefizit. Da sie in einer künstlich starken Währung gefangen sind, können sie dieses Defizit nicht so einfach über Nacht in ein Haushaltsplus |165|verwandeln, auch wenn sie alles tun, was das Ausland von ihnen verlangt. Die deutsche Regierung forderte eine Kürzung der griechischen Staatsausgaben, aber das bremst das Wirtschaftswachstum und verringert die Steuereinnahmen. Es bleiben also im Grunde nur zwei Möglichkeiten: Entweder müssen die Deutschen einer gemeinsamen Haushaltspolitik mit den übrigen europäischen Nationen zustimmen, das heißt, die deutschen Bürger müssen mit ihren Steuern die griechischen Bürger alimentieren. Oder die Griechen (und vermutlich alle anderen Europäer außer den Deutschen) müssen eine »Strukturreform« durchführen und auf wunderbare Weise genauso effizient und produktiv werden wie die Deutschen. Die erste Lösung wäre angenehm für die Griechen und schmerzhaft für die Deutschen. Die zweite Lösung wäre angenehm für die Deutschen und schmerzhaft bis selbstmörderisch für die Griechen.
Das wirtschaftlich einzig plausible Szenario sieht so aus, dass die Deutschen und die übrigen halbwegs zahlungsfähigen Europäer (die rasch weniger werden) die Ärmel hochkrempeln und für alle anderen zahlen. Doch was wirtschaftlich plausibel ist, lässt sich politisch nicht verkaufen. Denn an ein Versprechen ihrer Politiker erinnern sich die Deutschen noch ganz genau: Sie ließen sich nur breitschlagen, ihre D-Mark gegen den Euro einzutauschen, wenn sie nie für die Schulden anderer Länder aufkommen mussten. Diese Regel wurde mit der Gründung der Europäischen Zentralbank aufgestellt – und vor einem Jahr gebrochen. In der deutschen Öffentlichkeit kocht der Zorn über diesen Wortbruch täglich höher – so hoch, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrem Gespür für die öffentliche Meinung sich nicht einmal an die Bürger wandte, um sie davon zu überzeugen, dass es |166|vielleicht in ihrem Interesse sein könnte, den Griechen unter die Arme zu greifen.
Aus diesem Grund sind die europäischen Finanzprobleme derart vertrackt. Genau deshalb schicken heute Griechen Bomben ins Kanzleramt und werfen Deutsche die Scheiben der griechischen Botschaft in Berlin ein. Und genau deshalb haben die europäischen Politiker bisher nichts unternommen, als den unvermeidlichen Tag der Abrechnung immer weiter aufzuschieben, alle paar Monate notdürftig die immer größer und bedrohlicher werdenden Löcher in den Staatshaushalten von Griechenland, Irland und Portugal zu stopfen und zu beten, dass niemand die noch größeren und bedrohlicheren Löcher in den Staatshaushalten von Spanien, Italien und sogar Frankreich bemerkt.
Bislang kam das Geld für die Rettungsaktionen von der Europäischen Zentralbank in Frankfurt. Als die EZB gegründet wurde, sollte sie mit derselben Disziplin agieren wie die Deutsche Bundesbank, doch von den guten Vorsätzen ist nicht mehr viel übrig. Seit Beginn der Finanzkrise hat sie griechische, irische und portugiesische Staatsanleihen im Wert von über 55 Milliarden Euro aufgekauft und verschiedenen europäischen Regierungen und Banken rund 320 Milliarden Euro geliehen. Bei der Kreditvergabe hat sie fast jede Sicherheit akzeptiert, selbst griechische Staatsanleihen. Aber eine Regel ist den Deutschen heilig: Die EZB darf als Sicherheit keine Staatspapiere akzeptieren, die von den amerikanischen Rating-Agenturen als Zahlungsausfall eingestuft werden. Wenn man bedenkt, dass die EZB ursprünglich überhaupt keine auf dem Markt gehandelten Staatsanleihen aufkaufen durfte, verwundert es ein bisschen, dass sie sich so an dieses Detail klammert. Sollte Griechenland also den Staatsbankrott erklären, dann |167|verliert die EZB nicht nur ihre griechischen Staatsanleihen, sondern muss die Papiere an die europäischen Banken zurückgeben und von diesen 320 Milliarden Euro eintreiben. Die EZB könnte selbst zahlungsunfähig werden und sich an die zahlungskräftigen Mitgliedsstaaten wenden, allen voran Deutschland. (Ein ranghoher Beamter der Deutschen Bundesbank erklärte mir, für diese Eventualität gebe es bereits Pläne. »Wir haben 3 400 Tonnen Gold. Wir sind das einzige Land, das noch über seine ursprünglichen Goldreserven [aus den vierziger Jahren] verfügt. Wir sind abgesichert.«) Das eigentliche Problem der griechischen Staatsverschuldung besteht also darin, dass sie andere europäische Länder und Banken in die Zahlungsunfähigkeit stürzen könnte. Zumindest könnte sie am Markt für Staats- und Bankanleihen Panik auslösen, und das zu einem Zeitpunkt, an dem mindestens zwei weitere hoch verschuldete Länder, nämlich Italien und Spanien, keine Panik gebrauchen können.
Aus Sicht des deutschen Finanzministeriums ist die Ursache für dieses Chaos die mangelnde Bereitschaft und Unfähigkeit der Griechen, die nötigen Veränderungen vorzunehmen. Aber genau darum ging es bei der Währungsunion von Anfang an: Ganze Länder mussten ihre Lebensweise ändern. Was ursprünglich als Mittel gedacht war, um die Deutschen in Europa zu integrieren und ihre Vorherrschaft zu verhindern, hat sich in sein Gegenteil verkehrt. Wie man es auch dreht und wendet, die Deutschen besitzen heute Europa. Wenn die übrigen europäischen Nationen wie bisher die Vorzüge einer im Grunde deutschen Währung genießen wollen, dann müssen sie eben deutscher werden. Viele Menschen, die sich lieber nicht ausmalen wollen, was »deutsch« sein bedeuten könnte, müssen sich heute mit diesem Gedanken auseinandersetzen.
|168|Jörg Asmussen deutet eine erste Antwort an – und zwar in seiner Person. In Deutschland fällt jemand wie er nicht weiter auf, aber in Griechenland und in vielen anderen Ländern wäre er vermutlich eine Art Außerirdischer: ein hoch intelligenter und ehrgeiziger Beamter, der kein anderes Interesse hat, als seinem Land zu dienen. In seinem glänzenden Lebenslauf fehlt eine Zeile, die in den Lebensläufen seiner Kollegen im Rest der Welt fast unweigerlich stehen würde: die Zeile, in der er seine Stelle als Regierungsbeamter aufgibt, um zu Goldman Sachs zu wechseln und abzukassieren. Als ich einen von Asmussens Kollegen fragte, warum er nie in die Privatwirtschaft gewechselt sei, um dort das große Geld zu verdienen, sah er mich entsetzt an: »Das würde ich nie tun«, antwortete er mir. »Das wäre nicht loyal!«
Asmussen stimmt dem zu und spricht das deutsche Dilemma direkt an. Sonderbarerweise hatte die Verfügbarkeit von billigem Geld, das im vergangenen Jahrzehnt die Märkte überflutete, in jedem Land seine eigenen Auswirkungen. Jede Industrienation reagierte anders auf die Versuchung. Letztlich nutzten die übrigen europäischen Nationen die Kreditwürdigkeit der Deutschen, um auf Einkaufstour zu gehen. Sie bekamen Geld zu denselben Bedingungen wie die Deutschen und kauften damit Dinge, die sie sich nicht leisten konnten. Die Einzigen, die der Versuchung widerstanden, waren die Deutschen selbst. »In Deutschland gab es keinen Kredit-Boom«, erklärt Asmussen. »Der Immobilienmarkt blieb konstant. Die Leute haben nicht auf Pump konsumiert. Dieses Verhalten ist den Deutschen fremd. Die Deutschen sparen, so viel sie können. Vielleicht ist das ein Überbleibsel der kollektiven Erinnerung an die Hyperinflation der zwanziger Jahre und die Weltwirtschaftskrise.« Die deutsche Regierung sei genauso |169|zurückhaltend, so Asmussen, denn es herrsche »ein Konsens zwischen allen Parteien: Wer nicht verantwortlich haushaltet, hat bei den Wahlen keine Chance, denn genauso denken die Menschen.«
Angesichts der Verlockungen des billigen Geldes taten die Deutschen also das genaue Gegenteil dessen, was die Isländer, Iren, Griechen und nicht zu vergessen die Amerikaner taten. Andere Länder nahmen fremdes Geld auf, um damit die verrücktesten Dinge zu finanzieren. Und die Deutschen beziehungsweise ihre Banken benutzten ihr Geld, um Ausländern die verrücktesten Dinge zu ermöglichen.
Und genau das macht den deutschen Fall so ungewöhnlich. Wenn sie einfach nur die einzige Industrienation mit einer gesunden Zahlungsmoral gewesen wären, dann wäre das eine Sache. Es kam jedoch etwas Sonderbares hinzu: Während des Kreditbooms taten die deutschen Banker alles, um sich schmutzig zu machen. Sie verliehen ihr Geld an irische Immobilienhaie, isländische Zocker und amerikanische Investmentbanken, die mit diesem Geld Dinge anstellten, die kein Deutscher je tun würde. Bis heute ist unklar, wie viel die deutschen Banken genau versenkt haben – zuletzt war von 15 Milliarden Euro in Island, über 140 Milliarden in Irland und über 40 Milliarden in den Vereinigten Staaten die Rede; die Verluste mit griechischen Staatsanleihen sind noch gar nicht beziffert. Der einzige Finanzbetrüger, dem die deutschen Banken im vergangenen Jahrzehnt nicht aufsaßen, war Bernie Madoff. Zu Hause übten sich diese enthemmten Banker jedoch in Zurückhaltung. Mit etwas anderem wären sie bei den Deutschen auch gar nicht durchgekommen. Es war ein weiterer Fall von »außen sauber, innen schmutzig« – die deutschen Banken, die sich ein bisschen schmutzig machen wollten, mussten ins Ausland gehen.
|170|Dazu hat der Finanzstaatssekretär allerdings recht wenig zu sagen. Er wundert sich bis heute, wie eine Immobilienkrise in Florida den Deutschen derartige Verluste bescheren konnte.
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Ein deutscher Wirtschaftswissenschaftler namens Henrik Enderlein, der an der Hertie School of Governance in Berlin unterrichtet, hat diesen radikalen Kurswechsel beschrieben, den die deutschen Banken nach 2003 vornahmen. In einem bisher unveröffentlichten Aufsatz schreibt er: »Viele Beobachter meinten zunächst, die deutschen Banken seien durch die Krise kaum in Mitleidenschaft gezogen worden. Das Gegenteil war der Fall. Trotz relativ guter wirtschaftlicher Bedingungen gehörten die deutschen Banken zu den am stärksten betroffenen in Zentraleuropa.« Die meisten Beobachter waren davon ausgegangen, dass die deutschen Banken konservativer und vom Rest der Welt isolierter waren als beispielsweise die französischen. Diese Annahme erwies sich jedoch als falsch. »Das deutsche Bankwesen hat nie innovative Finanzprodukte hervorgebracht«, erläutert Enderlein. »Die Bank gab einem Unternehmen Geld und das Unternehmen zahlte es zurück. Quasi über Nacht wurden die Banken plötzlich amerikanisch. Leider konnten sie das nicht besonders gut.«
Was die Deutschen zwischen 2003 und 2008 mit ihrem Geld machten, wäre in Deutschland selbst vollkommen undenkbar gewesen. Was sie auch anfassten, sie verloren riesige Summen. Viele Europäer – allen voran die Griechen – meinen, die europäische Schuldenkrise sei nichts anderes als der Versuch der deutschen Regierung, den deutschen Banken ihre Verluste zurückzuerstatten, ohne dass es jemand mitbekommt. Die deutsche Regierung zahlt an den europäischen Rettungsfonds, |171|der das Geld an die irische Regierung verleiht, die es an die irischen Banken weitergibt, welche damit ihre Schulden bei deutschen Banken begleichen. »Es ist wie ein riesiges Billardspiel«, meint Enderlein. »Es wäre einfacher, die Bundesregierung würde den deutschen Banken das Geld geben und die irischen Banken pleitegehen lassen.« Es ist eine interessante Frage, warum sie das nicht einfach genau so macht.
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Der zwanzigminütige Fußweg vom Finanzministerium zum Büro des Aufsichtsratsvorsitzenden der Commerzbank, einer der beiden großen Privatbanken Deutschlands, ist von der offiziellen Erinnerungskultur gesäumt: Ich komme am neuen Holocaust-Denkmal vorbei, gehe durch die Hannah-Arendt-Straße und sehe Wegweiser zum neuen Jüdischen Museum. In der Ferne erkenne ich den Zoologischen Garten, an dessen Antilopenhaus seit einigen Wochen eine Plakette an die enteigneten jüdischen Zoo-Aktionäre erinnert. Auch Hitlers Führerbunker liegt auf dem Weg, allerdings befindet sich an dieser Stelle heute ein Parkplatz und die Gedenktafel ist gut versteckt.
Die Straßen von Berlin wirken auf mich wie ein Schrein des deutschen Schuldgefühls. Man könnte meinen, die Deutschen hätten gelernt zu akzeptieren, dass sie immer die Bösen sind. Dabei ist kaum einer der am Holocaust Beteiligten noch am Leben. Wenn Außerirdische, die keine Ahnung von der deutschen Geschichte hätten, in Berlin landen würden, könnten sie sich fragen, wer nur diese Juden sein mögen und warum sie die Stadt beherrschen. Aber es gibt in Deutschland kaum noch Juden. »Die meisten Deutschen haben nie einen Juden gesehen«, meint Gary Smith, Direktor der American Academy in Berlin. »Sie sind unwirklich. Wenn Deutsche an Juden denken, |172|dann meistens in der Rolle der Opfer.« Je mehr Zeit seit dem Holocaust vergeht, umso öffentlicher gedenken die Deutschen ihrer Opfer. Es gibt allerdings viele Hinweise darauf – nicht zuletzt die Denkmäler – dass die Deutschen ihr Schuldbewusstsein allmählich überwinden. Ein guter Freund von mir – ein Jude, dessen Familie in den dreißiger Jahren aus Deutschland geflohen war – ging unlängst zu einem deutschen Konsulat in den Vereinigten Staaten, um einen deutschen Pass zu beantragen. Er hatte bereits einen europäischen Pass, aber er fürchtete, die Europäische Union könne auseinanderbrechen, und er wollte problemlos nach Deutschland reisen können. Der zuständige Beamte reichte ihm eine Broschüre mit dem Titel »Jüdisches Leben im modernen Deutschland«.
»Hätten Sie etwas dagegen, sich vor die Flagge zu stellen, damit ich ein Foto von Ihnen machen kann?«, fragte er, nachdem er das Antragsformular entgegengenommen hatte.
Mein Freund starrte auf die deutsche Fahne.
»Wozu soll das gut sein?«, wollte er wissen.
»Für unsere Internetseite«, antwortete der Beamte. Die Bildunterschrift sollte darauf hinweisen, dass es sich um einen Nachfahren von Holocaust-Überlebenden handelte, der wieder nach Deutschland zurückkehren wolle.
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Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise fing die Bundesregierung die Commerzbank mit einer Geldspritze auf und übernahm einen 25-prozentigen Anteil an der Bank. Aber ich war aus einem anderen Grund auf sie aufmerksam geworden. Als ich eines Abends mit einem Banker durch Frankfurt ging, fiel mir der Commerzbank-Tower auf. Die obersten Etagen des 53 Stockwerke hohen Gebäudes erinnerten mich an einen Thron. |173|Mein Begleiter, der oft in dem Gebäude zu tun hatte, meinte, das Interessanteste an dem Gebäude sei ein Raum ganz oben, von dem aus man auf Frankfurt hinunterblicke. Es sei eine Herrentoilette. Manager der Commerzbank hatten sie ihm gezeigt, um ihm vorzuführen, wie man von dort oben für alle Welt sichtbar auf die Deutsche Bank pinkeln könne. Und wenn man sich in eine Kabine setzte, könnte man auf die Konkurrenz sogar …
Der Aufsichtsratsvorsitzende Klaus-Peter Müller sitzt allerdings in Berlin, und zwar in einem besonders geschichtsträchtigen Gebäude gleich neben dem Brandenburger Tor. Einst befand sich das Haus im Todesstreifen: Auf der Vorderseite lauerten bewaffnete Mauerschützen, die Rückseite bildete die Kulisse für Ronald Reagans berühmte Rede (»Mr. Gorbachev, tear down this wall!«). Wenn man das Gebäude heute sieht, würde man dies kaum vermuten. »Nach dem Mauerfall hatten wir die Möglichkeit, dieses Gebäude zurückzukaufen«, erklärt Müller. »Es hatte uns vor dem Krieg gehört. Aber wir mussten es originalgetreu restaurieren. Alles musste von Hand gefertigt werden.« Er zeigte auf die scheinbar antiken Fenster und die Türgriffe aus Messing. »Fragen Sie mich nicht, was das alles gekostet hat«, lacht er. In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurden in Ostdeutschland ganze Altstadtviertel, die im Zweiten Weltkrieg zerstört worden waren, wiederaufgebaut. Wenn das so weitergeht, sieht Deutschland irgendwann wieder so aus, als hätte es nie einen Krieg gegeben.
Müller bietet mir dasselbe Panorama des deutschen Bankwesens, das ich noch ein Dutzend Mal hören sollte. Die meisten deutschen Geldinstitute sind keine Privatunternehmen, sondern entweder staatliche Landesbanken oder kleine Sparkassen. Die Commerzbank, die Dresdner Bank und die Deutsche |174|Bank, die in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts gegründet wurden, waren die einzigen privaten Großbanken. Im Jahr 2008 wurde die Dresdner Bank von der Commerzbank geschluckt, doch da beide bergeweise faule amerikanische Anlagen besaßen, musste die fusionierte Bank vom Staat gerettet werden. »Bei uns gibt es keinen Eigenhandel«, erklärt mir Müller und bringt damit die Ursache für die Fehler der deutschen Banken auf den Punkt. »Warum sollte jemand einem 32 Jahre alten Händler 20 Millionen Dollar zahlen? Er benutzt die Büros, die Technologie und die Visitenkarte mit einem erstklassigen Namen. Wenn man ihm die Visitenkarte wegnimmt, kann er vielleicht noch Hot Dogs verkaufen.« Ich staune: Der Chef der zweitgrößten deutschen Privatbank hält nichts davon, Bankern astronomische Gehälter zu zahlen.
Dann gesteht er mir, warum die Finanzkrise das Weltbild vieler deutscher Banker erschüttert hat. Anfang der siebziger Jahre besuchte er die neu eröffnete Filiale der Commerzbank in New York, die erste Wall-Street-Filiale eines deutschen Geldinstituts. Er bekommt fast feuchte Augen, wenn er sich daran erinnert, wie die Amerikaner damals Geschäfte machten. Einmal lief ihm ein amerikanischer Investmentbanker, der ihn versehentlich aus einem Handel ausgeschlossen hatte, auf der Straße nach und gab ihm einen Umschlag mit 75 000 Dollar, weil er die deutsche Bank nicht vor den Kopf stoßen wollte. »Verstehen Sie, daher habe ich mein Bild von den Amerikanern«, sagt er mit Nachdruck. Aber in den vergangenen Jahren musste er dieses Bild gehörig revidieren.
»Wie viel haben Sie verloren?«, frage ich.
»Das sage ich Ihnen lieber nicht«, erwidert er.
Er lacht und fährt fort. »Vierzig Jahre lang haben wir auf AAA-Papiere nicht einen Cent verloren. Ab 2006 haben wir |175|keine Subprime-Papiere mehr in unser Portfolio aufgenommen. Ich hatte eine Ahnung, dass mit eurem Markt etwas nicht stimmt.« Er macht eine Pause, ehe er weiterspricht. »Ich hatte immer geglaubt, New York hätte das am besten kontrollierte Bankwesen. Die Notenbank und die Börsenaufsicht waren für mich beispiellos. Ich konnte nicht glauben, dass Investmentbanker in ihren E-Mails schrieben, dass sie Dreck verkaufen. Das war meine größte berufliche Enttäuschung. Ich hatte ein viel zu positives Bild von den Vereinigten Staaten. Ich dachte, in den Vereinigten Staaten gebe es feste Werte.«
Das Weltfinanzsystem ist nicht nur dazu da, um Kreditgeber und Kreditnehmer zusammenbringen. Seit einigen Jahrzehnten dient es auch zunehmend dazu, den Starken die Schwachen zur Ausbeutung zuzuführen. Clevere Händler an der Wall Street erfinden unfaire und teuflisch komplizierte Papiere und schicken dann ihre Händler in alle Welt los, um nach einem Deppen zu suchen, der sie kauft. In den letzten Jahren saß ein unverhältnismäßig großer Teil dieser Deppen in Deutschland. Wie Aaron Kirchfeld, Frankfurt-Korrespondent von Bloomberg, erzählte: »Die New Yorker Investmentbanker haben sich einen Witz daraus gemacht zu sagen: ›Diesen Scheiß kauft doch niemand. Moment mal! Doch, die Landesbanken!‹« Als Morgan Stanley seine undurchschaubaren Credit Default Swaps erfand, die auf einen Ausfall angelegt waren, damit die Händler der Investmentbank im Eigenhandel dagegen wetten konnten, drehten sie diese Papiere überwiegend Deutschen an. Und als Goldman Sachs zusammen mit dem Hedgefonds-Manager John Paulson eine Anleihe auflegte, gegen die er selbst wetten konnte und auf deren Ausfall er hoffte, war der Käufer die deutsche IKB. Genau wie die WestLB, ein anderer legendärer Zahlmeister am Pokertisch |176|der Wall Street, hat die IKB ihre Büros in Düsseldorf. Wenn man während des Booms einen cleveren Wall-Street-Banker fragte, wer eigentlich diesen ganzen Scheiß kaufte, hätte der einfach sagen können: »Die Deppen aus Düsseldorf.«
***
Die Fahrt von Berlin nach Düsseldorf dauert länger als gedacht, denn wir geraten in einen langen Stau. Ein deutscher Stau ist ein ganz besonderer Anblick: Niemand hupt, niemand wechselt die Spur, um ein paar Zentimeter gutzumachen, und die LKWs bleiben, wo sie hingehören, nämlich auf der rechten Spur. Der Anblick der blitzenden Limousinen von Audi und Mercedes auf der linken und der tadellosen, fein säuberlich aufgereihten LKWs auf der rechten Spur lässt beinahe so etwas wie ein heimeliges Gefühl aufkommen. Da sich alle an die Regeln halten und alle davon ausgehen, dass sich alle anderen auch an die Regeln halten, bewegt sich der Stau so schnell, wie es unter diesen Umständen eben möglich ist. Die hübsche junge Frau am Steuer meines Mietwagens ist trotzdem nicht zufrieden. Charlotte stöhnt angesichts der Bremslichter, die sich bis zum Horizont erstrecken. »Ich hasse Staus«, erklärt sie entschuldigend. Dann zieht sie die deutsche Ausgabe von Alan Dundes’ Buch aus ihrer Tasche; in der Übersetzung trägt es den Titel Sie mich auch. Charlotte erklärt mir, was das bedeutet, und meint »Das versteht jeder. Aber was der Autor so von sich gibt … Ich weiß ja nicht …«
Als ich mich das letzte Mal längere Zeit in Deutschland aufhielt, war ich siebzehn Jahre alt. Damals reiste ich mit zwei Freunden, einem Fahrrad, einem Taschenwörterbuch und einem deutschen Liebeslied, das mir eine deutschstämmige Amerikanerin beigebracht hatte. Damals sprachen in Deutschland |177|so wenige Menschen Englisch, dass es oft besser war, unsere bescheidenen Deutschkenntnisse zu bemühen – also das Liebeslied. Deswegen war ich davon ausgegangen, dass ich auf meiner Reise eine Dolmetscherin benötigen würde. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Deutschen inzwischen ihr Englisch aufpoliert hatten. In den letzten Jahrzehnten scheint die gesamte Bevölkerung ein Berlitz-Sprachbad genommen zu haben. In der Finanzwelt ist natürlich auch in Deutschland die Verkehrssprache Englisch. Auch in der EZB wird Englisch gesprochen, obwohl die Zentralbank ihren Sitz in Frankfurt hat und Irland das einzige Mitgliedsland ist, in dem halbwegs Englisch gesprochen wird.
Wie dem auch sei, über den Bekannten eines Bekannten hatte ich Charlotte engagiert, eine herzliche und intelligente Frau Mitte zwanzig, die nebenbei reichlich abgebrüht zu sein schien – wie viele herzliche junge Frauen können »Leck mich« sagen, ohne zu erröten? Charlotte spricht sieben Sprachen, darunter Chinesisch und Polnisch, und schrieb gerade ihre Magisterarbeit über interkulturelle Missverständnisse – die kommende Wachstumsbranche der Europäer. Als mir klar wurde, dass ich keine Dolmetscherin benötigte, hatte ich sie bereits verpflichtet. Also fuhr sie meinen Mietwagen. Schon als meine Dolmetscherin wäre sie hoffnungslos überqualifiziert gewesen, aber mich von ihr durch die Gegend kutschieren zu lassen war schlicht absurd. Doch sie machte den Job gerne und hatte sogar eine deutsche Übersetzung von Dundes’ Büchlein aufgespürt.
Aber was Dundes über Deutschland zu sagen hat, gefällt ihr nicht. Sie glaubt nicht einmal an die Existenz eines deutschen Nationalcharakters. »In meinem Fach glaubt niemand mehr an so was«, sagt sie. »Wie wollen Sie denn 80 Millionen Menschen |178|über einen Kamm scheren? Warum sollten die alle gleich sein? Wenn die Deutschen angeblich anal fixiert sind, würde ich fragen, woher das kommen soll? Wie hätte sich das verbreitet?« Dundes unternahm sogar einen Versuch, diese Frage zu beantworten. Er mutmaßte, es könne an Wickeltechniken deutscher Mütter liegen, die angeblich ihre Kinder lange Zeit in ihrem eigenen Mist gären ließen. Charlotte nahm ihm das nicht ab. »Das habe ich noch nie gehört!«, ruft sie aus.
Auf einmal sieht sie etwas und strahlt. »Schauen Sie mal! Eine deutsche Fahne!« Und tatsächlich, über einem kleinen Haus in einem fernen Dorf weht eine schwarz-rot-goldene Flagge. Man kann tagelang durch Deutschland fahren, ohne eine einzige Fahne zu sehen. »Patriotismus ist hier immer noch tabu«, meint Charlotte. »Es ist immer noch politisch unkorrekt zu sagen: ›Ich bin stolz, Deutscher zu sein.‹«
Plötzlich löst sich der Stau auf und wir fliegen weiter Richtung Düsseldorf. Die Autobahn scheint neu zu sein, und Charlotte tritt aufs Gas, bis die Nadel 210 anzeigt.
»Das ist eine gute Straße«, sage ich.
»Die haben die Nazis gebaut«, antwortet sie. »Das sagen die Leute über Hitler, wenn sie keine Lust mehr auf das Übliche haben: ›Wenigstens hat er gute Autobahnen gebaut.‹«
***
Im Februar 2004 schrieb der Londoner Finanzjournalist Nicholas Dunbar einen Bericht über ein Gruppe von Bankern der Düsseldorfer IKB Deutsche Industriebank, die offenbar Großes vorhatten. »In den Gesprächen der Händler in der City war immer öfter der Name IKB zu hören«, berichtet Dunbar. »Sie waren so etwas wie der heimliche Goldesel für alle.« Etwa zu dieser Zeit stellten die großen Investmentbanken |179|der Wall Street eigene Leute speziell für die IKB-Mitarbeiter ab, die immer ein dickes Bündel Geldscheine dabei hatten, um die deutschen Besucher zu verwöhnen.
Dunbars Artikel erschien in der Zeitschrift Risk und beschrieb, wie sich diese unbekannte deutsche Bank zu einem der größten Kunden der Wall Street mauserte. Die IKB war 1924 gegründet worden, um die deutschen Reparationszahlungen an die Alliierten zu versichern, hatte sich später zu einem erfolgreichen Kreditgeber für mittelständische Unternehmen entwickelt und machte nun offenbar eine weitere Metamorphose durch. Die IKB befand sich zwar teilweise im Besitz der Kreditanstalt für Wiederaufbau, doch ihre Geschäfte wurden nicht durch den Staat gedeckt. Es handelte sich offenbar um ein aufstrebendes privates Finanzunternehmen. Unlängst hatte die IKB einen Mann namens Dirk Röthig, einen Manager mit Amerika-Erfahrung (er hatte bei der State Street Bank gearbeitet), an die Spitze geholt, um neue und innovative Wege zu gehen.
Mit Röthigs Hilfe gründete die IKB eine Bank mit dem Namen Rhineland Funding, die in Delaware ihre Niederlassung hatte und an der Börse in Dublin gehandelt wurde. Nur dass sie sie nicht Bank nannte. Hätte sie das getan, hätte vielleicht jemand auf den Gedanken kommen können zu fragen, warum sie nicht der Bankenaufsicht unterstand. Stattdessen nannte sie das Unternehmen »Conduit«, was den Vorteil besaß, dass niemand wusste, was sich hinter dem Wort verbarg. Rhineland Funding lieh sich kurzfristig Geld durch die Ausgabe von sogenannten Geldmarktpapieren und investierte es in langfristigere »strukturierte Finanzprodukte«, womit Anlagen gemeint sind, die über Privatkredite abgesichert werden. Die Investmentbanken der Wall Street, die Rhineland Funding |180|mit Geld versorgten (indem sie den Verkauf der Geldmarktpapiere übernahmen), verkauften Rhineland unter anderem mit Ramschhypotheken gedeckte Wertpapiere. Die Gewinne von Rhineland stammten aus der Spanne zwischen den niedrigen Zinsen, die es für das kurzfristig geliehene Geld bezahlte, und den höheren Zinsen, die es aus diesen Wertpapieren erhielt. Da die IKB die Garantie übernahm, bewertete Moody’s Rhineland mit AAA und ermöglichte es dem Unternehmen so, seine Geldmarktpapiere zu günstigen Zinsen auszugeben.
Der IKB in Düsseldorf kam bei dem Handel eine entscheidende Aufgabe zu: Sie musste ihre Offshore-Bank beim Kauf der Anlagen beraten. »Wir sind die Letzten, die Geld an Rhineland verdienen«, so Röthig in Risk, »Aber wir beraten Rhineland so gut, dass wir immer noch einen Gewinn erzielen werden.« Röthig erklärte weiter, die IKB habe in Instrumente investiert, um die immer komplizierteren strukturierten Finanzprodukte zu bewerten, die inzwischen von der Wall Street angepriesen wurden. »Es war eine gute Investition, denn bislang haben wir keine Verluste gemacht«, fügte er hinzu. Im Februar 2004 sah alles noch rosig aus – so rosig, dass auch andere deutsche Banken über Rhineland die mit Ramschhypotheken besicherten Wertpapiere kauften. »Das klingt, als wäre es eine profitable Strategie«, erklärte der Mitarbeiter von Moody’s, der Rhineland die beste Bonität bescheinigt hatte, gegenüber dem Journalisten von Risk.
Ich traf Dirk Röthig zum Mittagessen in einem Restaurant in Düsseldorf, an einem mit Geschäften gesäumten Kanal. Die profitable Strategie hat den deutschen Banken nach eigenen Angaben Verluste von rund 35 Milliarden Euro beschert, doch vermutlich sind sie noch höher, da die deutschen Banken nur sehr zögerlich mit Zahlen herausrücken. Vermutlich zu Recht |181|sah sich Röthig nicht als Täter, sondern als Opfer. »Ich habe die IKB im Dezember 2005 verlassen«, sagt er etwas atemlos, während er sich an den kleinen Tisch quetscht. Dann erklärt er.
Er hatte die Idee zur Gründung von Rhineland Funding gehabt. Das Management der IKB habe nach der Idee gegriffen »wie ein Baby nach einem Schnuller«, wie Röthig es ausdrückt. Er hatte die Bank aufgebaut, als der Markt attraktive Zinsen für die strukturierten Finanzprodukte bezahlte – Rhineland wurde für das Risiko, das es einging, gut entschädigt. Aber Mitte 2005, als die Finanzmärkte sich noch immer weigerten, die ersten Wolken am Himmel zu sehen, waren die Risikoprämien weggeschmolzen. Röthig sagt, er habe seinen Vorgesetzten geraten, sich nach anderen Geschäften umzusehen. »Aber sie hatten ihre Profitziele, die sie einhalten wollten. Um dieselben Gewinne mit niedrigerem Risiko zu machen, hätten sie einfach mehr kaufen müssen«, meint er. Doch das Management schlug seine Warnungen in den Wind. »Ich habe ihnen gezeigt, dass der Markt kippt. Jetzt wollte ich dem Baby den Lutscher wieder wegnehmen, und damit war ich plötzlich der Feind.« Mit Röthig gingen auch einige Kollegen, die Zahl der Mitarbeiter wurde verringert, doch die Investitionstätigkeit lief unvermindert weiter. »Die Hälfte der Leute mit einem Drittel der Erfahrung hat doppelt so viele Investitionen gemacht«, sagte er. »Sie hatten Anweisung, zu kaufen.«
Er beschreibt mir eine scheinbar ausgeklügelte und komplizierte Anlagestrategie, die in Wirklichkeit nichts anderes war als ein mechanisches Bewertungssystem. Die IKB konnte »ein strukturiertes Finanzprodukt bis zum letzten Basispunkt durchpreisen«, erklärte ein Bewunderer noch 2004 gegenüber dem Journalisten von Risk. Aber im Grunde war diese Form |182|der Berechnung vollkommen irrsinnig. »Sie waren absolute Haarspalter, wenn es um die Frage ging, von welcher Ausgabefirma die Ramschhypotheken stammen durften, die in die Wertpapiere eingingen«, sagt Nicholas Dunbar. »Aber welche Rolle spielte das schon? Am Ende fielen die Wertpapiere von 100 auf 2 oder 3. In gewisser Hinsicht hatten sie vielleicht Recht: Ihre Papiere fielen auf 3, nicht auf 2.« Solange die strukturierten Finanzprodukte den Regeln der IKB-Experten entsprachen, wurden sie ohne weitere Überprüfung in das Rhineland-Portfolio übernommen. Aber diese Wertpapiere wurden immer riskanter, da die Kredite, mit denen sie abgesichert waren, immer unsicherer wurden.
Nach Röthigs Abschied stieg der Wert des IKB-Portfolios von 7 Milliarden Euro im Jahr 2005 auf 14 Milliarden im Jahr 2007. »Sie wären sogar noch weiter gestiegen, wenn sie noch Zeit gehabt hätten, mehr zu kaufen«, erzählt er. »Sie waren auf dem besten Weg, die 20 Milliarden zu knacken.« Mitte 2007 erkannten sämtliche Investmentbanken der Wall Street, dass der Markt für Ramschhypotheken vor dem Zusammenbruch stand, und versuchten verzweifelt, ihre Papiere loszuwerden. Die Deutschen verschlossen die Augen vor der drohenden Katastrophe und kauften bis zum letzten Tag, wie mir verschiedene Beobachter an der Wall Street versicherten. Wenn die IKB lediglich 10 Milliarden Euro mit den amerikanischen Ramschhypotheken verlor, dann nur, weil der Markt zusammenbrach. Nichts – keine neuen Tatsachen und keine neuen Erkenntnisse – hatte einen Einfluss auf ihre Anlagestrategie.
Oberflächlich betrachtet hatten die Händler der IKB gewisse Ähnlichkeit mit ihren skrupellosen Kollegen von Citigroup und Morgan Stanley. Aber in Wirklichkeit spielten sie ein ganz anderes Spiel. Auch die amerikanischen Investmentbanker |183|rissen ihre Banken in den Abgrund, indem sie die Augen vor den Gefahren verschlossen – aber sie machten selbst ein Vermögen und wurden in den seltensten Fällen dafür zur Rechenschaft gezogen. Sie wurden dafür bezahlt, ihre Banken zu verzocken, und es ist schwer zu sagen, inwieweit sie mit Absicht so handelten. Die deutschen Händler hatten dagegen ihr Jahresgehalt von gut 70 000 Euro plus höchstens 35 000 Euro Bonus. Die deutschen Banker bekamen »Peanuts« dafür, dass sie die Risiken auf sich nahmen, mit denen sie schließlich ihre Banken versenkten – was darauf schließen lässt, dass sie keine Ahnung hatten, worauf sie sich da einließen. Trotzdem – und das ist das Seltsame – werden sie von der deutschen Öffentlichkeit wie Verbrecher behandelt. Stefan Ortseifen, der frühere Vorstandsvorsitzende von IKB, erhielt eine Bewährungsstrafe von 10 Monaten und musste sein Gehalt zurückzahlen: ganze 805 000 Euro.
Als die Deutschen in die Vereinigten Staaten kamen, erlebten sie einen gewaltigen Kulturschock. »Die kulturellen Missverständnisse waren gewaltig«, meint Röthig, während er sich an seinem Hummer zu schaffen macht. »Die deutschen Banker waren noch nie von einem Verkäufer der Wall Street verwöhnt worden. Und plötzlich zückt jemand seine Kreditkarte und lädt sie zum Großen Preis von Monaco oder was weiß ich wohin ein. Es gibt keine Grenzen. Die Landesbanken sind die langweiligsten Banken in Deutschland, niemand hatte sich je für diese Banker interessiert. Und plötzlich kommt dieser smarte Typ von Merrill Lynch daher und verhätschelt sie hinten und vorne. Die haben natürlich gedacht: ›Oh, der mag mich.‹« Er macht eine Pause. »Die amerikanischen Verkäufer sind einfach cleverer als die europäischen. Sie sind bessere Schauspieler.«
|184|Im Grunde, so Röthig, rechneten die Deutschen einfach nicht damit, dass sich die Amerikaner nicht an die Spielregeln halten könnten. Die Deutschen nahmen die Regeln ernst: Sie sahen die AAA-Bewertung der Wertpapiere und glaubten die offizielle Version, nach der Anlagen mit dieser Bewertung keinerlei Risiko darstellen.
Diese außerordentliche Regelgläubigkeit zeichnet das Bankwesen in Deutschland genauso aus wie das Privatleben. Das zeigt sich auch in dem jüngsten Skandal um die Munich-Re-Tochter Ergo. Die veranstaltete im Juni 2007, kurz vor dem Crash, eine Ausflugsfahrt für ihre besten Vertriebsmitarbeiter, auf der es nicht nur Mett-Igel und Minigolf gab, sondern auch eine Party mit Prostituierten. In der Finanzwelt sind Partys wie diese nicht ungewöhnlich – das eigentlich Sonderbare war, wie gut die deutsche Party organisiert war. Das Unternehmen kennzeichnete die Prostituierten mit weißen, gelben und roten Armbändchen, je nachdem, für welche Führungsebene sie bestimmt waren. Nach jedem Ausflug in ein Separee bekamen die Frauen einen Stempel verpasst, um später sehen zu können, welche wie oft »benutzt« worden war. Die Deutschen wollten nicht einfach irgendwelche Nutten, sie wollten Nutten, die sich an Regeln hielten.
Die Deutschen waren so verliebt in ihre Regeln, dass sie einem Missverständnis aufsaßen, das mit diesen Regeln einhergeht: Sie glaubten, dass es so etwas wie eine risikolose Geldanlage gibt. Eine Anlage wirft deshalb einen Gewinn ab, weil sie ein gewisses Risiko birgt. Doch als im Jahr 2006 der Mythos der risikofreien Anlage die Finanzwelt erfasste, fielen vor allem die Deutschen auf ihn herein. Das hatte ich auch von Händlern an der Wall Street gehört, die mit deutschen Käufern verhandelten: »Man muss die deutsche Mentalität |185|verstehen. Sie denken, sie haben alle Fragen abgehakt und deswegen gibt es kein Risiko. Wer mit Deutschen arbeitet, der weiß, dass sie keine Risiken eingehen.« Solange ein Wertpapier äußerlich sauber wirkte, konnten die Investmentbanker der Wall Street jeden Dreck hineinpacken.
Röthig meint heute, es sei im Grunde egal, was in den Wertpapieren steckte. Die IKB musste am 30. Juli 2007 von der Kreditanstalt für Wiederaufbau gerettet werden. Bei einem Kapital von etwa 3 Milliarden Euro hatte die Bank mehr als 10 Milliarden verloren. Als die IKB zahlungsunfähig wurde, wollten die deutschen Medien wissen, wie viele Ramschhypotheken sie in ihrem Portfolio hatte. Der Vorstandsvorsitzende Stefan Ortseifen erklärte, die IKB habe so gut wie gar keine mit Ramschhypotheken besicherten Wertpapiere und wurde deshalb kürzlich wegen Verstoß gegen das Wertpapierhandelsgesetz verurteilt. »Aber er hat die Wahrheit gesagt«, meint Röthig. »Er hat wirklich gedacht, dass er keine Ramschhypotheken im Portfolio hat. Er konnte keine korrekten Zahlen nennen, weil er sie selbst nicht hatte. Das Überwachungssystem der IKB unterschied nicht zwischen Ramsch und normalen Hypotheken. Genau deswegen kam es ja dazu.«
Er, Röthig, habe schon 2005 darauf gedrängt, die Herkunft der Hypotheken zu überprüfen, mit denen die undurchschaubaren Wertpapiere der Wall Street besichert wurden, aber das Management der IKB weigerte sich, das Geld dafür herauszurücken. »Ich habe damals gesagt: ›Sie haben ein Portfolio von 20 Milliarden, Sie machen im Jahr 200 Millionen Gewinn, und Sie weigern sich, mir 6,5 Millionen zu geben.‹ Aber sie hatten einfach kein Interesse daran.«
***
|186|Zum dritten Mal innerhalb von drei Tagen fahren wir über die frühere Zonengrenze, ohne es zu bemerken, und versuchen zwanzig Minuten lang, herauszufinden, ob wir nun im früheren Ost- oder Westdeutschland sind. Charlotte stammt aus Leipzig, aber sie weiß es genauso wenig. »Wenn da kein Schild steht, bemerkt man es gar nicht mehr«, meint sie. In der Landschaft, die einst von Zaun und Todesstreifen zerschnitten war, ist nicht einmal mehr eine Narbe zu erkennen. Irgendwo in der Nähe der Grenze machen wir an einer Tankstelle halt. In einer schmalen Einfahrt stehen drei Zapfsäulen hintereinander, und wer an der letzten steht, hat keine Möglichkeit, an den Autos vor sich vorbeizufahren. Die drei Fahrer müssen gleichzeitig tanken, gleichzeitig zahlen und gleichzeitig weiterfahren, denn wenn nur einer trödelt, müssen alle anderen warten. Aber keiner trödelt. Die Fahrer betanken ihre Autos mit der Effizienz eines Boxenteams der Formel 1. Aufgrund dieser altertümlichen Anordnung der Zapfsäulen vermutet Charlotte, dass wir uns im früheren Westdeutschland befinden. »So was würde man im Osten nicht sehen«, meint sie. »Im Osten ist alles neu.«
Sie behauptet, sie könne es einem Menschen von weitem ansehen, ob er aus dem Osten oder dem Westen kommt, vor allem den Männern. »Die Westdeutschen sind stolzer. Sie stehen aufrecht. Die Ostdeutschen lassen sich eher hängen. Die Westdeutschen meinen, dass alle Ostdeutschen faul sind.«
»Das heißt, die Ostdeutschen sind die Griechen Deutschlands«, folgere ich messerscharf.
»Vorsicht!«, erwidert sie.
Von Düsseldorf fahren wir nach Leipzig, wo ich in einen Zug nach Hamburg steige, um dort meine Schlamm-Catcherinnen zu besuchen. Unterwegs durchforstet Charlotte ihre |187|Muttersprache nach Hinweisen auf die angebliche anale Fixierung der Deutschen. Beschissen. Klugscheißer. Geldscheißer. Sie zählt ein paar Beispiele auf, die ihr spontan einfallen, Irgendwann unterbricht sie sich, um der Theorie des deutschen Charakters keine weitere Nahrung zu geben.
»Das sind einfach nur Wörter«, meint sie. »Das bedeutet nicht, dass die Theorie stimmt.«
Etwas außerhalb von Hamburg essen wir auf einem Bauernhof zu Mittag. Wir sind zu Besuch bei einem Mann namens Wilhelm Nölling, einem renommierten Wirtschaftswissenschaftler, der inzwischen über siebzig ist. Als der Euro aus der Taufe gehoben wurde, war er Mitglied des Zentralbankrates der Deutschen Bundesbank. Nölling hat von Anfang an gegen den Euro gewettert. Er verfasste ein Pamphlet mit dem Titel Die Euro-Illusion und reichte mit drei anderen führenden Wirtschafts- und Währungsexperten eine Verfassungsklage gegen die Einführung der europäischen Währungsunion ein. Kurz vor Einführung des Euro forderte Nölling die Bundesbank auf, die alten D-Mark-Scheine noch aufzuheben. »Ich hab gesagt, werft sie nicht in den Schredder!«, ruft er und springt aus seinem Sessel auf. »Hebt sie auf, steckt sie in einen Safe, vielleicht brauchen wir sie später noch mal!«
Aber er weiß, dass er gegen Windmühlen ankämpft. »Lässt sich das noch mal zurückdrehen?«, fragt er. »Wir wissen, dass das nicht geht. Selbst wenn sie sagen, stimmt, du hast Recht, was passiert dann? Das ist die Hundert-Milliarden-Euro-Frage.« Nölling meint, die Lösung zu haben, aber er glaubt nicht, dass die Deutschen dazu bereit sind. Zusammen mit den anderen Euro-Dissidenten hat er vorgeschlagen, die Europäische Währungsunion zu teilen. Pleitekandidaten wie Griechenland, Portugal, Spanien, Italien und so weiter bekommen |188|die eine Version des Euro, und »die homogenen Länder, auf die man sich verlassen kann«, die andere. Wen er damit meint? Deutschland, Österreich, Belgien, die Niederlande, Finnland und (hier zögert er einen Moment lang) Frankreich.
»Sind Sie sich bei den Franzosen so sicher?«
»Wir haben darüber diskutiert«, antwortet er ernsthaft. Aber aus politischen Gründen könne man Frankreich nicht ausschließen. Es wäre zu peinlich.
Am Rande der Verhandlung über den Vertrag von Maastricht, in dem die Schaffung des Euro beschlossen wurde, soll der französische Präsident François Mitterrand in einem privaten Gespräch gesagt haben, wenn Deutschland auf diese Weise an Europa gekettet würde, dann wären Ungleichgewichte und damit Krisen unvermeidlich. Aber bis es so weit sei, liege er längst unter der Erde und andere würden sich darum kümmern müssen. Wer weiß, ob er das wirklich gesagt hat, aber gedacht hat er es sicher. Schon damals erkannten viele, dass diese Länder nicht zusammengehören.
Aber warum um alles in der Welt ließen sich so intelligente, erfolgreiche, ehrliche und gut organisierte Menschen wie die Deutschen in dieses Chaos hineinziehen? Sie hatten alle Fragen abgehakt, um ganz sicher zu gehen, dass der Inhalt des Pakets in Ordnung war, aber sie bemerkten nicht, dass es aus diesem Paket ganz furchtbar stank. Nölling meint, schuld sei der Charakter der Deutschen. »Wir haben den Vertrag von Maastricht unterzeichnet, weil er so viele schöne Regeln hatte«, meint er, als wir in die Küche gehen und uns weißen Spargel auf die Teller laden. »Wir sind den falschen Versprechungen auf den Leim gegangen. Die Deutschen sind einfach ein leichtgläubiges Volk. Sie vertrauen und glauben. Sie wollen vertrauen. Sie wollen glauben.«
|189|Wenn der Finanzstaatssekretär Asmussen an seiner Wand ein Schild hat, das ihn daran erinnert, den Standpunkt des anderen wahrzunehmen, dann meint er vielleicht genau das. Andere halten sich nicht an die Regeln der Deutschen. Andere lügen. In dieser betrügerischen Finanzwelt sind die Deutschen wie die Bewohner einer einsamen Insel, die nicht gegen die Krankheiten geimpft wurden, welche von Besuchern eingeschleppt werden. Sie haben den Händlern der Wall Street genauso vertraut wie den Franzosen, die versprachen, dass die Deutschen nie für die Schulden der anderen Europäer aufkommen müssten, und wie den Griechen, die versprachen, ihren Haushalt in Ordnung zu bringen. Das ist zumindest eine Theorie. Die andere Theorie besagt, dass die Deutschen vertrauten, weil die Kosten eines Irrtums gegenüber den Gewinnen nicht ins Gewicht fielen. Für die Deutschen ist der Euro mehr als eine Währung: Er ist eine Möglichkeit, die Vergangenheit zu überwinden, und damit ein weiteres Holocaust-Denkmal. In Meinungsumfragen wettern die Deutschen heute zwar gegen die Griechen, aber es gibt stärkere Kräfte zugunsten der Griechen.
Wie dem auch sei, wer einen Ordnungs- und Sauberkeitsfimmel hat und im Geheimen von Schmutz und Chaos fasziniert ist, der bekommt früher oder später Probleme. Sauberkeit ist ohne Schmutz nicht zu haben, genauso wenig wie Reinheit ohne Unreinheit. Das Interesse an dem einen schließt immer auch das Interesse an dem anderen mit ein.
Charlotte, die mich durch Deutschland kutschiert hat, ist weder an dem einen noch an dem anderen interessiert, und es ist schwer zu sagen, ob sie eine Ausnahme ist oder die neue Regel. Trotzdem begleitet sie mich pflichtschuldig in den größten Rotlichtbezirk Europas und fragt in meinem Namen |190|schmierige Männer, wo ich Schlamm-Catcherinnen sehen kann. Unterwegs fallen ihr immer neue fäkale Redewendungen und Sprichwörter ein. »Scheiße glänzt nicht, wenn man sie poliert«, sagt sie, als wir am Funky Pussy Club vorbeikommen. »Scheißegal.«
Auf der Reeperbahn brodelt das Leben. Zuhälter stehen vor Sexclubs und durchsuchen mit geschultem Blick die vorbeiströmende Menge nach möglichen Kunden. Stark geschminkte Frauen winken unschlüssigen Männern zu. Ein paarmal sehe ich Aufkleber von zwei Strichmännchen beim Analverkehr. Bei deren Anblick erinnert sich Charlotte an die Musiker der deutschen Band Rammstein, die nach einem Konzert in den Vereinigten Staaten verhaftet wurden, weil sie auf der Bühne zu dem Lied »Bück dich« Analverkehr simuliert hatten. Und immer wieder fragt sie schmierige Männer, wo denn Schlamm-Catchen geboten wird. Schließlich findet sie einen alten Mann, der schon seit Jahrzehnten auf der Reeperbahn arbeitet und ihr eine verbindliche Auskunft geben kann: »Der letzte Laden hat schon vor Jahren dichtgemacht«, antwortet er. »Er hat sich nicht rentiert.«