|62|Dabei haben sie die Mathematik erfunden!

Nach einer Stunde im Flugzeug, zwei weiteren im Taxi, drei auf einer wenig vertrauenerweckenden Fähre und noch einmal vier in verschiedenen Bussen, die von griechischen Fahrern, die pausenlos in ihre Handys sprachen, halsbrecherisch an tiefen Abgründen entlanggesteuert wurden, gelangte ich endlich am Tor des weitläufigen, weltabgeschiedenen Klosters an. Die in die Ägäis hineinragende Landzunge kam mir vor wie das Ende der Welt. Die Stille unterstrich diesen Eindruck noch. Es war später Nachmittag, und die Mönche beteten entweder oder hielten Mittagsruhe. Einer versah jedoch seinen Dienst an der Pforte, um Besucher in Empfang zu nehmen. Zusammen mit sieben griechischen Pilgern wurde ich in einen historischen, sorgfältig restaurierten Schlafsaal geführt, wo zwei etwas entgegenkommendere Mönche Ouzo, Gebäck und Zellenschlüssel austeilten. Aber irgendetwas stand doch noch aus? Ach ja – niemand hatte nach einer Kreditkarte gefragt. Das Kloster war nämlich nicht nur gut organisiert, sondern auch noch kostenfrei. Einer der Mönche wies darauf hin, als nächster Punkt stehe auf der Tagesordnung ein Gottesdienst: die Vesper. Wie sich herausstellen sollte, war der nächste Tagesordnungspunkt fast immer ein Gottesdienst. Es gab innerhalb der Klostermauern 37 Kapellen; |63|die richtige zu finden könnte schwierig werden, befürchtete ich.

»In welcher Kirche?«, fragte ich den Mönch.

»Gehen Sie einfach den Brüdern nach, wenn sie sich erheben«, empfahl er mir und musterte mich kritisch. Er trug einen endlos lang scheinenden, wild wuchernden schwarzen Bart, eine lange schwarze Kutte, ein Mönchskäppi und eine Gebetsschnur, ich dagegen weiße Sportschuhe, eine leichte Baumwollhose, ein violettes Hemd von Brooks Brothers und einen Wäschesack aus Plastik, auf dem seitlich mit großen Lettern die Aufschrift EAGLES PALACE HOTEL prangte. »Warum sind Sie hergekommen?«, wollte er wissen.

Eine gute Frage. Nicht wegen der Kirche. Mir ging’s ums Geld. Der Tsunami billiger Kredite, der von 2002 bis 2007 über die Erde geschwappt war, hatte ganz neue Reiseziele hervorgebracht – Finanzkrisentourismus sozusagen. Kredite brachten nicht nur Geld, sondern stellten eine Versuchung dar. Komplette Gesellschaften hatten plötzlich die Möglichkeit, Charakterzüge auszuleben, die sie sich sonst nicht leisten konnten. Es war, als hätte man ganzen Ländern gesagt: »Das Licht ist ausgeschaltet. Macht, was ihr wollt – keiner wird’s erfahren.« Und was sie da im Verborgenen mit dem Geld vorhatten, variierte erheblich. Die Amerikaner wollten größere Häuser, die ihre Mittel weit überstiegen. Und die Starken sollten die Schwachen besser ausnutzen können. Die Isländer hatten keine Lust mehr, Fische zu fangen, und wollten lieber Investmentbanker sein. Ihre Alphamännchen sollten die Chance erhalten, ihrem bis dato unterdrückten Größenwahn zu frönen. Die Deutschen wollten noch deutscher werden, die Iren nicht länger irisch sein. All diese verschiedenen Gesellschaften wurden mit demselben Umstand konfrontiert und reagierten |64|jeweils auf ihre ganz eigene Weise darauf – aber niemand so eigenartig wie die Griechen. Das konnte jeder erkennen, der auch nur ein paar Tage lang mit den Verantwortlichen vor Ort gesprochen hatte. Doch wer genau wissen wollte, wie eigenartig das alles wirklich war, der musste in das besagte Kloster gehen.

Ich hatte dafür gute Gründe, war mir jedoch ziemlich sicher, dass mich der Mönch vor die Tür setzen würde, wenn ich ihm diese offenbarte. Deshalb log ich. »Es heißt, dies sei der heiligste Ort der Welt«, sagte ich.

***

Ich war erst wenige Tage zuvor nach Athen gekommen – genau eine Woche vor dem nächsten konzertierten Krawall und wenige Tage nachdem deutsche Politiker vorgeschlagen hatten, die griechische Regierung solle zur Tilgung ihrer Schulden Inseln verkaufen und eventuell noch ein paar antike Ruinen drauflegen. Der neue sozialistische Premierminister Griechenlands, Giorgos Papandreou, hatte sich genötigt gesehen, zu bestreiten, dass er den Verkauf von Inseln ernsthaft in Betracht ziehe. Die Rating-Agentur Moody’s hatte Griechenlands Bonität soeben auf ein Niveau herabgestuft, das sämtlichen griechischen Staatsanleihen Ramschstatus bescheinigte. Damit kamen sie für viele der damaligen Anleiheninhaber nicht mehr länger als Anlagen infrage. Der anschließende Abverkauf griechischer Anleihen auf dem Markt war kurzfristig keine große Sache, weil der Internationale Währungsfonds und die Europäische Zentralbank miteinander vereinbart hatten, Griechenland – einem Land mit rund elf Millionen Einwohnern, also zwei Millionen weniger als der Großraum Los Angeles – mehr als 100 Milliarden Euro zu leihen. Für den |65|Moment war Griechenland damit aus den freien Finanzmärkten herausgelöst worden und stand in der Obhut anderer Staaten.

So weit die gute Nachricht. Langfristig sah die Lage schon düsterer aus. Die griechischen Rechenknechte hatten nämlich gerade herausgefunden, dass ihre Regierung neben den rund 280 Milliarden Euro Schulden (Tendenz steigend) noch weitere 550 Milliarden Euro oder sogar mehr an Pensionsverpflichtungen hatte. Zusammengerechnet waren das über 830 Milliarden Euro beziehungsweise mehr als 175 000 Euro für jeden erwerbstätigen Griechen. Ein Rettungspaket über 100 Milliarden Euro war demnach eher Geste als Lösung. Wohlgemerkt, so stellten sich die amtlichen Zahlen dar. Die Wirklichkeit sieht sicherlich noch schlimmer aus. »Unsere Leute konnten kaum glauben, was sie da vorfanden«, erzählte mir ein IWF-Mitarbeiter kurz nach seiner Rückkehr vom ersten Griechenlandeinsatz des IWF. »Ihre Buchführung war eine Katastrophe. Sie wussten, wie viel sie vereinbarungsgemäß ausgeben durften, doch niemand kontrollierte, was tatsächlich ausgegeben wurde. Da wurde nicht gewirtschaftet wie in einem Schwellenland, sondern wie in der Dritten Welt.«

Was die Griechen mit ihrem Haufen geliehenen Geldes vorhatten, sobald das Licht ausging und sie allein damit im Dunkeln saßen, war ganz offensichtlich Folgendes: Sie wollten mit ihrer Regierung Topfschlagen spielen: Astronomische Summen wurden unter einen Kochtopf gepackt und möglichst viele Bürger durften darauf eindreschen. Die Lohnkosten des öffentlichen Sektors in Griechenland haben sich allein in den letzten zehn Jahren effektiv verdoppelt. Die Bestechungsgelder, die griechische Beamte kassierten, sind darin noch gar nicht berücksichtigt. Ein Staatsbediensteter verdient im |66|Schnitt dreimal so viel wie ein Angestellter in der privaten Wirtschaft. Die staatliche Eisenbahn macht einen Jahresumsatz von 100 Millionen Euro bei jährlichen Personalkosten von 400 Millionen Euro – plus 300 Millionen Euro an sonstigen Aufwendungen. Der durchschnittliche Eisenbahner verdient in Griechenland 65 000 Euro im Jahr. Vor 20 Jahren merkte ein erfolgreicher Unternehmer und späterer Finanzminister namens Stefanos Manos an, dass es billiger wäre, alle Bahnreisenden in Griechenland mit dem Taxi zu befördern. Das trifft heute immer noch zu. »Unsere Eisenbahn ist bankrotter, als man sich vorstellen kann«, erklärte mir Manos. »Und trotzdem gibt es kein Privatunternehmen in Griechenland, das solche Durchschnittsgehälter zahlt.« Das öffentliche Schulsystem Griechenlands ist ein Paradebeispiel für Ineffizienz. Im europäischen Vergleich liegt das Land auf einem der hinteren Plätze, beschäftigt aber viermal so viele Lehrer pro Schüler wie der Spitzenreiter Finnland. Griechen, die ihre Kinder in staatliche Schulen schicken, gehen von vornherein davon aus, dass sie private Nachhilfelehrer engagieren müssen, wenn der Nachwuchs etwas lernen soll. Es gibt drei staatliche Rüstungsunternehmen. Diese haben zusammen Schulden in Milliardenhöhe angehäuft und machen munter so weiter. Das Renteneintrittsalter für als »anstrengend« eingestufte Berufe liegt in Griechenland für Männer bei 55 Jahren und für Frauen bei 50 Jahren. Da der Staat dann mit der Auszahlung großzügiger Renten beginnt, haben es über 600 Berufe geschafft, in Griechenland als anstrengend qualifiziert zu werden: Friseure, Radiosprecher, Kellner, Musiker, und so weiter und so fort. Im staatlichen Gesundheitswesen wird in Griechenland weit mehr Material verbraucht als im europäischen Durchschnitt. Gleich mehrere Griechen haben mir erzählt, |67|es sei durchaus üblich, dass Krankenschwestern und Ärzte nach der Arbeit bergeweise Papiertücher, Windeln und alles, was sich sonst noch aus Vorratsschränken entwenden lässt, nach Hause schleppen.

Die Grenzen zwischen Verschwendung und Diebstahl sind fließend. Das eine kaschiert und ermöglicht damit das andere. Beispielsweise ist es einfach selbstverständlich, dass jeder, der für den Staat arbeitet, geschmiert werden muss. Die Menschen, die öffentliche Krankenhäuser aufsuchen, gehen davon aus, dass sie die Ärzte bestechen müssen, damit sich diese wirklich um sie kümmern. Minister, die ihr Leben lang der Öffentlichkeit gedient haben, können sich nach dem Ausscheiden aus dem Amt für Millionen von Euro Villen kaufen – und gleich zwei oder drei Landsitze.

Über jede Kritik erhaben ist dabei ausgerechnet die griechische Finanzbranche. Die Griechen sind seit jeher behäbige Geschäftsbanker der alten Schule. Sie waren in Europa quasi die einzigen in ihrer Zunft, die weder in US-Hypothekenanleihen investiert haben noch bis zum Anschlag gehebelt waren oder sich selbst astronomische Summen zugeschanzt haben. Das größte Problem der Banken bestand darin, dass sie rund 30 Milliarden Euro an die griechische Regierung verliehen hatten, die in der Folge veruntreut oder verschwendet wurden. In Griechenland sind es nicht die Banken, die das Land in den Abgrund gerissen haben, sondern das Land hat die Banken auf dem Gewissen.

***

Am Morgen nach meiner Ankunft suche ich den griechischen Finanzminister Giorgos Papakonstantinou auf, dessen Aufgabe es ist, das unsägliche Schlamassel in Ordnung zu bringen. Athen schafft es irgendwie, gleichzeitig blitzsauber und |68|schmuddelig zu wirken. Die schönsten, frisch getünchten neoklassischen Häuser werden durch ebenso frische Graffitis entstellt. Natürlich stehen überall Ruinen aus der Antike, aber die wirken seltsam deplatziert. Athen sieht aus wie Los Angeles mit Vergangenheit.

Am schmalen, dunklen Eingang zum Finanzministerium wird man von einem kleinen Trupp Sicherheitsbeamter überprüft, die sich allerdings nicht die Mühe machen, nachzusehen, warum der Metalldetektor angeschlagen hat. Im Vorzimmer des Ministers kümmern sich sechs Damen im Laufschritt um seine Terminplanung. Sie wirken allesamt hektisch, gestresst und überarbeitet … und er kommt trotzdem nicht pünktlich. Die Räume haben vermutlich schon bessere Tage gesehen. Richtig gut waren diese aber offensichtlich auch nicht: Die Möbel sind abgenutzt, der Fußboden mit Linoleum belegt. Das Auffallendste ist aber die große Zahl der Beschäftigten. Minister Papakonstantinou (»Bitte nennen Sie mich doch George«) hat in den 1980er Jahren die New York University und die London School of Economics besucht und dann zehn Jahre lang in Paris für die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) gearbeitet. Er ist offen, freundlich, frisch und glatt rasiert und wirkt wie viele Angehörige der neuen griechischen Regierungsspitze weniger griechisch als angelsächsisch – ich möchte fast sagen, amerikanisch.

Als Papakonstantinou im Oktober 2009 das Ruder übernahm, hatte die griechische Regierung ihr Haushaltsdefizit für jenes Jahr auf 3,7 Prozent angesetzt. Zwei Wochen später wurde diese Zahl auf 12,5 Prozent heraufkorrigiert. Tatsächlich lag sie eher bei 14 Prozent, wie sich herausstellte. Seine Aufgabe war nun, herauszufinden, warum das so war, und es |69|dem Rest der Welt zu erklären. »Am Tag nach meinem Amtsantritt musste ich eine Sitzung einberufen, um den Haushalt zu prüfen«, erzählt er. »Ich trommelte alle Mitarbeiter des obersten Rechnungshofs zusammen und wir begannen mit unserer Enthüllungsarbeit.« Jeden Tag entdeckten sie eine neue unglaubliche Auslassung. Eine Pensionsverpflichtung in Höhe von 700 Millionen Euro pro Jahr tauchte einfach nicht in den Büchern auf. Alle taten so, als existiere sie nicht, während die Regierung sie brav erfüllte. Das Loch in der Rentenkasse für Selbstständige betrug nicht 300 Millionen, wie angenommen, sondern 1,1 Milliarden Euro. Und so ging es weiter. »An jedem Abend sagte ich: ›Gut, Leute, ist das alles?‹, und bekam zur Antwort: ›Ja.‹ Am nächsten Morgen hob sich dann prompt eine Hand in den hinteren Reihen: ›Tja, eigentlich wäre da noch diese andere Lücke über 100 bis 200 Millionen Euro, Herr Minister.‹«

So ging das eine Woche lang. Unter anderem wurde eine große Zahl unverbuchter, vorgetäuschter Beschäftigungsprogramme aufgedeckt. »Das Landwirtschaftsministerium hatte einen außerbilanzielle Abteilung mit 270 Mitarbeitern eingerichtet, um die Fotos von staatlichen Liegenschaften zu digitalisieren«, berichtet mir der Finanzminister. »Das Problem war nur, dass keiner der 270 Beschäftigten Erfahrung mit digitaler Fotografie hatte. Die Leute waren in Wirklichkeit zum Beispiel Friseur von Beruf.«

Am Ende der Aufklärungsarbeit, als auch aus den letzten Reihen keine Handzeichen mehr kamen, war das ursprünglich auf rund 7 Milliarden Euro prognostizierte Defizit auf rund 30 Milliarden Euro angeschwollen. Die logische Frage – Wie ist das möglich? – ist leicht zu beantworten: Bis zu jenem Augenblick hatte sich niemand die Mühe gemacht, alles zusammenzurechnen. »|70|Wir hatten keine Haushaltsbehörde«, erklärt der Finanzminister. »Und auch keinen unabhängigen statistischen Dienst.« Die Partei, die gerade an der Regierung ist, stellt sich die Zahlen einfach so zusammen, wie es ihr passt.

Sobald Papakonstantinou die Summe vorlag, reiste er wie gewohnt zum regulären monatlichen Treffen der Finanzminister aller europäischen Länder. Als Neuling überließ man ihm das Podium. »Als ich ihnen die Zahl präsentierte, schnappten sie nach Luft«, sagte er. »Wie konnte es dazu kommen? Der Tenor war: Ihr hättet doch merken müssen, dass die Zahlen nicht stimmen. Auf dem Schildchen, hinter dem ich saß, stand schließlich nicht NEUE GRIECHISCHE REGIERUNG, sondern leider nur GRIECHENLAND.« Nach der Sitzung sprach mich der niederländische Kollege an und meinte: »Giorgos, wir wissen, dass das nicht deine Schuld ist, aber sollte dafür nicht jemand in den Knast wandern?«

Der Finanzminister beendet seine Geschichte mit dem betonten Hinweis, dass es für eine Regierung nicht so einfach sei, über ihre Ausgaben die Unwahrheit zu sagen. »Das lag nicht nur an fehlerhaften Finanzausweisen«, kommentiert er. »2009 lösten sich die Steuereinnahmen praktisch auf, weil Wahlen anstanden.«

»Wie bitte?«

Er lächelt.

»Die erste Handlung jeder Regierung in einem Wahljahr ist, die Steuereintreiber von der Straße zu holen.«

»Sie machen Witze.«

Da lacht er mich aus. Offenbar bin ich ganz schön naiv.

***

|71|Die Kosten für die Regierungsführung in Griechenland machen die eine Seite der missglückten Gleichung aus. Auf der anderen stehen die staatlichen Einnahmen. Der Herausgeber einer großen griechischen Tageszeitung hatte mir beiläufig zugeraunt, seine Reporter verfügten über Quellen bei der Finanzbehörde. Diese seien nicht aufgetan worden, um Steuerbetrug aufzudecken – in Griechenland so verbreitet, dass er keine Schlagzeile wert war –, sondern um Drogenbaronen, Menschenhändlern und anderen Schwerverbrechern auf die Spur zu kommen. Ein kleines Grüppchen von Finanzbeamten war jedoch entrüstet über die systematische Korruption in ihrem Ressort. Nachforschungen ergaben, dass zwei von ihnen bereit waren, mit mir zu sprechen. Doch aus Gründen, über die sich beide ausschwiegen, konnten sie einander nicht ausstehen. Das war, wie mir andere Griechen mehrfach versicherten, ausgesprochen griechisch.

Am Abend nach meinem Treffen mit dem Finanzminister trank ich mit dem einen Finanzbeamten in einem Hotel Kaffee. Dann ging ich die Straße hinunter und setzte mich mit dem anderen Finanzbeamten in einem anderen Hotel bei einem Bier zusammen. Beide waren bereits degradiert worden, weil sie versucht hatten, Kollegen anzuprangern, die hohe Bestechungsgelder für die Absegnung falscher Steuererklärungen angenommen hatten. Beide waren vom prestigeträchtigen Außendienst in den unpopulären Innendienst versetzt worden, wo sie keine Steuervergehen mehr mitbekamen. Beide fühlten sich nicht ganz wohl in ihrer Haut. Beide wollten nicht, dass irgendjemand erfuhr, dass sie mit mir gesprochen hatten. Sie hatten Angst um ihre Stellung beim Finanzamt. Nennen wir sie daher Finanzbeamter 1 und Finanzbeamter 2.

Der Finanzbeamte 1 war Anfang 60, Anzugträger, leicht |72|angespannt, doch nicht auffallend nervös. Er erschien mit einem Notizbuch voller Ideen zur Sanierung der griechischen Steuerbehörde. Er setzte voraus, dass ich wusste, dass in Griechenland nur Steuern zahlte, wer es nicht vermeiden konnte – die Angestellten von Unternehmen nämlich, denen die Lohnsteuer direkt vom Gehalt abgezogen wurde. Die große Zahl der Selbstständigen – also jedermann vom Arzt bis hin zu den Betreibern der Kioske, die die International Herald Tribune verkauften – betrog (übrigens ein wesentlicher Grund dafür, dass es in Griechenland prozentual mehr Selbstständige gibt als in jedem anderen europäischen Land). »Das ist in unsere Kultur übergegangen«, meinte er. »Die Griechen haben nie gelernt, Steuern zu zahlen. Das kommt daher, dass nie jemand dafür belangt wird, wenn er es nicht tut. Es ist noch nie jemand dafür belangt worden. Das ist ein Kavaliersdelikt – als würde ein Herr einer Dame nicht die Türe aufhalten.«

Das Ausmaß der griechischen Steuerbetrügereien war mindestens ebenso unfassbar wie ihre Spielarten. Schätzungsweise zwei Drittel aller griechischen Ärzte wiesen ein Einkommen unter 12 000 Euro im Jahr aus. Weil Einnahmen unterhalb dieser Grenze unversteuert blieben, zahlte auch der Schönheitschirurg, der Millionen im Jahr verdiente, keinen Cent. Das Problem war dabei nicht die Rechtslage. Es gab ein Gesetz, das mit Freiheitsstrafe drohte, wenn einer den Staat um mehr als 150 000 Euro betrog. Es wurde nur nicht umgesetzt. »Würde dieses Gesetz angewendet«, meinte der Finanzbeamte, »säße in Griechenland jeder Arzt im Gefängnis.« Ich lachte und erntete einen verständnislosen Blick. »Das ist mein Ernst.« Verfolgt wird unter anderem deshalb niemand, weil jedes Verfahren willkürlich wäre, denn es tut einfach jeder. Ein anderer Grund ist, dass die griechischen Gerichte bis zu |73|15 Jahre brauchen, um in Steuersachen zu entscheiden. »Wer nicht zahlen will und erwischt wird, der geht einfach vor Gericht«, erklärt mein Informant. In Griechenland bleiben zwischen 30 und 40 Prozent aller wirtschaftlichen Aktivitäten, für die Einkommensteuer anfallen würde, inoffiziell, wie er sagt. Im übrigen Europa seien es dagegen im Schnitt rund 18 Prozent.

Am leichtesten hinterzog man Steuern, wenn man für Leistungen auf Barzahlung bestand und keine Quittungen ausstellte. Die einfachste Möglichkeit, Geld zu waschen, war der Kauf von Immobilien. Als einziges europäisches Land hat Griechenland kein funktionierendes Grundbuchsystem, was dem Schwarzmarkt sehr entgegenkommt. »Man muss schon wissen, wo jemand Land gekauft hat – also die genaue Adresse –, um es ihm nachzuweisen«, erklärt der Finanzbeamte. »Und selbst dann ist alles handschriftlich und unleserlich.« Aber wenn sich so ein Schönheitschirurg für eine Million in bar ein Grundstück auf einer griechischen Insel kauft und dort eine Villa bauen lässt, dann müsse es doch andere Aufzeichnungen geben, wende ich ein – Baugenehmigungen zum Beispiel. »Die Leute, die Baugenehmigungen erteilen, informieren doch nicht das Finanzamt«, hält der Fachmann dagegen. Und in den offenbar gar nicht so seltenen Fällen, in denen ein Steuerbetrug auffällt, besticht man einfach den Finanzbeamten und alles wird gut. Natürlich gebe es Gesetze gegen die Annahme von Bestechungsgeldern durch Finanzbeamte, erklärte derselbe, »doch wenn man erwischt wird, kann es sieben oder acht Jahre dauern, bis ein Verfahren eingeleitet wird. In der Praxis kümmert das keinen.«

Das systematische Lügen über das eigene Einkommen hat dazu geführt, dass sich die griechische Regierung immer mehr |74|auf die Steuern verließ, die schwerer zu umgehen waren: die Grundsteuer und die Mehrwertsteuer. Die Grundsteuer wird mithilfe einer Formel ermittelt, sodass die Sachbearbeiter hier keinen Einfluss nehmen können. Diese Formel berechnet den sogenannten »objektiven Wert« eines Eigenheims. Durch den Wirtschaftsaufschwung, den Griechenland in den letzten zehn Jahren erlebte, stiegen die Preise, zu denen Immobilien tatsächlich den Besitzer wechselten, weit über die vom Computer erstellten Schätzwerte. Angesichts höherer tatsächlicher Verkaufspreise sollte die Formel an sich nach oben angepasst werden. Der griechische Normalbürger löste dieses Problem, indem er nicht den wirklichen Kaufpreis angab, sondern einen falschen, der in aller Regel demselben niedrigen Betrag entsprach, den die überholte Formel veranschlagte. Wenn der Käufer einen Kredit aufnahm, um das Haus zu erwerben, belief sich dieser auf den »objektiven Wert«. Der Differenzbetrag floss bar oder über einen Schwarzmarktkredit. Infolgedessen wird der tatsächliche Wert einer Immobilie durch den »objektiven Wert« viel zu niedrig angesetzt. Erstaunlicherweise sollen sämtliche 300 griechischen Parlamentsmitglieder erklärt haben, der effektive Wert ihrer Immobilien entspreche dem vom Computer errechneten objektiven Wert. Das heißt, wie mir sowohl der Finanzbeamte als auch ein örtlicher Immobilienmakler bestätigten: »Jedes einzelne Mitglied des griechischen Parlaments lügt, um Steuern zu umgehen.«

Und er fuhr fort, mir ein System zu beschreiben, das durchaus eine gewisse Ästhetik besaß. Es ahmte die Steuersysteme hoch entwickelter Staaten nach – und beschäftigte eine große Zahl von Steuereintreibern –, war aber in Wirklichkeit darauf ausgerichtet, einer ganzen Gesellschaft die Steuerhinterziehung zu ermöglichen. Im Gehen wies er mich noch darauf hin, |75|dass uns die Kellnerin in dem schicken Touristenhotel für unseren Kaffee keinen Beleg gegeben hatte. »Und das nicht ohne Grund«, legte er nach. »Auch dieses Hotel unterschlägt die fällige Mehrwertsteuer.«

Ich ging die Straße hinunter. In der Bar eines anderen schicken Touristenhotels erwartete mich schon der zweite Finanzbeamte. Er war leger gekleidet, saß lässig vor seinem Bier und hatte dennoch größte Angst, dass andere von unserem Gespräch erfahren könnten. Er hatte einen Ordner voller Papiere dabei, die dokumentierten, wie die Griechen oder vielmehr die griechischen Unternehmen in der Praxis Geld am Finanzamt vorbeischleusten. Er begann mit einer ganzen Litanei von Beispielen (»nur solche, die ich persönlich bezeugen kann«). Das erste betraf ein Athener Bauunternehmen, das mitten in der Stadt sieben riesige Wohnblöcke errichtet und fast 1000 Wohnungen verkauft hatte. Bei ehrlicher Berechnung hätte die Körperschaftsteuer an die 15 Millionen Euro betragen. Gezahlt hatte die Firma gar nichts. Null. Um Steuern zu vermeiden, hatte sie mehrere Vorkehrungen getroffen. Erstens war nie offiziell ein Unternehmen angemeldet worden. Zweitens arbeitete der Bauunternehmer mit einer der gar nicht so seltenen Firmen zusammen, die sich nur mit der Erstellung fingierter Quittungen für nie angefallene Kosten befassen. Als unser Finanzbeamter das merkte, wurde ihm Schmiergeld angeboten. Doch er ließ die Sache nicht unter den Tisch fallen, sondern verwies sie an seine Vorgesetzten. Daraufhin wurde er von einem Privatdetektiv beschattet, seine Telefone wurden abgehört. Am Ende schaffte man die Angelegenheit aus der Welt, indem die Baufirma 2000 Euro überwies. »Danach wurde ich von sämtlichen steuerrechtlichen Ermittlungen abgezogen«, erzählte der Finanzbeamte. »Und zwar, weil ich so gut war.«

|76|Er wandte sich wieder seinem dicken Aktenordner zu und blätterte darin herum. Jede Seite enthielt eine ähnliche Geschichte wie die, die er mir gerade erzählt hatte. Und er wollte sie mir alle erzählen. Da unterbrach ich ihn. Mir war klar: Wenn ich ihn gewähren ließ, würden wir die ganze Nacht hier sitzen. Das Ausmaß der Betrügereien – die Energie, die darauf verwendet wurde – war ungeheuerlich. In Athen lernte ich als Journalist ein vollkommen neues Gefühl kennen: absolutes Desinteresse an ganz offensichtlich skandalträchtigem Material. Ich traf mich mit Leuten, die wussten, wie die griechische Regierung tickte: mit dem Topmanager einer Bank, einem Finanzbeamten, einem Stellvertreter des Finanzministers, einem ehemaligen Parlamentsmitglied. Ich zückte mein Notizbuch und hielt die Geschichten fest, die sie mir erzählten – eine himmelschreiender als die andere. Nach 20 Minuten erlosch allmählich mein Interesse. Es war einfach zu viel Stoff für ein Buch. Das Material hätte für eine ganze Bibliothek gereicht.

Der griechische Staat war nicht nur korrupt, sondern er korrumpierte andere. Hatte man erkannt, wie das ablief, wurde ein zunächst nicht nachvollziehbares Phänomen erklärlich: dass es einem Griechen so unendlich schwer fiel, ein freundliches Wort über einen Landsmann zu sagen. Als Menschen sind die Griechen wirklich nett – humorvoll, herzlich, intelligent und angenehm im Umgang. Nach zwei Dutzend Gesprächen fand ich: »Tolle Leute.« Doch ein Grieche ist da anderer Meinung. Einen Griechen dazu zu bringen, einem anderen Griechen in Abwesenheit ein Kompliment zu zollen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Erfolg erregt sofort Argwohn. Jeder ist überzeugt, dass alle anderen Steuern hinterziehen, Politiker bestechen beziehungsweise selbst Schmiergeld annehmen oder den Wert ihrer Immobilien falsch angeben. Und |77|dieses komplette Fehlen jeglichen Vertrauens in andere verstärkt sich selbst. Die Epidemie des Lügens und Betrügens und Stehlens macht jede Form von Bürgersinn unmöglich. Dessen Niedergang wiederum führt zu noch mehr Lug, Betrug und Diebstahl. Weil die Griechen einander nicht vertrauen, verlassen sie sich nur auf sich selbst und die eigene Familie.

Die Struktur der griechischen Wirtschaft ist kollektivistisch. Der Geist, der im Land herrscht, ist alles andere als das. In Wirklichkeit ist jeder auf sich allein gestellt. In dieses System hatten Investoren Hunderte Milliarden gepumpt. Die Kreditschwemme hatte Griechenland den Rest gegeben. Die Folge war der totale Zusammenbruch jeglicher Moral.

***

Über das Kloster Vatopedi wusste ich im Grunde nur, dass es in einer vollkommen korrupten Gesellschaft als die Quintessenz der Korruption galt. Also reiste ich in den griechischen Norden auf der Suche nach einer Handvoll Klosterbrüder, die es mustergültig verstanden hatten, die griechische Wirtschaft vor ihren Karren zu spannen. Der erste Teil der Reise war noch recht unproblematisch: der Flug nach Thessaloniki, Griechenlands zweitgrößte Stadt, die nervenaufreibend rasante Autofahrt durch enge Straßen und die Nacht mit einer bulgarischen Reisegruppe in einem überraschend ansprechenden Hotel mitten im Nirgendwo – dem Eagles Palace. Dort drückte mir die aufmerksamste Hotelangestellte aller Zeiten (fragen Sie nach Olga) einen Stapel Bücher in die Hand und meinte sehnsuchtsvoll, was ich für ein Glück hätte, diesen Ort besuchen zu dürfen. Das Kloster Vatopedi wurde wie 19 weitere im 10. Jahrhundert auf der knapp 350 Quadratkilometer großen Halbinsel im Nordosten Griechenlands gegründet – |78|dem Berg Athos. Die Mönchsrepublik ist heute durch einen langen Zaun vom Festland abgetrennt und deshalb nur mit dem Boot zu erreichen, was der Halbinsel wahres Inselfeeling verleiht. Frauen dürfen sie übrigens nicht betreten – noch nicht einmal weibliche Tiere, mit Ausnahme von Katzen. Die offizielle Erklärung für dieses Verbot ist der Wunsch der Kirche, die Jungfrau Maria zu ehren, die inoffizielle Version bezieht sich auf das Problem, dass die Mönche mit weiblichen Besuchern in Berührung kommen könnten. Das Verbot gilt jetzt schon 1 000 Jahre.

Das erklärt das schrille Kreischen, das am nächsten Morgen ertönt, als die betagte Fähre voller Mönche und Pilger von der Mole ablegt. In Trauben stehen die Frauen am Ufer und schreien sich die Seele aus dem Leib – doch sie wirken dabei so gut gelaunt, dass unklar bleibt, ob sie beklagen oder feiern, dass sie ihre Männer nicht begleiten dürfen. Olga sagte mir, sie sei ziemlich sicher, dass ich ein Stück des Wegs nach Vatopedi zu Fuß zurücklegen müsse; und sie habe noch kaum einen zum heiligen Berg aufbrechen sehen mit etwas so penetrant an die moderne materielle Welt Erinnerndem wie einem Rollkoffer. Deshalb habe ich nur einen Plastikwäschesack vom Eagles Palace dabei – mit Wäsche zum Wechseln, einer Zahnbürste und einem Fläschchen des Schlafmittels Ambien.

Die Fähre tuckert drei Stunden lang an einer felsigen, bewaldeten, doch ansonsten ziemlich kargen Küste entlang und hält unterwegs, um Mönche, Pilger und vorübergehend dort tätige Arbeiter an anderen Klöstern abzusetzen. Der Anblick des ersten Klosters raubt mir den Atem. Das ist kein Gebäude, sondern ein Schauspiel – als hätte jemand Assisi, Todi oder eine andere alte Stadt aus den Hügeln Mittelitaliens an einen |79|einsamen Strand versetzt. Wer nicht weiß, was ihn auf dem Berg Athos erwartet – der in der orthodoxen Ostkirche seit über 1 000 Jahren als heiligster Ort der Erde gilt und lange Zeit in symbiotischer Beziehung mit den byzantinischen Kaisern stand –, der erlebt einen Schock. Die Klöster haben so gar nichts Demütiges. Sie sind prunkvoll, aufwendig und reich verziert und stehen ganz offensichtlich untereinander im Wettbewerb. Früher wurden sie regelmäßig von Seeräubern geplündert. Kein Wunder – jeder anständige Pirat müsste sich schämen, wenn er sich so etwas entgehen ließe.

An vielen Orten in der Welt kommt man ohne Beherrschung der griechischen Sprache zurecht. Athen gehört dazu. Die Fähre zum Berg Athos nicht. Meine Rettung ist ein junger Mann, der Englisch spricht und für mein laienhaftes Auge aussieht wie jeder andere Mönch auch: lange, dunkle Kutte, langer, struppiger schwarzer Bart und ein abweisendes Gebaren, das sich verflüchtigt, sobald das Eis gebrochen ist. Er sieht, wie ich auf einer Karte, die mit bloß groben Skizzen der Klöster versehen ist, verzweifelt herauszufinden versuche, wo ich die Fähre verlassen muss, und stellt sich mir vor. Sein Name ist Cesar. Er stammt aus Rumänien und ist der Sohn eines auf Spionageabwehr spezialisierten Geheimpolizisten des Schreckensregimes von Nicolae Ceauçescu. Dass er sich unter diesen Umständen seinen Sinn für Humor bewahrt hat, grenzt an ein Wunder. Cesar erklärt mir, ich hätte ja wohl gar keine Ahnung, denn sonst wüsste ich, dass er kein Mönch sei, sondern nur einer von vielen rumänischen Priestern, die hier Urlaub machten. Er sei von Bukarest angereist (mit zwei riesigen Rollkoffern), um seine Sommerferien in einem der Klöster zu verbringen. Drei Monate bei Wasser und Brot ohne weibliches Wesen in der Nähe – das war seine Vorstellung von Urlaub. |80|Die Welt abseits des Bergs Athos hatte ihm nicht genug zu bieten.

Cesar zeichnet mir auf, wie ich nach Vatopedi komme, und erklärt mir, was Sache ist. Allein der Umstand, dass ich keinen Bart trage, stelle mich als einen nicht übermäßig heiligen Mann bloß, befindet er – soweit das nicht schon mein violettes Brooks-Brothers-Hemd getan habe. »Aber man ist dort an Besucher gewöhnt«, fährt er fort. »Das sollte also kein Problem sein.« Dann geht er kurz in sich und fragt: »Welche Religion haben Sie eigentlich?«

»Keine.«

»Aber an Gott glauben Sie doch?«

»Nein.«

Das gibt ihm zu denken.

»Tja, dann glaube ich nicht, dass man Sie einlassen kann.«

Er wartet, bis das bei mir angekommen ist. »Andererseits – wie viel schlimmer könnte es für Sie noch kommen?«, legt er schmunzelnd nach.

Als ich eine Stunde später mit nichts als der Plastiktüte aus dem Eagles Palace und Cesars kleiner Karte in der Hand die Fähre verlasse, wiederholt er seine Pointe noch immer und lacht mit jedem Mal lauter. »Wie viel schlimmer könnte es für Sie noch kommen?«

Der Mönch, der mich an der Pforte von Vatopedi in Empfang nimmt, schielt auf den Wäschesack und reicht mir ein Formular, das ich ausfüllen soll. Eine Stunde später, in der ich nach Kräften versucht habe, so zu tun, als würde ich mich in meiner überraschend komfortablen Zelle häuslich einrichten, werde ich von einem Strom bärtiger Mönche durch die Kirchentür geschoben. Aus Angst, des Klosters verwiesen zu werden, noch bevor ich mir einen Eindruck von diesem Ort verschafft |81|habe, verhalte ich mich möglichst angepasst. Ich folge den Mönchen in ihre Kirche. Ich zünde Kerzen an und stecke sie in einen kleinen Sandkasten. Ich bekreuzige mich in einer Tour. Ich hauche Luftküsse auf Ikonen. Dabei nimmt ganz offensichtlich keiner Notiz von dem eindeutig ungriechischen Kerl im violetten Brooks-Brothers-Hemd. Keiner bis auf einen beleibten jungen Mönch, der mich an Jack Black erinnert und mich anstiert, als würde ich eine schwere Verfehlung begehen.

Davon abgesehen war es eine sensationelle Erfahrung, die ich jedem empfehle, der immer schon gern gewusst hätte, wie man im 10. Jahrhundert gelebt hat. Unter gigantischen, auf Hochglanz polierten goldenen Kronleuchtern, umgeben von frisch gewienerten Ikonen sangen die Mönche, psalmodierten, verschwanden hinter Abschirmungen, um dort eigentümliche beschwörende Gesänge anzustimmen, schüttelten Instrumente, die sich anhörten wie Schlittenglöckchen, schwirrten umher und schwenkten Fässchen, die Qualm und den altertümlichen Geruch von Weihrauch absonderten. Jedes Wort, das gesprochen, gesungen oder intoniert wurde, war biblisches Griechisch (es ging wohl um Jesus Christus), doch ich nickte brav dazu. Ich stand auf, wenn sie aufstanden, und setzte mich, wenn sie sich setzten: ein stundenlanges Auf und Ab wie bei einem Jo-Jo. Die Wirkung des Spektakels wurde noch gesteigert durch die imposanten ungebändigten Bärte der Mönche. Selbst wenn man es ganz der Natur überlässt, wächst nicht jeder Bart gleich. Es gibt ganz unterschiedliche Varianten: hoffnungslos schütterer dünner Flaum, der üppige Bewuchs eines Osama bin Laden, wie ihn auch assyrische Könige zur Schau trugen, oder das Vogelnest eines Karl Marx.

Die Mönche von Vatopedi stehen in dem Ruf, weit mehr |82|über den unbedarften Besucher zu wissen, als sich dieser vorstellen kann, und alles Übrige zu erahnen. Die Chefin einer großen griechischen Reederei erzählte mir beim Abendessen in Athen, sie habe unlängst im Flugzeug (in der Business Class) zufällig neben Pater Efraim gesessen, dem Abt von Vatopedi. »Das war eine Erfahrung der ganz besonderen Art«, berichtete sie. »Er kannte mich nicht, erriet aber alles – über meine Ehe, meine Einstellung zur Arbeit. Ich hatte das Gefühl, er wisse alles über mich.« In ihrer Kirche zweifelte ich an den Fähigkeiten der Klosterbrüder. Inmitten eines enormen landesweiten Skandals ließen sie es, ohne auch nur eine Frage zu stellen, zu, dass ein Schreiberling – selbst wenn sich dieser nicht offiziell als solcher zu erkennen gegeben hatte – anreiste, sein Lager aufschlug und in ihrem Kloster herumschnüffelte.

Doch kaum habe ich das Gotteshaus verlassen, da werde ich schon aufgegriffen. Ein rundlicher Mönch mit grau gesprenkeltem Bart und der Hautfarbe einer dunklen Olive nimmt mich in die Zange. Er stellt sich mir als Pater Arsenios vor.

***

In den 1980er und 1990er Jahren zahlten die Griechen für ihre Anleihen die meiste Zeit über ganze 10 Prozent mehr Zinsen als die Deutschen, weil die Wahrscheinlichkeit einer Rückzahlung als deutlich geringer erachtet wurde. Verbraucherkredite gab es nicht in Griechenland. Die Griechen hatten keine Kreditkarten und in aller Regel auch keine Hypotheken. Selbstverständlich wollte Griechenland von den Finanzmärkten gern als ordentlich funktionierendes nordeuropäisches Land behandelt werden. Ende der 1990er Jahre sahen die Griechen dann ihre Chance gekommen: Sie konnten sich ihrer Währung entledigen und den Euro einführen. Doch zu diesem |83|Zweck mussten sie bestimmte nationale Ziele einhalten, um zu beweisen, dass sie anständige europäische Bürger sein konnten – und am Ende nicht Schulden anhäuften, auf denen andere Länder der Eurozone sitzen bleiben würden. Insbesondere mussten sie nachweisen, dass ihr Haushaltsdefizit 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht überstieg und die Inflation ungefähr so hoch war wie in Deutschland. Im Jahr 2000 schafften das die Griechen – allerdings nicht ohne jede Menge statistischer Manipulationen. Um das Haushaltsdefizit zu drücken, nahm die griechische Regierung einfach alle möglichen Ausgaben (für Renten oder die Rüstung) aus den Büchern heraus. Um die Inflation zu senken, fror sie zum Beispiel die Preise für Strom, Wasser und andere vom Staat bereitgestellte Güter ein und reduzierte die Steuern auf Benzin, Alkohol und Tabak. Die Statistiker der griechischen Regierung strichen beispielsweise am Tag der Inflationsmessung (hochpreisige) Tomaten aus dem Verbraucherpreisindex heraus. »Wir haben den Kerl aufgesucht, der diese Zahlen ermittelt hat«, erzählte mir ein ehemaliger Wall-Street-Analyst, der für europäische Volkswirtschaften zuständig war. »Wir kamen aus dem Lachen gar nicht mehr heraus. Er erklärte uns, wie er Zitronen heraus- und Orangen hineingerechnet hatte. Der Index war von vorn bis hinten getürkt.«

Will heißen: Schon damals fiel manchem Beobachter auf, dass die griechischen Zahlen nicht zu stimmen schienen. Miranda Xafa, ehemalige IWF-Mitarbeiterin, spätere Wirtschaftsberaterin des vormaligen griechischen Premierministers Konstantinos Mitsotakis und noch spätere Analystin bei Salomon Brothers, erklärte 1998, dass sämtliche griechischen Haushaltsdefizite der vorangegangenen 15 Jahre zusammengerechnet nur die Hälfte der griechischen Schulden ergaben. |84|Das bedeutete, dass die Summe, die die griechische Regierung aufgenommen hatte, um ihr Tagesgeschäft zu finanzieren, doppelt so hoch war wie die ausgewiesenen Fehlbeträge. »Bei Salomon hieß [der Leiter des griechischen Statistikamts] nur ›der Zauberer‹«, erzählt Xafa, »weil er Inflation, Defizit und Schulden auf magische Weise verschwinden lassen konnte.«

2001 trat Griechenland in die Europäische Währungsunion ein, tauschte die Drachme gegen den Euro und erhielt damit implizit eine europäische (sprich: deutsche) Garantie für seine Schulden. Nun konnten die Griechen langfristig Mittel zu ungefähr den gleichen Konditionen aufnehmen wie die Deutschen – nicht zu 18, sondern zu 5 Prozent. Theoretisch hing ihr Verbleib in der Eurozone davon ab, dass die Haushaltsdefizite unter 3 Prozent des BIP blieben. In der Praxis mussten sie aber nur die Bücher frisieren, um zu zeigen, dass die Ziele eingehalten wurden. Da trat 2001 Goldman Sachs auf den Plan und beteiligte sich an einer Reihe scheinbar legaler, doch nichtsdestoweniger verwerflicher Transaktionen zur Verschleierung der wahren Höhe der griechischen Verschuldung. Für diese Geschäfte soll Goldman Sachs – das Griechenland effektiv einen 700-Millionen-Euro Kredit verschaffte – über 200 Millionen Euro Honorar kassiert haben. Das System, das es Griechenland ermöglichte, nach Gutdünken Geld aufzunehmen und auszugeben, war ein ganz ähnliches wie das, das zum Recycling der Kredite fragwürdiger amerikanischer Schuldner auf die Beine gestellt worden war. Und die amerikanischen Investmentbanker spielten dabei dieselbe Rolle. Sie zeigten der griechischen Regierung außerdem, wie sie künftige Zuweisungen aus nationaler Lotterie, Autobahnmaut, Landegebühren an Flughäfen und dem Haushalt der Europäischen Union verbriefen konnte. Jeder irgend |85|ermittelbare künftige Zahlungsstrom wurde schon vorab in klingende Münze verwandelt und ausgegeben. Jeder halbwegs vernunftbegabte Mensch musste gewusst haben, dass die Griechen ihre wahre Finanzlage nur so lange geheim halten konnten, wie a) die Kreditgeber davon ausgingen, dass ein Darlehen an Griechenland praktisch von der Europäischen Union (also Deutschland) garantiert wurde, und b) niemand außerhalb Griechenlands genauer hinschaute. In Griechenland selbst gab es keine Nestbeschmutzer, denn im Grunde hingen alle mit drin.

Das änderte sich am 4. Oktober 2009 mit dem Regierungswechsel. Die Regierung von Premierminister Kostas Karamanlis stolperte über einen Skandal und musste zurücktreten. Das hatte man durchaus erwarten können. Überraschend war aber die Art des Skandals. Ende 2008 wurde bekannt, dass Vatopedi irgendwie in den Besitz eines eher wertlosen Sees gelangt war und diesen dann gegen deutlich wertvolleres Regierungsland getauscht hatte. Wie die Klosterbrüder dieses Kunststück vollbracht hatten, blieb unklar. Man ging davon aus, dass sie einem Staatsbeamten eine höhere Bestechungssumme zukommen ließen. Beweisen ließ sich das aber nicht. Dessen ungeachtet war die Politik im Jahr danach durch den anschließenden Aufruhr geprägt. Der Skandal um Vatopedi erschütterte die griechische Öffentlichkeit wie nie zuvor. »Einen solchen Stimmungsumschwung bei den Umfragen wie nach dieser Enthüllung haben wir noch nie erlebt«, erzählte mir der Herausgeber einer der führenden griechischen Zeitungen. »Ohne Vatopedi wäre Karamanlis noch Premierminister und alles würde weiterlaufen wie zuvor.« Dimitris Kontominas, milliardenschwerer Gründer einer griechischen Lebensversicherungsgesellschaft und zufällig auch Eigentümer des |86|Fernsehsenders, der den Vatopedi-Skandal aufdeckte, formulierte es etwas drastischer: »Die Mönche von Vatopedi haben Giorgos Papandreou an die Macht gebracht.«

Nachdem die alte Partei (die vorgeblich konservative Neue Demokratie) von der neuen (der vorgeblich sozialistischen Pasok) abgelöst worden war, stellte Letztere fest, dass in der Staatskasse so viel weniger Geld war als erwartet, dass ihr gar nichts anderes übrig blieb, als reinen Tisch zu machen. Der Premierminister verkündete, Griechenlands Haushaltsdefizite seien viel zu niedrig ausgewiesen worden und dass es eine Weile dauern würde, bis die korrekten Zahlen ermittelt seien. Pensionskassen, globale Rentenfonds und andere Käufer griechischer Anleihen, die miterlebt hatten, wie große amerikanische und britische Banken zusammengebrochen waren, und wussten, wie heikel die Position etlicher europäischer Banken war, gerieten in Panik. Die neuen, höheren Zinsen, die Griechenland nun zahlen musste, trieben das Land – das auf hohe Kreditaufnahme angewiesen war, um seine laufenden Ausgaben zu finanzieren – mehr oder minder in die Zahlungsunfähigkeit. Da mischte sich der IWF ein und prüfte die griechischen Bücher genauer. Damit verpuffte auch der letzte Rest von Glaubwürdigkeit, den die Griechen vielleicht noch besessen hatten. »Wie kann es verdammt noch mal sein, dass ein Mitglied der Eurozone sagt, sein Defizit betrage 3 Prozent des BIP, wenn es in Wirklichkeit bei 15 Prozent lag?«, fragt ein hochrangiger IWF-Mitarbeiter. »Wie konnte das passieren?«

Im Moment wird das globale Finanzsystem ganz von der Frage beherrscht, ob die Griechen zahlungsunfähig werden. Zuweilen sieht es ganz so aus, als wäre das die einzig wichtige Frage, denn wenn Griechenland seine 280 Milliarden Euro |87|Schulden nicht zahlt, dann wird das die europäischen Banken zu Fall bringen, die dem Land das Geld geliehen haben. Andere Länder, die ebenfalls vor dem Konkurs stehen (Spanien, Portugal), könnten schnell mitgerissen werden. Dabei ist die Frage eigentlich nicht, ob Griechenland seine Schulden zurückzahlt, sondern ob Griechenland einen Kulturwandel vollzieht – und das geht nur, wenn die Griechen das wollen. Ich höre immer wieder, den Griechen gehe es um »Gerechtigkeit«. Was das griechische Blut zur Wallung bringt, ist das Gefühl, unfair behandelt zu werden. Das geht vielen so, doch der interessante Aspekt daran ist, was so ein Grieche als ungerecht empfindet. Die Käuflichkeit im politischen System des eigenen Landes ganz offensichtlich nicht. Und Steuerbetrug oder Schmiergeldannahme im Staatsdienst ebenfalls nicht. Was die Griechen auf die Palme bringt, ist, wenn ein Dritter – ein Fremder, der andere Motive verfolgt als konkreten und nachvollziehbaren Eigennutz – hergeht und die Korruption ihres Systems ausnutzt. Und genau das taten die Mönche.

Unter den ersten Amtshandlungen des neuen Finanzministers war das Einreichen einer Klage gegen das Kloster Vatopedi auf Rückgabe von Staatseigentum und Schadenersatz. Zu den ersten Beschlüssen des neuen Parlaments gehörte die Einleitung einer zweiten Untersuchung des Falls Vatopedi, um doch noch zu ermitteln, wie genau die Mönche dieses lukrative Geschäft zuwege gebracht hatten. Der Staatsvertreter, der über die Klinge springen musste – ihm wurde der Pass abgenommen und er befindet sich nur gegen Zahlung einer Kaution von 400 000 Euro noch auf freiem Fuß –, heißt Giannis Angelou, ein Mitarbeiter des ehemaligen Premierministers. Ihm wird vorgeworfen, den Mönchen zur Hand gegangen zu sein.

In einer Gesellschaft, die eine Art totalen Moralverfall erlebt |88|hat, waren die Mönche irgendwie zur einzigen für alle akzeptablen Zielscheibe moralischer Entrüstung geworden. Jeder vernünftige griechische Bürger ist immer noch sauer auf sie und ihre Helfershelfer – obwohl keiner genau weiß, was sie eigentlich getan haben. Oder warum.

***

Pater Arsenios ist vermutlich Ende 50. Aber wer weiß – schließlich sehen die Klosterbrüder mit ihren Bärten alle 20 Jahre älter aus. Für einen Mönch hat er ziemliche Berühmtheit erlangt. In Athen kennt ihn jedes Kind. Er ist der Insider, die graue Eminenz, der Finanzchef, das Gehirn des Ganzen. »Würde man Arsenios mit der Verwaltung des Immobilienbestands der griechischen Regierung betrauen«, vertraute mir ein namhafter griechischer Immobilienmakler an, »dann hätten wir Zustände wie in Dubai. Vor der Krise, wohlgemerkt.« Wenn man den Mönchen wohlgesinnt ist, kann man Pater Arsenios als die rechte Hand betrachten, die die wundersame Amtsführung von Abt Efraim erst möglich macht. Boshaft (und mit dem Fall Enron im Hinterkopf) könnte man ihn aber auch als Jeff Skilling bezeichnen – und Efraim dann als Kenneth Lay.

Ich erzähle ihm, wer ich bin und woran ich arbeite – und auch, dass ich die letzten Tage damit zugebracht habe, in Athen Politiker zu interviewen. Er lächelt. Er freut sich tatsächlich, dass ich hier bin! »Früher sind die Politiker alle zu uns gekommen«, erzählt er. »Doch wegen des Skandals ist das jetzt vorbei. Sie trauen sich nicht, sich bei uns sehen zu lassen.«

Er begleitet mich in den Speisesaal und bringt mich an dem Tisch unter, der offenbar der Ehrenplatz für Pilger ist – gleich |89|neben den hochrangigen Mönchen. Pater Efraim sitzt am Kopfende, Arsenios in Rufweite.

Was die Mönche essen, ziehen sie größtenteils selbst, nur wenige Gehminuten vom Speisesaal entfernt. In schmucklosen Silberschüsseln werden rohe, ganze Zwiebeln, grüne Bohnen, Gurken, Tomaten und Rote Bete aufgetragen. Eine andere Schüssel enthält Brot, das die Mönche aus selbst angebautem Weizen backen. Außerdem gibt es noch einen Krug Wasser und zum Nachtisch eine eher flüssige orangefarbene sorbetartige Masse und dunkle Honigwaben, frisch aus dem Bienenstock. Das ist alles. In einem Restaurant in Berkeley würden sich die Gäste selbstgerecht in dem Gefühl baden, lokale Produkte zu verzehren. Hier wirkt die Verpflegung schlicht einfach. Die Mönche essen wie Models vor einem Fotoshooting: an vier Tagen in der Woche zwei Mahlzeiten täglich, an drei Tagen nur eine – insgesamt also elfmal, und jedes Mal mehr oder minder dasselbe. Stellt sich unwillkürlich die Frage, wieso dann manche so dick sind. Die meisten – vielleicht 100 von den derzeit hier lebenden 110 – entsprechen optisch ihrer Ernährung. Sie sind mehr als dünn – richtige Schmalhänse. Doch einige wenige, darunter zwei der Höherrangigen, weisen eine Leibesfülle auf, die sich nicht durch elf Portionen rohe Zwiebeln und Gurken erklären lässt, ganz gleich, wie viele Honigwaben sie noch zusätzlich kauen.

Nach dem Essen gehen die Mönche wieder in die Kirche, wo sie bis ein Uhr morgens weiter singen, deklamieren, sich bekreuzigen und Weihrauch verbrennen. Arsenios zieht mich zur Seite und nimmt mich mit auf einen Spaziergang. Wir passieren byzantinische Kapellen, erklimmen byzantinische Treppen und erreichen schließlich die Tür eines lang gestreckten byzantinischen Saals – frisch gestrichen, doch ansonsten antik: |90|sein Büro. Auf dem Schreibtisch stehen zwei Computer, dahinter ein nagelneues Faxgerät mit Drucker. Darauf liegen ein Handy und eine Großpackung Vitamin-C-Tabletten. Wände und Fußboden glänzen wie neu. In den Aktenschränken stehen reihenweise Ordner. Es ist ein typisches Büro um 2010 – bis auf die eine Ikone über dem Schreibtisch. Verglichen mit dem Büro des griechischen Finanzministers würde man hier keinen Mönch vermuten.

»Die Menschen dürsten heute mehr nach Spirituellem«, erklärt er, als ich ihn frage, warum sein Kloster so viele bedeutende Manager und Politiker angezogen hat. »Noch vor 20 oder 30 Jahren wurde uns beigebracht, dass die Wissenschaft alle Probleme lösen wird. Es gibt so viel Materielles, doch das erfüllt die Menschen nicht. Sie haben die weltlichen Annehmlichkeiten und Besitztümer über. Und sie erkennen, dass ihnen diese kein echtes Erfolgserlebnis vermitteln.« Sprach’s und griff zum Handy, um Getränke und Nachtisch zu bestellen. Kurz darauf wird ein Silbertablett mit Gebäck und Gläsern hereingetragen, die allem Anschein nach Crème de Menthe enthalten.

So begann unser Gespräch, das drei Stunden dauern sollte. Ich stellte einfache Fragen: Warum jemand ausgerechnet Mönch wird? Wie man ohne Frauen zurechtkommt? Wie Leute, die zehn Stunden am Tag in der Kirche sitzen, noch die Zeit finden, Immobilienimperien aufzubauen? Woher sie diesen Pfefferminzlikör beziehen? Er antwortete in zwanzigminütigen Gleichnissen, in denen sich irgendwo eine einfache Antwort verbarg. (Ein Beispiel: »Ich glaube, dass es eine Menge Dinge gibt, die viel schöner sind als Sex.«) Beim Erzählen gestikulierte er, sprang auf, lächelte und lachte. Falls Pater Arsenios aus irgendeinem Grund ein schlechtes Gewissen |91|hatte, dann überspielte er das meisterhaft. Wie so viele, die nach Vatopedi kommen, besaß wohl auch ich nur eine sehr vage Vorstellung von dem, was ich suchte. Ich wollte sehen, ob das Kloster auf mich wie die Fassade eines mächtigen Wirtschaftsunternehmens wirkte (tat es nicht) und ob die Mönche unglaubwürdig erschienen (wohl kaum). Ich fragte mich aber auch, wie ein paar Männer in komischer Aufmachung, die der materiellen Welt entsagt hatten, sich in dieser so clever durchzusetzen verstanden: Wie in aller Welt konnten ausgerechnet Mönche zu Griechenlands aussichtsreichsten Kandidaten für eine Fallstudie der Harvard Business School werden?

Erst nach etwa zwei Stunden bringe ich den Mut auf, Arsenios das zu fragen. Zu meiner Überraschung geht er darauf ein. Er zeigt auf ein Schild, das er an einem seiner Aktenschränke angebracht hat, und übersetzt mir die Aufschrift aus dem Griechischen: Der Kluge findet sich ab. Der Dumme beharrt.

Bekommen habe er es auf einer seiner Geschäftsreisen ins Tourismusministerium, sagt er. »Es ist das Erfolgsgeheimnis schlechthin – nicht nur für ein Kloster«, meint er und serviert mir dann mehr oder minder wörtlich die Grundregel des Improvisationstheaters und eigentlich jeder erfolgreichen Zusammenarbeit: Nimm, was man dir gibt, und mach was draus. Sag »ja … und« statt »nein … aber«. »Der Dumme wird durch seinen Stolz behindert«, erklärt er. »Es muss immer alles nach seinem Kopf gehen. Das Gleiche gilt für alle, die täuschen oder betrügen: Sie versuchen stets, sich zu rechtfertigen. Ein Mensch, der spirituell erleuchtet ist, ist demütig. Er akzeptiert, was ihm andere vorsetzen – Kritik, Anregungen –, und arbeitet damit.« Da fällt mir auf, dass seine Fenster auf |92|einen Balkon hinausgehen, mit Blick auf die Ägäis. Die Mönche dürfen nicht im Meer baden. Warum, habe ich nicht gefragt. Doch es sieht ihnen ähnlich, sich ein Haus am Strand zu bauen und den Strandgang zu verbieten. Mir fällt auch auf, dass nur ich allein Gebäck gegessen und Crème de Menthe getrunken habe. Mich beschleicht der Gedanke, dass ich womöglich auf die Probe gestellt wurde und der Versuchung nicht widerstanden habe.

»Die ganze Regierung ist nach eigener Aussage nicht gut auf uns zu sprechen«, meint er. »Dabei haben wir nichts. Wir arbeiten für andere. Die griechischen Zeitungen bezeichnen uns als Unternehmen. Aber ich frage Sie, Michael – welches Unternehmen besteht seit 1 000 Jahren?«

In diesem Moment platzt unvermittelt Pater Efraim herein. Rund, mit roten Backen und weißem Bart, sieht er aus wie der Weihnachtsmann. Er hat sogar dieses typische Augenzwinkern. Ein paar Monate zuvor war er zu einer Anhörung vor das griechische Parlament zitiert worden. Einer der Fragesteller sagte, die griechische Regierung habe unglaubliche Effizienz an den Tag gelegt bei dem Tausch gewerblicher Immobilien des Landwirtschaftsministeriums gegen den See von Vatopedi. Er fragte Efraim, wie er das zustande gebracht habe.

»Glauben Sie an Wunder?«, hatte Efraim geantwortet.

»Mehr und mehr«, entgegnete der griechische Abgeordnete.

Als wir einander vorgestellt werden, ergreift Efraim meine Hand und hält sie lange in der seinen. Gleich würde er mich fragen, was ich mir zu Weihnachten wünsche, schießt es mir durch den Kopf. Stattdessen erkundigt er sich: »Welchem Glauben gehören Sie an?« »Der Episkopalkirche«, bringe ich |93|hervor. Er nickt. Er wägt ab: Es könnte schlimmer sein. Vermutlich ist es schlimmer. »Sind Sie verheiratet?«, will er wissen. »Ja.« »Haben Sie Kinder?« Ich nicke. Wieder wägt er ab: Damit kann ich etwas anfangen. Er fragt mich, wie sie heißen …

***

Die zweite Untersuchung des Parlaments zur Vatopedi-Affäre steckt noch in den Anfängen und man kann nicht wissen, was dabei herauskommt. Doch die wesentlichen Fakten des Falls stehen nicht zur Debatte. Die wichtigste Frage, die es zu beantworten gilt, ist die nach den Motiven der Mönche und ihrer Handlanger unter den Staatsdienern. Ende der 1980er Jahre war Vatopedi eine einzige Ruine – ein Schutthaufen, auf dem sich die Ratten tummelten. Die Fresken waren schwarz, die Ikonen verwahrlost. Zwischen den alten Steinen streifte ein Dutzend Mönche umher, doch sie waren autonom und unorganisiert. In der Kirchensprache heißt das, sie dienten dem Herrn idiorhythmisch, was bedeutet, dass jeder für sich nach spiritueller Erfüllung strebte. Niemand übernahm Führungsverantwortung. Es gab kein kollektives Ziel. Ihre Beziehung zum Kloster glich quasi der Beziehung der griechischen Bürger zu ihrem Staat.

Das änderte sich Anfang der 1990er Jahre, als eine Gruppe engagierter griechisch-zyprischer Mönche aus einem anderen Teil der Mönchsrepublik unter Führung von Pater Efraim die Chance zum Wiederaufbau eines fantastischen naturgegebenen Aktivpostens sah, der furchtbar schlecht bewirtschaftet worden war. Efraim machte sich daran, Geld zu sammeln, um Vatopedi wieder zu seiner alten Pracht zu verhelfen. Er wandte sich an die Europäische Union und zapfte Kulturfonds an. Er suchte die Nähe reicher griechischer Geschäftsleute, die auf |94|die Vergebung von Sünden erpicht waren. Er pflegte Freundschaften zu einflussreichen griechischen Politikern. Bei alledem bewies er unglaubliche Chuzpe. Als ein bekannter spanischer Sänger Vatopedi besuchte und Interesse bekundete, wusste Efraim das zu nutzen, um Beziehungen zu spanischen Regierungsvertretern zu knüpfen. Ihnen wurde von einem schrecklichen Unrecht berichtet: Im 14. Jahrhundert hatte eine Horde katalanischer Söldner, die sich mit dem byzantinischen Kaiser überworfen hatten, Vatopedi geplündert und großen Schaden angerichtet. Das Kloster erhielt daraufhin umgerechnet 180 000 Euro aus der spanischen Staatskasse.

Die Strategie Efraims zielte ganz klar darauf ab, aus Vatopedi wieder das zu machen, was es im Byzantinischen Reich lange Zeit gewesen war: ein Kloster mit globalem Einfluss. Auch das unterschied Vatopedi von dem Land, in dem es lag. Trotz des Beitritts zur Europäischen Union ist Griechenland eine geschlossene Volkswirtschaft geblieben. Die Probleme des Landes lassen sich nicht alle auf einen Ursprung zurückführen, doch seine Abschottung gehört auf jeden Fall zu den Hauptursachen. Auch Dinge, die andere effizienter erledigen könnten, werden hier selbst besorgt. Interaktionen mit anderen Ländern, an denen sich die Griechen zum eigenen Vorteil beteiligen könnten, kommen schlicht nicht vor. Vor diesem Hintergrund bildete das Kloster Vatopedi eine krasse Ausnahme: Es unterhielt Beziehungen zur Außenwelt. Besondere Berühmtheit erlangte es vor dem Skandal, weil Prince Charles drei Sommer hintereinander jeweils eine Woche hier verbrachte.

Kontakte zu den Reichen und Berühmten waren eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Vatopedi staatliche Zuschüsse und Reparationszahlungen für die Plünderungen erhalten |95|konnte – aber auch für die dritte Initiative im Rahmen der Strategie des neuen Managements: Immobilien. Pater Efraims mit Abstand klügster Einfall war die Durchforstung eines alten Turms, in dem byzantinische Manuskripte ruhten, die jahrzehntelang niemand mehr in die Hand genommen hatte. Im Laufe der Jahrhunderte hatten byzantinische Kaiser und andere Herrscher Vatopedi verschiedene Liegenschaften übertragen – hauptsächlich im heutigen Griechenland und in der Türkei. In den Jahren vor Efraims Ankunft hatte sich die griechische Regierung diese Besitztümer größtenteils zurückgeholt, doch es lag nach wie vor ein dokumentierter Besitzanspruch auf einen See in Nordgriechenland vor, der im 14. Jahrhundert von Kaiser Johannes V. Palaiologos übertragen worden war.

Als Efraim die Besitzurkunde für den See in den Archiven Vatopedis entdeckte, war dieser von der griechischen Regierung bereits zum Naturschutzgebiet erklärt worden. 1998 galt das aber plötzlich nicht mehr. Irgendjemand hatte die Ausweisung als Schutzgebiet nicht rechtzeitig erneuert. Kurz darauf erhielten die Mönche alle Eigentumsrechte an dem See.

Wieder in Athen, spürte ich Peter Doukas auf, den Vertreter des Finanzministeriums, an den sich die Mönche von Vatopedi eingangs gewendet hatten. Doukas steht inzwischen im Mittelpunkt zweier parlamentarischer Untersuchungen, war jedoch eigenartigerweise der einzige Regierungsangehörige, der bereit war, offen über das Geschehene zu sprechen. (Er ist übrigens nicht in Athen, sondern in Sparta geboren – aber das ist womöglich eine andere Geschichte …) Anders als die meisten griechischen Regierungsbeamten war Doukas kein Berufspolitiker, sondern hatte sein Geld im In- und Ausland in |96|der privaten Wirtschaft verdient, bis er 2004 auf die Bitte des Premierministers hin einen Posten im Finanzministerium übernahm. Damals war er 52 Jahre alt und hatte den größten Teil seines Berufslebens bei der Citigroup in New York zugebracht. Er war groß, blond, extrovertiert, offenherzig und humorvoll. Doukas war dafür verantwortlich, dass Griechenland überhaupt langfristige Staatsschulden aufnahm. Als die Zinsen noch niedrig waren und es niemand als Risiko betrachtete, dem griechischen Staat Geld zu leihen, überredete er seine Vorgesetzten zur Auflegung von Anleihen mit 40 und 50 Jahren Laufzeit. Danach wurde er zwar in griechischen Tageszeitungen scharf angegriffen (DOUKAS VERPFÄNDET DIE ZUKUNFT UNSERER KINDER), doch sein Manöver war ausgesprochen clever gewesen. Die langfristigen Anleihen über mehr als 13,5 Milliarden Euro werden derzeit für die Hälfte ihres Nennwerts gehandelt. Will heißen, die griechische Regierung könnte sie auf dem offenen Markt zurückkaufen. »Ich habe ihnen damit fast sieben Milliarden Euro Handelsprofit verschafft«, lacht Doukas. »Man sollte mir eigentlich eine Prämie zahlen!«

Bald nachdem Doukas seinen neuen Posten übernommen hatte, tauchten unangemeldet zwei Mönche in seinem Büro im Finanzministerium auf. Der eine war Pater Efraim, von dem Doukas schon gehört hatte. Der andere, der sich Pater Arsenios nannte, war ihm unbekannt, doch offenbar die treibende Kraft hinter der Aktion. Ihnen gehöre da dieser See, erklärten die beiden, und sie hätten vom Finanzministerium gern Bargeld dafür. »Jemand hatte ihnen das uneingeschränkte Eigentumsrecht an dem See übertragen«, berichtet Doukas. »Und jetzt wollten sie Kasse machen. Sie kamen zu mir und fragten: ›Können Sie uns auszahlen?‹« Sie hatten sich gut auf |97|dieses Gespräch vorbereitet, wie Doukas merkte. »Sie machen ihre Hausaufgaben, bevor sie jemanden aufsuchen – sie wissen alles Mögliche über Sie, über Ihre Frau, Ihre Eltern und wie es um Ihre religiöse Überzeugung bestellt ist«, erzählte er. »Als Erstes fragten sie mich, ob sie mir die Beichte abnehmen sollten.« Doch Doukas fand es unklug, den Mönchen seine Geheimnisse anzuvertrauen. Stattdessen teilte er ihnen mit, dass er ihnen kein Geld für ihren See geben werde – von dem er immer noch nicht genau wusste, wie er eigentlich in ihren Besitz gelangt war. »Sie glaubten offenbar, ich könne nach Gutdünken mit Geld um mich werfen«, erzählt Doukas. »Ich sagte: ›Hören Sie, entgegen der gängigen Meinung hat das Finanzministerium kein Geld.‹« Da meinten sie: ›Gut, wenn Sie uns nicht auszahlen können, warum überschreiben Sie uns dann nicht ein paar staatseigene Immobilien?‹«

Die Strategie hatte etwas für sich: Der See, der keine Mieteinnahmen brachte, würde gegen staatliche Gebäude eingetauscht, die das taten. Irgendwie gelang es den Mönchen, die Regierungsvertreter zu überzeugen, dass das Land rund um den See weit mehr wert sei als die 55 Millionen Euro, auf die es ein unabhängiger Schätzer später taxierte. Auf der Grundlage dieser höheren Bewertung forderten sie Staatseigentum im Wert von einer Milliarde Euro ein. Doukas weigerte sich, ihnen etwas von dem vom Finanzministerium kontrollierten Immobilienvermögen von rund 250 Milliarden Euro zu überlassen. (»Das können Sie sich abschminken«, antwortete er ihnen frei heraus.) Da interessierten sich die Mönche für das zweitwertvollste Land – Ackerland und Wälder, die dem Landwirtschaftsministerium unterstanden. Doukas erinnert sich: »Ruft mich doch der Landwirtschaftsminister an und sagt: ›Jetzt geben wir ihnen schon so viel Land, aber es reicht |98|immer noch nicht. Warum treten Sie nicht auch ein paar Immobilien ab?‹« Als Doukas ablehnte, erhielt er einen weiteren Anruf – diesmal aus dem Büro des Premierministers. Doch er blieb hart. Als Nächstes flatterte ihm dieses Papier auf den Tisch, mit dem den Mönchen staatliches Land überschrieben wird – er hätte nur noch unterzeichnen müssen. »Ich sagte: ›Ihr könnt mich alle mal, ich unterschreibe das nicht.‹«

Und das tat er auch nicht – zumindest nicht in der ursprünglichen Form. Doch aus dem Büro des Premierministers wurde Druck gemacht. Die Klosterbrüder hatten offenbar einen gewissen Einfluss auf den Stabschef des Premiers. Das war Giannis Angelou, der die Mönche ein paar Jahre zuvor kennengelernt hatte, nachdem bei ihm eine lebensbedrohliche Erkrankung diagnostiziert worden war. Die Mönche beteten für ihn. Er starb nicht, sondern gesundete auf wundersame Weise. Doch die Beichte hatte er bereits abgelegt.

Doukas hält die Brüder inzwischen nicht mehr so sehr für raffinierte Betrüger als vielmehr für die verschlagensten Geschäftsleute, mit denen er je zu tun gehabt hatte. »Ich sagte ihnen, am besten sollten sie das Finanzministerium übernehmen«, erzählt er »Sie widersprachen mir nicht.« Am Ende unterschrieb Doukas auf Drängen seines Chefs zwei Dokumente. Im ersten verpflichtete er sich, den Mönchen ihr Eigentumsrecht an dem See nicht streitig zu machen. Das zweite ermöglichte das Tauschgeschäft. Den Mönchen wurden darin zwar keine Rechte an Immobilien des Finanzministeriums übertragen, doch indem Doukas ihren See ins Immobilienportfolio des Ministeriums aufnahm, machte er die Transaktion mit dem Landwirtschaftsministerium möglich. Im Austausch gegen ihren See erhielten die Mönche 73 verschiedenen Regierungsobjekte, darunter auch das ehemalige Turnzentrum für |99|die Olympischen Spiele 2004, das – wie so vieles, was der griechische Staat für dieses Sportereignis gebaut hatte – leer und ungenutzt dastand. Damit sei die Angelegenheit vom Tisch, dachte Doukas. »Man meint doch, das sind Heilige«, erklärt er. »Vielleicht wollten sie ja ein Waisenhaus gründen.« In Wirklichkeit wollten sie ein gewerbliches Immobilienimperium aufbauen, wie sich zeigen sollte. Sie überredeten die Regierung zu einem ungewöhnlichen Schritt: In den Bebauungsplänen wurden etliche nichtgewerbliche Anwesen zu gewerblichen umgewidmet. Neben den Grundstücken, die sie bei dem Tausch erhalten hatten – und die vom griechischen Parlament schlussendlich auf eine Milliarde Euro geschätzt wurden –, erwarben die Mönche ohne jede Hilfe zu 100 Prozent fremdfinanzierte gewerbliche Immobilien in Athen und entwickelten diese. Aus dem ehemaligen olympischen Turnzentrum etwa wurde eine noble Privatklinik, durch die sich für die Mönche offensichtlich bestimmte Synergieeffekte ergaben. Mithilfe eines griechischen Bankiers zogen die Klosterbrüder schließlich einen Immobilienfonds auf, den Vatopedi Real Estate Fund. Wer darin investierte, kaufte den Mönchen im Grunde die Immobilien ab, die ihnen die Regierung überlassen hatte. Und mit den Erlösen wollten die Mönche dann ihrem Kloster wieder zu seinem alten Glanz verhelfen.

Aus einer uralten Urkunde über einen wertlosen See hatten die beiden Mönche ein Vermögen gemacht, das sich nach Angaben griechischer Zeitungen zwischen ein paar zig Millionen und vielen Milliarden Euro bewegte. Wie viel die Mönche wirklich besaßen, wusste aber niemand so ganz genau. Und das war auch einer der Kritikpunkte an der ersten parlamentarischen Untersuchung der Angelegenheit. Ich richtete mich nach der Theorie, dass man am besten andere Reiche fragt – |100|und nicht Journalisten –, wenn man wissen will, wie viel Geld jemand wirklich hat. Deshalb befragte ich ein paar nach dem Zufallsprinzip ausgewählte vermögende Griechen, die ihr Geld im Immobilien- oder Finanzgeschäft gemacht hatten. Sie setzten den Wert der Immobilien und Finanzanlagen der Mönche irgendwo zwischen 700 Millionen und 1,5 Milliarden Euro an. Dieser Wert war aus dem Nichts erwachsen, seit das Kloster unter neuer Leitung stand. Dabei hatte es anfangs ausschließlich mit Vergebung gehandelt.

Die Mönche blieben bis ein Uhr früh in der Kirche. Normalerweise, erklärte mir Pater Arsenios, würden sie dann um vier wieder von vorne beginnen. Am Sonntag aber genehmigen sie sich eine längere Pause und fangen erst um sechs wieder an. Zählt man noch acht Stunden Gartenarbeit oder Geschirrspülen oder die Herstellung von Pfefferminzlikör dazu, erkennt man schnell: Was der eine als himmlisches Dasein betrachtet, könnten andere rasch als Hölle empfinden. Die Geschäftsführer – die Patres Efraim und Arsenios – entgehen dieser anstrengenden Routine an rund fünf Tagen des Monats. Ansonsten sieht auch ihr Leben nicht anders aus. »Die meisten Griechen haben dieses Bild vom Abt als Abzocker«, erzählt mir ein anderer Mönch, Pater Matthew aus Wisconsin, in einer Anwandlung, die ich als Offenheit werte. »Jedermann in Griechenland glaubt, der Abt und Pater Arsenios besäßen geheime Bankkonten. Das ist aber total abwegig. Was sollten sie denn damit? Sie können sich ja nicht einfach eine Woche freinehmen und in die Karibik jetten. Der Abt lebt in einer Zelle. Sie ist zwar sehr schön, aber er ist trotzdem noch Mönch. Und er verlässt das Kloster äußerst widerwillig.«

Die Erkenntnis, dass ich mich um sechs Uhr früh schon wieder in der Kirche einfinden soll, beeinträchtigt meine |101|Nachtruhe, statt sie zu fördern, sodass ich schon um fünf Uhr auf den Beinen bin. Es ist ganz still. Die absolute Ruhe ist so ungewohnt, dass ich gar nicht gleich merke, was mir fehlt. Kuppeln, Schornsteine, Türme und griechische Kreuze akzentuieren den grauen Himmel. Und auch ein paar große, untätige Kräne. Dass das Vermögen der Mönche eingefroren wurde, hat die Restaurierungsarbeiten im Kloster zum Erliegen gebracht. Um 5.15 Uhr höre ich erstes Rumoren aus der Kirche. Es klingt, als würde jemand die Ikonenwandschirme hin- und herschieben – die schweißtreibenden Vorbereitungen hinter der Bühne für die bevorstehende Show. Um halb sechs greift ein Mönch nach dem Seil und läutet eine Kirchenglocke. Dann herrscht wieder Stille. Sekunden später ertönt aus dem langgezogenen Schlaftrakt der Mönche das Piepen elektronischer Wecker. Weitere 20 Minuten später taumeln die Mönche allein oder in Zweiergruppen aus ihren Schlafräumen und streben über das Kopfsteinpflaster auf ihre Kirche zu. Es ist, als würde eine Fabrik in einer ganz auf eine Branche spezialisierten Industriestadt zum Leben erwachen. Es fehlen nur die Henkelmänner.

Drei Stunden später, ich sitze im Auto auf dem Rückweg nach Athen, klingelt mein Handy. Es ist Pater Matthew. Er möchte mich um einen Gefallen bitten. Oh nein, denke ich, sie haben herausbekommen, was ich vorhabe, und wollen mir jetzt einen Maulkorb verpassen. Herausgefunden hatten sie es zwar irgendwie, doch Matthew hatte etwas ganz anderes auf dem Herzen. Der Finanzminister bestand darauf, seine Zitate vorab zu prüfen, doch die Mönche ließen mich mit meinem Material einfach ziehen – recht verwunderlich angesichts der enormen Rechtsstreitigkeiten, die da auf sie zukamen. »Wir haben von diesem Berater für den amerikanischen Aktienmarkt |102|gelesen«, sagt da der Mönch. »Er heißt Robert Chapman …« (Ich hatte nie von ihm gehört. Wie sich herausstellen sollte, war er der Autor eines Newsletters über die globale Finanzwirtschaft.) Seine Mitbrüder, so Pater Matthew, fragten sich, was ich wohl von Robert Chapman halte. Und ob es sich lohne, auf ihn zu hören …

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Am Tag vor meiner Abreise aus Griechenland wurde im Parlament ein Gesetz debattiert und zur Abstimmung vorgelegt, mit dem das Rentenalter angehoben, die Staatspensionen gekürzt und die Annehmlichkeiten des öffentlichen Dienstes zurückgeschnitten werden sollten. (»Ich bin sehr dafür, die Zahl der Staatsdiener zu reduzieren«, vertraute mir ein IWF-Ermittler an. »Doch wie soll das gehen, wenn man gar nicht weiß, wie viele es überhaupt gibt?«) Premierminister Papandreou präsentierte dieses Gesetz wie alles, was er seit seiner Entdeckung der Fehlbeträge eingebracht hat: nicht als seine eigene Idee, sondern als nicht verhandelbare Forderung des IWF. Offenbar herrscht die Vorstellung, dass die Griechen, die nie auf Forderungen aus dem eigenen Land hören würden, Opfer zu bringen, auf Vorgaben von außen hören könnten. Will heißen, sie wollen sich eigentlich nicht einmal mehr selbst regieren.

Zu Tausenden strömen Staatsbedienstete auf die Straßen, um gegen das Gesetz zu protestieren. Wir haben es mit der griechischen Variante der Tea Party zu tun: Finanzbeamte, die Schmiergeld kassieren, Lehrer an staatlichen Schulen, die niemandem etwas beibringen, gut bezahlte Mitarbeiter einer maroden staatlichen Eisenbahn, die nie pünktlich kommt, Angestellte öffentlicher Krankenhäuser, die sich dazu bestechen lassen, überteuertes Material einzukaufen. Das sind sie und |103|das sind auch wir: eine Nation, die die Schuld bei jedem anderen sucht, nur nicht bei sich selbst. Die Angehörigen des öffentlichen Dienstes versammeln sich in Gruppen, die an kleine militärische Einheiten erinnern. Inmitten jeder solchen Einheit gibt es zwei, drei Reihen junger Männer, die als Fahnenhalter getarnte Knüppel schwenken. Vom Gürtel baumeln Skimützen und Gasmasken, damit sie auch durch den unvermeidlichen Einsatz von Tränengas nicht außer Gefecht gesetzt werden. »Der stellvertretende Premierminister hat uns gesagt, dass sie auf zumindest einen Toten hoffen«, erzählte mir ein maßgeblicher griechischer Ex-Minister. »Es soll Blut fließen.« Zwei Monate zuvor, am 5. Mai, hatte der Mob beim ersten solchen Protestmarsch einen Vorgeschmack darauf gegeben, wozu er fähig war. Als die Demonstranten in einer Zweigstelle der Marfin Bank Menschen arbeiten sahen, schleuderten junge Männer Molotowcocktails in das Gebäude und gossen Benzin in die Flammen, wodurch der Ausgang blockiert wurde. Die meisten Mitarbeiter der Bank retteten sich über das Dach, doch drei kamen in den Flammen um – darunter auch eine junge Frau, die im vierten Monat schwanger war. Während sie starben, schrien die Griechen auf den Straßen, es geschehe ihnen recht, weil sie es gewagt hätten, zu arbeiten. Das Ganze spielte sich direkt vor den Augen der griechischen Polizei ab, doch verhaftet wurde niemand.

Wie schon an anderen Tagen haben die Demonstranten das ganze Land praktisch lahmgelegt. Auch die Fluglotsen streiken und haben die Flughäfen geschlossen. Am Hafen von Piräus lässt der Mob Kreuzfahrtpassagiere nicht zum Einkaufen von Bord. Mitten in der Hauptsaison wird de facto verhindert, dass die so dringend benötigten Touristendollars ins Land rollen. Jeder in der Privatwirtschaft Tätige, der nicht aus Solidarität |104|die Arbeit niederlegt, bringt sich in Gefahr. In ganz Athen werden Läden und Restaurants geschlossen – und auch die Akropolis.

Die Führungstruppe versammelt sich mitten auf einem breiten Boulevard, nur wenige Meter von der verkohlten, ausgebrannten Bankfiliale entfernt. Dass sie die Bank niederbrannten, ist unter den gegebenen Umständen unglaublich. Gäbe es Gerechtigkeit auf dieser Welt, würden die griechischen Bankangestellten auf die Straße gehen und gegen die moralische Haltung des griechischen Normalbürgers protestieren. Die Marmortreppe der Marfin Bank ist zu einem traurigen Schrein geworden: ein Haufen Plüschtiere für das ungeborene Kind, ein paar Bilder von Mönchen, ein Schild mit einem Satz des antiken Rhetorikers Isokrates: »Die Demokratie zerstört sich selbst, weil sie ihr Recht auf Freiheit und Gleichheit missbraucht – weil sie ihren Bürgern vermittelt, Dreistigkeit als Recht zu begreifen, Gesetzlosigkeit als Freiheit, aggressive Äußerungen als Gleichheit und Anarchie als Fortschritt.« Am anderen Ende der Straße steht eine Phalanx von Bereitschaftspolizisten, Schild an Schild, wie spartanische Krieger. Hinter ihnen erhebt sich das Parlamentsgebäude. Dort drin wird vermutlich hitzig debattiert, doch was gesagt und beschlossen wird, bleibt ein Geheimnis, da auch die griechischen Journalisten nicht arbeiten. Die Menge beginnt zu skandieren und gegen die zahlenmäßig hoffnungslos unterlegenen Polizisten vorzurücken. Ein Ruck geht durch die Einsatzkräfte. Es ist einer dieser Momente, in denen einfach alles passieren kann. Offen ist eigentlich nur die Frage, in welche Richtung die Masse tendiert.

Genauso geht es auf den Finanzmärkten zu. Die Frage, die alle gern beantwortet hätten, lautet: Wird Griechenland zahlungsunfähig? |105|Eine verbreitete Meinung lautet, das Land habe gar keine andere Wahl. Die Maßnahmen, die die Regierung verhängt, um Kosten zu senken und Einnahmen zu erhöhen, werden die verbliebene produktive Wirtschaft aus Griechenland vertreiben. In Bulgarien sind die Steuern niedriger, in Rumänien die Arbeiter weniger anspruchsvoll. Doch es gibt noch eine zweite, interessantere Frage: Selbst wenn es technisch möglich wäre, dass die Griechen ihre Schulden zurückzahlen, nicht mehr über ihre Verhältnisse leben und ihr Ansehen in der Europäischen Union zurückgewinnen – stehen ihnen dafür intern die nötigen Ressourcen zur Verfügung? Oder können sie gar kein Gefühl der Verbundenheit mehr empfinden, das über ihre kleine Welt hinausreicht, und wollen sich deshalb nur noch ihrer Verpflichtungen entledigen? Von außen betrachtet erscheint es verrückt, einfach auf alle Verbindlichkeiten zu pfeifen. Dann würden sämtliche griechischen Banken sofort pleitegehen und das Land könnte notwendige Importgüter nicht mehr bezahlen (Öl zum Beispiel). Die Regierung würde auf viele Jahre hinaus durch deutlich höhere Zinsen abgestraft werden, wenn sie denn jemals überhaupt wieder Kredit bekäme. Doch das Land verhält sich nicht wie ein Kollektiv. Ihm fehlt der Instinkt der Mönche. Es benimmt sich wie eine Ansammlung atomisierter Partikel, die es gewohnt sind, auf Kosten des Allgemeinwohls eigene Interessen zu verfolgen. Die Regierung bemüht sich ohne jeden Zweifel, in Griechenland wieder eine Form von Gemeinsinn zu wecken. Die Frage ist bloß: Geht das überhaupt, wenn dieser erst einmal verloren ist?