Drei

 

In Yerems Gürteltasche fand Yanil einen Tiegel mit dem Rest einer Kräutersalbe. Die Menge reichte allenfalls aus, um oberflächliche Kratzer zu versorgen, doch er brachte weder Kraft noch Muße auf, im umliegenden Wald nach den Pflanzen zu suchen, die er zur Herstellung des Medikaments benötigt hätte. Zumal er sich nicht einmal sicher war, ob die Wälder des Nordens die notwendigen Heilkräuter überhaupt beheimateten.

Yanil wandte den Blick vom Gesicht des Toten ab, als er sich an dessen Eigentum bediente. Es ging ihm schlecht dabei. Nicht nur, weil er sich am Besitz einer Leiche verging, sondern weil er sich für Yerems Ableben verantwortlich fühlte. Er machte sich Vorwürfe. Er hatte seine kleine Truppe geradewegs in die Arme der Feinde gescheucht, und nun war er sogar in Begriff, einem dieser Monster auf die Beine zu helfen. Yanil hätte vor Wut auf sich selbst am liebsten geheult und geschrien. Verdammt! Weshalb war dieser Khaleri bloß derart menschlich und normal? Wie war es dazu gekommen, dass ihre Völker so erbittert gegeneinander kämpften? Es musste einen Grund geben, weshalb die Eindringlinge sich verhielten wie Raubtiere, und vielleicht würde Yanil ihn herausfinden ...

Bevor er sich von Ilavs Leiche abwandte, sandte er ein kurzes Gebet in die Götterwelt. Das war er dem Toten schuldig. Für ein Begräbnis blieb keine Zeit, und er würde definitiv nicht die Kraft dazu aufbringen. Sein Arm quälte ihn, sandte Wogen aus Schmerz durch seinen Körper.

Bei den Leichen der Khaleri – Yanil zählte fünf – fand er nichts Brauchbares, nicht einmal einen Schluck Wasser. Er wollte sie nicht ansehen, konnte einen flüchtigen Blick in ihre Gesichter jedoch nicht verhindern. Sie sahen alle aus wie normale Menschen, keiner von ihnen schien Reißzähne im Mund oder Klauen an den Händen zu haben. Yanil schluckte. Einem der Toten riss er einen Hemdsärmel ab. Der Stoff sah auf den ersten Blick sauber aus.

Nachdem er weitere Stoffstreifen, zwei relativ gerade gewachsene Äste und ein paar handgroße derbe Blätter erbeutet hatte, kehrte er zurück zu der Stelle, an der er Brilys zurückgelassen hatte. Der Khaleri saß noch immer in derselben Haltung wie zuvor auf der Erde, ließ den Blick durch den Wald schweifen und wirkte seltsam entspannt. Yanil verwirrte sein Verhalten zunehmend.

Er streckte ihm den abgerissenen Hemdärmel und eines der Blätter entgegen. »Du musst mir helfen, den Verband um meinen Arm zuzuknoten. Mit einer Hand kann ich das nicht.«

Brilys nickte. Yanil beugte sich zu ihm hinab. Vorsichtig legte der Khaleri das Blatt auf die Wunde, die inzwischen zu bluten aufgehört hatte, und fixierte es mit dem Stoff, dessen Enden er zuknotete – nicht zu fest, nicht zu locker. Yanil wunderte sich über seine Sorgfalt. Er war darauf bedacht, Yanil keine unnötigen Schmerzen zuzufügen. Ein seltsames Verhalten, wenn man bedachte, dass sie sich kurz zuvor noch bekämpft hatten.

Nachdem Yanil den geschwollenen Knöchel von Brilys versorgt, mit Salbe bestrichen und geschient hatte, reichte er ihm eine Hand, um ihm aufzuhelfen. Er biss sich auf die Unterlippe, gab jedoch keinen Laut von sich.

»Glaubst du, dass du laufen kannst?«

Brilys zuckte die Achseln. »Was bleibt mir anderes übrig?« Er suchte Yanils Blick. »Danke, dass du mir geholfen hast.«

Am liebsten hätte Yanil mit einer Floskel wie Nichts zu danken geantwortet, aber das hätte nicht der Wahrheit entsprochen. Eine derart skurrile Situation hatte er bislang noch nie erlebt.

»Was machen wir jetzt?«, fragte er stattdessen.

»Wir suchen den Anschluss an unsere jeweiligen Truppen. Entweder es gelingt uns oder wir sterben bei dem Versuch.« So, wie Brilys es sagte, hörte es sich an wie etwas Selbstverständliches.

»Ich schätze, dass du es definitiv einfacher haben wirst als ich«, sagte Yanil mit einem Hauch Bitterkeit in der Stimme. »In diesen Wäldern scheint es von Khaleri zu wimmeln. Ich weiß nicht einmal, ob Leute meines Volkes in der Nähe sind, alle sind schon vor Wochen nach Norden aufgebrochen, um die Burg zu halten.« Yanil hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Ob es klug war, dem Feind zu viel zu verraten?

Doch Brilys nickte nur verständnisvoll. »Weißt du, ein bisschen siehst du aus wie einer von meinen Leuten. Deine Augen sind gar nicht wirklich blau, eher gräulich, und dein Gesicht ist für einen Mazari ein bisschen zu fein geschnitten.« Er lachte und machte eine beschwichtigende Geste. »Nicht dass ihr hässlich wäret, das will ich damit nicht sagen.«

Unwillkürlich musste auch Yanil grinsen. »Ich denke trotzdem nicht, dass mir mein Gesicht einen Vorteil verschafft, wenn ich auf einen deines Volkes treffe. Meine Kleidung spricht eine andere Sprache.« Sie lachten gemeinsam, obwohl die Situation eigentlich nichts Amüsantes an sich hatte.

»Ich kann dir leider auch nicht weiterhelfen«, griff Brilys das Thema schließlich wieder auf, als sie sich beruhigt hatten. »Du kannst nur hoffen, entweder Anschluss an deine Leute zu finden oder dich allein nach Norden durchzuschlagen. Bis dahin würde ich vorschlagen, dass wir gemeinsam gehen. Ich habe zwei gesunde Hände und du zwei gesunde Beine. Wir ergänzen uns, zudem haben wir das gleiche Ziel.«

Yanil willigte ein, obwohl es seltsam anmutete, dass zwei Todfeinde gemeinsam reisten, um in einen Krieg zu ziehen, in dem sie gegeneinander kämpfen würden.

»Weshalb haben du und deine Leute uns im Wald angegriffen?« Noch vor wenigen Stunden hätte Yanil sich diese Frage überhaupt nicht gestellt. In Kriegen machte man sich nun einmal keine Freunde, und erst recht nicht in den Reihen der Gegner.

Brilys zögerte einen Herzschlag lang. Seine Stirn legte sich in Falten. »Ich könnte dir eine Gegenfrage stellen: Weshalb bist du dem Ruf deines Königs gefolgt? Bist du so versessen darauf zu töten?« Er wandte Yanil den Kopf zu, sie waren beinahe identisch groß. »Ist es nicht immer so, dass andere die Entscheidungen treffen? Dir sagt jemand: Kämpfe! und du kämpfst. Dabei hat dir dein Gegner persönlich sicher nie etwas getan. Natürlich, du wirst jetzt sagen: Aber es ist für eine gute Sache, für das große Ganze. Für Frieden, für Wohlstand, für Verbesserung. Aber weshalb ist denn alles schlecht? Ist es dein Verschulden? Und ist es überhaupt schlecht? Kann es nicht sein, dass du dem Drängen eines Einzelnen nachgibst, weil derjenige einen Vorteil für sich selbst erwirken will? Ich möchte nicht behaupten, dass euer König egoistisch ist. Ich kenne ihn gar nicht. Aber der Kampf um Macht und Ehre wird grundsätzlich auf dem Rücken derer ausgetragen, die nichts zu gewinnen und alles zu verlieren haben. Anders erging es mir auch nicht. Ich habe den Krieg nie gewollt, und ich halte es für unsinnig, dass wir beide uns hassen sollen, nur weil sich in unseren Köpfen irgendein dummes Dogma festgebissen hat, dass uns jemand anderes eingetrichtert hat. Ich bin froh, dass du scheinbar genauso gedacht und mich nicht getötet hast.« Brilys verfiel in Schweigen, und Yanil schnürte es die Kehle zu. Das waren eindeutig zu viele Denkanstöße für einen Tag. Er schüttelte seine Gedanken ab, sie führten ohnehin zu nichts. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg nach Norden.

 

***

 

Es musste ein seltsames Bild abgegeben haben – zwei grundverschiedene Menschen, die sich gegenseitig stützend durch einen Wald schleppten – der eine hinkte, der andere konnte seine Hand kaum bewegen. Nur wenn der Untergrund völlig eben war und keine Gefahr bestand, dass Brilys über Wurzeln hätte fallen können, konnte er alleine gehen. Yanil war froh, dass sie niemand beobachtete. Sogar ein Laie hätte bereits von weitem erkannt, dass sie nicht derselben Rasse angehörten, obwohl Brilys behauptet hatte, Yanils Gesicht wäre unter den Khaleri kaum aufgefallen. Jedoch hüllten sie sich gemäß den Gebräuchen ihrer jeweiligen Völker in vollkommen unterschiedliche Kleidung. Yanil bildete in seinen glänzenden Hosen, die in allen Grüntönen schimmerte, und dem reichlich bestickten Wams darüber einen extremen Gegensatz zu Brilys, der einfache, ungefärbte Leinenkleidung trug.

Sie begegneten den ganzen Tag über niemandem, und obwohl sie beide vorgaben, Anschluss an ihre Truppe finden zu wollen, verspürte Yanil Erleichterung darüber, dass es vollkommen still blieb in der dicht bewaldeten Provinz Azkatar, der grünen Lunge von Gûraz. Er hatte den Eindruck, dass auch Brilys nicht allzu erpicht darauf war, alsbald in seinen Alltag zurückzukehren. Yanil wunderte sich darüber, auf keinerlei Spuren jener Khaleri zu treffen, die Brilys zurückgelassen hatten, immerhin hatten nach seiner Rechnung mindestens fünf von ihnen den Kampf überlebt. Aber sie waren nicht zurückgekehrt, weder um nach Überlebenden zu suchen noch um zu Plündern und die Toten nach brauchbaren Gegenständen zu durchsuchen oder sie gar zu beerdigen. Yanil plagte ein schlechtes Gewissen, weil er seinen eigenen Leuten kein ordentliches Begräbnis hatte zuteilwerden lassen. Er fragte sich, ob die Khaleri überhaupt Begräbnisrituale zu ihrem Kulturgut zählten. Waren sie überhaupt kultiviert? Bis zum Morgen hatte er immerhin noch geglaubt, sie seien fleischfressende Monster. Yanil sprach Brilys nicht darauf an, aber der Khaleri wirkte keineswegs verstört ob dieses Umstands. Es schien für ihn selbstverständlich zu sein, dass seine Kameraden nicht zurückgekommen waren.

Am späten Nachmittag frischte der Wind auf, wehte ihre Haare durcheinander, wirbelte Laub umher. Die Äste der mächtigen Eichen und Buchen wiegten sich hin und her. Das Rauschen im Blätterdach bildete ein angenehmes Hintergrundgeräusch, das Yanil an seine Heimat in den südlichen Wäldern erinnerte.

Die Schleierwolken am Himmel türmten sich zu grauen Bergen auf, vielleicht würde es ein Gewitter geben. Obwohl sie nur quälend langsam vorankamen, erreichten sie endlich einen Wasserlauf, ein seicht in östlicher Richtung dahinplätschernder Bach, vielleicht der Seitenarm eines größeren Flusses. Das Gelände fiel bis zum Ufer ab, auf der anderen Seite wölbten sich grüne, mit roten und gelben Blumen übersäte Hügel in den Himmel. Die Luft roch schwer nach ihren Blüten. Yanil kannte jede Pflanze seines Heimatlandes, doch diese kamen ihm gänzlich unbekannt vor. Sie hielten inne und genossen den Ausblick, wenngleich erste Regentropfen auf sie niederprasselten.

Schweigend füllten sie ihre Wasserschläuche und wuschen sich das getrocknete Blut von der Haut. Als der Regen stärker wurde, suchten sie Schutz unter dem dichten Blattwerk einer jungen Weide. Sie lehnten sich an ihren Stamm und schwiegen. Ohne Worte verständigten sie sich darauf, die Nacht am Flussufer zu verbringen. Sie waren müde und erschöpft, sogar seinen Hunger spürte Yanil kaum. Er schlief im Sitzen ein.

Yanil erwachte erst, als die Sonne sein Gesicht kitzelte. Er schlug die Augen auf, und für einen Moment wähnte er sich zuhause in Zakuma, wenn die ersten warmen Strahlen des Tages durch das Fenster seines Baumhauses fielen und tanzende Schatten auf die Holzdielen malten. Dann wurde er sich jäh der Realität bewusst, Erinnerungen kehrten zurück. Einen Augenblick lang schüttelte ihn Verzweiflung, doch er dankte den Göttern, dass sie ihm überhaupt einen weiteren Tag geschenkt hatten.

Yanil wandte den Kopf. Brilys lag neben ihm im feuchten taubedeckten Gras. Er schlief. Yanils Kleidung fühlte sich klamm an und klebte ihm an Armen und Beinen. Doch am unangenehmsten war der Hunger. Jäh wurde ihm bewusst, dass er seit dem letzten Sonnenaufgang nichts mehr gegessen hatte. Seinen Rucksack hatte er am Schauplatz des Kampfes zurückgelassen, es wäre ohnehin nichts Essbares mehr darin gewesen.

Er stand auf, streckte seine müden Glieder und untersuchte die Wunde an seinem Arm, die glücklicherweise nicht mehr ganz so quälend pochte wie am Vortag. Sie hatte sich nicht entzündet und würde vermutlich bloß eine hübsche Narbe abgeben. Ein vergleichsweise geringer Preis.

Yanil stillte seinen Durst im Bach, wusch sein Gesicht und begab sich auf die Suche nach Nahrung. Er fand Beeren, Wurzeln und Kräuter, mit denen er sich die Taschen füllte und zu ihrem Lagerplatz am Flussufer zurückkehrte. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel.

Brilys hockte noch immer unter der Weide, ein Knie bis unter das Kinn gezogen, das geschiente Bein gerade von sich gestreckt. Als er Yanil erblickte, lächelte er.

»Ich dachte, du seiest ohne mich weitergezogen.«

Yanil stutzte. Er hatte über diese Option noch gar nicht nachgedacht, weshalb ihm keine passende Antwort einfiel. Stattdessen zuckte er nur die Achseln und bot Brilys von den Wurzeln und Beeren an, die der Khaleri dankbar entgegennahm.

Nach dem Frühstück zogen sie in stillem Einvernehmen weiter. Sie fanden eine Stelle, an der sie den Wasserlauf mühelos hätten überspringen können, wenn Brilys verletztes Bein nicht gewesen wäre. Ohne ihn um Erlaubnis zu bitten, hob Yanil ihn wie ein Kind auf den Arm und trug ihn auf die andere Seite, obwohl er ob seines Gewichtes nicht weit springen konnte und sich nasse Füße holte.

Sie marschierten noch einen weiteren ereignislosen Tag nach Norden, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Jedoch stießen sie auf Spuren. Schwere Stiefel hatten Gräser und junge Schößlinge niedergetreten. Es sah aus, als sei eine größere Gruppe Menschen erst kürzlich durch diesen Waldabschnitt gezogen. Yanil lief ein kalter Schauder über den Rücken. Schon bald würden sie auf die ersten Truppen stoßen, und dass es sich dabei im Khaleri handeln würde, war mehr als wahrscheinlich. Sie alle zogen nach Norden, dorthin, wo König Raslyr erbittert um seine Vormachtstellung im Land kämpfen würde. Yanil verdrängte jeden Gedanken an den Krieg, er war des Kämpfens müde. Doch er benötigte dringend die Unterstützung seines Volkes, um je wieder nach Hause zurückkehren zu können. Er fühlte sich wie Vieh, das man zum Schlachter trieb. Es gab kein Zurück.

Am Nachmittag rasteten sie auf einer Wiese, der Baumbestand war deutlich lichter geworden, in der Ferne ragte das nördliche Gebirge bereits bedrohlich über ihnen auf. Nicht mehr lange, und sie würden den Pass nach Fjondryk erreichen. Spätestens dort rechnete Yanil mit erneuten Kämpfen, zumindest glaubte er nicht, ohne Zwischenfälle den Sitz des Königs zu erreichen. Als er mit Brilys zwischen den üppigen Wildkräutern saß und der Wind ihnen durch die Haare strich, spielte er eine Weile lang ernsthaft mit dem Gedanken, allein im Wald zu leben, bis der Krieg vorüber war. Er könnte sich einen Unterschlupf bauen und von den Dingen leben, die der Wald ihm bot. Essen gab es reichlich. Allerdings nur in den Sommermonaten, und wer konnte schon sagen, wie lange dieser gottverdammte Krieg noch andauern würde?

Gegen Abend plagte sie erneut der Hunger. Zwar schmerzte Yanils Hand bei weitem nicht mehr so sehr wie noch vor zwei Tagen, dennoch konnte er sie nicht dazu gebrauchen, Jagd auf kleinere Tiere zu machen. Beeren und Wurzeln langweilten seinen Gaumen, ihm lief das Wasser im Mund zusammen beim Gedanken an frisches Fleisch. Nachdem er mit Brilys ausführlich darüber diskutiert hatte, wie sie an solches gelangen konnten, ohne seine Hände und Brilys Beine benutzen zu müssen, saßen sie am Abend scherzend beieinander und bauten sich eine Schleuder – oder zumindest versuchten sie es. Yanil gab sich alle Mühe, seinem Partner (als solchen bezeichnete er ihn mittlerweile) zu erklären, wie er aus faserigen Rindenstreifen und einem entsprechend geformten stabilen Ast eine adäquate Waffe zur Kaninchenjagd bauen konnte. Yanil konnte seine Hände nicht benutzen, um es Brilys zu zeigen, und dessen Unverständnis für den Schleuderbau bescherte ihnen heitere Stunden, in denen sie den Ernst des Krieges vergessen konnten. Schließlich segnete Yanil zähneknirschend die Waffe ab und gab sie frei für einen Testlauf, obwohl sie krumm war und jedem Mazari die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte. Brilys wagte einige Versuche, mit Steinen ein definiertes Ziel zu treffen. Seine anfänglichen Bemühungen waren wenig fruchtbar, und Yanil befürchtete schon, er würde sich mit der Schleuder nur selbst umbringen. Umso überraschter war er, dass dem Khaleri letztlich doch ein Glückstreffer gelang. Zwar hatte er nur eine alte fette Wasserratte erwischt, die vermutlich so schwach war, das Yanil sie sogar mit einer Hand hätte allein fangen können, aber immerhin drehte sich am Abend ein Spieß mit frischem Fleisch über einem kleinen Feuer. Zumindest was den Umgang mit Feuersteinen anging, bewies der Khaleri einigermaßen Geschick.

»Ich bewundere, dass du so viel über das Leben in den Wäldern weißt«, sagte er, während er gedankenverloren ins Feuer starrte. Sie hatten eine ganze Weile lang nicht mehr gesprochen. »Wie ist es in deiner Heimatstadt? Lebt ihr Magier tatsächlich in Baumhäusern?«

Yanil legte einen trockenen Ast nach. Es knisterte behaglich, Funken stoben auf. »Nicht alle, nur die Mazari aus Zakuma. Man nennt uns auch die Kinder des Waldes.« Niemals zuvor hatte ihm jemand derartige Fragen gestellt, und Yanil wurde bewusst, dass er noch nie mit Fremden über sich oder sein Volk gesprochen hatte. Es kam ihm seltsam vor.

»Ich habe mir sagen lassen, ihr wäret ein egoistisches, eingebildetes und tyrannisches Volk. Allesamt böse Magier, mit Dämonen im Bunde. Kaum die Pfeile wert, euch zu töten.«

Yanil erschauderte ob seiner Offenheit. Er versuchte, in Brilys Gesicht zu erforschen, ob er gescherzt haben könnte, aber er verzog keine Miene und blieb vollkommen ernst.

»Wer hat dir das denn erzählt?«

Brilys zuckte nur die Achseln. »Unser Anführer.« Er biss sich auf die Unterlippe. »Ein Glück, dass du weißt, welche Früchte essbar sind und welche nicht. Ich habe nie zuvor eine Beere probiert.«

Yanil beschlich das Gefühl, dass Brilys absichtlich das Thema wechselte. Er warf ihm einen skeptischen Seitenblick zu. »Von irgendetwas wird sich deine Truppe auf dem Weg nach Norden doch auch ernährt haben müssen. Soviel ich weiß, habt ihr einen ähnlich weiten Weg zurückgelegt wie ich von Zakuma. Was habt ihr gegessen? Nur altes Brot?« Er lachte, aber Brilys blieb ungerührt. Er wandte den Kopf ab. Ihm schien die Frage zutiefst unangenehm zu sein, dabei hatte Yanil nur einen Scherz machen wollen. Er sagte nichts mehr, wollte Brilys nicht in Verlegenheit bringen, aber als das Schweigen zwischen ihnen begann, unangenehm zu werden, seufzte der Khaleri und suchte Yanils Blick. Er wirkte zutiefst traurig und verzweifelt, was Yanil einen Stich versetzte.

»Hast du von den Gerüchten um Vyruk gehört, unseren Schöpfer?«

Yanil hätte sich beinahe an einer Beere verschluckt. Die Haare auf seinen Armen sträuben sich. Hatte Brilys ihn das gerade tatsächlich gefragt? Er starrte ihn nur mit großen Augen an, brachte jedoch kein Wort heraus. Natürlich war ihm zu Ohren gekommen, dass die Khaleri an der Seite eines brennenden Riesen kämpften. Aber doch nicht an der eines niederen Gottes?!

»Er ist unser Schöpfer, wir existieren erst in der dritten Generation. Weit im Süden, noch hinter dem südlichsten Gebirge, ist unsere Rasse vor knapp dreihundert Jahren erwacht.« Er senkte die Stimme, als befürchtete er, jemand könnte ihn belauschen. Yanils Herz schlug ihm bis zum Hals, er vergaß beinahe das Atmen. Niemand seines Volkes wusste ganz genau, woher die Khaleri so plötzlich gekommen waren. Man hatte sie für eine Landplage gehalten, eine Naturkatastrophe, wie sie dann und wann nun einmal auftrat. Nur diesmal mit verheerenden Folgen ...

»Dort, wo wir herkommen, gibt es nichts als Sand und Hitze. Es war ein entbehrungsreiches Leben in Askese, zu Essen und zu trinken gab es überhaupt nichts«, fuhr Brilys mit zittriger Stimme fort.

»Müsst ihr nicht essen und trinken?« Yanil hätte vor Verwunderung beinahe vergessen, die Ratte über dem Feuer zu wenden. Er verbrannte sich die Finger an dem Spieß.

»Doch, aber ich denke, es war Vyruks Absicht, uns so leiden zu lassen. Ein Druckmittel. Er hat mit göttlicher Magie dafür gesorgt, dass wir nicht starben. Hunger und Durst hatten wir trotzdem.« Eine Träne löste sich aus Brilys Augenwinkel und tropfte auf den Boden. Yanil fühlte sich unbehaglich, er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Brilys war ein fröhlicher und stets zu Scherzen aufgelegter Mann. Ihn so gebrochen zu sehen, bescherte Yanil eine Welle der Übelkeit.

»Ich habe Frau und Kind in der Wüste zurückgelassen. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch leben. Vyruk hat unser Heimatland verlassen, um mit uns in den Krieg zu ziehen. Da sein magischer Einfluss auch mich seit ein paar Tagen verlassen hat, muss ich davon ausgehen, dass es den Zurückgebliebenen in der Heimat nicht anders ergeht. Sie sind sicherlich verdurstet.« Seine Stimme brach, er nestelte an seiner Gürteltasche herum und zog das geschnitzte Pferd hervor. »Mein einziges Andenken an sie.«

Yanil legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Hat Vyruk euch zu diesem Krieg gezwungen, indem er euch die Nahrung verweigert hat?«

Brilys senkte den Blick und wischte sich mit dem Handrücken über das tränennasse Gesicht. »Unter anderem, ja. Aber sein Einfluss ist noch sehr viel größer. In seiner Nähe kann ich nicht einmal klar denken. Es ist, als seien wir nichts als Bauern auf seinem Schachfeld. Ich möchte diesen Krieg nicht, Yanil. Und ich fürchte mich vor dem Moment, wenn ich meine Truppe wiederfinde. Es wird mich erneut in den Strudel aus Hass hinabziehen und mich vergessen lassen, was ich tue. Aber noch mehr als davor habe ich Angst vor Vyruks Zorn, davor, was er meiner Familie antun könnte, wenn ich mich verweigere.« Er atmete tief ein und ließ die Luft als Seufzer entweichen. »Manche von uns kämpfen aus Überzeugung. Ich möchte es nicht so aussehen lassen, als seien wir alle unschuldige Lämmer. Dieses Land verspricht Wohlstand und Reichtum. Ein besseres Leben. Es lohnt sich, darum zu kämpfen. Sogar einige deiner Rasse haben die Seite gewechselt.«

Entsetzen durchflutete Yanil. Seine Beine zitterten und er war froh, bereits zu sitzen, andernfalls hätten seine Knie unter ihm vermutlich nachgegeben. Die Khaleri kämpften tatsächlich an der Seite eines wahrhaftigen Gottes? Das würde bedeuten, dass der Krieg für die Mazari kaum zu gewinnen war. Der Feind kannte weder Hunger noch Schmerz, stand unter magischem Einfluss. Wie sollte man gegen einen solchen Gegner bestehen? Kein Wunder, dass sich ihnen einige Mazari angeschlossen hatten. Das versprach zumindest den Hauch einer Chance, den Krieg zu überleben. Mehr denn je reizte ihn der Gedanke, sich den Rest seines Lebens im Wald zu verstecken.

Für einen langen Zeitraum sagte niemand etwas. Sie aßen schweigend vor der fettigen Ratte und hingen ihren Gedanken nach. Erst als sie sich zum Schlafen hinlegten, ergriff Brilys noch einmal das Wort.

»Glaubst du, Gott hat uns zusammengeführt?« Er räusperte sich, seine Stimme klang belegt.

»Gott? Sprichst du von Eyzan, dem Obersten?« Yanil starrte in den Himmel und betrachtete die Sterne. Es war eine warme, wolkenfreie Nacht. »Wer versteht schon das Spiel der Götter? Ich habe den Glauben an alles verloren.«

Er drehte sich auf die Seite und schloss die Augen, aber es dauerte lange, ehe ihn der Schlaf übermannte.

 

***

 

Stimmen weckten ihn. Zuerst glaubte Yanil, er würde träumen, aber mit einem Mal fühlte er sich hellwach. Er lag auf der Seite, ein spitzer Stein stach ihm unbequem in den Beckenknochen. Er schlug die Augen auf. Die Sonne schien durch die Wipfel des Birkenhains, der an die Wiese grenzte, auf der Brilys und er das Nachtlager aufgeschlagen hatten. Knöchelhohe Nebelschwaden waberten über das Gras, Feuchtigkeit stieg auf. Es war noch früher Morgen.

Wieder Stimmen, diesmal lauter. Yanil konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber es handelte sich um Männer. Ihr Tonfall schien ausgelassen. Er drehte sich herum und blickte in die Augen von Brilys, der ebenfalls auf der Seite lag und ihn entsetzt ansah. Beinahe zeitgleich fuhren sie auf.

»Hörst du das auch?«, fragte Brilys im Flüsterton. Der Farbe seines Gesichts zu entnehmen, freute er sich nicht darüber, Gesellschaft zu bekommen. Er war bleich wie der Tod.

Yanil lauschte. Vögel zwitscherten, Wasser plätscherte, Blätter rauschten. Und dann wieder – Stimmen. Sie kamen näher.

Ruckartig sprang Yanil auf die Füße, was Brilys wegen seines verletzten Knöchels nicht gelang. Panisch sah Yanil sich um, suchte nach einer Fluchtmöglichkeit. Er hörte Äste im Unterholz knacken, ganz in der Nähe. Er betete, dass die Eindringliche verschwinden und einen anderen Weg einschlagen würden, aber anscheinend beabsichtigten sie die Wiese zu überqueren, auf der sie rasteten. Seltsam – vor ein paar Tagen hatten sie noch fest beabsichtigt, auf andere Menschen zu stoßen, und jetzt ängstigte ihn die Vorstellung.

»Wer ist das?« Brilys Stimme klang gepresst und dünner als sonst.

»Ich weiß es nicht«, knurrte Yanil. »Wir haben doch doch die ganze Zeit den Anschluss an unsere Truppen gesucht, und ich fürchte, hier ist er.«

»Sind das Khaleri?«

»Davon gehe ich fest aus.« Yanil wandte sich ab und machte einen Satz in Richtung Birkenwald. Dahinter stand eine alte knorrige Eiche, deren tief hängende Äste sich hervorragend eigneten, in die Krone hinaufzuklettern. Mit einem entschuldigenden Blick drehte er sich noch einmal über die Schulter hinweg um. Brilys flehender Gesichtsausdruck versetzte ihm einen Stich. Er würde nicht fliehen können mit seinem lahmen Bein. Ein Zusammentreffen mit den Fremden war für ihn unausweichlich.

Gelächter ertönte. Mindestens drei Männer befanden sich unmittelbar hinter einem Brombeergebüsch, das den Rand der Wiese umsäumte.

»Lass mich nicht allein! Ich möchte nicht zurück.«

Niemals zuvor hatte Yanil einen derart verzweifelten Mann gesehen. Was war los mit Brilys? Es hätte ihm klar sein müssen, dass sich ihre Wege irgendwann trennen würden. Nun, dass es schon so bald sein würde, damit hatte auch Yanil nicht gerechnet. Aber es war unvermeidlich.

Er machte einen Sprung nach vorne und griff ins Geäst der Eiche. Ein scharfer Schmerz fuhr ihm in den Arm, aber zu seiner Verwunderung konnte er dennoch fest zupacken und fiel nicht zurück auf sein Hinterteil. Leichtfüßig wie eine Katze schwang er sich einen Ast hinauf. Er legte sich flach darauf.

Zum Glück habe ich Zeit meines Lebens kaum etwas anderes getan, als in Bäumen herumzuklettern.

Durch das Laub beobachtete er, wie drei Männer auf die Wiese stießen. Als sie Brilys erblickten, verstummten ihre Gespräche. Sie blieben stehen, sagten etwas zu ihm, aber Yanil konnte ihre Worte nicht verstehen. Sie trugen die schmucklose Kleidung der Khaleri, an ihren Gürteln baumelten Schwerter. Sie hatten sich die Haare im Nacken zusammengebunden. Vermutlich waren es Kundschafter, die ihrer Truppe vorausgingen, um einen sicheren Weg durch das Gelände zu suchen.

Brilys drehte noch einmal den Kopf in Yanils Richtung, suchte mit zuckenden Blicken die Bäume ab, entdeckte ihn aber nicht. Einer der Khaleri fasste um seine Taille, um ihn zu stützen, widerwillig schlang Brilys seinen Arm um dessen Schultern. Binnen weniger Augenblicke waren sie hinter dem Brombeergebüsch verschwunden, ihre Stimmen wehten noch eine Weile zu Yanil herüber, ehe es still wurde. Erst jetzt bemerkte er, dass seine Hände sich so fest um einen Ast krallten, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Er schwitze am Rücken, sein Atem ging stockend. Er rang mit den Tränen. Das war also der Abschied. Schnell, aber nicht unbedingt schmerzlos. Er war wieder allein.