BOWDEN CABLES

-Tagebuch eines LitAg

Zwanzig Sekunden nach Janes Entführung bemerkte die erste

Leserin merkwürdige Vorgänge auf Seite 107 der ledergebundenen

Luxusausgabe ihres Lieblingsromans. Nach einer halben Stunde

bildeten sich vor den Eingängen zur Bibliothek des Britischen

Museums lange Schlangen von Literaturfreunden, die alle nach Jane

Eyre fragten. Nach zwei Stunden bombardierten besorgte Brontë-Fans

sämtliche LitAg-Dienststellen des Landes mit Anrufen. Nach vier

Stunden sprach der Vorsitzende der Brontë-Gesellschaft beim

Premierminister vor. Am frühen Abend telefonierte der persönliche

Sekretär des Premierministers mit dem SpecOps-Chef. Um neun Uhr

las der SpecOps-Chef dem armen Braxton Hicks gehörig die Leviten.

Gegen zehn erhielt Hicks einen Anruf vom Premierminister

persönlich, der wissen wollte, was zum Teufel er in dieser

Angelegenheit zu unternehmen gedenke. Hicks stammelte wenig

Hilfreiches in den Hörer. Inzwischen hatte die Presse Wind davon

bekommen, daß die Fäden der Ermittlungen im Fall Jane Eyre in

Swindon zusammenliefen, und um Mitternacht umringten betroffene

Leser, Journalisten und die Übertragungswagen der

Nachrichtensender das SpecOps-Gebäude.

Hicks’ Laune war alles andere als gut. Er hatte angefangen, Kette zu

rauchen, und sich stundenlang in seinem Büro eingeschlossen. Nicht

- 316 -

einmal sein geliebtes Golftraining vermochte seine Nerven zu

beruhigen, und kurz nachdem er den Anruf des Premierministers

erhalten hatte, zitierte er Victor und mich zu einer Besprechung aufs

Dach, wo er hoffte, den neugierigen Blicken der Presse-und GoliathLeute, vor allem aber der Überwachung durch Jack Schitt entzogen zu

sein.

»Sir?« sagte Victor, als wir uns dem Commander näherten, der an

einem bröckelnden Schornstein lehnte. Hicks starrte derart entrückt

auf die Lichter Swindons hinab, daß ich es mit der Angst zu tun

bekam. Die Brüstung war kaum zwei Meter entfernt, und einen

bangen Augenblick lang glaubte ich gar, er wolle allem ein Ende

machen und sich vom Dach stürzen.

»Schaut sie euch an«, murmelte er.

Uns fiel ein Stein vom Herzen, als wir erkannten, daß er nur hier

heraufgekommen war, damit er die Menschen sehen konnte, deren

Wohl zu mehren seine Abteilung einst geschworen hatte. Zu

Tausenden harrten sie hinter Absperrgittern aus und belagerten

schweigend das Revier, in der Hand flackernde Kerzen und alle

möglichen Ausgaben von Jane Eyre. Der Roman war inzwischen

erheblich entstellt: Irgendwo zwischen Seite 100 und 140, unmittelbar

nach dem Brand in Rochesters Zimmer drang ein mysteriöser »Agent

in Schwarz« in den Roman ein, und kurz danach brach die Geschichte

abrupt ab.

Der Commander hielt sein Exemplar von Jane Eyre hoch. »Ich

nehme an, Sie haben es gelesen?«

»Da gibt es nicht mehr viel zu lesen«, sagte Victor. » Eyre ist in der

ersten Person geschrieben; sobald die Protagonistin verschwunden ist,

weiß keiner, wie es weitergeht. Ich befürchte, daß Rochester noch

schwermütiger wird, als er es ohnehin schon war, Adele auf ein

Internat schickt und sich in seinem Haus verschanzt.«

Hicks warf ihm einen erbosten Blick zu.

»Das ist reine Spekulation, Analogy.«

»Das ist unsere Spezialität.«

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Hicks seufzte.

»Ich soll sie wiederbringen, dabei habe ich keinen Schimmer, wo sie

steckt! Hatten Sie vor dieser Sache eine Ahnung, wie beliebt Jane

Eyre ist?«

Wir sahen auf die Menge hinab.

»Ehrlich gesagt, nein.«

Die Zurückhaltung unseres Chefs war dahin. Er wischte sich die

Stirn; seine Hand zitterte merklich. »Was soll ich bloß machen? Es ist

zwar noch nicht amtlich, aber wenn wir in dieser verfluchten

Angelegenheit bis nächsten Donnerstag keine deutlichen Fortschritte

gemacht haben, übernimmt Jack Schitt unseren Laden.«

»Schitt interessiert sich nicht für Jane«, sagte ich und folgte seinem

Blick hinunter zu den Unmengen von Brontë-Fans. »Ihm geht es nur

um das ProsaPortal.«

»Wem sagen Sie das, Next? Mir bleiben noch sieben Tage, bis ich

der Vergessenheit anheimfalle, sieben Tage bis zu meiner historischen

und literarischen Verdammung. Ich weiß, daß wir uns nicht immer

einig waren, aber hiermit stelle ich Ihnen ausdrücklich frei, zu tun,

was Sie für richtig halten. Und«, setzte er großmütig hinzu, »Geld

spielt dabei keine Rolle.« Er atmete tief durch. »Was natürlich nicht

heißt, daß Sie es mit vollen Händen zum Fenster hinauswerfen sollen,

ja?«

Wieder ließ er den Blick über Swindon schweifen. »Ich bin ein

ebenso leidenschaftlicher Brontë-Fan wie jeder andere, Victor. Was

soll ich bloß tun? Was würden Sie sagen?«

»Ich würde seine Forderungen erfüllen, ohne Goliath etwas davon

zu sagen. Außerdem brauche ich ein Manuskript.«

Hicks’ Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Was für ein

Manuskript?«

Victor gab ihm einen Zettel. Braxton las es und zog die

Augenbrauen hoch.

»Das besorge ich Ihnen«, sagte er langsam, »und wenn ich es

eigenhändig stehlen muß.«

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31.

In der Volksrepublik Wales

Ironischerweise wäre Wales ohne die blutige

Niederschlagung der Aufstände von Pontypool, Cardiff

und Newport im Jahre 1839 vermutlich nie eine Republik

geworden. Mit Unterstützung der Großgrundbesitzer und

infolge der allgemeinen Entrüstung über die Ermordung

von 236 wehrlosen Walisern und Waliserinnen konnten

die Chartisten die Regierung zu einer raschen

Parlamentsreform bewegen. Vom Erfolg beflügelt und im

Plenum zahlreich vertreten, gelang es ihnen, Wales nach

dem achtmonatigen »Großen Streik« von 1847

weitestgehende Autonomie zu verschaffen. 1854 erklärte

Wales unter der Führung von John Frost schließlich seine

Unabhängigkeit. Die komplizierte Lage in Irland und auf

der Krim machte es England quasi unmöglich, gegen die

zu allem entschlossenen, kampferprobten Waliser

vorzugehen. Die Handelsbeziehungen waren gut, und,

bereits ein Jahr später trat die Devolution, verbunden mit

einem anglo-walisischen Nichtangriffspakt, endgültig in

Kraft.

ZEPHANIA JONES,

Wales – Geburt einer Republik

Seit der Schließung der anglo-walisischen Grenze im Jahre 1965

fungierte die A4 von Chepstow nach Abertawe als

Wirtschaftskorridor, den nur Geschäftsleute und Fernfahrer passieren

durften, um in der Stadt Handel zu treiben oder im Hafen Frachtgut zu

laden. Rechts und links der A4 standen hohe Stacheldrahtzäune, die

den Besuchern deutlich machen sollten, daß es streng verboten war,

die vorgeschriebene Strecke zu verlassen.

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Abertawe galt als »Freihandelszone«. Die Steuern waren niedrig,

und Zölle gab es fast überhaupt keine. Bowden und ich fuhren

langsam ins Zentrum; die gläsernen Türme der Großbanken entlang

der Küstenstraße waren die steingewordenen Symbole einer

Freihandelsphilosophie, die, obgleich durchaus profitabel, keineswegs

bei allen Walisern auf Begeisterung stieß. Der Rest der Republik war

eher schmucklos und traditionell; in manchen Gegenden hatte sich das

kleine Land in den vergangenen hundert Jahren so gut wie gar nicht

verändert.

»Und jetzt?« fragte Bowden, als wir vor der Goliath First National

Bank hielten. Ich klopfte auf die Aktentasche, die Braxton mir am

Abend zuvor gegeben hatte. Er hatte mich gebeten, sparsam mit dem

Inhalt umzugehen; wie es aussah, war dies unsere letzte Chance, bevor

Goliath uns die Zügel aus der Hand nahm.

»Besorgen wir uns eine Mitfahrgelegenheit nach Merthyr.«

»Sie würden das nicht sagen, wenn Sie keinen Plan hätten.«

»Meinen Sie, ich habe in London Däumchen gedreht, Bowden? Mir

schuldet noch jemand einen Gefallen. Hier entlang.«

Wir gingen an der Bank vorbei und bogen in eine kleine

Seitenstraße, wo sich ein Laden an den anderen reihte; hier gab es

Geldscheine, Orden, Münzen, Gold – und Bücher. Wir zwängten uns

an den Händlern vorbei, die sich überwiegend auf walisisch

unterhielten, und standen schließlich vor einem kleinen Antiquariat, in

dessen Schaufenstern sich vergilbte Folianten türmten, von

vergessener Weisheit schwer. Bowden und ich wechselten einen

nervösen Blick, atmeten tief durch, ich stieß die Tür auf, und wir

traten ein.

Im hinteren Teil des Ladens klingelte ein Glöckchen, und von

irgendwoher erschien ein hochgewachsener Mann mit wirrem grauem

Haar und krummem Rücken. Er beäugte uns mißtrauisch über den

Rand seiner Halbbrille hinweg, doch als er mich wiedererkannte, wich

sein Mißtrauen einem Lächeln.

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»Thursday, bach! « murmelte er und umarmte mich liebevoll. »Was

führt dich hierher? Du bist doch sicher nicht extra nach Abertawe

gekommen, um einen alten Mann zu besuchen, oder?«

»Ich brauche deine Hilfe, Dai«, sagte ich leise. »So dringend wie

noch nie.«

Er hatte vermutlich die Nachrichten verfolgt, denn er verstummte

auf der Stelle. Er nahm einem potentiellen Kunden freundlich einen

frühen Gedichtband von R. S. Thomas aus der Hand und

komplimentierte ihn unter dem Vorwand, der Laden werde gleich

geschlossen, zur Tür hinaus, bevor der Lyrikfreund auch nur daran

denken konnte, sich zu beschweren.

»Das ist Bowden Cable«, erklärte ich, während der Buchhändler

absperrte. »Er ist mein Partner; wenn du mir vertraust, kannst du auch

ihm vertrauen. Bowden, das ist Manuskripte-Jones, mein walisischer

Kontaktmann.«

»Aha!« rief der Buchhändler und schüttelte Bowden herzlich die

Hand. »Thursdays Freunde sind auch meine Freunde. Das ist BücherHaelwyn«, stellte er uns seine schüchtern lächelnde Assistentin vor.

»Nun, meine kleine Thursday, was kann ich für dich tun?«

Ich zögerte. »Wir müssen nach Merthyr Tydfil …«

Der Buchhändler lachte nervös.

»… heute noch«, setzte ich hinzu.

Er hörte auf zu lachen, verschwand hinter dem Ladentisch und

rückte gedankenverloren einen Bücherstapel zurecht.

»Dein Ruf eilt dir voraus, Thursday. Wie man hört, bist du auf der

Suche nach Jane Eyre. Wie man hört, hast du ein gutes Herz – du hast

dem Bösen mutig die Stirn geboten, und du hast überlebt.«

»Und was hört man sonst so?«

»Daß tiefe Finsternis die Täler erfüllt«, fuhr Haelwyn mit

unheilschwangerer Stimme dazwischen.

»Danke, Haelwyn«, sagte Jones. »Der Mann, den du suchst …«

- 321 -

»… und daß Rhondda seit Wochen unter dunklen Wolken liegt«,

fuhr Haelwyn fort, die offenbar noch nicht fertig war.

»Das reicht, Haelwyn«, befahl Jones. »Hinten liegen noch ein paar

neue Exemplare von Cold Comfort Farm, die nach Llan-dod

verschickt werden müssen, hmm?«

Haelwyn ging mit beleidigter Miene davon.

»Was hältst du davon, wenn …«, begann ich.

»… und die Kühe geben saure Milch!« rief Haelwyn hinter einem

Bücherregal hervor. » Und in Merthyr spielen seit Tagen die

Kompasse verrückt!«

»Beachtet sie gar nicht«, entschuldigte sich Jones. »Sie liest zu viele

Bücher. Aber wie soll ich euch helfen? Ich, ein alter Buchhändler

ohne Verbindungen?«

»Ein alter Buchhändler mit walisischer Staatsbürgerschaft und

Reisefreiheit braucht keine Verbindungen, um zu fahren, wohin er

will.«

»Moment mal, Thursday, bach; du willst, daß ich euch persönlich

nach Merthyr hineinschmuggeln soll?«

Ich nickte. Jones war meine letzte und einzige Chance. Leider gefiel

ihm mein Plan nicht halb so gut, wie ich gehofft hatte.

»Und warum sollte ich das tun?« fragte er in scharfem Ton. »Weißt

du, was auf so etwas steht? Ich bin ein alter Mann. Soll ich meine

Tage etwa in einer Zelle auf Skokholm beenden? Das ist zuviel

verlangt. Ich bin vielleicht verrückt – aber nicht dumm.«

Ich hatte gewußt, daß er das sagen würde.

»Wenn du uns hilfst«, begann ich und griff in meine Aktentasche,

»gebe ich dir … das

Ich legte das Blatt vor ihm auf den Ladentisch; Jones holte tief Luft

und sank mit einem schweren Seufzer auf einen Stuhl. Er brauchte es

sich nicht aus der Nähe anzusehen; er wußte auch so, was er da vor

sich hatte.

»Wo … wo hast du das her?« fragte er mich argwöhnisch.

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»Der englischen Regierung ist die Rückgabe von Jane Eyre sehr

wichtig – so wichtig, daß sie zu einem Tauschhandel bereit ist.«

Er beugte sich vor und betrachtete das Blatt. Dort, in all ihrer Pracht,

lag eine frühe, handschriftliche Fassung von I See the Boys of

Summer, dem ersten Gedicht der Sammlung 18 Poems, die Dylan

Thomas’ literarisches Debüt markierte; Wales hatte schon vor langer

Zeit die Rückgabe verlangt.

»Das gehört nicht einem einzelnen, sondern der ganzen Republik«,

befand der Buchhändler schließlich. »Es ist unser gemeinsames Erbe.«

»Einverstanden«, antwortete ich. »Du kannst mit dem Manuskript

machen, was du willst.«

Doch Manuskripte-Jones ließ sich nicht überreden. Er hätte uns

selbst dann nicht nach Merthyr gebracht, wenn ich Unter dem

Milchwald auf den Tisch des Hauses gelegt hätte, und Richard Burton

als Vorleser noch dazu.

»Thursday, das ist einfach zuviel verlangt!« jammerte er. »Die

Gesetze hier sind sehr streng! Die HeddluCyfrinach hat ihre Augen

und Ohren überall …!«

Meine Stimmung sank. »Ich verstehe, Jones – trotzdem danke.«

»Ich bringe Sie nach Merthyr, Miss Next«, fuhr Haelwyn

dazwischen und fixierte mich mit einem schiefen Lächeln.

»Das ist zu gefährlich«, protestierte Jones. »Ich verbiete es!«

»Klappe!« rief Haelwyn. »Ich kann dein Gerede nicht mehr hören.

Tag für Tag lese ich Abenteuer – jetzt kann ich endlich mal eins

erleben. Außerdem haben gestern abend die Straßenlaternen geflackert

das war ein Zeichen

Wir saßen im Hinterzimmer des Antiquars, bis die Dunkelheit

hereinbrach, und verbrachten dann eine höchst unbequeme Stunde im

lauten, ungefederten Kofferraum von Bücher-Haelwyns Griffin-12.

An der Grenze der Freihandelszone hörten wir das Gemurmel der

walisischen Beamten, und auf der Fahrt über die mit Schlaglöchern

gespickte Straße nach Merthyr wurden wir gnadenlos

durchgeschüttelt. Kurz vor der Hauptstadt passierten wir einen

- 323 -

zweiten Kontrollpunkt; das war ungewöhnlich – anscheinend hatten

die Truppenbewegungen der Engländer das Militär nervös gemacht.

Kurz darauf hielt der Wagen an, und der Kofferraum sprang knarrend

auf. Haelwyn ließ uns aussteigen, und wir streckten uns unter

Schmerzen, kein Wunder, nach der beengten Fahrt.

Haelwyn wies uns den Weg zum Penderyn-Hotel, und ich sagte ihr,

wenn wir bis Tagesanbruch nicht zurück seien, würden wir auch nicht

mehr kommen. Sie schüttelte uns grinsend die Hand, wünschte uns

viel Glück und fuhr davon, um ihre Tante zu besuchen.

Zur gleichen Zeit saß Hades pfeifeschmauchend in der

menschenleeren Bar des Penderyn-Hotel und genoß den Blick aus den

großen Panoramafenstern. Hinter dem hell erleuchteten Justizpalast

war der Vollmond aufgegangen und ließ die alte, von flirrenden

Lichtern und reger Betriebsamkeit erfüllte Stadt in kühlem Glanz

erstrahlen. Die Gipfel der Berge, die hinter dem Häusermeer

aufragten, verschwanden in dichten Wolken. Jane balancierte am

anderen Ende des Schankraums auf der Kante ihres Stuhls und

funkelte Hades wütend an.

»Eine herrliche Aussicht, finden Sie nicht auch, Miss Eyre?«

»Sie verblaßt neben dem Blick aus meinem Fenster in Thornfield,

Mr. Hades«, antwortete Jane mit spitzer Stimme. »Zwar könnte ich

mir durchaus schönere denken, doch war er mir ans Herz gewachsen

wie ein alter Freund, zuverlässig und beständig. Ich verlange,

unverzüglich dorthin zurückgebracht zu werden.«

»Alles zu seiner Zeit, meine Liebe, alles zu seiner Zeit. Von mir

haben Sie nichts zu befürchten. Wenn ich mein Geld habe, dürfen Sie

zurück zu Ihrem Edward.«

»Die Habgier wird Ihnen noch einmal das Genick brechen, Sir«,

entgegnete Jane gelassen. »Sie glauben vermutlich, daß das viele Geld

Sie glücklich machen wird, aber Sie irren. Glück und Zufriedenheit

ziehen das reiche Mahl der Liebe der mageren Kost des Geldes vor.

Die Liebe zum Geld ist die Wurzel allen Übels!«

Acheron lächelte.

- 324 -

»Sie haben ja keine Ahnung, wie dumm Sie sind, Jane, Sie und Ihr

puritanisches Getue. Sie hätten mit Rochester fortgehen sollen, statt

sich an einen Schlappschwanz wie St. John Rivers zu verschwenden.«

»Rivers ist ein braver Mann!« widersprach Jane wütend. »Frommer

und tugendhafter, als Sie es sich je könnten träumen lassen.«

Das Telefon klingelte, und Acheron brachte Jane mit einer

Handbewegung zum Schweigen. Es war Delamare; er sprach aus einer

Telefonzelle in Swindon.

»Schlappohrige Kaninchen in fürsorgliche Obhut abzugeben«, las er

ihm eine Kleinanzeige aus dem Mole vor. Lächelnd legte Hades auf.

Na, wer sagt’s denn, dachte er, die Behörden spielen also doch mit. Er

winkte Felix8, und sein neuer Handlanger packte die sich vergeblich

sträubende Jane Eyre am Arm und zerrte sie hinter sich aus der Tür.

Bowden und ich hatten ein Fenster aufgebrochen und standen in den

finsteren Eingeweiden des Hotels. Der feuchte, heruntergekommene

Raum voller klobiger Gerätschaften zur Essenszubereitung mußte

wohl früher die Küche gewesen sein.

»Wohin jetzt?« zischte Bowden.

»Nach oben – sie sind bestimmt in einem Ballsaal oder so.«

Ich knipste eine Taschenlampe an und warf einen Blick auf unseren

hastig skizzierten Plan. Da es zu riskant gewesen wäre, nach den

Originalzeichnungen zu suchen, solange Goliath uns auf Schritt und

Tritt bewachte, hatte Victor den Grundriß des Gebäudes aus dem

Gedächtnis rekonstruiert. Ich stieß eine Schwingtür auf, und wir

befanden uns im Souterrain. Über uns lag die Empfangshalle. Im

trüben Licht der Straßenlaternen, das durch die schmutzigen Fenster

hereinfiel, stiegen wir vorsichtig die stockfleckige Marmortreppe

hinauf. Wir waren fast am Ziel, das spürte ich. Ich zog meine

Automatik; Bowden tat es mir nach. Ich warf einen Blick in die

Lobby. Eine Messingbüste von Y Brawd Ulyanov nahm den

Ehrenplatz in der riesigen Lobby ein, gleich gegenüber den

verrammelten Türen. Links war der Eingang zu Bar und Restaurant

und rechts der alte Empfangstisch; über uns führte eine imposante

Treppe zu den Ballsälen hinauf. Bowden tippte mir auf die Schulter

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und deutete zur Tür des Hauptsalons. Sie war angelehnt, und durch

den Spalt schimmerte ein schmaler Streifen orangefarbenen Lichts.

Wir wollten uns eben in Bewegung setzen, als wir von oben Schritte

hörten. Wir zogen uns in den Schatten zurück und verharrten mit

angehaltenem Atem.

Eine kleine Prozession kam die breite Marmortreppe herunter.

Angeführt wurde sie von einem Mann, den ich als Felix8 erkannte; in

der einen Hand hielt er einen Kerzenleuchter, die andere

umklammerte das Handgelenk einer zierlichen Frau. Sie trug ein

viktorianisches Nachtgewand und einen Wintermantel um die

Schultern. Aus ihren – durchaus resolut wirkenden – Zügen sprachen

Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Der Mann hinter ihr warf im

Flackerschein der Kerzen keinen Schatten – Hades.

Wir sahen sie im Rauchsalon verschwinden. Rasch schlichen wir auf

Zehenspitzen quer durch die Halle zu der reichverzierten Tür. Ich

zählte bis drei, dann stießen wir sie auf und stürmten hinein.

»Thursday! Meine Liebe, wie vorhersehbar!«

Ich erstarrte. Hades thronte lächelnd auf einem riesigen Lehnsessel.

Mycroft und Jane saßen niedergeschlagen auf einer Chaiselongue.

Hinter ihnen stand Felix8 und hielt zwei Maschinenpistolen auf

Bowden und mich gerichtet. Vor ihnen befand sich das ProsaPortal.

Verflucht noch mal, wie hatte ich nur so naiv sein können? Wenn ich

Acherons Gegenwart spüren konnte, konnte er das umgekehrt

natürlich auch.

»Bitte lassen Sie Ihre Waffen fallen«, sagte Felix8. Er stand zu dicht

bei Mycroft und Jane, um einen Schuß zu riskieren; bei unserer letzten

Begegnung war er vor meinen Augen gestorben, und ich sprach den

ersten Gedanken aus, der mir in den Sinn kam.

»Habe ich Ihr Gesicht nicht schon mal irgendwo gesehen?«

Er ging nicht darauf ein.

»Ihre Waffen, bitte.«

»Damit Sie uns wie die Dodos abknallen können? Nichts zu

machen. Die behalten wir.«

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Felix8 rührte sich nicht vom Fleck. Da er seine MPs auf uns

gerichtet hielt, hatten wir ohnehin kaum eine Chance.

»Es scheint euch zu wundern, daß ich euch erwartet habe«, sagte

Hades, und ein Lächeln spielte um seine Lippen.

»Das könnte man sagen.«

»Das Blatt hat sich gewendet, Thursday. Ich dachte eigentlich, zehn

Millionen seien sehr viel Geld, bis jemand an mich herantrat, der mir

allein für die Maschine deines Onkels das Zehnfache bot.«

Mycroft rutschte verdrossen hin und her. Er hatte es sich längst

abgewöhnt, zu jammern oder zu lamentieren; das führte ohnehin zu

nichts. Er freute sich jetzt nur noch auf die kurzen Besuche bei Polly,

die man ihm ab und zu gewährte.

»Wenn das so ist«, sagte ich langsam, »können Sie Jane Eyre ja

wieder in ihr Buch zurückbringen.«

Hades dachte einen Augenblick nach.

»Warum nicht? Aber zuerst möchte ich dich mit jemandem bekannt

machen.«

Links von uns ging eine Tür auf, und herein kam Jack Schitt,

flankiert von drei seiner Leibwächter, die Plasmagewehre bei sich

trugen. Die Situation war alles andere als günstig. Ich raunte Bowden

eine halblaute Entschuldigung zu und sagte dann: »Goliath? Hier, in

Wales?«

»Dem Konzern stehen alle Türen offen, Miss Next. Wir kommen

und gehen, wie es uns gefällt.« Schitt setzte sich in einen verblichenen

roten Polstersessel und holte eine Zigarre hervor.

»Seit wann arbeitet Goliath mit Verbrechern zusammen?«

»Das ist eine relativistische Frage, Miss Next – extreme Situationen

erfordern extreme Maßnahmen. Ich bezweifle, daß Sie das verstehen.

Aber wir haben nun einmal sehr viel Geld zu unserer Verfügung, und

Acheron hat sich großzügigerweise bereit erklärt, uns Mr. Nexts

bemerkenswerte Erfindung zu überlassen.«

»Wozu?«

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»Wissen Sie, was das hier ist?« fragte Schitt und schwenkte die

klobige Waffe, die er auf uns gerichtet hielt.

»Ein Plasmagewehr.«

»Exakt. Ein tragbares Ein-Mann-Feldartilleriegeschütz, das genau

dosierbare Mengen reiner, komprimierter Energie abfeuert. Es ist ohne

weiteres in der Lage, aus hundert Meter Entfernung eine dreißig

Zentimeter dicke Panzerplatte zu durchschlagen; Sie werden mir

hoffentlich recht geben, wenn ich behaupte, daß jedes Landheer dieser

Welt damit praktisch unbesiegbar ist.«

»Falls Goliath liefern kann …«, wandte Bowden ein.

»Die Dinge liegen ein klein wenig komplizierter, Officer Cable«,

entgegnete Schitt. »Die Sache ist nämlich die – es funktioniert nicht.

Wir haben fast eine Milliarde in die Forschung gesteckt, und trotzdem

funktioniert das Mistding nicht. Schlimmer noch, seit kurzem steht

eindeutig fest, daß es auch niemals funktionieren wird; weil diese

Technologie überhaupt nicht funktionieren kann.«

»Aber die Krim steht kurz vor einem Krieg!« stieß ich wütend

hervor. »Was passiert, wenn die Russen dahinterkommen, daß die

neue Technologie bloß ein Bluff ist?«

»Sie werden nicht dahinterkommen«, antwortete Schitt. »Denn auch

wenn unsere Technologie hier draußen nicht funktioniert, da drin

funktioniert sie zweifellos.«

Er streichelte das ProsaPortal und beobachtete Mycrofts genetisch

manipulierte Bücherwürmer. Im Augenblick ruhten sie friedlich in

ihrem Goldfischglas. Sie hatten soeben eine gehörige Portion

Präpositionen verdaut & furzten nun munter Et-Zeichen und

Apostrophe; sie l’g’n g’r’d’zu in d’r Luft. Schitt hielt ein Buch hoch.

Es zeigte auf dem Umschlag einen heroischen, halbnackten Soldaten

mit gewaltigen Muskeln und darunter den martialischen Titel: Das

Plasmagewehr auf dem Schlachtfeld. Ich warf einen Blick zu Mycroft

hinüber; der nickte traurig.

»Sehen Sie, Miss Next?« Schitt lächelte & klopfte mit dem

Fingerknöchel auf das triviale Machwerk.

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»Hier drin funktioniert das Plasmagewehr tadellos. Wir brauchen

dieses kleine literarische Meisterwerk mit dem ProsaPortal nur zu

öffnen, dann können wir die Gewehre herausholen & ausliefern. Das

ist die Mutter aller Waffen, Miss Next.«

Damit meinte er nicht etwa das Plasmagewehr. Er zeigte auf das

ProsaPortal. Prompt rülpsten die Bücherwürmer erhebliche Mengen

unnötiger Großschreibungen.

»Was Die Menschliche Vorstellungskraft Fortan Auch Ersinnen

Mag, Wir Können Es Reproduzieren. Betrachten Sie Das Portal Nicht

Etwa Als Tor Zu Zahllosen Welten, Sondern – als dreidimensionalen

Fotokopierer. Mit Seiner Hilfe Können Wir Buchstäblich Alles

Herstellen; Sogar Ein Zweites Portal – im Palmtop-Format. 365 Mal

im Jahr Weihnachten, Miss Next.«

»Noch mehr Tote auf der Krim; hoffentlich können Sie nachts noch

ruhig schlafen, Schitt.«

»Im Gegenteil, Miss Next. Die Russen Werden Sich Vor Angst In

Die Hosen Machen, Wenn Sie Sehen, Was Das Stonk Alles Kann. Der

Zar Wird England Die Halbinsel Endgültig Überlassen; Eine Neue

Riviera, Wär Das Nicht Schön?«

»Schön? Massenhaft Sonnenliegen & Bettenburgen? Erbaut auf

einer Insel, die die Russen in spätestens fünfzig Jahren

zurückverlangen werden? Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, Schitt.

Und wenn Rußland ein eigenes Plasmagewehr hat, was dann?«

Jack Schitt blieb stur.

»Ach, Machen Sie Sich Deswegen Keine Sorgen, Miss Next, Ich

Werde Denen Doppelt Soviel Berechnen Wie Der Englischen

Regierung.«

»Hört, Hört!« warf Hades ein, der von Schitts Skrupellosigkeit

zutiefst beeindruckt zu sein schien.

»Hundert Millionen Dollar Für Das Portal, Thursday«, setzte er

atemlos hinzu, »& 50% vom Reinerlös!«

»Sie Eine Marionette Der Goliath Corporation, Acheron? Das Sieht

Ihnen Aber Ganz & Gar Nicht Ähnlich.« Voller Ärger stellte ich fest,

- 329 -

daß die Unnötigen Großschreibungen mich jetzt auch schon erfaßt

hatten.

Acherons Wangen bebten, doch er riß sich zusammen und

erwiderte: »Von Nichts Kommt Nichts, Thursday …«

Schitt beäugte ihn mißtrauisch. Er nickte einem seiner Männer zu,

worauf der eine kleine Panzerfaust auf Hades richtete.

»Die Gebrauchsanweisung, Hades.«

»Bitte!« flehte Mycroft. »Sie bringen die Würmer durcheinander!

Sie fangen an zu tren-nen!«

»Hal-ten S#e D’n M&, My-croft«, schnauzte Schitt. »Bit-te, H’-des,

Die G’-br’chs’n-wei-s’ng.«

»Guter Mann, v’n w’l-cher G’-br’chs-’n-wei-s’ng red’n S#e?«

»Mr. Hades!!!! Das Kl’-ne Art’lle-rie-geschütz Mei-n’s MitArbeiters Wird S’lbst #h-nen Kaum ’nt-gangen sein. Sie Ha-b’en

Mycrofts G’-br’chs-’n-wei-s’ng Für d’s Por-tal & Das G’-dicht, In

Dem S#e Mrs. Next Ge-fan-gen-hal-ten. Ge-b’n-S#e’s Mir.«

»Nein, Mr. Schitt. Geben S#e Mir Das Gewehr …«

Doch Schitt zuckte nicht mit der Wimper; die Macht, die Snood und

zahllosen anderen Menschen den Verstand geraubt hatte, konnte der

schwarzen Seele Schitts nichts anhaben. Hades klappte die Kinnlade

herunter. Jemand wie Schitt war ihm noch nicht begegnet, zumindest

seit dem ersten Felix nicht. Er lachte. »Sie Wa-g’n Es … Mich Über’s

Ohr Zu Hau-en?«

»S’lbst’ver-st’nd-lich. An-dern-falls Hät-t’n Sie Kei-nen R’s-pekt

Vor Mir, & Das Ist Kei-ne G’-s&e Basis Für Eine Funk-tio-nie-r’n-de

Part-ner-schaft.«

Hades sprang vor das ProsaPortal.

»& Ich Dach-te, Sie & Ich, Wir Sei-’n 1 Herz & 1 See-le …!« rief

er, legte das Originalmanuskript von Jane Eyre in die Maschine und

gab die Bücherwürmer dazu, die endlich aufhörten, zu rülpsen und zu

furzen, und sich an die Arbeit machten.

- 330 -

»Wirklich!« fuhr Hades fort. »Ich muß schon sagen, von Ihnen hatte

ich mehr erwartet. Ich dachte, wir wären Partner.«

»Aber früher oder später würden Sie alles für sich allein haben

wollen, Hades«, widersprach Schitt. »Vermutlich eher früher als

später.«

»Wie wahr.« Hades nickte Felix8 zu, der sofort das Feuer eröffnete.

Bowden und ich standen direkt in seiner Schußlinie; er konnte uns

unmöglich verfehlen. Mein Herz machte einen Satz, doch

komischerweise wurde die erste Kugel wie von unsichtbarer Hand

abgebremst und blieb knapp zehn Zentimeter von mir entfernt in der

Luft hängen. Sie war jedoch nur der Auftakt einer tödlichen Garbe

von Geschossen, die wie in Zeitlupe aus dem Lauf von Felix8s Pistole

drangen, dessen Mündung wie eine erstarrte Feuerchrysantheme

aussah. Ich blickte zu Bowden, der ebenfalls in der Flugbahn eines

Projektils stand; die glänzende Kugel hing dreißig Zentimeter von

seinem Kopf entfernt unbeweglich in der Luft. Doch er rührte sich

nicht von der Stelle. Auf den zweiten Blick bemerkte ich, daß

niemand im Raum sich bewegte. Mein Vater war ausnahmsweise

einmal genau im richtigen Moment erschienen.

»Komme ich ungelegen?« fragte Dad und blickte von der Tastatur

des verstaubten Flügels auf. »Ich kann auch wieder verschwinden,

wenn dir das lieber ist.«

»N-nein, Dad, das ist gut, echt gut«, stammelte ich.

Ich schaute mich um. Mein Vater blieb nie länger als fünf Minuten,

und wenn er wieder verschwand, würden die Kugeln ihr anvisiertes

Ziel mit ziemlicher Sicherheit treffen. Mein Blick fiel auf einen

schweren Eichen-Tisch. Ich kippte ihn um und stellte ihn auf die

Seite; Staub, Abfälle und Leek-U-Like-Kartons flogen nach allen

Seiten.

»Sagt dir der Name Winston Churchill etwas?« fragte mein Vater.

»Nein; wer soll das sein?« ächzte ich, während ich den schweren

Eichentisch vor Bowden schob.

- 331 -

»Aha!« sagte mein Vater und kritzelte etwas in ein Büchlein.

»Eigentlich sollte er England im letzten Krieg regieren, aber ich

glaube, er starb als Teenager bei einem Sturz. Ausgesprochen

peinlich.«

»War er etwa auch ein Opfer der französischen Revisionisten?«

Mein Vater gab keine Antwort. Seine Aufmerksamkeit galt der

Raummitte, wo Hades sich am ProsaPortal zu schaffen machte. Für

Menschen wie Hades stand die Zeit nur selten still.

»Bitte lassen Sie sich durch mich nicht stören!« rief Hades, als ein

Lichtstrahl aus dem Portal fiel und das Dunkel erhellte. »Ich

verschwinde in den Roman, bis diese unangenehme Situation vorüber

ist. Ich habe immer noch Polly und die Gebrauchsanweisung, wir

können also durchaus noch verhandeln.«

»Wer ist das?« fragte mein Vater.

»Acheron Hades.«

»Ach ja? Ich hatte ihn mir kleiner vorgestellt.«

Doch Hades war verschwunden; das ProsaPortal summte leise und

schloß sich dann hinter ihm.

»Ich muß noch ein paar Korrekturen vornehmen«, verkündete mein

Vater, stand auf und klappte sein Notizbuch zu. »Wie heißt es noch so

schön? Die Zeit wartet auf niemanden.«

Mir blieb gerade noch genügend Zeit, hinter einem großen Sekretär in

Deckung zu gehen, bevor die Welt wieder zum Leben erwachte. Der

Feuerstoß aus den Maschinenpistolen von Felix8 traf nicht Bowden,

sondern den zum Schutzschild umfunktionierten Eichentisch, und der

für mich bestimmte Geschoßhagel bohrte sich mit dumpfen Schlägen

in die Holztür, hinter der ich eben noch gestanden hatte. Binnen zwei

Sekunden schwirrten uns die Kugeln nur so um die Ohren, als auch

die Goliath-Leute zu den Waffen griffen, um Jack Schitt Feuerschutz

zu geben, der, voller Erstaunen darüber, daß Hades mitten im Satz

verschwunden war, den Rückzug in den alten Atlantic Grill anzutreten

versuchte.

- 332 -

Mycroft – und kurz darauf auch Jane – warfen sich zu Boden,

während Staub und Trümmer nach allen Seiten spritzten. Ich brüllte

Jane ins Ohr, sich nicht zu bewegen, als eine Kugel gefährlich dicht an

unseren Köpfen vorbeipfiff, Zierleisten von einem Möbelstück

sprengte und eine Staubwolke auf uns herabregnen ließ. Ich kroch ein

Stück, bis ich Bowden sehen konnte; er lieferte sich einen heftigen

Schußwechsel mit Felix8, der hinter einem umgestürzten

pseudogeorgianischen Tisch am Eingang zu den Palm Court Tea

Rooms in der Falle saß. Kaum hatte ich ein paar Schüsse auf die

Goliath-Leute abgegeben, die Schitt eilig nach draußen gezerrt hatten,

als die Ballerei ebenso unvermittelt aufhörte, wie sie begonnen hatte.

Ich lud nach.

»Felix8!« rief ich. »Noch können Sie sich ergeben! Ihr richtiger

Name ist Danny Chance. Ich verspreche Ihnen, daß wir unser

möglichstes tun werden, um …«

Plötzlich hörte ich ein merkwürdiges Glucksen und spähte um die

Rückenlehne des Sofas. Ich dachte, Felix8 sei verwundet, doch im

Gegenteil: Er lachte. Sein im großen und ganzen ausdrucksloses

Gesicht verzerrte sich vor Freude. Bowden und ich wechselten ratlose

Blicke, rührten uns aber nicht von der Stelle.

»Was ist daran so komisch?« brüllte ich.

»Habe ich Ihr Gesicht nicht schon mal irgendwo gesehen!« kicherte

er. »Jetzt hab ich’s kapiert!«

Er brachte seine Waffe in Anschlag und gab mehrere Schüsse auf

uns ab, während er sich rückwärts zur Tür hinausstahl und in der

dunklen Eingangshalle verschwand. Nun, da sein Herr und Meister

entkommen war, hatte er hier nichts mehr verloren.

»Wo ist Hades?« fragte Bowden.

»In Jane Eyre mitsamt der Gebrauchsanweisung für das Portal«,

antwortete ich und stand auf. »Behalten Sie das Ding im Auge – und

wenn er zurückkommt, benutzen Sie das hier.«

Ich reichte ihm die Panzerfaust. Plötzlich war Schitt wieder da. Von

der jähen Stille angelockt, stand er in der Tür.

- 333 -

»Hades?«

»Der ist in Jane Eyre

Schitt befahl mir, ihm das ProsaPortal auszuhändigen.

»Ohne die Gebrauchsanweisung werden Sie daran wenig Freude

haben«, sagte ich. »Wenn ich Hades aus Thornfield herausgeholt und

Mycroft meine Tante zurückgebracht habe, gehört die

Gebrauchsanweisung Ihnen. Entweder oder; Sie haben die Wahl. Ich

nehme Jane jetzt mit.«

Ich wandte mich an meinen Onkel. »Mycroft, bitte schick uns an die

Stelle zurück, wo Jane aus ihrer Kammer kommt, um den Brand in

Rochesters Zimmer zu löschen. Oder besser, noch ein kleines Stück

vorher. Als ob Jane nie aus dem Roman verschwunden wäre. Geht

das? Wenn ich zurückkommen will, gebe ich dir ein Zeichen.«

Jack Schitt rang die Hände und rief: »Welch süßer Wahn hält mich

umfangen?«

»Das ist das Zeichen«, sagte ich, »die Worte süßer Wahn. Wenn du

sie hörst, mußt du sofort das Tor aufmachen.«

»Sind Sie sicher, daß Sie wissen, was Sie tun?« fragte Bowden.

»Hundertprozentig«, sagte ich und half Jane auf die Beine. »Stell

bloß die Maschine nicht ab! So sehr mir das Buch auch gefällt, ich

habe keine Lust, meinen Lebensabend darin zu verbringen.«

Schitt knabberte an seiner Unterlippe. Ich hatte ihn ausgestochen. Er

konnte sein Blatt, wenn überhaupt, frühestens bei meiner Rückkehr

ausspielen.

Ich sah nach, ob meine Waffe noch geladen war, atmete tief durch

und nickte Jane zu.

Sie lächelte erwartungsvoll zurück.

Wir nahmen uns fest bei der Hand und traten durch das Tor.

- 334 -

32.

Heimkehr nach Thornfield Hall

Es war ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich

dachte, Thornfield Hall wäre viel größer und luxuriöser

eingerichtet. Es roch stark nach Bohnerwachs, und auf

dem Flur im oberen Stock war es eiskalt. Im ganzen Haus

brannte kaum ein Licht, und das Labyrinth von Gängen

schien sich in tiefer Finsternis zu verlieren. Es war

unwirtlich und düster. Am auffallendsten aber war die

Stille; die Stille einer Welt ohne Flugmaschinen, Verkehr

und große Städte. Das Industriezeitalter hatte gerade erst

begonnen; der Planet hatte sein Haltbarkeitsdatum noch

nicht überschritten.

THURSDAY NEXT

- Ein Leben für SpecOps

Die Landung brachte mich ziemlich aus dem Gleichgewicht: ein

greller Lichtblitz, gefolgt von sekundenlangem, ohrenbetäubendem

Rauschen. Ich fand mich auf dem Gang vor der Schlafkammer des

Hausherrn wieder, ein paar Zeilen über der Stelle, an der Hobbes

eingedrungen war. Das Feuer brannte lichterloh, und wie auf ein

Stichwort öffnete Jane ihre Tür, sprang mit Riesenschritten in

Rochesters Zimmer und goß einen Krug Wasser über das brennende

Bett.

Ich blickte mich rasch um, doch von Hades keine Spur; am anderen

Ende des Korridors brachte Grace Poole gerade die irre Bertha hinauf

in die Dachkammer. Die Verrückte wandte den Kopf und grinste

schwachsinnig. Grace Poole warf mir einen mißbilligenden Blick zu.

Mit einem Mal kam ich mir unendlich fremd vor; diese Welt war nicht

die meine, und ich gehörte nicht hierher.

Ich trat beiseite, als Jane aus Rochesters Zimmer stürzte, um frisches

Wasser zu holen; aus ihrer Miene sprach große Erleichterung.

- 335 -

Lächelnd riskierte ich einen Blick ins Zimmer. Jane hatte das Feuer

gelöscht, und Rochester fluchte, weil er in einer Wasserpfütze lag.

»Haben wir eine Überschwemmung?«

»Nein, Herr«, antwortete sie, »aber es hat gebrannt. Rasch, stehen

Sie auf; Sie sind ganz naß. Ich hole Ihnen eine Kerze.«

Rochester erblickte mich an der Tür und zwinkerte mir verstohlen

zu, bevor er von neuem eine bestürzte Miene aufsetzte.

»Bei allen Elfen der Christenheit, ist das nicht Jane Eyre?« fragte er

mit glänzenden Augen, als sie wiederkam. »Was hast du mit mir

gemacht …«

Ich trat vor die Tür, in der sicheren Gewißheit, daß sich das Buch zu

Hause von selbst umschreiben würde. Der Hinweis auf den »Agenten

in Schwarz« würde überschrieben werden, und mit ein wenig Glück

würde wieder Normalität einkehren, wenn sich Hades nicht

einmischte. Ich bückte mich nach der Kerze, die noch auf dem Boden

stand, und zündete sie wieder an. Jane kam aus Rochesters Zimmer,

bedachte mich zum Dank mit einem Lächeln, nahm mir die Kerze ab

und ging wieder hinein. Ich schlenderte den Flur entlang, betrachtete

ein schönes Bild von Landseer und ließ mich schließlich auf einem

von zwei Regency-Stuhl nieder.

Obwohl das Haus nicht allzu groß war, bot es Acheron zahlreiche

Möglichkeiten, sich zu verstecken. Ich sagte seinen Namen vor mich

hin, damit er wußte, daß ich da war, als plötzlich irgendwo im Haus

eine Tür knallte. Ich zog einen Fensterladen auf und erblickte Hades’

unverkennbare Gestalt, die im Mondschein über die Wiese lief. Ich

sah ihm nach, bis er in der Dunkelheit verschwand. Obwohl er auf den

Feldern praktisch unerreichbar für das Gesetz war, hatte ich jetzt die

Oberhand: Ich wußte, wie das ProsaPortal zu öffnen war, und er nicht.

Ich hielt es für äußerst unwahrscheinlich, daß er mir etwas antun

würde. Ich setzte mich wieder und dachte über Landen und Daisy

Mutlar nach, bis der Schlaf mich übermannte.

Ich fuhr hoch, als Rochesters Zimmertür aufging und Edward

erschien. Er hielt eine Kerze in der Hand und sprach an der Tür mit

Jane.

- 336 -

»… ich muß in das obere Stockwerk hinauf. Sei ruhig und rühr dich

nicht von der Stelle.«

Er tappte leise den Flur entlang und zischte: »Miss Next, sind Sie

da?«

Ich stand auf. »Hier, Sir.«

Rochester nahm mich am Arm und führte mich die Galerie entlang

zum Treppenabsatz. Dort blieb er stehen, stellte die Kerze auf einen

niedrigen Tisch und ergriff meine Hände.

»Ich danke Ihnen, Miss Next, ich danke Ihnen von ganzem Herzen!

Es hat mir regelrechte Höllenqualen bereitet, nicht zu wissen, ob und

wann meine geliebte Jane zurückkommen würde!«

Er sprach mit glühender, tief empfundener Leidenschaft; ich fragte

mich unwillkürlich, ob Landen mich je so geliebt hatte wie Rochester

seine Jane.

»Aber das war doch wohl das mindeste, Mr. Rochester«, sagte ich

glücklich, »nachdem Sie sich an dem Abend vor dem Lagerhaus so

rührend meiner Wunden angenommen haben.«

Er wischte meine Worte brüsk beiseite. »Wollen Sie gleich wieder

zurück?«

Ich blickte zu Boden. »Das ist leider nicht ganz so einfach, Sir.

Außer mir befindet sich noch ein Eindringling in diesem Buch.«

Rochester trat ans Geländer. Er sprach, ohne sich umzudrehen. »Er,

nicht wahr?«

»Sie kennen ihn?« fragte ich erstaunt zurück.

»Er hat viele Namen. Haben Sie einen Plan?«

Ich erklärte ihm das vereinbarte Zeichen und beharrte darauf, daß es

sicherer sei, wenn ich bis zum Ende des Romans in Thornfield bliebe.

Danach würde ich Hades mitnehmen – so oder so.

»Das Ende des Romans«, murmelte Rochester bedrückt. »Wie ich

diesen Schluß doch hasse. Allein der Gedanke, daß meine Jane mit

diesem erbärmlichen Feigling St. John Rivers nach Indien reist, läßt

mir das Blut in den Adern gefrieren.« Er gewann seine

- 337 -

Selbstbeherrschung zurück. »Aber bis dahin bleiben mir wenigstens

noch ein paar glückliche Monate. Kommen Sie, Sie haben doch gewiß

Hunger.« Er ging den Flur entlang und winkte mir, ihm zu folgen.

»Ich schlage vor, wir fangen ihn, wenn Jane abgereist ist, nach …«

– ihn schauderte bei dem Gedanken – »… nach der Hochzeit. Wir

werden dann ganz allein sein, weil sich mit Jane naturgemäß auch die

Handlung nach Moor House zu diesen albernen Verwandten verlagert.

Da ich im Buch dann nicht mehr vorkomme, können wir tun, was uns

beliebt, und ich bin durchaus geneigt, Ihnen zu helfen.

Doch wie Sie bereits ganz richtig sagten, dürfen Sie Jane auf keinen

Fall beunruhigen oder gar verwirren; dieses Buch ist in der ersten

Person geschrieben. Ich kann mich nur dann davonstehlen, um mit

Ihnen zu sprechen, wenn ich in der Geschichte keine Rolle spiele.

Aber Sie müssen mir versprechen, daß Sie Jane aus dem Weg gehen.

Mrs. Fairfax und Adele werde ich persönlich ins Vertrauen ziehen sie

werden Verständnis dafür haben. Die Dienstboten Mary und John tun

ohnehin das, was ich ihnen sage.«

Wir standen vor einer Tür, und Rochester klopfte energisch an. Erst

stöhnte jemand, dann tat es einen dumpfen Schlag, und schließlich

erschien eine reichlich aufgelöste Gestalt.

»Mrs. Fairfax«, sagte Rochester, »das ist Miss Next. Sie wird ein

oder zwei Monate bei uns wohnen. Ich möchte, daß Sie ihr etwas zu

essen holen und ein Bett bereiten; sie hat eine weite Reise hinter sich

und bedarf dringend der Stärkung und Ruhe. Es wäre schön, wenn Sie

mit niemandem über ihre Anwesenheit sprechen würden, und ich wäre

Ihnen dankbar, wenn Sie dafür Sorge tragen könnten, daß Miss Next

und Miss Eyre sich nicht begegnen. Ich brauche wohl nicht extra zu

betonen, wie wichtig mir das ist.«

Mrs. Fairfax musterte mich von Kopf bis Fuß, zeigte sich von

meinem Pferdeschwanz und meiner Jeans gleichermaßen bestürzt und

fasziniert, nickte und ging voran zum Speisezimmer.

»Wir unterhalten uns morgen weiter, Miss Next«, sagte Rochester,

und in seinem gramerfüllten Gesicht machte sich ein mattes Lächeln

breit. »Und ich möchte Ihnen nochmals danken.«

- 338 -

Er wandte sich um und überließ mich Mrs. Fairfax, die sogleich die

Treppe hinunterhastete und mich bat, im Speisezimmer zu warten, sie

werde mir etwas zu essen holen. Kurz darauf brachte sie mir etwas

Brot und kalten Braten. Ich aß gierig, während Pilot – der

hereingekommen sein mußte, als Hades das Haus verließ – mein

Hosenbein beschnüffelte und aufgeregt mit dem Schwanz wedelte.

»Er erinnert sich an Sie«, sagte Mrs. Fairfax verwundert, »aber

obwohl ich seit vielen Jahren hier in Diensten stehe, kann ich mich

nicht entsinnen, Sie schon einmal gesehen zu haben.«

Ich kraulte Pilot hinterm Ohr.

»Ich habe ihn einmal ein Stöckchen apportieren lassen. Bei einem

Spaziergang mit seinem Herrn.«

»Aha«, erwiderte Mrs. Fairfax mißtrauisch. »Und woher kennen Sie

Mr. Rochester?«

»Ich, äh, habe die Rochesters auf Madeira kennengelernt. Ich war

eine Freundin seines Bruders.«

»Aha. Furchtbar tragisch.« Ihre Augen verengten sich. »Dann

kennen Sie die Masons?«

»Nur flüchtig.«

Wieder warf sie einen verstohlenen Blick auf meine Jeans.

»Und wo Sie herkommen, tragen Frauen Hosen?«

»Sehr oft sogar, Mrs. Fairfax.«

»Und woher kommen Sie, wenn ich fragen darf? Aus London?«

»Nein. Von sehr weit her.«

»Ach!« rief Mrs. Fairfax und lächelte verschmitzt. »Aus Osaka,

nicht wahr?«

Nachdem sie mir das heilige Versprechen abgenommen hatte, daß

ich Pilot nicht füttern würde, eilte sie davon und ließ mich mit dem

Hund allein. Zehn Minuten später kam sie mit einem Teetablett

zurück und überließ mich dann eine weitere halbe Stunde mir selbst,

um mir ein Zimmer zurechtzumachen. Schließlich führte sie mich in

- 339 -

eine Kammer im ersten Stock mit einem herrlichen Ausblick. Ich hatte

darauf bestanden, daß Pilot bei mir blieb, und er schlief vor der

verschlossenen Tür, wohl weil er unbewußt spürte, in welcher Gefahr

ich schwebte. Ich schlief unruhig und träumte, daß Hades mich

auslachte.

Während ich schlief, hatten Victor und die Kollegen in der

Swindoner LitAg-Außenstelle die Rückkehr der Ich-Erzählerin in den

Roman gefeiert. Abgesehen von einer flüchtigen Bemerkung über die

Geräusche, die in der Nacht des Zimmerbrandes aus Mrs. Fairfax’

Kammer dringen, war alles mehr oder weniger genauso wie zuvor. Ein

Mitglied der Brontë-Gesellschaft überprüfte den Text, während der

sich selber schrieb und die letzten zweihundert Seiten füllte, die

tagelang leer gewesen waren. Der Brontë-Experte kannte den Roman

auswendig, und seine zufriedene Miene gab keinerlei Anlaß zur

Besorgnis.

Ich wurde wach, als Pilot an der Tür zu scharren begann, weil er

hinausgelassen werden wollte. Lautlos schob ich den Riegel zurück

und öffnete. Als ich Jane über den Flur huschen sah, machte ich die

Tür gleich wieder zu und schaute auf die Uhr. Es war noch nicht

einmal sechs, und die meisten Dienstboten schliefen noch. Nachdem

ich ein paar Minuten gewartet hatte, ließ ich Pilot hinaus und folgte

zögernd, immer auf der Hut, falls mir Jane über den Weg lief. Da die

meisten Hausbewohner den Vormittag damit zubringen würden, Mr.

Rochesters Kammer wiederherzurichten, wollte ich nach dem

Frühstück einen Spaziergang unternehmen, doch die Haushälterin

hielt mich zurück.

»Miss Next«, verkündete sie, »Mr. Rochester hat mich über die

Ereignisse der vergangenen Woche aufgeklärt, und ich möchte Ihnen

ebenfalls herzlich danken.« Obwohl ihre Stimme keinerlei

Gefühlsregung erkennen ließ, zweifelte ich nicht an ihrer

Aufrichtigkeit. Sie setzte hinzu: »Er hat mich beauftragt, das Haus

gegen Agenten zu sichern, die Miss Eyre etwas antun könnten.«

Ich sah aus dem Fenster; draußen stand ein Feldarbeiter mit einer

großen Spitzhacke Wache. Plötzlich warf er einen Blick ins Haus und

- 340 -

lief eilig davon. Gleich darauf trat Jane aus der Tür, nahm einen tiefen

Zug der frischen Morgenluft und ging wieder hinein. Sofort bezog der

Feldarbeiter von neuem seinen Posten.

»Miss Eyre darf unter keinen Umständen erfahren, daß wir sie

bewachen und beobachten«, mahnte Mrs. Fairfax.

»Verstehe.«

Mrs. Fairfax nickte und musterte mich prüfend. »Gehen Frauen dort,

wo Sie herkommen, ohne Kopfbedeckung aus dem Haus?«

»Sehr häufig sogar.«

»Bei uns ist das nicht üblich«, sagte sie in vorwurfsvollem Ton.

»Kommen Sie, ich gebe Ihnen ein paar anständige Kleider.«

Mrs. Fairfax nahm mich mit in ihr Zimmer und reichte mir eine

Haube sowie eine dicke schwarze, knöchellange Pelerine. Ich dankte

ihr, und Mrs. Fairfax knickste höflich.

»Ist Mr. Rochester heute im Haus?« fragte ich.

»Er hat anderweitige Verpflichtungen. Soviel ich weiß, weilt er bei

Mr. Eshton. Colonel Dent und Lord Ingram werden auch dort sein. Ich

erwarte ihn frühestens in einer Woche zurück.«

»Halten Sie das für ratsam, nach allem, was passiert ist?«

Mrs. Fairfax sah mich an, als sei ich ein kleines Kind.

»Sie haben es offenbar noch immer nicht begriffen, wie? Nach dem

Brand verreist Mr. Rochester für eine Woche. So ist das nun einmal.«

Ich wollte weiter in sie dringen, doch die Haushälterin entschuldigte

sich und ließ mich allein. Ich sammelte meine Gedanken, strich die

Pelerine glatt und machte einen Gang ums Haus, um nachzusehen, ob

alles fest verriegelt war. Die bewaffneten Feldarbeiter nickten mir im

Vorbeigehen ehrfürchtig zu. In der Hoffnung, daß sie Hades nie

begegnen würden, ging ich über die Wiese in dieselbe Richtung, in die

er am Vorabend verschwunden war. Kaum hatte ich die hohen Birken

am Grenzzaun hinter mir gelassen, hörte ich eine vertraute Stimme.

Ich fuhr herum.

»Haben wir überhaupt eine Chance gegen ihn?«

- 341 -

Es war Rochester. Er stand hinter einem der mächtigen

Baumstämme und blickte mich mit tiefbesorgter Miene an.

»Auf jeden Fall, Sir«, antwortete ich. »Ohne mich ist er hier

gefangen; wenn er zurückwill, muß er mit uns verhandeln.«

»Und wo ist er?«

»Ich wollte mal in der Stadt nachsehen. Ich dachte, Sie seien bei Mr.

Eshton?«

»Ich mußte vor meiner Abreise unbedingt noch einmal mit Ihnen

sprechen. Sie werden Ihr möglichstes tun, nicht wahr?«

Ich versprach ihm, nichts unversucht zu lassen, und machte mich auf

den Weg in die Stadt.

Millcote war ein malerisches Städtchen. Im Zentrum gab es eine

Kirche, eine Poststation, drei Wirtshäuser, eine Bank, zwei

Tuchgeschäfte, einen Getreidehändler sowie verschiedene andere

Läden. Es war Markttag, und auf den Straßen herrschte Hochbetrieb.

Niemand würdigte mich eines Blickes, als ich zwischen den Ständen

umherging, die sich unter der Last von Wild und Wintergemüse

bogen. Abgesehen von dem schwachen Tintengeruch, der die Luft

erfüllte, wirkte alles täuschend echt. Der erste Gasthof, auf den ich

stieß, hieß The George. Da er im Buch namentlich Erwähnung fand,

hatte ich dort vermutlich die besten Chancen.

Ich trat ein und fragte den Wirt, ob ein Mann von hünenhafter Statur

sich vormittags ein Zimmer genommen habe. Er verneinte, gab mir

jedoch den Rat, mein Glück in einem der anderen Gasthäuser zu

versuchen. Ich dankte ihm und wollte eben wieder gehen, als das

gänzlich deplacierte Klicken eines Kameraverschlusses meine

Aufmerksamkeit weckte. Langsam drehte ich mich um.

Hinter mir stand ein japanisches Pärchen in zeitgenössischer Tracht;

die Frau hielt eine große Nikon-Kamera in der Hand. Eilig versuchte

sie den eklatanten Anachronismus zu verbergen und schleifte ihren

Mann mit sich zur Tür.

»Warten Sie!«

- 342 -

Sie blieben stehen und wechselten nervöse Blicke.

»Was machen Sie hier?« fragte ich ungläubig.

»Wir sind nur zu Besuch, aus Osaka«, versicherte die Frau eilig,

worauf der Mann – er sprach offenbar kein Englisch – heftig nickte

und die Nase in einen japanischen Brontë-Führer steckte.

»Wie …?«

»Ich bin Mrs. Nakijima«, sagte die Frau, »und das ist Mr. Suzuki.«

Der Mann grinste mich an und schüttelte mir aufgeregt die Hand.

»Das gibt’s doch nicht!« rief ich wütend. »Wollen Sie damit sagen,

Sie sind Touristen?«

»Genau«, gestand Mrs. Nakijima, »ich mache den Sprung jedes Jahr

einmal und nehme einen zahlenden Besucher mit. Wir rühren nichts

an und sprechen auch nie mit Miss Eyre. Wie Sie sehen, sind wir

passend gekleidet.«

»Japaner? Im England des 19. Jahrhunderts?«

»Warum nicht?«

Ja. Warum eigentlich nicht?

»Und wie machen Sie das?«

Die Frau zuckte die Achseln.

»Ich kann es einfach«, lautete ihre schlichte Antwort. »Ich

konzentriere mich, sage mein Sprüchlein auf und, peng, hier bin ich.«

Dafür hatte ich jetzt keine Zeit.

»Passen Sie auf. Ich heiße Thursday Next. Ich arbeite für Victor

Analogy in der LitAg-Außenstelle Swindon. Ich nehme an, Sie haben

vom Diebstahl des Manuskripts gehört?«

Sie nickte.

»In diesem Buch treibt eine finstere Gestalt ihr Unwesen, und die

muß ich extrahieren. Der Mann ist äußerst gefährlich und schreckt vor

nichts zurück. Wenn er sie findet, wird er versuchen, Sie zu benutzen,

um hier herauszukommen. Ich empfehle Ihnen dringend, sofort

- 343 -

abzureisen. Springen Sie zurück nach Hause, solange es noch geht.

Wenn er Sie findet, könnte er Ihnen sehr weh tun!«

Mrs. Nakijima besprach sich mit ihrem Kunden. Schließlich erklärte

sie mir, daß Mr. Suzuki wegen Jane gekommen sei und sein Geld

zurückhaben wolle, wenn sie ihn nicht in die Nähe von Thornfield

Hall führte, damit er einen Blick auf Jane werfen konnte. Also setzte

ich ihr meinen Standpunkt noch einmal auseinander, und schließlich

sagten sie ja. Ich folgte ihnen nach oben in ihr Zimmer und wartete,

während sie packten. Schließlich gaben mir Mrs. Nakijima und Mr.

Suzuki die Hand, hielten sich aneinander fest und lösten sich in Luft

auf.

Ich schüttelte traurig den Kopf. Es gab offenbar so gut wie keinen

Flecken mehr auf dieser Welt, den die Tourismusindustrie noch nicht

entdeckt hatte.

Ich trat aus dem warmen Gasthaus in den kalten Vormittag hinaus,

ging an einem Stand vorbei, an dem Wurzelgemüse feilgeboten

wurde, und weiter ins Millcote, wo ich mich nach neuen Gästen

erkundigte.

»Und wen darf ich Mr. Hedge melden?« fragte der Wirt und spuckte

in einen unförmigen Bierkrug, den er sodann mit einem Lappen

polierte.

»Sagen Sie ihm, Miss Next möchte ihn sprechen.«

Der Wirt verschwand nach oben und kam kurz darauf zurück.

»Zimmer sieben«, sagte er knapp und machte sich wieder an die

Arbeit.

Acheron saß am Fenster, mit dem Rücken zur Tür. Er rührte sich

nicht, als ich hereinkam. »Hallo, Thursday.«

»Mr. Hedge?«

»Die Engländer des 19. Jahrhunderts sind ziemlich abergläubisch.

Ich dachte, der Name Hades könnte sie auf falsche Gedanken

bringen.«

Er drehte sich zu mir um; seine stahlblauen Augen schienen direkt

in mich hineinzublicken. Aber seine Macht über mich hatte

- 344 -

nachgelassen; er konnte nicht in mir lesen wie in anderen. Er spürte

das sofort, verzog die Lippen zu einem müden Lächeln und starrte

wieder aus dem Fenster.

»Du wirst immer stärker, Thursday.«

»Ich wachse an meinen Gegnern.«

Er lachte höhnisch.

»Ich hätte schon in Styx’ Wohnung auf Nummer sicher gehen

sollen.«

»Und sich dadurch den ganzen Spaß verderben? Wenn ich und die

anderen SpecOps Ihnen nicht immer wieder die Tour vermasseln

würden, wäre Ihr Leben doch todlangweilig.«

Statt mir eine Antwort zu geben, wechselte er das Thema. »Jemand,

der so raffiniert ist wie du, wäre nie in dieses Buch gekommen, wenn

er nicht auch wüßte, wie er wieder hinauskommt. Sag schon,

Thursday. Was habt ihr abgemacht? Ein Codewort, das Mycroft

anzeigt, wann er das Tor öffnen soll?«

»So ähnlich. Wenn Sie mir die Gebrauchsanweisung und Polly

aushändigen, bekommen Sie einen fairen Prozeß, das verspreche ich

Ihnen.«

Hades lachte. »Ich glaube, für einen fairen Prozeß ist es zu spät,

Thursday. Ich könnte dich auf der Stelle umbringen, und um ehrlich

zu sein, verspüre ich einen nahezu unwiderstehlichen Drang, das zu

tun; lediglich die traurige Aussicht, bis in alle Ewigkeit in dieser

provinziellen Geschichte gefangen zu sein, hält mich davon ab. Ich

wollte nach London, aber das ist unmöglich; die einzigen Städte in

dieser Welt sind die Ortschaften, die Charlotte Brontë sich abgedacht

hat und die im Roman vorkommen. Gateshead, Lowood – mich

wundert, daß dieses Kaff so groß ist. Gib mir das Codewort, dann

bekommst du die Anleitung und Polly.«

»Nein. Erst geben Sie mir die Gebrauchsanweisung und meine

Tante.«

»Siehst du? So kommen wir nicht weiter. Ich nehme an, du möchtest

warten, bis sich das Buch neu geschrieben hat, nicht wahr?«

- 345 -

»Natürlich.«

»Dann hast du von mir nichts zu befürchten, bis Jane endgültig aus

Thornfield fortgeht. Danach verhandeln wir.«

»Nein, Acheron, ich verhandle nicht.«

Hades schüttelte langsam den Kopf.

»Und ob du verhandeln wirst. Du bist zwar derart anständig und

solide, daß einem das Kotzen kommt, aber selbst du wirst schwerlich

den Rest deines jämmerlichen Lebens hier verbringen wollen. Du bist

doch eine intelligente Frau; dir wird schon was einfallen.«

Ich seufzte und ging; nach dieser Begegnung mit Hades’ finsterer

Seele war das geschäftige Treiben der Käufer und Händler eine wahre

Wohltat.

- 346 -

33.

Das Buch wird geschrieben

Wir saßen im Rauchsalon des Penderyn-Hotels und

sahen, daß Thursday ganze Arbeit leistete. Die

Geschichte entwickelte sich rasant; ganze Wochen

schrumpften auf wenige Zeilen zusammen. Mycroft oder

ich lasen den Text, der sich selbst neu schrieb, laut vor.

Wir alle warteten darauf, daß die Worte »süßer Wahn«

auftauchten, doch vergeblich. Wir machten uns auf das

Schlimmste gefaßt; daß wir Hades vielleicht nie

erwischen würden. Daß Thursday als eine Art ewige

Hausmeisterin in dem Roman gefangen bleiben könnte.

BOWDEN CABLES

- Tagebuch eines LitAg

Die Wochen in Thornfield Hall vergingen wie im Flug, und ich

verwandte meine ganze Energie darauf, Jane zu beschützen, ohne daß

sie etwas davon merkte. Ich postierte einen jungen Burschen vor dem

Millcote, der Hades überwachen sollte, aber der begnügte sich damit,

jeden Morgen einen Spaziergang zu unternehmen, den örtlichen Arzt

um Lektüre anzugehen und sich die Zeit im Wirtshaus zu vertreiben.

Seine Untätigkeit bot einigen Anlaß zur Besorgnis, ich war aber froh,

daß er sich vorerst zurückhielt.

Rochester hatte seine Heimkehr brieflich angekündigt, und ihm zu

Ehren fand eine kleine Feier im engsten Freundeskreis statt. Das

Erscheinen der dusseligen Blanche Ingram setzte Jane ziemlich zu,

aber das kümmerte mich wenig. Ich war viel zu sehr damit

beschäftigt, mit John, dem Gatten der Köchin, die nötigen

Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Ich hatte ihm beigebracht, mit

Rochesters Pistolen zu schießen, und zu meiner großen Freude erwies

er sich als exzellenter Schütze. Ich hatte angenommen, daß Hades sich

vielleicht unter die Gäste mischen würde, doch abgesehen vom

- 347 -

Erscheinen Mr. Masons von den Westindischen Inseln ereignete sich

nichts Außergewöhnliches.

Aus Wochen wurden Monate, und obwohl ich Jane – natürlich

absichtlich – nur selten sah, blieb ich mit dem Personal und Mr.

Rochester in ständiger Verbindung, um dafür zu sorgen, daß alles

glattging. Und wie es schien, ging alles glatt. Mr. Mason wurde von

seiner irren Schwester im zweiten Stock gebissen; ich stand vor der

verschlossenen Tür, während Jane die Wunden versorgte und

Rochester nach dem Arzt schickte. Als der Arzt kam, hielt ich draußen

in der Laube Wache, weil ich wußte, daß sich Jane und Rochester dort

treffen würden. Und so ging es ohne Unterlaß, bis Jane zu ihrer

todkranken Tante in Gateshead fuhr.

Inzwischen hatte Rochester beschlossen, Blanche Ingram zu

heiraten, und das Verhältnis zwischen ihm und Jane war merklich

abgekühlt. Als sie abreiste, war ich erleichtert; endlich konnte ich

mich ein wenig entspannen und mich in Ruhe mit Rochester

unterhalten, ohne Janes Verdacht zu erregen.

»Sie bekommen zuwenig Schlaf«, bemerkte Rochester bei einem

gemeinsamen Spaziergang über die Wiese. »Sie wirken müde und

haben dunkle Ringe unter den Augen.«

»Ich schlafe nicht sehr gut, jedenfalls nicht, solange Hades kaum

fünf Meilen entfernt ist.«

»Aber Ihre Späher würden Ihnen doch gewiß mitteilen, wenn er

etwas unternähme?«

Er hatte recht; das Spionagenetz funktionierte tadellos, wenn auch

nur dank Rochesters beträchtlicher finanzieller Unterstützung. Wenn

Hades den Fuß vor die Tür setzte, erfuhr ich es binnen zwei Minuten,

von einem Reiter, der sich für ebendiesen Fall bereithielt. So wußte

ich jederzeit, wo ich ihn finden konnte, einerlei ob er einen

Spaziergang machte, las oder die Bauern mit seinem Stock

verprügelte. Er hatte sich nie näher als eine Meile an das Haus

herangewagt, und so sollte es auch bleiben.

»Meine Späher haben mir bislang nichts Beunruhigendes berichtet,

obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, daß jemand

- 348 -

wie Hades tatsächlich so untätig ist. Ich finde das geradezu

beängstigend.«

So gingen wir eine Weile vor uns hin. Rochester zeigte mir

allerhand Interessantes, doch ich war nicht recht bei der Sache.

»Wie sind Sie eigentlich zu mir gekommen in jener Nacht, als ich

angeschossen vor dem Lagerhaus lag?« fragte ich schließlich.

Rochester blieb stehen und sah mich an.

»Es ist einfach geschehen, Miss Next. Ich kann es Ihnen nicht

erklären, ebensowenig wie Sie mir erklären können, wie Sie als

kleines Mädchen hierhergelangt sind. Außer Mrs. Nakijima und einem

Reisenden namens Foyle ist mir auch niemand sonst bekannt, dem das

je gelungen wäre.«

Ich war erstaunt. »Sie kennen Mrs. Nakijima?«

»Selbstverständlich. Gewöhnlich zeige ich ihren Gästen Thornfield,

solange Jane in Gateshead weilt. Das ist völlig ungefährlich und –

nebenbei gesagt – auch sehr lukrativ. Ein Landhaus zu unterhalten ist

auch in diesem Jahrhundert nicht gerade billig, Miss Next.«

Ich gönnte mir ein Lächeln. Mrs. Nakijima sahnte dabei vermutlich

ordentlich ab; schließlich war eine Reise wie diese der Wunschtraum

jedes Brontë-Fans, und davon gab es in Japan jede Menge.

»Was haben Sie vor, wenn Ihre Arbeit hier beendet ist?« fragte

Rochester und zeigte Pilot ein Kaninchen; der rannte bellend davon.

»Zurück zu SpecOps«, antwortete ich. »Und Sie?«

Rochester sah mich nachdenklich an; er runzelte die Stirn, und ein

zorniger Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Wenn Jane mit diesem

schleimigen St. John Rivers fortgeht, ist es mit mir aus und vorbei.«

»Und was wollen Sie dann tun?«

»Tun? Nichts. Das bedeutet mein Ende.«

»Den Tod?«

- 349 -

»Nicht direkt«, entgegnete Rochester und wählte seine Worte mit

Bedacht. »Wo Sie herkommen, wird man geboren, lebt und stirbt.

Habe ich recht?«

»Mehr oder weniger.«

»Was für ein jämmerliches Dasein muß das sein!« rief Rochester

lachend. »Und wenn Sie niedergeschlagen sind, suchen Sie vermutlich

Trost bei jenem inneren Auge, das wir Gedächtnis nennen, nicht?«

»Meistens«, antwortete ich, »obwohl das Gedächtnis hundertmal

schwächer ist als unsere tatsächlich erlebten Gefühle.«

»Ganz Ihrer Meinung. Hier werde ich weder geboren, noch sterbe

ich. Ich erblicke mit achtunddreißig Jahren das Licht der Welt und

verlasse sie bald darauf schon wieder, nachdem ich mich zum ersten

Mal verliebt und dann das Objekt meiner Verehrung sogleich wieder

eingebüßt habe!«

Er blieb stehen und hob den Stock auf, den Pilot ihm statt des

entwischten Kaninchens gebracht hatte.

»Sie müssen wissen, daß ich mich in Sekundenschnelle an jede

gewünschte Stelle des Romans und wieder zurück expedieren kann;

ein gut Teil meines Lebens liegt zwischen dem Augenblick, da ich

jenem zarten, spitzbübischen Wesen meine aufrichtige Liebe gestehe,

und dem Moment, wo der törichte Mason und sein Anwalt mir die

Hochzeit verderben. In diese Wochen kehre ich am häufigsten zurück,

aber ich besuche auch die schlechten Zeiten – denn ohne einen

Maßstab ist man geneigt, die Höhepunkte für selbstverständlich zu

nehmen. Zuweilen spiele ich mit dem Gedanken, die beiden von John

am Kirchtor abpassen und hinhalten zu lassen, bis die Trauung

abgeschlossen ist, aber das läßt der Roman leider nicht zu.«

»Das heißt, während Sie hier stehen und mit mir plaudern …«

»… begegne ich Jane gleichzeitig zum ersten Mal, umwerbe und

verliere sie für immer. Ich sehe Sie deutlich vor mir, als kleines Kind,

mit angsterfüllter Miene angesichts der donnernden Hufe meines

Pferdes …«

Er betastete seinen Ellbogen.

- 350 -

»Sogar die Schmerzen spüre ich, die mir der Sturz verursacht.

Wie Sie sehen, hat meine Existenz, obgleich befristet, durchaus ihre

Vorteile.«

Ich seufzte. Ach, wenn das Leben doch auch in Wirklichkeit so

einfach wäre; wenn man sich auf die guten Zeiten beschränken und

die schlechten einfach überspringen könnte …

»Gibt es einen Mann, den Sie lieben?« fragte Rochester mit einem

Mal.

»Ja; aber unser Verhältnis ist gespannt. Er hat meinen Bruder eines

tödlichen Irrtums bezichtigt, und ich fand es ungerecht, den Fehler

einem Toten anzulasten, der sich nicht mehr verteidigen kann. Und

jetzt fällt es mir schwer, ihm zu vergeben.«

»Was gibt es denn da zu vergeben?« fragte Rochester. »Setzen Sie

einen Strich darunter, und konzentrieren Sie sich darauf zu leben. Ihr

Leben ist kurz; viel zu kurz, um die Zeit mit Bösesein zu vertrödeln

und auf das Glück zu verzichten, das ohnehin nur von begrenzter

Dauer ist.«

»Ach!« entgegnete ich. »Er ist verlobt!«

»Na und?« spottete Rochester. »Vermutlich mit jemandem, der

ebensowenig zu ihm paßt wie Blanche Ingram zu mir!«

Ich dachte an Daisy Mutlar, und es schien da in der Tat einige

Parallelen zu geben.

Wir gingen schweigend nebeneinanderher, bis Rochester eine Uhr

aus seiner Westentasche zog. »Meine Jane kehrt soeben aus Gateshead

zurück. Wo sind mein Stift und mein Notizbuch?«

Er kramte in seinen Taschen und förderte einen Bleistift und ein

gebundenes Zeichenbuch zutage. »Ich soll ihr wie zufällig begegnen;

sie wird in Kürze hier übers Feld kommen. Wie sehe ich aus?«

Ich strich seine Krawatte glatt und nickte zufrieden.

»Finden Sie eigentlich, daß ich gut aussehe, Miss Next?« fragte er

gänzlich unerwartet.

»Nein«, sagte ich wahrheitsgemäß.

- 351 -

»Pah!« stieß Rochester hervor. »Frauenzimmer! Hinfort, mir aus

den Augen; wir sprechen uns noch!«

Ich ließ ihn stehen und ging am See entlang zum Haus zurück, in

tiefes Nachdenken versunken.

Und so verstrich Woche um Woche, es wurde langsam wärmer, und

die Bäume schlugen aus. Ich bekam Rochester und Jane kaum zu

Gesicht; die beiden hatten nur noch Augen füreinander. Mrs. Fairfax

gefiel die Liaison gar nicht, und ich mußte sie mehrfach ermahnen.

Darüber plusterte sie sich auf wie eine alte Henne und gab sich fortan

verschnupft. Monatelang ging in Thornfield alles seinen gewohnten

Gang; aus dem Frühling wurde Sommer, und auch am Tag der

Hochzeit war ich da, auf Rochesters ausdrückliche Bitte in der

Sakristei versteckt. Ich sah, wie der Pfarrer, ein wohlbeleibter Mann

namens Wood, die Frage stellte, ob einem der Anwesenden ein

Hindernis bekannt sei, welches die Eheschließung vor dem Gesetz

oder vor Gott verbiete. Ich hörte, wie der Anwalt sein schreckliches

Geheimnis preisgab. Rochester geriet völlig außer sich vor Zorn, als

Briggs die eidesstattliche Erklärung verlas und erklärte, die

wahnsinnige Bertha Mason sei Rochesters rechtmäßige Ehefrau.

Während sie noch herumstritten, hielt ich mich verborgen und kam

erst aus meinem Versteck, als Rochester die Anwesenden zu seinem

Haus führte, um ihnen die Verrückte zu zeigen. Statt ihnen jedoch zu

folgen, unternahm ich einen Spaziergang. Ich hatte keine Lust, dabei

zu sein, wenn Jane und Rochester sich damit auseinandersetzen

müssen, daß sie nicht heiraten können.

Am nächsten Morgen ging Jane fort. Ich folgte ihr in sicherem

Abstand auf der Straße nach Whitcross; sie schien mir wie ein kleines,

verirrtes Tier, das anderswo nach einem besseren Leben sucht. Ich

blickte ihr nach, bis sie verschwunden war, und ging dann auf einen

Imbiß nach Millcote. Nachdem ich im George zu Mittag gegessen

hatte, maß ich mich mit drei fahrenden Kartenspielern; bis zum Abend

hatte ich ihnen sechs Guineas abgeknöpft. Während wir noch spielten,

trat ein Knabe an unseren Tisch. »Hallo, William!« sagte ich. »Was

gibt’s Neues?« Ich beugte mich zu dem Dreikäsehoch hinunter, der

gebrauchte Erwachsenenkleider trug, die man auf ihn

zurechtgeschneidert hatte.

- 352 -

»Verzeihung, Miss Next, aber Mr. Hedge ist verschwunden.«

Erschrocken sprang ich auf, nahm die Beine in die Hand und hielt erst

an, als ich im Millcote angekommen war. Ich stürzte treppauf zum

Absatz, wo einer meiner verläßlichsten Spione stand und verlegen an

seiner Mütze zupfte. Hades’ Zimmer war leer.

»Es tut mir leid, Miss. Ich war unten im Schankraum, habe aber

nichts getrunken; ich schwör’s. Er muß sich unbemerkt

davongeschlichen haben …«

»Ist sonst noch jemand die Treppe heruntergekommen, Daniel?

Raus mit der Sprache, schnell!«

»Nein, niemand. Niemand außer der alten Dame …«

Ich nahm das Pferd meines Kundschafters und war im Nu in

Thornfield. Keiner der Wachtposten vor den Türen hatte Hades

gesehen. Ich ging hinein und fand Rochester im Morgenzimmer, wo er

sich an einer Flasche Brandy gütlich tat. Als ich eintrat, hob Edward

das Glas.

»Sie ist fort, nicht wahr?« fragte er.

»Ja.«

»Verdammt! Verflucht seien die Umstände, die mich zur Heirat mit

dieser Närrin zwangen, und verflucht seien auch mein Vater und mein

Bruder, denen ich diese Liaison verdanke!«

Er sank in einen Sessel und starrte zu Boden.

»Ist Ihre Arbeit hier beendet?« fragte er niedergeschlagen.

»Ich glaube schon, ja. Sobald ich Hades gefunden habe, bin ich auf

und davon.«

»Ist er denn nicht im Millcote?«

»Nicht mehr.«

»Aber Sie glauben, ihn fassen zu können?«

»Ja; in dieser Welt scheint er geschwächt zu sein.«

- 353 -

»Dann sollten Sie mir lieber Ihr Paßwort verraten. Wenn es soweit

ist, könnte es knapp werden. Wer gewarnt ist, ist gewappnet.«

»Stimmt«, gestand ich. »Um das Portal zu öffnen, müssen Sie …«

Da plötzlich schlug die Haustür zu, ein Windstoß wirbelte Papiere

auf, und vertraute Schritte hallten über den Flur. Ich erstarrte und warf

einen hastigen Blick auf Rochester, der immer noch in sein Glas

stierte.

»Das Codewort …?«

Eine Stimme rief nach Pilot. Der voluminöse Baß des Hausherrn.

»Mist!« knurrte Hades, gab die Gestalt Rochesters auf und sprang

durch die Wand. Latten und Kalkbewurf zerbrachen wie Reispapier

vor ihm. Als ich endlich auf den Korridor kam, war er schon fort, im

Labyrinth des Hauses verschwunden. Inzwischen stand der echte

Rochester neben mir, und gemeinsam lauschten wir die Treppe hinauf,

doch kein Laut drang an unser Ohr. Edward ahnte, was geschehen

war, und rief seine Knechte zusammen. Binnen zwanzig Minuten

hatte er das Haus umstellen lassen und den Befehl erteilt,

unverzüglich auf jegliche Person zu schießen, die ohne das

verabredete Losungswort zu entkommen versuchte. Dann gingen wir

in die Bibliothek, wo Rochester ein Paar Pistolen hervorholte und

vorsichtig lud. Er blickte mit Unbehagen auf meine BrowningAutomatik, während er zwei Zündhütchen auf den Zündkegeln der

Pistolen placierte und die Schlaghämmer spannte.

»Kugeln machen ihn bloß böse«, sagte ich.

»Haben Sie eine bessere Idee?«

Ich schwieg.

»Dann folgen Sie mir jetzt. Je schneller dieser Lump aus meinem

Buch verschwindet, desto besser!«

Bis auf Grace Poole und die Verrückte hatte man das Haus geräumt,

und Mrs. Poole hatte Anweisung, bis zum Morgen niemandem, nicht

einmal Mr. Rochester, die Tür zu öffnen. Rochester und ich begannen

in der Bibliothek und arbeiteten uns von dort über das Speisezimmer

- 354 -

in das ausschließlich nachmittäglichen Besuchern vorbehaltene

Empfangszimmer vor.

Nichts.

Wir kehrten zur Treppe zurück, wo wir John und Matthew postiert

hatten, die beide Stein und Bein schworen, daß sie niemanden gesehen

hätten. Unterdessen war die Nacht hereingebrochen; die Wachtposten

hatten Fackeln erhalten, deren trüber Schein flackernd die Flure

erhellte. Treppe und Täfelung des Hauses waren aus dunklem Holz,

das nur wenig Licht zurückwarf; es war finster wie im Bauch eines

Wals. Als wir die Treppe erklommen hatten, sahen wir nach rechts

und links, doch das Haus war stockfinster. Ich verfluchte mich, daß

ich keine vernünftige Taschenlampe mitgenommen hatte.

Als habe jemand meine Gedanken erhört, blies mit einem Mal ein

Windstoß alle Kerzen aus, und vor uns schlug eine Tür. Mir stockte

das Herz, und Rochester stieß einen derben Fluch aus, als er gegen

eine Truhe stieß. Rasch zündete ich den Kandelaber wieder an. Im

warmen Schein starrten wir einander ins Gesicht, und als Rochester

bemerkte, daß ich ebenso große Furcht empfand wie er, stählte er

seinen Mut und rief: »Feigling! Zeig dich!«

Es gab einen lauten Knall, gefolgt von einem grellen,

orangefarbenen Blitz, als Rochester einen Schuß in Richtung der

Treppe zum Dachgeschoß abgab.

»Da! Da läuft er, wie ein Hase; ich glaube, ich habe ihn getroffen!«

Wir eilten zu der Stelle, fanden jedoch kein Blut, sondern nur die

schwere Bleikugel, die in der Brüstung steckte.

»Jetzt haben wir ihn!« jauchzte Rochester. »Von hier oben gibt es

kein Entkommen, außer über das Dach, und auch keinen Weg nach

unten, es sei denn er will an den Regenrinnen seinen Hals riskieren!«

Wir stiegen die Treppe hinauf ins obere Stockwerk. Obgleich die

Fenster hier etwas größer waren, herrschte unheimliche Dunkelheit.

Plötzlich erstarrten wir. Mitten auf dem Flur, halb im Schatten, das

Gesicht von einer einzigen Kerze schwach erhellt, stand Hades. Er

gehörte nicht zu jenem Typus des Verbrechers, der sich versteckte. Er

hielt die Kerzenflamme an ein aufgerolltes Stück Papier, bei dem es

- 355 -

sich nur um das Wordsworth-Gedicht handeln konnte, in dem meine

Tante gefangen war.

»Das Codewort, Thursday, wenn ich bitten darf!«

»Niemals!«

Er hielt die Kerze noch näher an das Blatt und verzog die Lippen zu

einem Lächeln.

»Das Codewort, bitte!«

Doch sein Lächeln gerann jäh zu einer schmerzverzerrten Fratze; er

heulte auf in unmenschlicher Qual, und Kerze und Gedicht fielen zu

Boden. Als er sich langsam umwandte, sahen wir, woher seine

Schmerzen rührten. Auf seinem Rücken saß, sich wildentschlossen an

ihn klammernd, die irre Mrs. Rochester. Sie gackerte wie toll und

zerrte an einer Schere, die sie Hades zwischen die Schulterblätter

getrieben hatte. Er schrie erneut auf und sank auf die Knie, während

seine Kerze einen mit Wachs polierten Sekretär in Brand setzte.

Gierig leckten die Flammen an dem Möbelstück, und Rochester riß

einige Vorhänge herab, um sie zu ersticken. Doch Hades stand schon

wieder, strotzend vor neugewonnener Kraft: Die Schere war

zurückgezogen worden. Er schlug nach Rochester und streifte ihn am

Kinn; Edward taumelte und stürzte zu Boden.

Mit einem manischen Grinsen im Gesicht nahm Acheron eine

Petroleumlampe vom Buffett und schleuderte sie quer durch den Flur;

sie explodierte und entzündete einen Wandbehang. Dann wandte er

sich zu der Irren um, die sich, scheinbar blindlings um sich schlagend,

auf ihn stürzte. Mit einem geschickten Hieb riß sie Hades das

zerfledderte Schulheft mit Mycrofts Gebrauchsanweisung aus der

Tasche, stieß einen infernalischen Triumphschrei aus und lief davon.

»Geben Sie auf, Hades!« brüllte ich und drückte zweimal ab.

Acheron schwankte unter der Wucht der Schüsse, hatte sich jedoch

rasch wieder gefangen und lief Bertha und der Gebrauchsanweisung

hinterher. Hustend hob ich das kostbare Gedicht auf; unterdessen

erfüllte dichter Rauch den Flur. Die Gobelins standen in Flammen. Ich

half Rochester auf die Beine. Wir rannten hinter Hades her, der auf

seiner Jagd nach der Gebrauchsanweisung und der schwachsinnigen

- 356 -

Kreolin weitere Brände gelegt hatte. Wir fanden die beiden in einem

großen Hinterzimmer.

Es gab keinen geeigneteren Augenblick, um das Portal zu öffnen;

das Bett brannte lichterloh, und Hades und Bertha vollführten ein

wahnsinniges Katz-und-Maus-Spiel. Das Heft umklammernd, schlug

sie mit der Schere nach ihm, wovor er große Angst zu haben schien.

»Sagen Sie das Codewort!« rief ich Rochester zu.

»Wie lautet es?«

»Süßer Wahn!«

Rochester schrie das Losungswort. Nichts. Er schrie es noch lauter.

Noch immer nichts. Ich hatte einen Fehler gemacht. Jane Eyre war in

der ersten Person geschrieben. Bowden und Mycroft konnten folglich

nur das lesen, was Jane erlebte – was wir erlebten, kam im Buch nicht

vor. Das hatte ich nicht bedacht.

»Was jetzt?« fragte Rochester.

»Ich weiß nicht. Achtung!!! «

Bertha stürzte wie eine Furie an uns vorbei zur Tür, gefolgt von

Hades, der die Gebrauchsanweisung offenbar so dringend

zurückhaben wollte, daß er Rochester und mich darüber fast vergessen

hatte. Wir liefen hinter ihnen her auf den Korridor, doch das

Treppenhaus war unterdessen eine regelrechte Flammenwand, und

Hitze und Rauch drängten uns zurück. Hustend und mit tränenden

Augen flüchtete sich Bertha aufs Dach, dicht gefolgt von Hades,

Rochester und mir. Die frische, kühle Luft war eine Wohltat. Bertha

lief uns voran auf das Bleidach des Ballsaals. Wir konnten sehen, wie

sich das Feuer unten ausgebreitet hatte. Die stark gewachsten Möbel

und Fußböden versorgten die hungrigen Flammen mit immer neuer

Nahrung; nur noch wenige Minuten, und das große, zundertrockene

Haus war ein Inferno.

Die Irre vollführte einen trägen Tanz in ihren Nachtgewändern; eine

trübe Erinnerung, vielleicht, an eine Zeit, da sie noch eine Dame

gewesen war, himmelweit entfernt von dem traurigen, jämmerlichen

Dasein, das sie jetzt fristete. Sie knurrte wie ein Tier im Käfig und

- 357 -

bedrohte Hades mit der Schere, als er fluchend die Rückgabe des

Heftes forderte, mit dem sie ihm höhnisch vor der Nase

herumwedelte. Rochester und ich sahen zu; das Splittern der Scheiben

und das Brüllen des Feuers durchbrachen die Stille der Nacht.

Weil Rochester es nicht über sich brachte, untätig herumzustehen

und seiner Frau und Hades bei ihrem Danse macabre zuzuschauen,

verpaßte er Hades mit der zweiten Pistole eine Kugel ins Kreuz.

Hades wirbelte herum, unverletzt, doch außer sich vor Zorn. Er zog

seine Waffe und feuerte mehrmals auf Rochester; ich brachte mich

hinter einem Kamin in Sicherheit. Bertha nutzte die Gelegenheit und

rammte Hades die Schere bis zum Anschlag in den Arm. Er schrie auf

vor Schreck und Schmerz und ließ die Waffe fallen. Bertha tanzte

glücklich um ihn herum und fing wild an zu gackern. Hades sank in

die Knie.

Ich hörte ein Stöhnen hinter mir und wandte mich um. Eine von

Acherons Kugeln hatte Rochesters Handteller durchbohrt. Er zog ein

Taschentuch hervor, und ich half ihm, es um seine zerschmetterte

Hand zu wickeln.

Als ich mich wieder umdrehte, sah ich gerade noch, wie sich Hades

die Schere aus dem Arm riß; sie segelte durch die Luft und landete

nicht weit von mir entfernt. Im Nu hatte er seine alte Kraft

zurückgewonnen und stürzte sich wie ein Löwe auf die unselige

Bertha. Er packte sie an der Kehle und entriß ihr das Heft. Dann

stemmte er sie in die Luft und hielt sie hoch über seinen Kopf,

während sie einen Schrei ausstieß, der selbst das Brüllen des Feuers

noch übertönte. Einen Augenblick lang zeichneten sich ihre

Silhouetten gegen die Flammen ab, die zuckend in den Nachthimmel

schlugen, dann trat Hades mit zwei raschen Schritten an die Brüstung

und warf Bertha vom Dach; ihr Kreischen verstummte erst, als sie drei

Stockwerke tiefer mit einem dumpfen Schlag aufprallte.

Hades trat von der Brüstung zurück und fuhr mit loderndem Blick

zu uns herum.

»Süßer Wahn, hä?« Er lachte. »Jane ist zu ihren Verwandten

gefahren und hat die Handlung mitgenommen. Und ich habe die

Gebrauchsanleitung!«

- 358 -

Er fuchtelte mit dem Heft, schob es sich in die Tasche und hob seine

Waffe auf.

»Wer schießt zuerst?«

Ich drückte ab, doch Hades fischte die heransausende Kugel mit der

bloßen Hand aus der Luft. Er öffnete die Faust; das Geschoß hatte sich

in eine winzige Bleischeibe verwandelt. Er lächelte, und hinter ihm

stoben Funken in den Himmel. Ich schoß noch einmal; wieder fing er

die Kugel.

Der Schlitten meiner Automatik ging in Ladestellung: Das Magazin

war leer und wartete auf Nachschub. Zwar hatte ich durchaus noch

Munition, aber das spielte keine Rolle mehr. Ich mußte dem

Unvermeidlichen ins Auge sehen: Bisher war alles gutgegangen, ich

hatte länger als jeder andere überlebt und alles menschenmögliche

getan. Doch jetzt hatte mein Glück mich verlassen. Er würde mich

abknallen.

Hades lächelte mich an.

»Timing ist alles, Thursday. Ich habe das Paßwort, die

Gebrauchsanleitung und nicht zuletzt die Oberhand. Wie du siehst, hat

sich das Warten gelohnt.«

Triumph spiegelte sich in seiner Miene.

»Es mag dir zum Trost gereichen, daß ich dir die Ehre angedeihen

lassen wollte, Felix9 zu werden. Ich werde dich als meine größte

Rivalin in Erinnerung behalten – Chapeau! Und du hast

selbstverständlich recht – du hast dich nie auf Kompromisse

eingelassen.«

Ich hörte gar nicht mehr hin. Ich dachte an Tamworth, Snood und

seine anderen Opfer. Ich blickte zu Rochester, der sich die

blutgetränkte Hand hielt; sein Kampfgeist war erloschen.

»Die Krim wird uns ein Vermögen bringen«, fuhr Hades fort.

»Wieviel man an so einem Plasmagewehr wohl verdient? Fünfhundert

Pfund? Tausend? Zehntausend?«

Ich dachte an meinen Bruder auf der Krim. Er hatte mich gebeten,

zurückzukommen und ihn rauszuholen. Auf dem Rückweg wurde

- 359 -

mein Panzer von einer Artilleriegranate getroffen. Ich mußte mit

Gewalt daran gehindert werden, ein anderes Fahrzeug zu requirieren

und ins Feld zurückzukehren. Ich sah ihn nie wieder. Ich hatte mir nie

verziehen, ihn dort zurückgelassen zu haben.

Hades schwadronierte immer noch vor sich hin, und ich wünschte

beinahe, er würde ewig weiterreden. Nach allem, was ich

durchgemacht hatte, erschien mir der Tod mit einem Mal seltsam

verlockend. Es heißt, daß auf dem Höhepunkt der Schlacht eine tiefe,

feierliche Stille eintritt und man – durch den schweren Vorhang des

Schocks gegen alle Schrecken der Umgebung geschützt – plötzlich

wieder ruhig und nüchtern denken kann. Obwohl mein Tod

beschlossene Sache war, kam mir nur eine scheinbar banale Frage in

den Sinn: Warum, in drei Teufels Namen, hatte Berthas Schere auf

Hades eine so verheerende Wirkung? Ich hob den Kopf und sah zu

Acheron, dessen Lippen Worte formten, die ich nicht hören konnte.

Ich stand auf, und er drückte ab.

Aber er hatte bloß mit mir gespielt: Die Kugel verfehlte mich bei

weitem, und ich zuckte nicht mal mit der Wimper. Die Schere war der

Schlüssel: Sie war aus Silber!

Ich durchwühlte meine Hosentasche nach der Silberkugel, die ich

vor langer Zeit von Spike bekommen hatte, während Acheron in

seiner Eitelkeit und Arroganz immer weiterschwafelte. Diese

Dummheit würde ihn teuer zu stehen kommen. Ich schob die

schimmernde Patrone in meine Automatik und zog den Schlitten

durch. Die Kugel glitt in die Kammer, ich zielte und drückte ab.

Zunächst geschah gar nichts. Dann verstummte Acheron plötzlich

und griff sich dorthin, wo die Kugel eingedrungen war. Er hob die

Finger und betrachtete sie wie vom Donner gerührt; er war es

gewohnt, daß Blut an seinen Händen klebte – doch nicht sein eigenes.

Erst sah er mich an, als wolle er noch etwas sagen, dann fing er leise

an zu wanken, bis er schließlich vornüberkippte, der Länge nach

hinschlug und reglos liegenblieb. Acheron Hades, der drittböseste

Mensch der Welt, war endlich tot, erschossen auf dem Dach von

Thornfield Hall und von niemandem beweint und betrauert.

- 360 -

Um über Acherons Ableben nachzudenken, blieb uns nicht viel Zeit;

die Flammen schlugen von Sekunde zu Sekunde höher. Ich nahm

Mycrofts Heft und half Rochester auf die Beine. Wir schleppten uns

zur Brüstung; das Dach war heiß geworden, und wir spürten, wie sich

die Balken unter unseren Füßen bogen. Das Bleidach hob und senkte

sich, als sei es lebendig. Wir blickten über die Brüstung, doch kein

Weg führte nach unten. Rochester ergriff meine Hand und zog mich

zu einem zweiten Dachfenster. Als er es einschlug, mußten wir vor

einem Schwall von heißem Rauch in Deckung gehen.

»Der Dienstbotenaufgang!« rief er hustend. »Hier entlang!« Wir

ließen uns durch das Fenster hinunter, bis wir festen Boden unter den

Füßen spürten. Rochester tastete sich durch den dunklen,

verräucherten Flur. Ich folgte ihm ergeben und klammerte mich an

seine Rockschöße, damit ich mich nicht verlief. Wir kamen zum

Dienstbotenaufgang; das Feuer schien diesen Teil des Hauses noch

nicht erreicht zu haben, und Rochester führte mich eilig treppab.

Wir hatten die Hälfte der Strecke hinter uns gebracht, als in der

Küche ein Feuerball explodierte und eine lohende Masse aus Feuer

und heißen Gasen über den Flur und die Stiege hinaufraste. Ich sah

nur noch, wie eine riesige Blase aus roter Glut zerplatzte, als die

Treppe unter uns nachgab. Dann wurde mir schwarz vor Augen.

- 361 -

34.

Ihr Buch geht zu Ende

Wir warteten umsonst auf Thursdays Codewort. Ich las

das Buch zum x-ten Mal und suchte nach einem Hinweis

darauf, was ihr zugestoßen war. Ich hatte vermutet, daß

Thursday beschlossen haben könnte, im Roman zu

bleiben, weil es ihr nicht gelungen war, Hades zu fassen.

Der Schluß der Geschichte rückte näher; wenn Jane nach

Indien ging, war das Buch zu Ende. In diesem Fall

konnten wir die Maschine abschalten. Denn dann waren

Thursday und Polly für immer verloren.

BOWDEN CABLES

- Tagebuch eines LitAg

Ich schlug die Augen auf und sah mich um. Ich befand mich in

einem kleinen, aber geschmackvoll möblierten Zimmer, gleich unter

einem halboffenen Fenster. Jenseits einer Wiese wiegten sich hohe

Pappeln im Wind, doch die Aussicht war mir fremd; in Thornfield sah

es anders aus. Da ging die Tür auf, und Mary trat ein.

»Miss Next!« sagte sie freundlich. »Sie haben uns einen

fürchterlichen Schrecken eingejagt!«

»War ich lange bewußtlos?«

»Drei Tage. Eine schwere Gehirnerschütterung, hat Dr. Carter

gesagt.«

»Wo …?«

»Sie sind in Ferndean, Miss Next«, antwortete Mary

beschwichtigend, »einem von Mr. Rochesters anderen Gütern. Sie

werden schwach sein; ich bringe Ihnen etwas Brühe.«

Ich ergriff ihren Arm. »Und Mr. Rochester?«

- 362 -

Sie hielt inne, tätschelte mir lächelnd die Hand und sagte, sie werde

jetzt die Brühe holen. Ich sank in die Kissen zurück und dachte an die

Nacht, in der Thornfield gebrannt hatte und Acheron starb. Die arme

Bertha Rochester. Ob ihr bewußt gewesen war, daß sie uns durch ihre

zufällige Wahl der Waffen das Leben gerettet hatte? Vielleicht hatte

sie in ihrer geistigen Umnachtung eine besondere Antenne für den

Schwachpunkt des Scheusals gehabt? Ich würde es nie erfahren, war

ihr aber dennoch dankbar.

Nach einer Woche konnte ich wieder aufstehen und gehen, obwohl

ich nach wie vor unter starken Schwindelgefühlen litt. Man erzählte

mir, daß ich beim Einsturz des Dienstbotenaufgangs einen Schlag auf

den Kopf erhalten und das Bewußtsein verloren hatte. Rochester hatte

mich in einen Vorhang gewickelt und aus dem brennenden Haus

geschleppt. Dabei war er von einem herabstürzenden Balken getroffen

worden und hatte das Augenlicht verloren; die Hand, die Acherons

Kugel zerschmettert hatte, war am Morgen nach dem Feuer amputiert

worden. Wir trafen uns im dunklen Speisezimmer.

»Haben Sie große Schmerzen, Sir?« fragte ich beim Anblick seiner

erbarmungswürdigen Gestalt; seine Augen waren verbunden.

»Zum Glück nicht«, log er, obwohl er bei der leisesten Bewegung

das Gesicht verzog.

»Ich danke Ihnen; Sie haben mir ein zweites Mal das Leben

gerettet.«

Er lächelte matt. »Sie haben mir meine Jane zurückgebracht. Für

jene Monate des Glücks würde ich diese Wunden mit Freuden doppelt

und dreifach erleiden. Aber sprechen wir nicht über meinen

jämmerlichen Zustand. Geht es Ihnen gut?«

»Dank Ihnen.«

»Ja, ja, aber wie wollen Sie in Ihre Welt zurückkehren? Jane und

dieser feigherzige Hanswurst Rivers sind vermutlich längst in Indien;

und mit ihnen die Handlung. Wie könnten Ihre Freunde Sie da

retten?«

»Mir wird schon was einfallen«, sagte ich und tätschelte ihm den

Arm. »Man kann nie wissen, was die Zukunft bringt.«

- 363 -

Für meine Kollegen von Spec-Ops war der nächste Tag angebrochen.

Die Monate, die ich in dem berühmten Buch zugebracht hatte, waren

für sie so rasch vergangen wie die Zeit, die man braucht, um davon zu

lesen. Angesichts der kriminellen Umtriebe vor seiner Haustür hatte

das walisische Politbüro Victor, Finisterre und einem Mitglied der

Brontë-Gesellschaft freies Geleit ins Hotel Penderyn zugesichert, wo

die drei jetzt mit Bowden, Mycroft und einem zunehmend nervöser

werdenden Jack Schitt zusammensaßen. Der Vertreter der BrontëGesellschaft las den Text, der auf den vergilbten Seiten erschien, laut

mit. Von ein paar kleinen Änderungen abgesehen, nahm der Roman

den üblichen Verlauf; seit zwei Stunden folgte der Wortlaut exakt dem

Original: Jane erhielt einen Heiratsantrag von St. John Rivers, der sie

als seine rechtmäßige Ehefrau nach Indien mitnehmen wollte, und sie

bat um Bedenkzeit.

Mycroft trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch und ließ

den Blick über die zuckenden Nadeln und Skalen an seiner Maschine

schweifen; er wartete auf das Stichwort zum Öffnen des Portals. Das

Problem war nur, daß das Buch langsam, aber sicher seinem Ende

zuging.

Da geschah das Unglaubliche. Der Experte der Brontë-Gesellschaft,

ein gewöhnlich überaus beherrschter kleiner Mann namens Plink, war

plötzlich wie elektrisiert. »Moment mal; das ist neu! Das gab es früher

nicht!«

»Was?« rief Victor und blätterte rasch in seinem Exemplar. Und

tatsächlich, Mr. Plink hatte recht. Die Worte, die eines nach dem

anderen auf dem Papier erschienen, gaben der Handlung eine völlig

neue Wendung. Nachdem Jane der Heirat mit St. John Rivers

zugestimmt hatte, so dies Gottes Wille sei, hörte sie eine Stimme –

eine neue Stimme, Rochesters Stimme –, die aus der Ferne nach ihr

rief. Wo kam sie her, diese Stimme? Diese Frage stellten sich weltweit

an die achtzig Millionen Leser, während sie die neue Geschichte, die

sich vor ihren Augen schrieb, gebannt verfolgten.

»Was soll das heißen?« fragte Victor.

- 364 -

»Ich weiß nicht«, antwortete Plink. »Das ist zwar Charlotte Brontë

pur, stand vorher aber definitiv nicht im Manuskript!«

»Thursday«, murmelte Victor. »Das muß sie sein. Mycroft, halten

Sie sich bereit!«

Begeistert lasen sie, wie Jane sich gegen Indien und St. John Rivers

entschied und beschloß, nach Thornfield Hall zurückzukehren.

Mit Mühe und Not schaffte ich es nach Ferndean und zu Rochester

zurück, bevor Jane dort eintraf. Ich überbrachte ihm die Neuigkeit im

Speisezimmer; wie ich sie im Haus der Rivers gefunden, mich unter

ihr Fenster geschlichen und mit verstellter Stimme: »Jane! Jane!

Jane!« gerufen hatte, wie Rochester es manchmal tat. Es war keine

besonders gute Imitation, doch sie erfüllte ihren Zweck. Jane bebte

geradezu vor Erregung und packte auf der Stelle ihre Sachen.

Rochester schien alles andere als begeistert. »Ich weiß nicht, ob ich

Ihnen danken oder Sie verfluchen soll, Miss Next. Der Gedanke, daß

sie mich so sieht, ein Blinder mit nur einem gesunden Arm! Und

Thornfield in Trümmern! Sie wird mich hassen, ich weiß es

bestimmt!«

»Sie irren, Mr. Rochester. Und wenn Sie Jane auch nur halb so gut

kennen, wie ich glaube, würden Sie nie und nimmer auf so eine Idee

kommen!«

Es klopfte an der Tür. Es war Mary. Sie meldete, daß Rochester

Besuch habe, der seinen Namen jedoch nicht nennen wolle.

»Herr im Himmel!« rief Rochester. »Sie ist es! Sagen Sie, Miss

Next! Ob sie mich wohl lieben könnte? So, wie ich bin?«

Ich beugte mich zu ihm hinunter und küßte ihn auf die Stirn. »Aber

natürlich. So wie jede andere auch. Mary, lassen Sie sie nicht herein;

wie ich Jane kenne, wird sie sich trotzdem nicht abweisen lassen.

Leben Sie wohl, Mr. Rochester. Ich weiß beim besten Willen nicht,

wie ich Ihnen danken soll, aber ich kann Ihnen versichern, ich werde

Sie und Jane niemals vergessen.«

- 365 -

Rochester wandte den Kopf, ganz so, als wolle er am Geräusch

herausbekommen, wo ich mich befand. Er streckte den Arm aus und

drückte meine Hand. Seine Haut war weich und warm. Ich dachte

unwillkürlich an Landen.

»Adieu, Miss Next! Sie haben ein großes Herz; werfen Sie es nicht

achtlos fort. Es gibt jemanden, der Sie liebt und den Sie lieben.

Wählen Sie das Glück!«

Als Jane hereinkam, stahl ich mich rasch ins Nebenzimmer und

verriegelte lautlos die Tür, während Rochester den Arglosen mimte

und vorgab, Jane nicht zu erkennen.

»Geben Sie mir das Wasser, Mary«, sagte er. Ein Rascheln ertönte,

dann hörte ich Pilot durchs Zimmer tappen.

»Was geht hier vor?« erkundigte sich Rochester in seinem üblichen

schroffen Ton. Ich unterdrückte ein Kichern.

»Platz, Pilot!« befahl Jane. Der Hund gab Ruhe, und einen

Augenblick lang war es still.

»Mary, Sie sind es doch, nicht wahr?« fragte Rochester.

»Mary ist in der Küche«, erwiderte Jane.

Ich zog Mycrofts zerfleddertes Heft und das leicht angesengte

Gedicht aus meiner Tasche. Ich hatte zwar noch ein Hühnchen mit

Jack Schitt zu rupfen, aber das konnte warten. Ich sank erschöpft in

einen Sessel, als ein Ausruf Rochesters durch die Tür drang.

» Wer ist da? Was soll das? Wer spricht da?«

Ich spitzte die Ohren.

»Pilot kennt mich«, gab Jane fröhlich zurück, »und John und Mary

wissen, daß ich hier bin. Ich bin gerade erst gekommen!«

»Grundgütiger!« stieß Rochester hervor. »Was für eine

Sinnestäuschung ist das? Welch süßer Wahn hält mich umfangen?«

»Danke, Edward«, flüsterte ich, als sich das Portal in einer

Zimmerecke öffnete. Ich warf einen letzten Blick auf die Welt, in die

ich nie zurückkehren würde, und trat hindurch.

- 366 -

Ein greller Blitz, sekundenlanges Rauschen, Ferndean Manor war

verschwunden, und an seiner Stelle erblickte ich den vertrauten,

schäbigen Salon des Hotels Penderyn. Bowden, Mycroft und Victor

stürmten freudig auf mich zu. Ich gab Mycroft das Gedicht und die

Gebrauchsanweisung; der machte sich sofort daran, das Tor zu den

»Narzissen« zu öffnen.

»Hades?« fragte Victor.

»Tot.«

»Sicher?«

» Hundertprozentig. «

Das Portal öffnete sich erneut, Mycroft eilte hindurch und kehrte

kurz darauf mit Polly an der Hand zurück; sie hatte einen Strauß

Narzissen im Arm und schien sich in Ausflüchten zu ergehen.

»Wir haben uns doch nur unterhalten, mein geliebter Crofty! Du

glaubst doch nicht im Ernst, daß ich mich für einen toten Dichter

interessiere, oder?«

»Jetzt bin ich dran«, sagte Jack Schitt aufgeregt und schwenkte Das

Plasmagewehr auf dem Schlachtfeld. Er legte es zu den

Bücherwürmern und machte Mycroft ein Zeichen, das Portal zu

öffnen. Sobald die Würmer ihre Arbeit beendet hatten, tat Mycroft wie

geheißen. Grinsend streckte Schitt den Arm durch die schimmernde,

weiße Öffnung und tastete nach einem der Plasmagewehre, die im

Buch so eindrucksvoll geschildert wurden.

Aber Bowden hatte andere Pläne. Er gab ihm einen leichten Stups,

und Jack Schitt verschwand schreiend in der Öffnung. Bowden nickte

Mycroft zu, und der zog den Stecker. Die Maschine verstummte, und

die Verbindung zum Buch brach ab. Jack Schitt hatte sich den

falschen Moment ausgesucht. Vor lauter Begeisterung für das Gewehr

hatte er vergessen, seine Gorillas zu rufen. Als die beiden GoliathLeute eintraten, waren Bowden und Mycroft schon dabei, das

ProsaPortal zu zerstören, nachdem sie die Bücherwürmer vorsichtig

- 367 -

umgefüllt und dem Vertreter der Brontë-Gesellschaft das – jetzt leicht

veränderte – Originalmanuskript von Jane Eyre überreicht hatten.

»Wo ist Colonel Schitt?« fragte der erste der beiden Männer.

Victor zuckte die Achseln. »Er mußte kurzfristig weg. Es ging um

die Plasmagewehre.«

Die Goliath-Leute hätten vermutlich weitere Fragen gestellt, wäre

der walisische Außenminister nicht gerade in diesem Moment im

Hotel eingetroffen, um uns mitzuteilen, daß man uns nun, da der Fall

erledigt sei, aus der Republik zu eskortieren gedenke. Die GoliathAgenten protestierten, wurden jedoch bald von mehreren Soldaten der

Walisisch-Republikanischen Armee hinauskomplimentiert, die sich

von den Drohungen der beiden nicht im mindesten beeindrucken

ließen.

Wir wurden in der Präsidentenlimousine von Merthyr nach

Abertawe kutschiert. Der Vertreter der Brontë-Gesellschaft verlor

während der gesamten Fahrt kein Wort – ich spürte, daß er mit dem

neuen Schluß nicht recht zufrieden war. Als wir in die Stadt kamen,

machte ich mich aus dem Staub, rannte zu meinem Wagen und fuhr –

Rochesters Rat beherzigend – auf schnellstem Weg nach Swindon.

Um fünfzehn Uhr sollten Landen und Daisy sich das Jawort geben,

und dabei wollte ich sie nicht allein lassen.

- 368 -

35.

Unser Buch geht zu Ende

Ich hatte Jane Eyre erheblich entstellt; meine »Jane!

Jane! Jane!«-Rufe an ihrem Fenster hatten das Buch für

immer verändert. Das war ein schwerer Verstoß gegen

meine Ausbildung als LitAg und alle Grundsätze, die zu

wahren ich geschworen hatte. Für mich war es nichts

weiter als ein Akt der Wiedergutmachung; schließlich

trug ich die Schuld daran, daß Thornfield abgebrannt und

Rochester verletzt worden war. Ich hatte aus Mitleid,

nicht aus Pflichtgefühl gehandelt, und das ist manchmal

auch ganz gut so.

THURSDAY NEXT

- private Tagebücher

Um fünf nach drei hielt ich mit quietschenden Reifen vor der Kirche

Unserer Heiligen Jungfrau von den Hummern, zum Erstaunen des

Fotografen und des Fahrers eines großen Hispano-Suiza, der für das

glückliche Paar bereitstand. Ich atmete tief durch, sammelte meine

Gedanken und lief mit weichen Knien die Treppe hinauf. Die Orgel

toste, und als ich vor der Tür stand, verließ mich beinahe der Mut.

Was zum Teufel machte ich hier eigentlich? Glaubte ich allen Ernstes,

daß ich nach zehnjähriger Abwesenheit wie aus dem Nichts

auftauchen konnte und der Mann, den ich einst geliebt hatte, alles

stehen und liegen lassen und mich heiraten würde?

»Und ob«, sagte eine Frau zu ihrer Begleitung, als ich an ihnen

vorbeiging, »Landen und Daisy sind verliebt bis über beide Ohren!«

Ich schlich im Schneckentempo weiter, in der heimlichen Hoffnung,

daß ich vielleicht zu spät gekommen wäre und mir die Last der

Entscheidung auf diese Weise abgenommen worden sei. Die Kirche

war bis auf den letzten Platz besetzt, und ich schlüpfte unbemerkt

hinein und versteckte mich im Schatten des Taufsteins. Vorn standen

- 369 -

Landen und Daisy, umringt von einer kleinen Schar Brautjungfern und

Helfern. Viele Gäste trugen Uniform, Landens alte Kameraden aus

dem Krimkrieg. Eine Frau, die ich für Daisys Mutter hielt, schniefte in

ihr Taschentuch, und ihr Vater sah ungeduldig auf seine Armbanduhr.

Landens Mutter saß allein auf der anderen Seite.

»Ich ersuche und ermahne euch«, sprach der Pfarrer, »vorzutreten

und die Stimme zu erheben, so einem von euch ein Ehehindernis

bekannt ist, oder aber für immer zu schweigen.«

Er hielt inne, und mehrere Gäste rutschten unruhig hin und her. Mr.

Mutlar, dessen fehlendes Kinn ein wulstiger Specknacken mehr als

wettmachte, schien sich nicht allzu wohl zu fühlen und blickte nervös

um sich. Der Pfarrer wandte sich an Landen und wollte eben

fortfahren, als von hinten eine Stimme laut und deutlich sagte:

»Die Trauung darf nicht fortgesetzt werden: Ich erkläre hiermit, daß

ein Ehehindernis besteht!«

Hundertfünfzig Köpfe drehten sich nach dem Sprecher um. Einer

von Landens Freunden lachte, er hielt das Ganze für einen Scherz.

Daisys Vater wollte sich das nicht bieten lassen. Mit Landen hatte

seine Tochter einen guten Fang gemacht, und ein geschmackloser

Witz durfte die Trauung nicht stören.

»Fahren Sie fort!« befahl er mit Donnerstimme.

Der Pfarrer blickte vom Sprecher zu Daisy und Landen und von dort

weiter zu Mr. Mutlar.

»Ich kann erst fortfahren, wenn feststeht, ob der Einspruch

berechtigt ist oder nicht«, sagte er mit gequältem Gesicht; so etwas

hatte er noch nie erlebt.

Mr. Mutlars Gesicht hatte eine äußerst ungesunde tiefrote Färbung

angenommen, und wäre er in seiner Nähe gewesen, hätte er den

Sprecher wahrscheinlich verprügelt.

»Was soll dieser Unfug?« brüllte er statt dessen, worauf ein Raunen

durch die Bänke ging.

»Unfug, Sir?« erwiderte der Sprecher mit klarer Stimme. »Bigamie

läßt sich wohl schwerlich als Unfug bezeichnen.«

- 370 -

Ich starrte Landen an, den diese Wende der Ereignisse sichtlich

verwirrte. War er etwa schon verheiratet? Ich konnte es nicht fassen.

Ich wandte mich nach dem Sprecher um, und mir stockte das Herz. Es

war Mr. Briggs, der Anwalt, den ich zuletzt in der Kirche in

Thornfield gesehen hatte! Plötzlich hörte ich etwas rascheln, und als

ich mich umdrehte, stand Mrs. Nakijima neben mir und hob lächelnd

einen Finger an die Lippen. Ich runzelte die Stirn, und der Pfarrer

sprach weiter.

»Welcher Art ist denn das Hindernis? Vielleicht läßt es sich ja

beseitigen oder erklären oder irgendwie aus der Welt schaffen?«

»Schwerlich«, lautete die Antwort. »Ich habe es unüberwindlich

genannt, und ich pflege meine Worte mit Bedacht zu wählen. Es

besteht schlechtweg in einer früheren Ehe.«

Landen und Daisy sahen sich fragend an.

» Verdammt noch mal, wer sind Sie? « fragte Mr. Mutlar. Er schien

vor Wut beinahe platzen zu wollen.

»Mein Name ist Briggs, ich bin Anwalt in der Dash Street zu

London.«

»Tja, Mr. Briggs, vielleicht hätten Sie die Güte, uns über Mr. ParkeLaines frühere Ehe und die Machenschaften dieses feinen Herrn ins

Bild zu setzen?«

Briggs blickte von Mr. Mutlar zu dem Paar vor dem Altar.

»Meine Informationen betreffen nicht Mr. Parke-Laine; ich spreche

von Miss Mutlar, oder, mit Ehenamen, Mrs. Daisy Posh!«

Ein Aufschrei des Entsetzens ging durch die Gemeinde. Landen

starrte Daisy an; die warf ihren Blumenkranz zu Boden. Eine der

Brautjungfern fing an zu weinen, und Mr. Mutlar stürmte nach vorn

und ergriff Daisys Arm.

»Miss Mutlar heiratete Mr. Murray Posh am 20. Oktober 1981!« rief

Mr. Briggs mit lauter Stimme, um den Tumult zu übertönen. »Die

Trauung fand in Southwark statt! Die Ehe wurde nie geschieden!«

Das war zuviel. Es erhob sich lauter Protest, und die Familie Mutlar

eilte hastig davon. Der Pfarrer richtete ein unerhörtes Gebet an

- 371 -

niemand bestimmten, während Landen schwerfällig auf die Bank

sank, welche die Familie Mutlar gerade geräumt hatte. Von hinten

schrie jemand: »Geldgeile Schlampe!«, und die Familie Mutlar rannte

die Treppe hinunter, um den Beschimpfungen zu entkommen, die man

in einer Kirche so noch nie vernommen hatte. Einer der Trauzeugen

benutzte das Durcheinander dazu, um eine Brautjungfer zu küssen; die

quittierte seine Bemühungen mit einer schallenden Ohrfeige.

Ich lehnte mich gegen den kalten Stein der Kirchenmauer und

wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Obwohl ich wußte, daß es

eigentlich nicht richtig war, lachte ich. Briggs zwängte sich durch die

aufgebrachte Menschenmenge und lüftete höflich den Hut.

»Guten Tag, Miss Next.«

»Eine wunderschönen guten Tag, Mr. Briggs! Wie, um alles in der

Welt, kommen Sie hierher?«

»Die Rochesters haben mich geschickt.«

»Aber ich habe das Buch doch erst vor drei Stunden verlassen!«

Mrs. Nakijima fuhr dazwischen. »Sie haben es kaum zwölf Seiten

vor Schluß verlassen. In dieser Zeit sind in Thornfield über zehn Jahre

vergangen; Zeit genug, um alles genau zu planen!«

»Thornfield?«

»Ja, sie haben es wieder aufgebaut. Seit mein Mann im Ruhestand

ist, bewirtschaften wir das Haus. Weder er noch ich werden im Roman

erwähnt, und Mrs. Rochester ist sehr daran gelegen, daß dem auch so

bleibt; ein weitaus angenehmeres Leben als in Osaka, und noch dazu

viel einträglicher als die Touristikbranche.«

Mir fehlten die Worte.

»Mrs. Jane Rochester hat Mrs. Nakijima gebeten, mich

hierherzubringen, um Sie zu unterstützen«, bemerkte Mr. Briggs. »Sie

und Mr. Rochester wollten Ihnen helfen, wie Sie ihnen geholfen

haben. Sie wünschen Ihnen Glück und Gesundheit für die Zukunft und

danken Ihnen für Ihre zeitige Intervention.«

Ich lächelte. »Wie geht es den beiden?«

- 372 -

»Ausgezeichnet, Miss«, antwortete Briggs vergnügt. »Ihr

Erstgeborener ist jetzt fünf; ein braver, rundum gesunder Junge, das

getreue Ebenbild seines Vaters. Vergangenen Frühling hat Jane eine

wunderschöne Tochter zur Welt gebracht. Sie haben sie Heien

Thursday Rochester getauft.«

Ich sah zu Landen, der am Eingang stand und seiner Tante Ethel zu

erklären versuchte, was hier vor sich ging.

»Ich muß mit ihm sprechen.«

Ich war wieder allein. Mrs. Nakijima und der Anwalt waren nach

Thornfield entschwunden, um Jane und Edward den erfolgreichen

Vollzug ihrer Mission zu melden.

Als ich näher kam, setzte sich Landen auf die Kirchentreppe, zog die

Nelke aus seinem Knopfloch und schnupperte nachdenklich daran.

»Hallo, Landen.«

Landen blickte auf und blinzelte. »Ach«, sagte er. »Thursday. Ich

hätte es mir denken können.«

»Darf ich mich zu dir setzen?«

»Tu dir keinen Zwang an.«

Ich hockte mich neben ihn auf die warmen Kalksteinstufen.

»Steckst du hinter der ganzen Sache?«

»Nein, ausnahmsweise einmal nicht«, antwortete ich. »Ich muß

gestehen, daß ich hierhergekommen bin, um die Hochzeit zu

verhindern, aber dann hat mich der Mut verlassen.«

Er sah mich an. »Warum?«

»Warum? Na ja, weil … weil ich dachte, daß ich eine bessere Mrs.

Parke-Laine abgebe als Daisy. Nehme ich an.«

»Das weiß ich«, rief Landen, »und ich bin ganz deiner Meinung. Ich

wollte wissen, warum dich der Mut verlassen hat. Schließlich jagst du

Verbrechergenies, leistest hochriskante SpecOps-Arbeit, verstößt

munter gegen so ziemlich jede Regel, um unter schwerem

Artilleriesperrfeuer stehende Kameraden zu retten, und dann …«

- 373 -

»Verstehe. Weiß auch nicht. Vielleicht ist es leichter, diese

Entscheidungen auf Leben und Tod zu fällen, wenn es nur Schwarz

und Weiß gibt. Jedenfalls komme ich damit problemlos klar.

Emotionen dagegen, tja … die sind eine Grauzone, und mit

Zwischentönen habe ich so meine Schwierigkeiten.«

»In dieser Grauzone lebe ich jetzt seit zehn Jahren, Thursday.«

»Ich weiß, und das tut mir leid. Es ist mir schwergefallen, meine

Gefühle für dich mit deinem vermeintlichen Verrat an Anton zu

vereinbaren. Das war wie ein emotionales Tauziehen, und ich war das

kleine Tüchlein in der Mitte, zwischen den beiden Parteien, und

konnte mich nicht rühren.«

»Ich habe ihn auch geliebt, Thursday. Er war so etwas wie ein

Bruder für mich. Aber irgendwann mußte ich das Seil loslassen.«

»Ich habe auf der Krim etwas verloren«, murmelte ich, »aber ich

glaube, ich habe es wiedergefunden. Meinst du, wir haben die Zeit, es

noch einmal zu versuchen?«

»In letzter Minute, was?« sagte er grinsend.

»Nein«, erwiderte ich, »eher drei Sekunden vor zwölf!«

Er küßte mich zärtlich auf den Mund. Es war eine warme, vertraute

Empfindung, wie wenn man nach einem langen Spaziergang durch

den Regen nach Hause kommt und im Kamin ein Feuer prasselt. Mir

kamen die Tränen, und ich schluchzte leise in seinen Kragen, während

er mich in den Armen hielt.

»Verzeihung«, sagte der Pfarrer, der auf einen geeigneten Moment

gewartet hatte. »Ich störe nur ungern, aber um halb vier habe ich die

nächste Trauung.«

Entschuldigungen murmelnd standen wir auf. Die Hochzeitsgäste

warteten noch immer auf eine endgültige Entscheidung. Fast alle

wußten von Landen und mir, und nur wenige, wenn überhaupt, hielten

Daisy für die bessere Partie.

»Willst du?« flüsterte mir Landen ins Ohr.

»Will ich was?« fragte ich und unterdrückte ein Kichern.

- 374 -

» Dummkopf! Willst du mich heiraten?«

»Hmm«, sagte ich, und mein Herz machte einen Lärm wie die

Kanonen auf der Krim. »Darüber muß ich nachdenken …«

Landen runzelte fragend die Stirn.

»Ja! Ja, ja! Ich will, ich will, ich will!«

»Endlich!« seufzte Landen. »Was muß ich nicht alles auf mich

nehmen, um die Frau meines Herzens zu kriegen!«

Wir küßten uns noch einmal, diesmal etwas länger; so lange, bis der

Pfarrer schließlich auf seine Uhr sah und Landen auf die Schulter

tippte.

»Danke für die Generalprobe«, sagte Landen und schüttelte dem

Pfarrer die Hand. »In vier Wochen sehen wir uns wieder!«

Der Pfarrer zuckte die Achseln. Dies war die wohl absurdeste

Hochzeit seiner Laufbahn.

»Freunde«, verkündete Landen den verbliebenen Gästen, »ich

möchte meine Verlobung mit dieser wunderschönen SpecOps-Agentin

namens Thursday Next bekanntgeben. Wie ihr wißt, hatten wir die

eine oder andere Meinungsverschiedenheit, aber das ist jetzt fast

vergessen. In meinem Garten steht ein Festzelt, es gibt jede Menge zu

essen und zu trinken, und wenn mich nicht alles täuscht, spielt ab

sechs Uhr Holroyd Wilson. Da es eine Schande wäre, das alles zu

vergeuden, schlage ich der Einfachheit halber vor, daß wir den Anlaß

ändern! Wir feiern jetzt unsere Verlobung!«

Die Gäste stimmten begeistert zu und verteilten sich auf die

verfügbaren Transportmittel. Landen und ich nahmen meinen Wagen

und machten einen kleinen Umweg. Wir hatten uns viel zu erzählen,

und die Party … nun ja, die kam auch eine Weile ohne uns aus.

Die Fete dauerte bis vier Uhr morgens. Ich trank zuviel und fuhr mit

dem Taxi ins Hotel zurück. Landen bekniete mich, doch über Nacht

zu bleiben, aber ich erklärte ihm etwas kokett, da müsse er bis nach

der Hochzeit warten. Ich erinnere mich nur noch, daß ich in mein

Hotelzimmer zurückkam, alles andere ist vergessen; ich lag in tiefem

- 375 -

Koma, bis um neun Uhr am nächsten Morgens das Telefon schrillte.

Ich war halb angezogen, Pickwick schaute Frühstücksfernsehen, und

mein Kopf tat so weh, als ob er jeden Moment platzen wollte.

Es war Victor. Er klang nicht besonders gut gelaunt, aber

Höflichkeit war eine seiner Stärken. Er erkundigte sich nach meinem

unwerten Befinden.

»Es ging mir schon mal besser. Wie läuft’s im Büro?«

»Mäßig«, antwortete Victor mit einer gewissen Zurückhaltung in

der Stimme. »Die Goliath Corporation will sich mit Ihnen über Jack

Schitt unterhalten, und die Brontë-Gesellschaft ist stocksauer, weil Sie

das Buch, ich zitiere, ›versaut‹ haben. War es denn unbedingt nötig,

Thornfield niederzubrennen?«

»Das war Hades …«

»Und Rochester? Blind und mit verstümmelter Hand? Ich nehme an,

das war auch Hades?«

»Ähm, ja.«

»Da haben Sie wahrhaftig einen ziemlich kapitalen Bock

geschossen, Thursday. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie

vorbeikommen und mit den Brontë-Leuten sprechen könnten. Der

gesamte Vorstand ist hier bei mir, und die Herrschaften wollen Ihnen

weiß Gott keinen Orden anheften.«

Es klopfte an der Tür. Ich versprach Victor, so schnell wie möglich

dort zu sein, und stand schwankend auf.

»Ja, bitte?« rief ich.

»Zimmerservice!« antwortete eine Stimme vor der Tür. »Ein Mr.

Parke-Laine hat Kaffee für Sie bestellt!«

»Moment!« sagte ich und versuchte Pickwick ins Bad zu scheuchen;

Haustiere waren im Hotel strengstens verboten. Anders als sonst

wirkte er leicht aggressiv; hätte er Flügel gehabt, hätte er vermutlich

wütend damit geschlagen.

- 376 -

»Mach … jetzt … bitte … keine … Schwierigkeiten!« ächzte ich,

schob das widerborstige Federvieh ins Badezimmer und verriegelte

die Tür.

Ich zog mir einen Bademantel über und öffnete die Tür. Schwerer

Fehler. Draußen stand zwar ein Kellner, doch der war nicht allein.

Kaum hatte ich die Tür ganz aufgemacht, zwängten sich noch zwei

weitere Männer in schwarzen Anzügen ins Zimmer, schleuderten

mich gegen die Wand und hielten mir eine Kanone an den Kopf.

»Wenn Sie Kaffee mit mir trinken wollen, brauchen Sie noch zwei

Tassen«, preßte ich durch die Lippen.

»Sehr witzig«, meinte der falsche Kellner.

»Goliath?«

»Sie haben’s erfaßt.«

Er spannte den Hahn des Revolvers.

»Und jetzt zur Sache, Schätzchen. Schitt ist ein wichtiger Mann, und

wir wollen wissen, wo er ist. Die nationale Sicherheit und der

Krimkrieg hängen davon ab, dagegen ist das Leben einer mickrigen

Agentin einen Dreck wert.«

»Ich bringe Sie zu ihm«, stieß ich mühsam hervor und schnappte

gierig nach Luft. »Es ist ein paar Meilen außerhalb der Stadt.«

Der Goliath-Agent lockerte seinen Griff und befahl mir, mich

anzuziehen. Ein paar Minuten später verließen wir das Hotel. Ich hatte

noch immer einen dicken Kopf, und ein dumpfer Schmerz pochte in

meinen Schläfen, aber wenigstens konnte ich inzwischen wieder

halbwegs klar denken. Vor dem Eingang standen eine Handvoll Leute,

und es befriedigte mich sehr, als ich die Familie Mutlar erkannte, die

sich offenbar auf dem Rückweg nach London befand. Daisy redete auf

ihren Vater ein, und Mrs. Mutlar schüttelte entnervt den Kopf.

»Geldgeile Schlampe!« rief ich.

Schlagartig verstummten Daisy und ihr Vater und sahen mich mit

großen Augen an, während die Goliath-Leute mich an ihnen

vorbeizulotsen versuchten.

- 377 -

»Was haben Sie gesagt?!«

»Haben Sie was an den Ohren? Ich weiß nicht, wer die größere

Nutte ist, Ihre Frau oder Ihre Tochter.«

Das verfehlte seine Wirkung nicht. Mr. Mutlar lief tiefrot an und

schlug mit der Faust nach mir. Ich duckte mich, und der Hieb traf

einen der Goliath-Leute. Ich rannte in Richtung Parkplatz. Eine Kugel

pfiff über meine Schulter; ich wich aus, trat auf die Fahrbahn und

wäre beinahe von einer großen schwarzen, militärisch anmutenden

Ford-Limousine überfahren worden, die mit quietschenden Reifen

zum Stehen kam.

»Steigen Sie ein!« rief der Fahrer. Ich ließ mich nicht zweimal

bitten. Ich sprang hinein, und der Ford raste davon, während zwei

Einschußlöcher in der Heckscheibe erschienen. Der Wagen jagte mit

qualmenden Reifen um die Ecke und war bald außer Schußweite.

»Danke«, murmelte ich. »Eine Sekunde später, und ich hätte mir die

Radieschen von unten beguckt. Können Sie mich vor der SpecOpsZentrale absetzen?«

Der Chauffeur schwieg; zwischen ihm und mir befand sich eine

Trennscheibe aus dickem Glas, und mit einem Mal beschlich mich das

ungute Gefühl, womöglich vom Regen in die Traufe geraten zu sein.

»Sie können mich irgendwo absetzen«, sagte ich. Er gab keine

Antwort. Ich zog an den Türgriffen, aber die Türen waren verriegelt.

Ich hämmerte gegen das Glas, doch er ignorierte mich; wir fuhren am

SpecOps-Gebäude vorbei in Richtung Altstadt. Und das ziemlich

schnell. Zweimal überfuhr er eine rote Ampel, und einmal nahm er

einem Bus die Vorfahrt; ich knallte gegen die Tür, als er so rasant um

eine Ecke bog, daß er beinahe mit einem Bierwagen kollidiert wäre.

»He, halten Sie an!« schrie ich und schlug erneut gegen die

Trennscheibe. Worauf der Fahrer noch mehr Gas gab und in der

nächsten Kurve einen anderen Wagen schnitt.

Ich zerrte an den Türgriffen und wollte eben mit den Absätzen

gegen das Fenster treten, als der Wagen urplötzlich eine

Vollbremsung machte; ich rutschte vom Sitz und klatschte wie ein

nasser Sack auf den Boden. Der Chauffeur stieg aus, öffnete mir die

- 378 -

Tür und sagte: »Bitte sehr, junges Fräulein, Sie wollen Colonel Phelps

doch wohl nicht warten lassen?«

»Colonel Phelps?« stammelte ich. Der Fahrer lächelte und grüßte

zackig, als der Groschen endlich fiel. Phelps hatte versprochen, mir

einen Wagen zu schicken, damit ich an der Diskussionsrunde

teilnehmen konnte, und er hatte Wort gehalten.

Ich sah hinaus. Wir standen vor dem Swindoner Rathaus, und eine

riesige Menschenmenge starrte mich an.

»Hallo, Thursday!« sagte eine vertraute Stimme.

»Lydia?« fragte ich, überrascht vom jähen Wechsel der Ereignisse.

Tatsächlich. Und sie war beileibe nicht die einzige Reporterin vor

Ort; sechs oder sieben Kameras waren auf mich gerichtet, während ich

mich aus meiner überaus mißlichen und noch dazu höchst uneleganten

Lage zu befreien und auszusteigen versuchte.

»Ich bin Lydia Startright vom Toad News Network«, sagte Lydia

mit ihrer besten Reporterstimme, »und neben mir steht Thursday

Next, die SpecOps-Agentin, die Jane Eyre gerettet hat. Zunächst

einmal, Miss Next, möchte ich Ihnen zu Ihrer erfolgreichen

Rekonstruktion des Romans gratulieren!«

»Was soll das heißen?« antwortete ich. »Ich habe alles vermasselt!

Ich habe Thornfield abgefackelt und den armen Mr. Rochester halb

verstümmelt!«

Miss Startright lachte. »Jüngsten Umfragen zufolge finden

neunundneunzig von hundert Befragten den neuen Schluß wesentlich

besser als den alten! Jane und Rochester heiraten! Ist das nicht

wunderbar?«

»Aber die Brontë-Gesellschaft …?«

»… hat das Buch ja nicht für sich gepachtet«, sagte ein Mann im

Leinenanzug, an dessen Revers eine große blaue Charlotte-BrontëRosette prangte.

»Die Gesellschaft ist ein Haufen aufgeblasener Wichtigtuer.

Gestatten, Walter Branwell, Vorsitzender der Kampfgruppe ›Brontë

fürs Volk‹.«

- 379 -

Er streckte mir die Hand hin und grinste energisch; einige Zuschauer

klatschten Beifall. Ein regelrechtes Blitzlichtgewitter brach los, als

mir ein kleines Mädchen einen Strauß Blumen überreichte und ein

anderer Journalist mich fragte, was für ein Mensch Rochester sei. Der

Chauffeur nahm mich am Arm und führte mich ins Rathaus.

»Colonel Phelps erwartet Sie, Miss Next«, raunte er mir freundlich

zu. Die Menge bildete ein Spalier, und ich kam in eine riesige,

berstend volle Halle. Verwundert blinzelnd blickte ich mich um. Ein

aufgeregtes Murmeln ging durch den Saal, und ich hörte mehrere

Gäste meinen Namen flüstern. Im alten Orchestergraben befand sich

eine improvisierte Presseloge, besetzt mit einer Phalanx von

Reportern aller großen Sender. Die Veranstaltung in Swindon war in

den Brennpunkt des öffentlichen Interesses gerückt; was hier

gesprochen wurde, war von kaum zu überschätzender Bedeutung. Ich

bahnte mir einen Weg zur Bühne, wo sich die beiden feindlichen

Lager an zwei Tischen gegenübersaßen. Über Colonel Phelps hing

eine große englische Flagge; sein Tisch war mit Wimpeln und Blumen

geschmückt und bog sich unter der Last von Notizblöcken und

Flugblättern. Unterstützt wurde er von mehreren, zumeist

uniformierten Angehörigen der Streitkräfte, die auf der Halbinsel

Dienst getan hatten. Einer der Soldaten hatte sogar ein Plasmagewehr

bei sich.

Am anderen Ende der Bühne stand der »Anti«-Tisch. Auch hier

saßen zahlreiche Veteranen, freilich nicht in Uniform. Ich erkannte

das Studentenpärchen, das mich am Flugplatz in Empfang genommen

hatte, und meinen Bruder Joffy, der mich lächelnd mit einem

stummen: »Na, du Pflaume?« begrüßte. Es wurde still im Saal; die

Zuschauer hatten von meiner Teilnahme gehört und auf mein

Eintreffen gewartet.

Die Kameras folgen mir, als ich mich der Bühnentreppe näherte und

langsam hinaufstieg. Phelps stand auf, um mich willkommen zu

heißen, doch ich ließ ihn links liegen, ging weiter zum »Anti«-Tisch

und nahm auf dem Stuhl Platz, den einer der Studenten für mich

geräumt hatte. Phelps war entsetzt; er wurde puterrot, beherrschte sich

jedoch, als er bemerkte, daß die Fernsehkameras auf ihn gerichtet

waren.

- 380 -

Lydia Startright war mir auf die Bühne gefolgt. Sie sollte die

Veranstaltung moderieren; sie und Colonel Phelps hatten darauf

bestanden, auf mich zu warten. Startright war froh darüber; Phelps

nicht.

»Verehrte Damen und Herren«, hob Lydia an, »der

Verhandlungstisch in Budapest ist verwaist, und die neue englische

Offensive wirft ihren Schatten voraus. Während eine Million Soldaten

einander auf dem Schlachtfeld gegenüberstehen, wollen wir uns die

Frage stellen: Wie steht es um die Krim?«

Phelps stand auf und wollte etwas sagen, doch ich kam ihm zuvor.

»Ich weiß, es ist ein alter Kalauer«, begann ich, »aber der Krimkrieg

ist Krim-inell.« Ich machte eine Pause. »Davon bin ich überzeugt, und

für diese Überzeugung kämpfe ich. Selbst Colonel Phelps dort drüben

wird mir zustimmen, wenn ich sage, daß es höchste Zeit ist, die Krim

endgültig zu befrieden.«

Colonel Phelps nickte.

»Im Unterschied zum Colonel bin ich allerdings der Meinung, daß

Rußland einen berechtigteren Anspruch auf das Territorium hat.«

Eine kontroverse Bemerkung; Phelps’ Anhänger waren empört, und

es dauerte zehn Minuten, bis die Ordnung wiederhergestellt war.

Schließlich gelang es Startright, die Gemüter zu beruhigen, so daß ich

endlich fortfahren konnte.

»Vor knapp zwei Monaten bot sich die günstige Gelegenheit, diesen

Wahnsinn ein für allemal zu beenden. England und Rußland saßen in

Budapest am Verhandlungstisch, und der vollständige Rückzug aller

englischen Truppen schien nur noch eine Frage der Zeit.«

Im Saal herrschte Totenstille. Phelps hatte sich zurückgelehnt und

ließ mich keine Sekunde aus den Augen.

»Doch dann kam das Plasmagewehr. Codename: Stonk.«

Ich blickte einen Moment zu Boden.

»Besagtes Stonk war der Schlüssel zu einer neuen Offensive und

einem möglichen Wiederaufflackern des Krieges, in dem es seit acht

Jahren – Gott sei Dank – nur zu vereinzelten Gefechten gekommen ist.

- 381 -

Es gibt da allerdings ein Problem. Die Offensive ist auf Sand gebaut;

allen anderslautenden Behauptungen zum Trotz ist das Plasmagewehr

nur ein Bluff – Stonk funktioniert nicht! «

Ein Raunen ging durch den Saal. Phelps starrte mich mürrisch an,

eine Augenbraue zuckte. Er flüsterte dem Brigadier, der neben ihm

saß, etwas zu.

»Die englischen Truppen warten auf eine neue Waffe, die nicht

kommen wird. Die Goliath Corporation hat die englische Regierung

zum Narren gehalten; trotz Investitionen in Milliardenhöhe taugt das

Plasmagewehr soviel wie ein Besenstiel.«

Ich setzte mich. Niemandem, weder dem Publikum vor Ort noch den

Zuschauern der Fernsehübertragung, entging die Tragweite meiner

Worte; der englische Kriegsminister hatte den Telefonhörer schon in

der Hand. Er wollte mit den Russen sprechen, bevor die auf dumme

Gedanken kamen – und womöglich zum Angriff übergingen.

Colonel Phelps war aufgestanden.

»Kühne Behauptungen, die von geradezu bestürzender Unkenntnis

zeugen«, proklamierte er gönnerhaft. »Wir alle haben gesehen, welch

enorme Wirkungen Stonk zu erzielen vermag, und die Schlagkraft

dieses Wunderwerks der Waffentechnik steht hier auch nicht zur

Debatte.«

»Dann liefern Sie uns den Beweis«, entgegnete ich. »Wie ich sehe,

haben Sie ein Plasmagewehr hier im Saal. Kommen Sie mit in den

Park, und führen Sie es uns vor. Ich stelle mich freiwillig als

Zielscheibe zur Verfügung.«

Phelps machte eine Pause, und in dieser Pause verlor er das Duell –

und den Krieg. Er sah zu dem Soldaten mit dem Gewehr; der blickte

ängstlich zurück.

Zwei Minuten später verließen Phelps und seine Leute unter den

Buhrufen des Publikums die Bühne. Er hatte gehofft, seinen gründlich

einstudierten einstündigen Vortrag über das Andenken der Gefallenen

und die Bedeutung der Kameradschaft halten zu können; statt dessen

hielt er nie wieder eine Rede in der Öffentlichkeit.

- 382 -

Vier Stunden später wurde zum ersten Mal seit 131 Jahren ein

offizieller Waffenstillstand erklärt. Nach weiteren vier Wochen saßen

die Politiker am Runden Tisch in Budapest. Und vier Monate später

hatten sämtliche englischen Soldaten die Halbinsel verlassen. Die

Goliath Corporation wurde für ihren Betrug zur Rechenschaft

gezogen. Die Konzernleitung gab – wenig überzeugend – vor, von

nichts gewußt zu haben, und schob alles auf Jack Schitt. Ich hatte

eigentlich auf eine härtere Strafe gehofft, aber wenigstens war ich

Goliath auf diese Weise erst einmal los.

- 383 -

36.

Im Hafen der Ehe

Landen und ich heirateten am selben Tag, als auf der

Krim der Frieden ausgerufen wurde. Um das Honorar für

die Glöckner zu sparen, erklärte mir Landen. Als der

Pfarrer sein »Der möge seine Stimme nun erheben oder

aber für immer schweigen« sprach, schaute ich mich

nervös um, doch niemand meldete sich. Ich traf mich mit

den Leuten von der Brontë-Gesellschaft, und sie

freundeten sich rasch mit dem neuen Ende an, besonders

als sie merkten, daß sie als einzige dagegen waren.

Obwohl ich bedauerte, daß Rochester so schwere

Verletzungen erlitten und obendrein auch noch sein Haus

verloren hatte, freute es mich, daß er und Jane nach über

hundert Jahren der Bitterkeit und Frustration endlich den

wahren Frieden und das Glück genießen konnten, das sie

so redlich verdienten.

THURSDAY NEXT

- Ein Leben für SpecOps

Der Empfang erwies sich als größer, als wir angenommen hatten,

und gegen zehn tummelte sich die Hälfte der Gäste schon draußen in

Landens Garten. Da Boswell ziemlich angetrunken war, verfrachtete

ich ihn in ein Taxi und schickte ihn ins Finis. Paige Turner hatte sich

dem Saxophonisten an den Hals geworfen – seit mindestens einer

Stunde hatte die beiden niemand mehr gesehen. In einem stillen

Moment drückte ich Landens Hand und fragte: »Hättest du eigentlich

Daisy wirklich geheiratet, wenn Briggs nicht eingegriffen hätte?«

»Ich habe die Antworten auf deine Fragen, Schätzchen!«

»Dad?«

Er trug die Paradeuniform eines Colonels der ChronoGarde.

- 384 -

»Ich habe über deine Worte nachgedacht und ein paar

Erkundigungen eingezogen.«

»Tut mir leid, Dad, aber ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«

»Weißt du nicht mehr, wir haben doch vor zwei Minuten erst

miteinander gesprochen?«

»Nein.«

»Verflixt!« rief er. »Dann bin ich offenbar zu früh. Verfluchte

Chronographen!«

Er tippte auf das Zifferblatt und verschwand ohne ein weiteres Wort.

»Dein Vater?« fragte Landen. »Hattest du nicht gesagt, er sei auf der

Flucht?«

»Das war er, ist er und wird er vermutlich auch immer bleiben. Du

weißt schon.«

»Schätzchen!« rief mein Vater. »Na, erstaunt? Mit mir hast du wohl

nicht gerechnet?«

»Das kann man so nicht sagen.«

»Ich wünsche euch beiden alles Gute!«

Ich blickte mich um; die Party war nach wie vor in vollem Gange.

Die Zeit stand nicht still. Es konnte nicht lange dauern, bis die

ChronoGarde auftauchte, um ihn zu verhaften.

Mein Vater erriet, was ich dachte. »Zum Teufel mit SO-12,

Thursday!« sagte er und nahm einem Kellner im Vorbeigehen ein

Glas vom Tablett. »Ich wollte meinen Schwiegersohn kennenlernen.«

Er wandte sich zu Landen um, ergriff seine Hand und musterte ihn

eingehend von Kopf bis Fuß.

»Wie geht es dir, mein Junge? Hast du dich sterilisieren lassen?«

»Äh, nein«, antwortete Landen leicht verlegen.

»Dann vielleicht ein böses Foul beim Rugby?«

»Nein.«

- 385 -

»Ein wohlgezielter Huftritt ins Gemächt?«

»Nein.«

»Und wie steht es mit einem Kricketball in die Klöten?«

»Nein!«

»Gut. Dann gehen aus diesem kläglichen Fiasko ja vielleicht ein

paar Enkelkinder hervor. Es wird höchste Zeit, daß die kleine

Thursday ein paar kräftige Junge wirft, statt wie ein wildes Bergferkel

durch die Gegend zu toben …« Er hielt inne. »Was guckt ihr so

komisch?«

»Du warst doch vor kaum einer Minute erst hier.«

Er runzelte die Stirn, zog eine Augenbraue hoch und blickte

verstohlen um sich.

»Wie ich mich kenne, immer vorausgesetzt es war tatsächlich ich,

halte ich mich irgendwo ganz in der Nähe versteckt. Ja, seht ihr? Da

drüben!«

Er zeigte auf einen Winkel des Gartens, wo sich eine Gestalt im

Schatten hinter dem Gewächshaus verbarg. Er kniff die Augen

zusammen und versuchte den logischen Gang der Ereignisse zu

rekonstruieren.

»Moment. Ich habe dir vermutlich einen Gefallen getan und bin ein

wenig zu früh wieder zurückgekommen; in meinem Beruf nicht

ungewöhnlich.«

»Um was für einen Gefallen sollte ich dich denn gebeten haben?«

fragte ich, nach wie vor etwas verwirrt, aber durchaus bereit, mich auf

sein Spielchen einzulassen.

»Ich weiß nicht«, sagte mein Vater. »Eine brennende Frage, über die

zwar seit Ewigkeiten gestritten wird, die aber bislang unbeantwortet

geblieben ist.«

Ich dachte einen Augenblick nach. »Ging es eventuell um die

Autorenschaft der Shakespeare-Dramen?«

Er lächelte. »Gute Idee. Ich will sehen, was sich machen läßt.«

- 386 -

Er leerte sein Glas. »Also, noch mal alles Gute, ihr beiden; ich muß

los. Die Zeit wartet auf niemand, wie es bei uns so schön heißt.«

Er lächelte, wünschte uns viel Glück für die Zukunft und

verschwand.

»Kannst du mir vielleicht erklären, was hier los ist?« fragte Landen

gründlich verwirrt, nicht so sehr durch die Ereignisse an sich, sondern

vielmehr durch ihre sonderbare Reihenfolge.

»Ich glaube nicht.«

»Bin ich weg, Schätzchen?« fragte mein Vater, der sein Versteck

hinter dem Gewächshaus verlassen hatte.

»Ja.«

»Gut. Also, ich habe herausbekommen, was du wissen wolltest. Ich

bin ins London des Jahres 1610 gereist und habe mich ein wenig

umgehört; Shakespeare war nur ein unbedeutender Schauspieler, der

nebenbei einen kleinen Getreidehandel in Stratford unterhielt, was

ihm so peinlich war, daß er es verschwieg. Kein Wunder – wer täte

das nicht?«

Das war allerdings interessant.

»Und wer hat die Stücke nun geschrieben? Marlowe? Bacon?«

»Nein; so einfach ist das nicht. Verstehst du, kein Mensch hatte von

den Stücken je gehört, geschweige denn sie geschrieben.«

Ich begriff nicht. »Was willst du damit sagen? Daß es sie gar nicht

gibt?«

»Genau das will ich damit sagen. Sie existieren nicht. Sie wurden

nie geschrieben. Weder von ihm noch von sonst jemand.«

»Ich muß doch sehr bitten«, fuhr Landen dazwischen, der allmählich

ungeduldig wurde, »wir haben doch Richard III. erst vor sechs

Wochen gesehen.«

»Natürlich«, sagte mein Vater. »Die Zeit ist aus den Fugen, und wie.

Da mußte ich natürlich etwas unternehmen. Ich nahm ein Exemplar

der Gesammelten Werke mit ins Jahr 1592 und gab sie dem

Schauspieler Shakespeare, damit der sie nach dem vorgegebenen

- 387 -

Fahrplan auf die Bühne bringen konnte. Beantwortet das deine

Frage?«

Ich war immer noch verwirrt. »Dann hat Shakespeare die Stücke

also nicht geschrieben?«

»Weder er«, bestätigte er, »noch Marlowe, Oxford, de Vere, Bacon

oder ein anderer von den üblichen Verdächtigen.«

»Aber das ist doch unmöglich!« rief Landen.

»Im Gegenteil«, widersprach mein Vater. »Da die Zeitskala des

Universums unendlich ist, sind Unmöglichkeiten ganz alltäglich.

Wenn ihr erst einmal so alt seid wie ich, werdet auch ihr feststellen,

daß praktisch alles möglich ist. Die Zeit ist aus den Fugen; Fluch

ihren Tücken, daß ich zur Welt kam, sie zurechtzurücken!«

»Das stammt von dir?« fragte ich, da ich bislang angenommen hatte,

er zitiere Hamlet, und nicht umgekehrt.

Er lächelte.

»Eine läßliche Eitelkeit, die man mir sicherlich nachsehen wird,

Thursday. Außerdem: Wer soll schon davon erfahren?«

Mein Vater starrte in sein leeres Glas, sah sich vergeblich nach

einem Kellner um und sagte dann:

»Lavoisier hat mich bestimmt längst ausfindig gemacht. Er hat

geschworen, mich zu fassen, und er versteht sein Handwerk. Kein

Wunder; er war schließlich siebenhundert Jahre lang mein Partner.

Eins noch: Wie starb der Herzog von Wellington?«

Mir fiel ein, daß er mich das schon einmal gefragt hatte. »Wie

gesagt, Dad, er starb 1852 friedlich in seinem Bett.«

Lächelnd rieb mein Vater sich die Hände. » Hervorragende

Neuigkeiten! Und Nelson?«

»In Trafalgar von einem französischen Scharfschützen erschossen.«

»Wirklich? Tja, man kann nicht alles haben. Also: viel Glück, ihr

beiden. Ein Junge oder Mädchen wäre schön; eins von jeder Sorte

wäre noch besser.«

- 388 -

Er beugte sich vor und senkte die Stimme.

»Ich weiß nicht, wann ich wiederkomme, also hört mir gut zu. Kauft

euch weder ein blaues Auto noch ein Planschbecken, haltet euch von

Austern und Kreissägen fern, und macht im Juni 2016 um Oxford

einen großen Bogen. Kapiert?«

»Ja, aber …«

»Na, dann tschüs, die Zeit wartet auf niemand!«

Er umarmte mich, schüttelte Landen die Hand und tauchte im

Getümmel unter, bevor wir weitere Fragen stellen konnten.

»Gib dir keine Mühe«, sagte ich und legte Landen den Zeigefinger

auf die Lippen. »Es hat keinen Sinn, über diesen SpecOps-Bereich

nachzudenken.«

»Aber wenn …«

»Landen!« sagte ich. »Nein!«

Auch Bowden und Victor zählten zu den Partygästen. Bowden freute

sich für mich und hatte rasch begriffen, daß ich nicht mit nach Ohio

kommen würde, weder als seine Frau noch als seine Assistentin. Man

hatte ihm die Stelle angeboten, und er hatte sie abgelehnt, mit der

Begründung, dazu mache ihm die Arbeit bei den Swindoner LitAgs

zuviel Spaß, und er wolle es sich im Frühjahr vielleicht noch einmal

überlegen; Finisterre war an seiner Stelle gegangen. Doch im Moment

quälten ihn andere Sorgen. Er holte sich einen steifen Drink und trat

neben Victor, der sich angeregt mit einer älteren Dame unterhielt.

»Ahoi, Cable!« murmelte Victor und stellte ihn seiner neuen

Freundin vor, ehe er Bowdens Bitte um ein kurzes Gespräch unter vier

Augen nachkam.

»Ende gut, alles gut. Scheiß auf die Brontë-Gesellschaft; ich bin auf

Thursdays Seite. Ich finde, der neue Schluß ist ein Gedicht!« Er hielt

inne und sah Bowden an. »Warum machen Sie so ein langes Gesicht?

Es ist ja länger als ein Dickens-Roman. Was ist? Geht es um Felix8?«

- 389 -

»Nein, Sir; den kriegen wir über kurz oder lang. Aber ich habe

versehentlich den Schutzumschlag des Buches vertauscht, in dem Jack

Schitt verschwunden ist.«

»Sie meinen, er ist gar nicht bei seinen geliebten Plasmagewehren?«

»Nein, Sir. Ich habe mir erlaubt, dieses Buch mit dem Umschlag

von Das Plasmagewehr auf dem Schlachtfeld zu versehen.«

Er reichte ihm das Buch, das im ProsaPortal gelegen hatte. Victor

betrachtete den Rücken und lachte. Es war eine Sammlung von Poes

Gedichten.

»Werfen Sie mal einen Blick auf Seite sechsundzwanzig«, sagte

Bowden. »Im ›Raben‹ gehen merkwürdige Dinge vor.«

Victor schlug den Band auf und überflog die Seite. Er las die erste

Strophe laut vor:

Mitternacht, von Gram umschattet,

Grübelnd saß ich, sann ermattet

Über Rachepläne, schwor Vergeltung der verfluchten Next - - -

Die leidige Jane Eyre, welch Wunder,

Gab meinem Seelenfeuer Zunder,

Und so sitz ich geifernd eingesperrt in diesen Text.

»Holt mich raus«, so ruf ich eifernd, »sonst puste ich euch alle

weg!«

Victor klappte das Buch wieder zu.

»Die letzte Zeile reimt sich aber nicht.«

»Was haben Sie denn erwartet?« gab Bowden zurück. »Er ist

schließlich ein Goliath-Mann, kein Dichter.«

»Aber ich habe den ›Raben‹ doch gestern erst gelesen«, setzte

Victor verwirrt hinzu. »Da war alles noch in bester Ordnung!«

»Nein, nein«, erklärte Bowden. »Jack Schitt treibt sein Unwesen nur

in diesem einen Exemplar – wer weiß, was er angerichtet hätte, wenn

wir ihn in ein Originalmanuskript geschickt hätten.«

- 390 -

»Herz-l’ichen Glü’ck-wunsch!« rief Mycroft. Er kam mit Polly auf

uns zu; ihr neuer Hut stand ihr blendend.

»Wi’r Fre’uen Uns Wirk-lich Se’hr Für Euch!« ergänzte Polly.

»Hast du wieder an den Bücherwürmern gearbeitet?« erkundigte ich

mich.

»Mer’kt Man D’as?« fragte Mycroft zurück. »Wi’r Müs-sen Los!«

Und weg waren sie.

»Bücherwürmer?« wollte Landen wissen.

»Nicht, was du denkst.«

»Mademoiselle Next?«

Sie waren zu zweit. Sie trugen elegante Anzüge und zeigten mir

SpecOps-12-Marken, die ich noch nie gesehen hatte.

»Ja?«

»Préfet Lavoisier, ChronoGendarmerie. Où est votre père? «

»Den haben Sie leider verpaßt.«

Er fluchte laut.

»Colonel Next est un homme très dangereux, mademoiselle. Il est

important de lui parler concernant ses activités de trafic de temps.«

»Er ist mein Vater, Lavoisier.«

Lavoisier starrte mich an und versuchte herauszufinden, was er

sagen oder tun mußte, um mich zur Mithilfe zu bewegen. Schließlich

gab er seufzend auf.

»Si vous changez votre avis, contactez-moi par les petites annonces

du Grenouille . Je lis toujours les archives.«

»Da können Sie lange warten, Lavoisier.«

- 391 -

Er sann einen Augenblick über eine Antwort nach, entschied sich

dann jedoch dagegen und verzog die Lippen statt dessen zu einem

Lächeln. Er grüßte zackig, wünschte mir in perfektem Englisch einen

angenehmen Tag und ging davon. Doch sein junger Kollege hatte mir

noch etwas zu sagen: »Ich gebe Ihnen einen guten Rat«, murmelte er

unsicher. »Falls Sie je einen Sohn bekommen, der zur ChronoGarde

möchte, versuchen Sie ihn davon abzubringen.«

Er verabschiedete sich lächelnd und folgte seinem Partner, um ihm

bei der Suche nach meinem Vater zu helfen.

»Was sollte denn das?« fragte Landen.

»Keine Ahnung. Aber kam er dir nicht auch irgendwie bekannt

vor?«

»Doch.«

»Wo waren wir stehengeblieben?«

»Mrs. Parke-Laine?« erkundigte sich ein stämmiger, etwas zu kurz

geratener Mann und starrte mich aus tiefliegenden braunen Augen, an.

»SO-12?« Ich fragte mich, woher dieser finster dreinblickende

Zwerg mit den buschigen Brauen so plötzlich kommen mochte.

»Nein, Ma’am«, antwortete er, stibitzte einem Kellner im

Vorbeigehen eine Pflaume vom Tablett und schnüffelte mißtrauisch

daran, bevor er sie samt Stein verschlang. »Bartholomew Stiggins

mein Name, SO-13.«

»Und wofür sind Sie zuständig?«

»Kein Kommentar«, erwiderte er knapp, »aber wir haben eventuell

Verwendung für Ihre Fähigkeiten.«

»Was denn für …«

Aber Mr. Stiggins hörte mich schon gar nicht mehr. Statt dessen

starrte er gebannt auf einen kleinen Käfer, den er in einem Blumentopf

entdeckt hatte. Mit größter Sorgfalt und einer Geschicklichkeit, die so

gar nicht zu seinen riesigen, ungelenken Pranken passen wollte, ergriff

- 392 -

er das winzige Insekt und steckte es sich in den Mund. Ich sah Landen

an; der verzog angeekelt das Gesicht.

»’tschuldigung«, sagte Stiggins, als habe man ihn beim Nasebohren

erwischt. »Wie sagt man noch? Der Mensch ist ein Gewohnheitstier?«

»Im Komposthaufen gibt’s noch mehr«, sagte Landen

zuvorkommend.

In den Augen des kleinen Mannes schien sich ein Lächeln

anzudeuten; ich hatte den Eindruck, daß er mit seinen Gefühlen

hinterm Berg hielt.

»Falls Sie interessiert sind, melde ich mich wieder.«

»Tun Sie das«, sagte ich.

Er setzte grunzend seinen Hut auf, erkundigte sich nach dem Weg

zum Komposthaufen, wünschte uns einen guten Tag und verschwand.

»Ich habe noch nie einen Neandertaler im Anzug gesehen«,

bemerkte Landen.

»Mach dir wegen Mr. Stiggins keine Gedanken«, sagte ich und stieg

auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen.

»Ich dachte, du hast mit SpecOps abgeschlossen?«

»Nein«, erwiderte ich lächelnd. »Ich glaube, ich fange gerade erst

richtig an …!«

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