MILLON DE FLOSS

- Die Fälle der Thursday Next, Band 6

»Erstaunlich!« sagte Acheron, als er Mycrofts ProsaPortal

inspizierte. »Wirklich erstaunlich!«

Mycroft schwieg. Er fragte sich, ob Polly wohl noch lebte, nachdem

das Gedicht sich über ihr geschlossen hatte. Trotz seiner Proteste

hatten sie die Stromzufuhr gekappt, bevor sich das Portal wieder

öffnen konnte; und er wußte nicht, ob und wie lange ein Mensch in so

einer lyrischen Umgebung überleben konnte.

Sie hatten ihm vor der Abfahrt die Augen verbunden, und nun stand

er im Rauchsalon eines großen, leerstehenden Luxushotels. So

imposant die Ausstattung dereinst auch gewesen sein mochte, jetzt

war sie schäbig und heruntergekommen. Den mit Perlmuttintarsien

verzierten Flügel hatte offenbar seit Jahr und Tag niemand gestimmt,

und in der vollverspiegelten Bar wurde leider schon lange nichts mehr

ausgeschenkt.

Mycroft sah aus dem Fenster, auf der Suche nach einem Hinweis

darauf, wo er sich befand. Das war nicht schwer zu erraten. Die große

- 163 -

Anzahl graubrauner Automobile der Marke Griffin sowie das Fehlen

bunter Plakatwände verrieten Mycroft alles, was er wissen mußte: Er

mußte in der Volksrepublik Wales sein. Die englischen

Strafverfolgungsbehörden hatten hier nichts zu melden. An Flucht war

kaum zu denken, und selbst wenn er entkommen konnte, was dann?

Selbst wenn es ihm gelang, die Grenze zu überqueren, sollte er Polly

denn hier zurücklassen? Sie war immer noch in dem Gedicht

gefangen, einer Ansammlung von Wörtern auf einem Stück Papier,

das Hades in seiner Brusttasche hatte verschwinden lassen. Es bestand

wenig Aussicht, das Gedicht kampflos zurückzubekommen, davon

abgesehen war Polly ohne die Bücherwürmer und das ProsaPortal

ohnehin zu lebenslanger Haft in ihrem Wordsworth-Gefängnis

verurteilt.

Nervös an seiner Unterlippe knabbernd, warf Mycroft einen Blick in

die Runde. Außer ihm und Hades waren vier weitere Personen

anwesend – und zwei von ihnen waren bewaffnet.

»Ein herzliches Willkommen, Professor Next«, sagte Hades breit

grinsend, »wünscht ein Genie dem anderen!«

Er sah die Maschine zärtlich an und ließ den Finger über den Rand

eines der Goldfischgläser gleiten. Die Bücherwürmer waren in ein

Exemplar von Mansfield Park vertieft und debattierten darüber, womit

Sir Thomas wohl seinen Lebensunterhalt bestritten habe.

»Allein werde ich damit wohl nicht zurechtkommen, was meinen

Sie?« sagte Hades, ohne aufzublicken. Einer der anderen Männer

versuchte, es sich in einem der wenigen Polstersessel gemütlich zu

machen, die diesen Namen auch tatsächlich verdienten.

»Ich möchte mich deshalb von vornherein Ihrer vollsten

Unterstützung versichern.« Hades blickte Mycroft an, ohne eine

Miene zu verziehen. »Sie werden mir doch helfen, nicht wahr?«

»Nur über meine Leiche!« erwiderte Mycroft.

Ein Grinsen machte sich auf Acherons Gesicht breit.

»Daran zweifle ich keinen Augenblick, aber verzeihen Sie meine

Unhöflichkeit! Ich habe Sie entführt, Ihnen Ihr Lebenswerk gestohlen

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und mich noch nicht einmal vorgestellt!« Er trat vor Mycroft hin und

schüttelte ihm herzlich die Hand; Mycroft erwiderte die Geste nicht.

»Mein Name ist Hades, Acheron Hades. Vielleicht haben Sie von

mir gehört?«

»Acheron, der Dieb?« fragte Mycroft langsam. »Acheron, der

Entführer und Erpresser?«

Acheron strahlte übers ganze Gesicht.

»Ja, ja und nochmals ja. Aber Sie haben den Mörder vergessen. Den

zweiundvierzigfachen Mörder, mein Freund. Der erste ist immer der

schwerste. Danach spielt es im Grunde keine Rolle mehr, sie können

einen schließlich bloß einmal hängen. Damit verhält es sich so ähnlich

wie mit dem Schokoladeessen; es bleibt nie bei einem Stück.« Wieder

lachte er. »Ich hatte einen kleinen Streit mit Ihrer Nichte, müssen Sie

wissen. Leider hat sie ihn überlebt«, setzte er hinzu, nur für den Fall,

daß Mycroft sich der Illusion hingab, er, Hades, habe noch einen

Funken Anstand im Leib. »So war das eigentlich nicht geplant.«

»Warum tun Sie das?« fragte Mycroft.

»Warum?« echote Acheron. »Warum wohl? Für Ruhm und Ehre,

warum sonst!« brüllte er. »Haben Sie verstanden, Gentlemen …?« Die

anderen nickten gehorsam. »Ruhm und Ehre!« wiederholte er. »Und

Sie können an diesem Ruhm teilhaben …!«

Er winkte Mycroft zu seinem Schreibtisch und holte einen

Aktendeckel mit Zeitungsausschnitten daraus hervor.

»Schauen Sie, was die Presse über mich schreibt!«

Stolz hielt er einen Artikel hoch.

HADES: 74 WOCHEN AUF PLATZ 1

DER FAHNDUNGSLISTE

»Beeindruckend, was?« sagte er und platzte beinahe vor Stolz.

TOAD-LESER WÄHLEN HADES

ZUM »UNSYMPATHEN NR. 1«

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»Die Owl schrieb, Hinrichtung sei viel zu gut für mich, und der

Mole wollte das Parlament dazu bewegen, das Rädern wieder

einzuführen.«

Er hielt Mycroft den Ausschnitt hin.

»Was meinen Sie?«

»Ich meine«, begann Mycroft, »daß Sie Ihre enorme Intelligenz

vielleicht besser darauf hätten verwenden sollen, der Menschheit zu

dienen, statt sie zu bestehlen.«

Acheron machte ein beleidigtes Gesicht.

»Und wo bleibt da das Vergnügen? Güte ist Schwäche, Nettigkeit

Gift, Zufriedenheit ist Mittelmaß, und Nächstenliebe ist was für

Verlierer. Wie ich immer sage: Gemeinheiten muß man um ihrer

selbst willen begehen! Zwar ist gegen einen kleinen Kapitalzuwachs

nichts einzuwenden, doch verwässert er den unvergleichlichen

Geschmack der Niedertracht derart, daß sich bald jeder hergelaufene

Eierdieb daran erfreut. Das wahre, grundlos Böse ist ebenso selten wie

das Gute per se …«

»Ich möchte nach Hause.«

»Aber natürlich!« sagte Acheron lächelnd. »Hobbes, öffnen Sie die

Tür.«

Der Angesprochene tat wie geheißen und trat höflich beiseite. Die

große Tür führte in die Lobby des alten Hotels.

»Ich spreche kein Walisisch«, murmelte Mycroft.

Hobbes machte die Tür wieder zu und verriegelte sie.

»Was Ihnen in Merthyr zum Nachteil gereichen dürfte, alter

Knabe«, sagte Acheron lächelnd. »Ohne Walisisch werden Sie nicht

sehr weit kommen.«

Mycroft sah Acheron beklommen an.

»Aber Polly …!«

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»Ach ja!« erwiderte Hades. »Ihre entzückende Gattin.« Er fischte

»Die Narzissen« aus seiner Brusttasche, zauberte ein vergoldetes

Feuerzeug hervor und tat so, als wollte er das Gedicht anzünden.

»Nein …!« schrie Mycroft und machte hastig zwei Schritte

vorwärts. Acheron wölbte eine Augenbraue; die Flamme leckte schon

am Papier.

»Ich bleibe hier und helfe Ihnen«, sagte Mycroft mit matter Stimme.

Ein Grinsen machte sich auf Acherons Gesicht breit. Er verstaute

das Gedicht wieder in seiner Tasche.

»Ein braver Bursche! Sie werden es nicht bereuen.«

Er dachte einen Augenblick nach.

»Obwohl, vielleicht doch.«

Mycroft sank mit wackligen Knien in den erstbesten Sessel.

»Aber eins nach dem anderen«, fuhr Hades fort. »Habe ich Ihnen

eigentlich schon meine teuflischen Mitstreiter vorgestellt?«

Mycroft schüttelte traurig den Kopf.

»Nein? Wie nachlässig von mir. Der Mann mit der Kanone dort

drüben ist Mr. Delamare. Seine Fügsamkeit wird allein durch seine

Dummheit übertroffen. Er tut, was ich ihm sage, und würde notfalls

sogar für mich sterben. Eine Art menschlicher Kettenhund, wenn Sie

so wollen. Sein IQ liegt unter dem eines Neandertalers, und er glaubt

nur, was er im Gad-fly liest. Mr. Delamare, mein Freund, haben Sie

heute schon Ihre böse Tat getan?«

»Ja, Mr. Hades. Ich bin dreiundsiebzig Meilen pro Stunde

gefahren.«

Hades runzelte die Stirn. »Das klingt nicht besonders böse.«

Delamare kicherte. »Durchs Einkaufszentrum?«

Hades hob anerkennend den Zeigefinger und setzte ein zufriedenes

Lächeln auf.

»Sehr gut.«

- 167 -

»Danke, Mr. Hades.«

»Das dort drüben ist Mr. Hobbes. Obwohl er ein begnadeter

Schauspieler ist, zieht die English Shakespeare Company es

törichterweise vor, sein außerordentliches Talent zu ignorieren. Wir

werden versuchen, diesen bedauerlichen Irrtum zu korrigieren; nicht

wahr, Mr. Hobbes?«

»Jawohl, Sire«, antwortete Mr. Hobbes und vollführte einen

tadellosen Kratzfuß. Er trug Strumpfhosen mit einer Schamkapsel und

ein ledernes Wams. Zehn Jahre hatte ihn die ESC bei der Vergabe der

großen Rollen übergangen und somit zu einem unwürdigen Dasein als

Statist und Zweitbesetzung verdammt. Danach war er psychisch derart

angeschlagen, daß es selbst seine Kollegen bemerkten. Er hatte sich

Acheron kurz nach seiner Flucht aus dem Gefängnis angeschlossen,

wo er eine längere Haftstrafe verbüßte, weil er es als Hamlet mit der

Schauspielkunst ein wenig übertrieben und Laertes auf offener Bühne

abgestochen hatte.

»Der dritte Mann dort drüben ist Müller, ein Arzt, dessen ich mich

angenommen habe, nachdem man ihm die Approbation entzogen

hatte. Die Einzelheiten sind – wie soll ich sagen? – ein wenig

unappetitlich. Vielleicht unterhalten wir uns gelegentlich bei einem

guten Essen darüber, wenn nicht gerade Hacksteak auf der Speisekarte

steht. Der vierte Mann ist Felix7, einer meiner engsten Vertrauten.

Sein Gedächtnis reicht nur eine Woche in die Vergangenheit, und er

hegt nicht die geringsten Ambitionen für die Zukunft. Seine Gedanken

gelten einzig und allein dem Auftrag, den er auszuführen hat. Er kennt

weder Gewissensbisse noch Gnade oder gar Mitleid. Ein feiner Kerl.

Wir brauchen dringend mehr von seiner Sorte.«

Hades klatschte vergnügt in die Hände.

»Wollen wir uns an die Arbeit machen? Ich habe seit fast einer

Stunde keine Schandtat mehr begangen.«

Mycroft trat widerstrebend vor das ProsaPortal und begann mit den

nötigen Vorbereitungen. Er versorgte die Bücherwürmer mit frischem

Wasser, Futter und einem sauberen Goldfischglas, verlegte

Stromkabel und hielt sich dabei peinlich genau an die Anweisungen in

seinem Schulheft. Während Mycroft an dem Portal herumhantierte,

- 168 -

machte Acheron es sich bequem und blätterte in einem alten

Manuskript; die Seiten wurden von einem verblichenen roten Band

zusammengehalten und waren mit krakeliger Schrift und nachträglich

eingefügten Korrekturen bedeckt. Er überschlug mehrere Passagen,

bis er gefunden hatte, was er suchte.

»Perfekt!« gluckste er.

Mycroft beendete den Testdurchlauf und trat einen Schritt zurück.

»Es ist soweit«, seufzte er.

»Ausgezeichnet!« Strahlend überreichte Acheron ihm das

Manuskript.

»Offnen Sie das Portal genau hier.«

Lächelnd tippte er auf eine bestimmte Stelle. Mycroft nahm das

Manuskript zögernd entgegen und las den Titel. » Martin Chuzzlewit!

Sie Schuft!«

»Mit Schmeicheleien kommen Sie bei mir nicht weit, werter

Professor.«

»Aber«, fuhr Mycroft fort, »wenn Sie im Originalmanuskript etwas

ändern …!«

»Aber genau darum geht es doch, mein lieber Professor«, sagte

Hades und zwickte Mycroft leicht in die Wange. »Genau … darum …

geht … es. Wozu sollte eine Erpressung auch gut sein, wenn nicht um

aller Welt zu demonstrieren, welch ungeheuren Schaden man

anrichten könnte, so man denn wollte? Ein Bankraub ist ein Dreck

dagegen. Peng, peng, her mit dem Geld? Pah! Außerdem finde ich es

langweilig, Zivilisten umzubringen. Da kann man ja gleich auf

Tontauben schießen. Ein Sondereinsatzkommando ist da schon mehr

nach meinem Geschmack.«

»Aber der Schaden …!« fuhr Mycroft fort. »Sind Sie wahnsinnig!?«

Acherons Augen sprühten vor Zorn, als er Mycroft am Kragen

packte.

»Was? Was haben Sie gesagt? Wahnsinnig, haben Sie gesagt?

Hmm? Hä? Was? Was?« Seine Finger schlossen sich noch enger um

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Mycrofts Kehle, und der Professor spürte, wie ihm der kalte

Angstschweiß ausbrach. Acheron wartete auf eine Antwort, die

Mycroft ihm unter diesen Umständen jedoch beim besten Willen nicht

zu geben vermochte.

»Was? Was haben Sie gesagt?« Acherons Pupillen weiteten sich,

und ein dunkler Schleier trübte Mycrofts Bewußtsein.

»Glauben Sie im Ernst, es macht Spaß, mit einem Namen wie dem

meinen durchs Leben zu gehen? Ständig irgendwelchen Erwartungen

gerecht werden zu müssen? Mit einer Intelligenz geschlagen zu sein,

die so enorm ist, daß Ihnen alle anderen wie Kretins und Idioten

vorkommen?«

Mit Mühe gelang es Mycroft, einen erstickten Laut von sich zu

geben, und Acheron lockerte seinen Griff. Nach Atem ringend sank

der Professor zu Boden. Acheron sah zu ihm herab und hob tadelnd

den Finger.

»Wagen Sie es nicht noch einmal, mich wahnsinnig zu nennen,

Mycroft. Ich bin nicht wahnsinnig, ich bin lediglich … nun ja, wie soll

ich sagen? Moralisch anders gepolt, weiter nichts.«

Wieder reichte Hades ihm den Chuzzlewit, und diesmal ließ Mycroft

sich nicht zweimal bitten. Er legte die Würmer zusammen mit dem

Manuskript in das ProsaPortal; der Apparat war betriebsbereit.

»Es kann losgehen«, verkündete Mycroft freudlos. »Ich brauche nur

noch auf diesen Knopf zu drücken, dann öffnet sich die Tür. Sie bleibt

aber höchstens zehn Sekunden offen.«

Seufzend schüttelte er den Kopf.

»Möge Gott mir vergeben …!«

»Ich vergebe Ihnen«, erwiderte Acheron. »Näher werden Sie Gott

kaum kommen!«

Hades ging zu Hobbes, der jetzt einen schwarzen Kampfanzug trug.

Er hatte sich einen Gurt um die Hüften geschnallt, an dem allerlei

Gegenstände hingen, die bei einem spontanen Raubüberfall eventuell

von Nutzen sein konnten – eine große Taschenlampe, mehrere

Bolzenschneider, ein Seil, Handschellen und eine Automatik.

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»Sie wissen, hinter wem Sie her sind?«

»Mr. Quaverley, Sir.«

»Großartig. Das schreit förmlich nach einer Rede!«

Er kletterte auf einen großen Eichentisch.

»Liebe Freunde!« begann er. »Heute ist ein großer Tag für die

Wissenschaft und ein schwarzer Tag für Charles Dickens.«

Er machte eine Kunstpause.

»Genossen, wir stehen kurz davor, uns einer kulturellen Barbarei

schuldig zu machen, die so monströs ist, daß es selbst mir die

Schamesröte ins Gesicht treibt. Ihr alle seid seit vielen Jahren meine

treuen Gefolgsleute, und obgleich keiner von euch auch nur halb so

verderbt ist wie meine Wenigkeit, und obwohl die Gesichter, die ich

vor mir sehe, ebenso dumm wie unattraktiv sind, betrachte ich euch

doch alle mit einem gerüttelten Maß an Zuneigung.«

Seine vier Genossen bekundeten ihren Dank mit verlegenem

Murmeln.

»Ruhe! Ich glaube, ich darf mit Fug und Recht von mir behaupten,

nicht nur das verkommenste Geschöpf auf diesem Erdenrund zu sein,

sondern auch das begnadetste Verbrecherhirn dieses Jahrhunderts. Der

Plan, den wir in die Tat umsetzen wollen, ist zweifelsohne der

teuflischste, den je ein Mensch ersonnen hat, und wird euch nicht nur

mit einem Schlag an die Spitze aller Fahndungslisten katapultieren,

sondern euch obendrein reicher machen, als ihr euch in euren

habgierigsten Träumen habt vorstellen können.« Er klatschte in die

Hände. »Das Abenteuer kann beginnen! Trinken wir auf den Erfolg

unseres schönsten Verbrechens!«

»Sir?«

»Was ist, Dr. Müller?«

»Das ganze Geld. Ich weiß nicht recht. Ich glaube, ein

Gainsborough wäre mir lieber. Sie wissen schon – das Bild von dem

Knaben im blauen Anzug.«

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Acheron starrte ihn einen Augenblick ratlos an, dann erhellte ein

Lächeln sein Gesicht.

»Warum nicht? Widerling und Kunstliebhaber! Welch göttliche

Dichotomie! Sie sollen Ihren Gainsborough haben! Und nun lasset uns

… Was ist denn, Hobbes?«

»Sie haben hoffentlich nicht vergessen, daß Sie die ShakespeareGesellschaft überreden wollten, Schluß mit lustig! zu spielen, meine

überarbeitete Macbeth-Fassung?«

»Wie könnte ich?«

»Acht Wochen Laufzeit?«

»Ja, ja, und das Sommernachts-Kettensägenmassaker gleich noch

dazu. Und was kann ich für Sie tun, Mr. Delamare?«

»Nun ja«, sagte der Mann mit dem Hirn eines Hundes und rieb sich

nachdenklich den Hinterkopf, »könnte ich vielleicht eine

Autobahnraststätte nach meiner Mum benennen lassen?«

»O heilige Einfalt!« rief Acheron. »Ich denke, das läßt sich machen.

Felix7?«

»Ich verlange keine Belohnung«, antwortete Felix7 stoisch. »Ich bin

bloß Ihr ergebener Diener. Einem so guten und weisen Herrn zu

dienen ist das größte Glück, das einem Menschen widerfahren kann.«

»Ich liebe diesen Mann!« sagte Hades zu den anderen. Er kicherte

einen Moment in sich hinein und wandte sich dann wieder an Hobbes,

der es kaum erwarten konnte.

»Ihnen ist klar, was Sie zu tun haben?«

»Hundertprozentig.«

»Dann, Mycroft, öffnen Sie nun das Portal und Ihnen, mein lieber

Hobbes: Glückliche Reise!«

Mycroft drückte den grünen »Auf«-Knopf, ein greller Blitz

durchzuckte den Salon, und es entstand ein so starkes

elektromagnetisches Kraftfeld, daß meilenweit sämtliche

Kompaßnadeln rotierten. Rasch öffnete sich das Portal, und Hobbes

holte tief Luft und trat hindurch; Mycroft drückte den roten »Zu«

- 172 -

Knopf, das Portal schloß sich wieder, und Stille breitete sich aus.

Acheron sah Mycroft an, der wie gebannt auf den Timer an dem

großen Buch starrte. Dr. Müller verfolgte Hobbes’ Bemühungen

anhand einer Taschenbuchausgabe von Martin Chuzzlewit, Felix7

behielt Mycroft im Auge, und Delamare betrachtete etwas Klebriges,

das er gerade aus seinem Ohr geholt hatte.

Zwei Minuten später drückte Mycroft erneut auf den grünen Knopf,

und Hobbes kehrte zurück, im Schlepptau einen Mann mittleren Alters

in einem schlechtsitzenden Anzug mit Krawatte und Stehkragen.

Hobbes war ziemlich außer Atem und sank keuchend in den erstbesten

Sessel. Der Mann in mittleren Jahren blickte hilfesuchend um sich.

»Meine Freunde«, begann er und schaute in ihre neugierigen

Gesichter, »Sie sehen mich ratlos und verwirrt. Wenn Sie die

Freundlichkeit besäßen, mir zu erklären, was Sie dazu bewegen hat,

mich in diese mißliche Lage zu versetzen …«

Acheron trat neben ihn und legte ihm freundschaftlich einen Arm

um die Schultern.

»Ah, der süße, süße Duft des Erfolges. Willkommen im zwanzigsten

Jahrhundert und in der Wirklichkeit. Mein Name ist Hades.«

Acheron streckte die Hand aus. Der Mann verbeugte sich und

schüttelte sie dankbar, weil er sich irrtümlich unter wohlmeinenden

Mitbürgern wähnte.

»Zu Diensten, Mr. Hades. Mein Name ist Quaverley, wohnhaft bei

Mrs. Todger und Prokurator von Beruf. Ich muß gestehen, daß ich

nicht die geringste Ahnung habe, wie mir ein so großes Wunder zuteil

werden konnte, aber bitte sagen Sie mir doch – denn wie ich sehe,

sind Sie der Gebieter über dieses höchst erstaunliche Paradoxon –,

was geschehen ist und wie ich Ihnen behilflich sein kann.«

Acheron lächelte und klopfte Mr. Quaverley brüderlich auf die

Schulter.

»Mein lieber Mr. Quaverley! Ich könnte ohne Zweifel viele

glückliche Stunden damit zubringen, mich mit Ihnen über das Wesen

der Dickensschen Erzählkunst zu unterhalten, aber das wäre eine

unverzeihliche Verschwendung meiner äußerst kostbaren Zeit. Felix7,

- 173 -

fahren Sie nach Swindon und sorgen Sie dafür, daß Mr. Quaverleys

Leiche spätestens bei Morgengrauen von spielenden Kindern entdeckt

wird.«

Felix7 packte Mr. Quaverley am Arm.

»Jawohl, Sir.«

»Ach, und Felix7 …«

»Ja, Sir?«

»Wo Sie schon mal dabei sind, könnten Sie doch eigentlich auch

gleich diesen Sturmey Archer zum Schweigen bringen. Er hat seine

Schuldigkeit getan.«

Felix7 schleifte Mr. Quaverley zur Tür hinaus. Mycroft weinte.

- 174 -

16.

Sturmey Archer & Felix7

… Ein wahrhaft verbrecherischer Geist braucht ebenso

außergewöhnliche Komplizen, die ihm zur Seite stehen.

Sonst hat das Ganze wenig Sinn. Ich habe immer wieder

festgestellt, daß ich meine abscheulichsten Pläne ohne die

Beteiligung und die Anerkennung meiner Mitarbeiter

niemals umsetzen könnte. So bin ich nun einmal. Sehr

großzügig …

ACHERON HADES

- Die Lust am Laster

»Wen besuchen wir eigentlich?«

»Einen gewissen Sturmey Archer«, antwortete Bowden, während

ich den Wagen am Straßenrand abstellte, gegenüber einer kleinen

Fabrik, hinter deren Fenstern ein sanftes Licht leuchtete.

»Vor ein paar Jahren hatten Crometty und ich das große Glück,

mehrere Mitglieder einer Bande festzunehmen, die versucht hatte, eine

ziemlich primitiv gefälschte Fortsetzung von Coleridges Ancient

Mariner unter die Leute zu bringen. Sie trug den Titel ›Der Alte

Matrose – Die Rückkehr‹, aber niemand fiel darauf herein. Sturmey

sagte als Kronzeuge aus und entging so einer Gefängnisstrafe. Ich

habe noch etwas gegen ihn in der Hand, im Zusammenhang mit einem

Cardenio-Schwindel. Ich würde es allerdings nur äußerst ungern

gegen ihn verwenden.«

»Und was hat er mit Cromettys Tod zu tun?«

»Nichts«, lautete seine lapidare Antwort. »Er ist lediglich der

nächste auf unserer Liste.«

- 175 -

Wir überquerten die Straße. Es wurde langsam dunkel; die

Straßenlaternen gingen an, und erste Sterne erschienen am Himmel. In

einer halben Stunde würde es Nacht sein.

Bowden wollte erst klopfen, ließ es dann aber doch bleiben. Lautlos

machte er die Tür auf, und wir schlüpften hindurch.

Sturmey Archer war ein schmächtiger Bursche, der so viele Jahre in

Anstalten verbracht hatte, daß er allein nur schwer zurechtkam. Ohne

festen Stundenplan wusch er sich weder regelmäßig, noch ernährte er

sich richtig. Er trug eine dicke Brille, bunt zusammengewürfelte

Kleider, und sein Gesicht war eine Mondlandschaft von Akne-Narben.

Inzwischen bestritt er seinen Lebensunterhalt hauptsächlich mit der

Produktion von Gipsbüsten berühmter Schriftsteller, doch seine

kriminelle Vergangenheit ließ ihn nicht los. Immer wieder wurde er

von anderen Verbrechern dazu erpreßt, ihnen zu helfen, und Sturmey,

ein ohnehin eher willensschwacher Charakter, konnte sich ihrer nur

schwer erwehren. Was Wunder, daß er nur zwanzig seiner

sechsundvierzig Lebensjahre in Freiheit verbracht hatte.

In dem alten Fabriksaal, in dem er arbeitete, gab es eine lange

Werkbank, auf der an die fünfhundert fußhohe Shakespeare-Büsten

standen, die der Fertigstellung harrten. Daneben ein großer, leerer

Gipsbottich und ein Regal mit etwa zwanzig Gußformen; Sturmey

arbeitete offenbar an einem Großauftrag.

Archer selbst saß in einer hinteren Ecke der Werkstatt und ging

seiner Nebenbeschäftigung nach, der Reparatur von Will-SpeakMaschinen. Sein Arm steckte bis zum Ellbogen im Rumpf eines

Othello, als wir uns von hinten anschlichen.

Sturmey nahm eine winzige Änderung an der Feinjustierung vor,

worauf es im primitiven Kehlkopf der Puppe knisterte und knackte:

Die Sache wills, die Sache wills, (klick) doch nicht ihr Blut vergieß

ich, (klick) noch ritz ich diese weiße Haut …

»Hallo, Sturmey«, sagte Bowden.

Vor lauter Schreck verursachte Archer einen Kurzschluß in der

Elektrik. Die Puppe riß die Augen auf, schrie in panischem Entsetzen

- 176 -

ALABASTER! und sackte dann in sich zusammen. Sturmey funkelte

Bowden wütend an.

»Sich zu nachtschlafender Zeit auf Zehenspitzen anschleichen? Das

ist aber nicht gerade die feine Art, Mr. Cable!«

Bowden lächelte. »Sagen wir, ich habe die Freuden des

Außendienstes wiederentdeckt. Das ist meine neue Partnerin Thursday

Next.«

Archer nickte mir argwöhnisch zu. Bowden fuhr fort: »Sie haben

doch bestimmt von Jim Crometty gehört, Sturmey.«

»Ja, Gott sei’s geklagt«, antwortete Archer mit etwas

unglaubwürdiger Trauer.

»Ich habe mich gefragt, ob Sie eventuell Ihr Gewissen erleichtern

möchten?«

»Wer? Ich?« Er zeigte auf die Shakespeare-Büsten. »Sehen Sie die

Dinger da? Dafür krieg ich fünf Scheine das Stück. Zehntausend

Stück hat diese japanische Firma bestellt. Sie haben Stratford-uponAvon bei Yokohama im Maßstab 1:7/8 nachgebaut und stehen total

auf diesen Mist. Fünfzig Riesen, Cable, das ist die Sorte Literatur, mit

der ich was anfangen kann.«

»Und das Chuzzlewit-Manuskript?« fragte ich. »Was fangen Sie

damit an?«

Er zuckte zusammen. »Gar nichts«, sagte er. Ich glaubte ihm kein

Wort.

»Passen Sie auf, Sturmey«, sagte Bowden, dem Archers Nervosität

keineswegs entgangen war, »es täte mir wirklich schrecklich leid, Sie

wegen des Cardenio-Schwindels aufs Revier bestellen zu müssen.«

Archers Unterlippe bebte; seine Augen schnellten nervös hin und

her. »Ich weiß doch nichts, Mr. Cable«, jammerte er. »Außerdem …

Sie haben ja keine Ahnung, was er mit mir anstellen würde.«

»Was wer mit Ihnen anstellen würde, Sturmey?«

Da hörte ich es. Ein leises Klicken hinter uns. Ich versetzte Bowden

einen Stoß; er stolperte und stieß mit Sturmey zusammen, dessen

- 177 -

Aufschrei im ohrenbetäubenden Krachen einer in nächster Nähe

abgefeuerten Schrotladung unterging.

Wir hatten Glück; die Ladung traf nur die Wand, genau an der

Stelle, wo wir eben noch gestanden hatten. Ich befahl Bowden, sich

nicht vom Fleck zu rühren, und hechtete hinter die Werkbank. Dann

robbte ich blitzschnell zum anderen Ende der Werkstatt, hob den Kopf

und sah einen Mann mit einer großkalibrigen Pumpgun, der einen

schwarzen Mantel anhatte.

Er entdeckte mich sofort, und ich mußte rasch wieder abtauchen.

Der nächste Schuß ließ Dutzende von Shakespeare-Büsten

explodieren. Ein Regen von Gipssplittern ging auf mich nieder. Die

Druckwelle des Schusses hatte eine Romeo-Puppe in Gang gesetzt,

die flehentlich intonierte: Der Narben lacht, wer Wunden nie gefühlt.

Doch still! Was schimmert durch das Fenster dort … Dann brachte sie

der nächste Schuß zum Schweigen.

Ich warf einen Blick zu Bowden hinüber, der den Gips aus seinen

Haaren schüttelte und seinen Revolver zog. Ich sprintete im Zickzack

zur gegenüberliegenden Wand und warf mich zu Boden, als der

Eindringling von neuem durchlud und Archers in mühevoller

Handarbeit bemalte Gipsstatuen in Stücke schoß. Endlich hörte ich

Bowdens Revolver zweimal krachen, sprang auf und feuerte

meinerseits auf unseren Angreifer. Doch der hatte sich mittlerweile in

ein Büro verkrochen, und meine Schüsse zersplitterten lediglich den

hölzernen Türrahmen. Bowden drückte noch einmal ab, und das

Projektil prallte von einer gußeisernen Wendeltreppe ab und traf eine

Will-Speak-Maschine von Lord und Lady Macbeth, was die beiden

veranlaßte, flüsternd darüber nachzudenken, ob es wohl ratsam sei,

den König in der Nacht zu ermorden.

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie der Mann im Mantel durch die

Werkstatt rannte, um uns von der Flanke her anzugreifen. Er blieb

stehen, und ich nahm ihn ins Visier; da sprang Archer auf und stand in

der Schußlinie. Ich traute meinen Augen nicht.

»Felix7!« schrie Archer verzweifelt. »Sie müssen mir helfen! Dr.

Müller hat doch gesagt …«

- 178 -

Archer hatte die Absichten von Felix7 offenbar mißverstanden, doch

es blieb ihm keine Zeit mehr, diesen Irrtum groß zu bedauern, denn

der Angreifer streckte ihn mit einem Schuß aus kürzester Entfernung

nieder und wandte sich dann zur Flucht. Bowden und ich feuerten

gleichzeitig; Felix7 machte noch drei Schritte, dann brach er

zusammen und landete in einem Stapel Kartons.

»Bowden!« brüllte ich. »Alles klar?«

Seine Antwort klang zwar noch etwas unsicher, war aber positiv. Ich

näherte mich langsam der am Boden liegenden Gestalt, die keuchend

ein-und ausatmete und mich dabei mit seltsam unbewegter Miene

anstarrte. Ich beförderte die Pumpgun mit einem gezielten Tritt

beiseite, hielt ihm meine Waffe an den Kopf und tastete ihn ab. Ich

fand eine Automatik in seinem Schulterholster und in seiner

Innentasche eine Walther PKK. Des weiteren ein langes Messer sowie

einen Damen-Derringer. Bowden trat neben mich.

»Archer?« fragte ich.

»Hinüber.«

»Er hat diesen Killer gekannt. Er nannte ihn Felix? Und fiel nicht

auch der Name Dr. Müller?«

Felix? lächelte, als ich ihm seine Brieftasche abnahm.

»Crometty!« bellte Bowden. »Hast du ihn umgebracht?«

»Ich bringe öfter mal jemanden um«, flüsterte Felix7. »Und Namen

konnte ich mir noch nie merken.«

»Du hast ihm sechsmal ins Gesicht geschossen.«

Der sterbende Killer lächelte. »Daran kann ich mich erinnern.«

»Sechsmal! Warum?«

Felix7 runzelte die Stirn, fing an zu zittern und sagte: »Ich hatte

eben nur sechs Schuß.«

Bowden hielt ihm die Revolvermündung zwei Zoll vors Gesicht und

drückte ab. Zu seinem Glück traf der Hammer auf eine leere Kammer.

Bowden warf die Waffe weg, packte den Sterbenden am Revers und

schüttelte ihn.

- 179 -

»WER BIST DU?« bellte er.

»Das weiß ich selbst nicht so genau«, sagte Felix7 gelassen. »Ich

glaube, ich war mal verheiratet; und ich hatte ein blaues Auto. Im

Garten meines Elternhauses stand ein Apfelbaum, und ich glaube, ich

hatte einen Bruder namens Tom. Die Erinnerungen sind sehr

verschwommen. Ich fürchte nichts, weil nichts mir etwas bedeutet.

Mein Auftrag ist erfüllt. Archer ist tot. Ich habe meinem Herrn

gedient; alles andere spielt keine Rolle.« Er verzog die Lippen

mühsam zu einem Lächeln. »Hades hatte tatsächlich recht.«

»Womit?«

»Mit Ihnen, Miss Next. Sie sind ein würdiger Gegner.«

»Wenn Sie ruhig sterben wollen, dann erleichtern Sie Ihr

Gewissen«, sagte ich. »Wo ist Hades?«

Er lächelte ein letztes Mal und schüttelte langsam den Kopf. Ich

versuchte, seine Blutungen zu stillen, doch ohne Erfolg. Sein Atem

ging von Sekunde zu Sekunde flacher und erstarb schließlich ganz.

»Verdammt! Merde! Shit! «

»Für Sie immer noch Mister Schitt, Next!« sagte Schitt hinter uns.

Wir drehten uns um und erblickten meinen persönlichen Unsympathen

Nr. 2 und seine beiden Gorillas. Er machte keinen besonders

gutgelaunten Eindruck. Ich beförderte die Brieftasche von Felix7 mit

einem verstohlenen Tritt unter die Werkbank und stand auf.

»Aus dem Weg.«

Wir gehorchten. Einer von Schitts Männern bückte sich und fühlte

Felix7 den Puls. Er sah Schitt an und schüttelte den Kopf.

»Irgendwelche Papiere?«

Der Gorilla durchsuchte die Leiche.

»Da haben Sie ja einen ziemlich schweren Bock geschossen, Next«,

sagte Schitt mit kaum verhohlenem Zorn. »Damit ist meine einzige

Spur zum Teufel. Wenn ich mit Ihnen fertig bin, können Sie froh sein,

wenn Sie auf der M4 Fahrbahnmarkierungen malen dürfen.«

Ich zählte zwei und zwei zusammen.

- 180 -

»Sie wußten, daß wir hier waren, stimmt’s?«

Er funkelte mich an.

»Der Mann hätte uns zum Kopf der Bande führen können, und der

wiederum hat etwas, das wir haben wollen«, behauptete Schitt.

»Hades?«

»Hades ist tot, Miss Next.«

»Reden Sie doch keinen Scheiß, Schitt. Sie wissen genauso gut wie

ich, daß Hades gesund und munter ist. Was Hades hat, gehört meinem

Onkel. Und wie ich meinen Onkel kenne, würde er es eher kurz und

klein schlagen, als es an Goliath zu verkaufen.«

»Goliath kauft nicht, Miss Next. Goliath nimmt. Wenn Ihr Onkel

eine Maschine entwickelt hat, die zur Verteidigung des Vaterlandes

beitragen kann, ist es seine Pflicht, sie zur Verfügung zu stellen.«

»Und das ist das Leben zweier Agenten wert?«

»Aber sicher. Tagtäglich sterben SpecOps-Agenten eines sinnlosen

Todes. Und es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, daß sie nicht

umsonst gestorben sind.«

»Wenn Mycroft durch Ihre Nachlässigkeit zu Schaden kommt, dann

gnade Ihnen Gott …«

Das beeindruckte Jack Schitt nicht im geringsten.

»Sie haben wirklich keinen Schimmer, mit wem Sie es zu tun haben,

nicht wahr, Next?«

»Mit einem Mann, dessen Ehrgeiz ihn jegliche Moralprinzipien hat

vergessen lassen.«

»Falsch. Sie haben es mit Goliath zu tun, einer Organisation, der in

erster Linie das Wohl dieses Landes am Herzen liegt. Alles, was

England besitzt, verdankt es einzig und allein der Güte und

Hilfsbereitschaft von Goliath. Ist es da nicht recht und billig, wenn

unsere Organisation dafür ein klein wenig Dankbarkeit verlangt?«

»Wenn Goliath tatsächlich so selbstlos wäre, wie Sie behaupten, Mr.

Schitt, dann dürfte der Konzern dafür gar nichts verlangen.«

- 181 -

»Große Worte, Miss Next, aber in Fragen der Moralpolitik heißt der

entscheidende Faktor immer und ausschließlich Geld; wenn überhaupt

etwas geschieht, dann nur aus Gewinnsucht.«

Ich hörte Sirenen kommen. Prompt verschwanden Schitt und seine

beiden Gorillas und ließen uns mit den Leichen von Felix7 und Archer

allein. Bowden drehte sich zu mir.

»Ich bin froh, daß er tot ist, und ich bin froh, daß ich abgedrückt

habe. Zuerst dachte ich, es würde mir schwerfallen, aber ich habe

keine Sekunde gezögert.«

Er sagte das, als handele es sich um eine interessante Erfahrung,

nichts mehr und nichts weniger; als würde er einem Freund eine

Achterbahnfahrt in Alton Towers schildern.

»Hört sich das irgendwie komisch an?« fragte er.

»Nein«, beruhigte ich ihn. »Ganz und gar nicht. Er hätte

weitergemordet, wenn Sie ihn nicht gestoppt hätten. Machen Sie sich

deswegen keine Gedanken.«

Ich bückte mich und hob Felix7s Brieftasche auf. Wir sahen hinein.

Sie enthielt genau das, was man darin vermuten würde, nämlich

Papiergeld, Briefmarken, Quittungen und Kreditkarten – nur handelte

es sich um leeres weißes Papier; die Kreditkarten waren aus weißem

Plastik, mit einer Reihe von Nullen dort, wo normalerweise die

Nummer stand.

»Hades hat Humor.«

»Sehen Sie sich das an«, sagte Bowden und zeigte auf Felix7s

Fingerspitzen. »Mit Säure verätzt. Und schauen Sie hier, diese Narbe

am Haaransatz.«

»Ja«, pflichtete ich bei, »das ist vermutlich noch nicht mal sein

Gesicht.«

Draußen vor der Tür quietschten Reifen. Um Mißverständnissen

vorzubeugen, legten wir unsere Waffen ab und hielten unsere Marken

hoch. Der Einsatzleiter war ein humorloser Bursche namens Franklin,

der in der Kantine Lügengeschichten über die neue LiteraturAgentin

gehört hatte.

- 182 -

»Sie müssen Thursday Next sein. Hab schon von Ihnen gehört.

LitAg, hä? Ziemlicher Abstieg von SO-5, was?«

»Immerhin war ich schon mal so weit.«

Franklin grunzte und wandte sich den beiden Leichen zu.

»Tot?«

»Sehr.«

»Bei euch geht’s ja zu wie in einem Actionfilm. Ich kann mich nicht

entsinnen, daß ein LitAg im Dienst je geschossen hätte. Daß mir das

bloß nicht zur Gewohnheit wird, ja? Swindon ist schließlich nicht

New York. Und wenn ich euch einen guten Rat geben darf, laßt Jack

Schitt in Ruhe. Wie man hört, ist der Mann ein echter Psychopath.«

»Danke für den Tip, Franklin«, sagte ich. »Wär mir gar nicht

aufgefallen.«

Es war neun Uhr durch, als wir endlich gehen durften. Victor war

extra gekommen, um uns außer Hörweite der Polizei einige Fragen zu

stellen.

»Was in drei Teufels Namen ist hier los?« fragte er. »Commander

Hicks hat mich am Telefon eine halbe Stunde lang angeschnauzt; es

muß schon etwas ziemlich Ernstes sein, damit er die Vorstandssitzung

seines Golfclubs verläßt. Gleich morgen früh will er einen

vollständigen Bericht über den Zwischenfall auf seinem Schreibtisch

vorfinden.«

»Es war Hades«, sagte ich. »Jack Schitt wußte, daß er einen Killer

herschicken würde. Und den wollte er dann verfolgen, nachdem der

Killer uns umgelegt hatte.«

Victor sah mich an und wollte eben etwas dazu sagen, als sich ein

Kollege über Funk meldete und Verstärkung anforderte. Die Stimme

gehörte unverkennbar Spike. Ich griff zum Mikrofon, doch Victor

packte mich am Handgelenk und schüttelte den Kopf.

»Nein, Thursday. Nicht bei Spike.«

»Aber wenn ein Kollege Verstärkung anfordert …«

- 183 -

»Halten Sie sich lieber raus, Mädchen. Spike arbeitet allein, und das

ist auch gut so.«

Ich blickte zu Bowden, der zustimmend nickte und sagte: »Die

Mächte der Finsternis sind nichts für uns, Miss Next. Ich glaube,

Spike versteht das. Auch wenn er hin und wieder einen Notruf absetzt,

sitzt er am nächsten Morgen doch immer wieder in der Kantine. Er

weiß, was er tut.«

Das Funkgerät war verstummt; Spike hatte auf einem offenen Kanal

gesendet, und mindestens sechzig oder siebzig Kollegen hatten ihn

gehört. Keiner hatte etwas unternommen.

Dann kam Spikes Stimme erneut über den Äther:

»Um Gottes willen, Leute …!«

Bowden wollte das Funkgerät ausschalten, doch ich hielt ihn zurück.

Ich stieg in meinen Wagen und griff zum Mikrofon.

»Spike, hier spricht Thursday. Wo sind Sie?«

Victor schüttelte den Kopf. »Schön, Sie gekannt zu haben, Miss

Next.«

Ich warf ihm einen finsteren Blick zu und stürzte mich kopfüber in

die Nacht.

Bowden trat neben Victor.

»Nicht übel, die Kleine«, murmelte Victor.

»Wir werden heiraten«, sagte Bowden nüchtern.

Victor sah ihn stirnrunzelnd an.

»Liebe ist wie Sauerstoff, Bowden. Wann ist es denn soweit?«

»Ach, sie weiß noch nichts davon«, seufzte Bowden. »Sie hat alles,

was eine Frau braucht. Sie ist stark und klug, loyal und intelligent.«

Victor zog die buschigen weißen Augenbrauen hoch. »Und wann

wollen Sie sie fragen?«

- 184 -

Bowden starrte den Rücklichtern des Wagens nach. »Ich weiß nicht.

Wenn Spike auch nur halb so tief in der Scheiße steckt, wie ich

annehme, wahrscheinlich nie.«

- 185 -

17.

SpecOps-17: Sauger & Beißer

… Seit Chesney der Schattenwelt anheimgefallen war, forderte ich

ziemlich regelmäßig Verstärkung an. Was im Grunde nichts anderes

heißen sollte als: »Hey, Leute! Es gibt mich noch!« Ich hätte nicht im

Traum daran gedacht, daß wirklich mal jemand kommt; nein, nie. Nie

im Leben …

OFFICER »SPIKE« STOKER

in einem Interview mit Van Helsing’s Gazette

»Wo sind Sie, Spike?«

Sendepause. Dann: »Das würde ich mir an Ihrer Stelle gut

überlegen, Thursday …«

»Schon passiert, Spike. Geben Sie mir Ihren Standort durch.«

Er tat mir den Gefallen, und eine Viertelstunde später hielt ich vor

der Senior School in Haydon.

»Ich bin da, Spike. Was brauchen Sie?«

Diesmal klang seine Stimme über Funk etwas belegt.

»Hörsaal vier, und beeilen Sie sich; im Handschuhfach meines

Wagens finden Sie einen Verbandskasten …«

Ein Schrei, dann brach die Verbindung ab.

Ich rannte zu Spikes Streifenwagen, der im dunklen Eingangstor der

alten Schule stand. Der Mond verschwand hinter einer Wolke;

plötzlich herrschte Finsternis, und ich spürte, wie eine kalte Hand

mein Herz umklammerte. Ich öffnete die Wagentür, durchwühlte das

Handschuhfach und fand, was ich suchte: ein kleines Lederetui mit

Reißverschluß, auf dem in verblichenen Goldlettern der Name

STOKER stand. Ich nahm es und lief die Vortreppe der alten Schule

hinauf. Im Innern glimmte die Notbeleuchtung; ich probierte mehrere

- 186 -

Lichtschalter, doch der Strom war ausgefallen. Im spärlichen

Lichtschein fand ich einen Wegweiser und folgte den Pfeilen zum

Hörsaal vier. Als ich in den Gang einbog, bemerkte ich einen strengen

Geruch, ähnlich dem gräßlichen Gestank des Todes aus dem

Kofferraum von Spikes Wagen.

Ein kalter Windhauch fuhr mir ins Genick. Ich wirbelte herum und

erstarrte, als ich die Gestalt eines Mannes erblickte, dessen Silhouette

sich gegen den trüben Schein eines Nachtlichts abzeichnete.

»Spike?« murmelte ich mit belegter Stimme; meine Kehle war wie

ausgedörrt.

»Leider nein«, sagte die Gestalt, kam langsam auf mich zu und ließ

den Lichtstrahl einer Taschenlampe über mein Gesicht gleiten. »Mein

Name ist Frampton; ich bin der Hausmeister. Was machen Sie hier?«

»Thursday Next, SpecOps. Ein Kollege hat Verstärkung

angefordert. Aus Hörsaal vier.«

»Tatsächlich?« sagte der Hausmeister. »Wahrscheinlich hat er ein

paar Kinder beim Einsteigen erwischt. Na, dann kommen Sie mal

mit.«

Ich musterte ihn eindringlich; der Schein eines Nachtlichts spiegelte

sich funkelnd in dem goldenen Kruzifix, das er um den Hals trug. Ich

seufzte erleichtert.

Entschlossen marschierte er den Gang entlang; ich hielt mich dicht

hinter ihm.

»Die Bude hier ist so alt, das ist schon nicht mehr feierlich«,

brummte Frampton und bog rechts ab in einen zweiten Gang. »Wen

suchten Sie noch gleich?«

»Einen Kollegen namens Stoker.«

»Und was treibt der so?«

»Er jagt Vampire.«

»Tatsächlich? Die letzte Plage hatten wir ’78. Ein Schüler namens

Parkes. Machte eine Wanderung durch den Forest of Dean, und als er

zurückkam, war er völlig verwandelt.«

- 187 -

»Eine Wanderung durch den Forest of Dean?« echote ich ungläubig.

»Welcher Teufel hatte den Knaben denn geritten?«

Der Hausmeister lachte. »Das haben Sie schön gesagt. Symonds Yat

war damals längst nicht so sicher wie heute; wir haben

Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Die ganze Schule wurde zur Kirche

geweiht.« Er richtete seine Taschenlampe auf ein großes Kruzifix an

der Wand.

»So, das ist Hörsaal vier.«

Er stieß die Tür auf, und wir betraten einen großen Saal. Der Strahl

von Framptons Taschenlampe glitt über die eichengetäfelten Wände,

doch von Spike keine Spur.

»Sind Sie sicher, daß er Nummer vier gesagt hat?«

»Hundertprozentig«, antwortete ich. »Er …«

Irgendwo zerschellte Glas, und nicht allzuweit entfernt war ein

gedämpfter Fluch zu hören.

»Was war das?«

»Wahrscheinlich Ratten«, meinte Frampton.

»Und die fluchen?«

» Unkultivierte Ratten. Kommen Sie, wir …«

Aber schon hatte ich mir Framptons Taschenlampe geschnappt und

näherte mich einer Tür am hinteren Ende des Hörsaals. Ich stieß sie

auf, und ein widerlicher Formaldehydgeruch schlug mir entgegen. Der

Raum war ein Anatomielabor; bis auf das Mondlicht, das durchs

Fenster fiel, war es stockdunkel. An den Wänden standen Regale

voller eingelegter Präparate: hauptsächlich tierische, aber auch einige

menschliche Körperteile, mit denen die Jungs in der Oberstufe den

Mädchen Angst einjagen konnten. Plötzlich zerbrach ein Glas, und ich

fuhr mit der Taschenlampe in der Hand herum. Mir stockte das Herz.

Spike hatte, bar jeglicher Selbstkontrolle, einen der Behälter zu Boden

geworfen und suhlte sich in der Pfütze. Zu seinen Füßen lagen die

zerbrochenen Überbleibsel mehrerer Gläser; er hatte sich anscheinend

kräftig ausgetobt.

- 188 -

»Was machen Sie da?« fragte ich und spürte, wie Ekel in mir

hochstieg.

Spike sah mich mit großen Augen an. Seine Lippen waren von

Glasscherben zerschnitten, und aus seinem stieren Blick sprachen

Schrecken und Angst.

»Ich hatte Hunger!« schrie er. »Konnte aber keine Mäuse finden

…!«

Er schloß einen Moment lang die Augen, sammelte mit geradezu

übermenschlicher Kraft seine Gedanken und stammelte dann: »Meine

Medizin …!«

Ich unterdrückte einen Würgreflex und öffnete den Verbandskasten.

Es kam eine Spritze zum Vorschein, die wie ein Kugelschreiber

aussah. Ich zog sie aus dem Etui und ging damit auf Spike zu, der in

sich zusammengesunken auf dem Fußboden kauerte und leise

schluchzte. Plötzlich legte sich eine Hand auf meine Schulter, und ich

fuhr erschrocken herum. Es war Frampton, und ein diabolisches

Lächeln spielte um seine Lippen.

»Lassen Sie ihn nur. Glauben Sie mir, so ist er glücklicher.«

Ich wischte seine Hand von meiner Schulter, wobei ich sie flüchtig

berührte. Sie war eiskalt, und ich spürte, wie ein Schauder mich

durchlief. Unwillkürlich wich ich zurück, stolperte über einen Hocker,

schlug hin und ließ dabei Spikes Injektor fallen. Ich zog meine Waffe

und richtete sie auf Frampton, der auf mich zuzuschweben schien,

ohne den Boden zu berühren. Ohne Vorwarnung drückte ich ab, und

ein greller Mündungsblitz erhellte das Labor. Frampton wurde quer

durch den Raum gegen die Tafel geschleudert und sackte in sich

zusammen. Ich tastete nach dem Injektor und lief damit zu Spike, der

gerade einen besonders großen Behälter mit einem unzweideutig und

unzweifelhaft besonders widerlichen Präparat aus dem Regal zog. Ich

leuchtete mit der Taschenlampe in seine angsterfüllten Augen, und er

murmelte:

»Helfen Sie mir!«

- 189 -

Ich zog die Schutzkappe von dem Injektor, stieß ihn in seinen

Oberschenkel und drückte zweimal. Ich nahm ihm das Glas ab, und er

sank verwirrt zu Boden.

»Spike? Sagen Sie doch was.«

»Das hat ziemlich weh getan.«

Sagte nicht Spike. Sondern Frampton. Er hatte sich hochgerappelt

und band sich etwas um den Hals, das wie ein Lätzchen aussah.

»Essenszeit, Miss Next. Mit der Speisekarte möchte ich Sie nicht

lange behelligen … aber wenn Sie’s genau wissen wollen, Sie sind

Vorspeise, Hauptgang und Dessert!«

Die Tür des Biologielabors fiel krachend ins Schloß, und ich sah auf

meine Waffe; ich hätte genausogut mit einer Wasserpistole um mich

schießen können.

Ich stand auf und wich vor Frampton zurück, der von neuem auf

mich zuzuschweben schien. Ich schoß, doch diesmal war Frampton

darauf vorbereitet; er zuckte kurz zusammen, weiter nichts.

»Aber das Kruzifix …!« brüllte ich und drückte mich an die Wand.

»Und die Schule – sie ist eine Kirche!«

»Sie kleine Närrin!« erwiderte Frampton. »Dachten Sie wirklich,

das Christentum hätte ein Monopol auf Leute wie mich?«

Ich sah mich verzweifelt nach einer Waffe um, fand jedoch nur

einen Stuhl – der in immer weitere Ferne zu rücken schien, je länger

ich mich nach ihm streckte.

»Gleif ift ef vorbei.« Frampton grinste. Ihm war ein unglaublich

langer, einzelner Vorderzahn gewachsen, der ihm bis über die

Unterlippe reichte und ihn zum Lispeln zwang. »Gleif dürfen Fie mit

Fpike ein Häppchen effen. Aber erft, wenn iff mit Ihnen fertif bin!«

Er lächelte und riß sein Maul noch weiter auf, bis es beinahe den

ganzen Raum zu verschlingen schien. Plötzlich hielt Frampton inne,

blickte verwirrt drein und drehte die Augen auf Null. Er wurde erst

grau, dann schwarz und schien schließlich zu zerfallen wie ein Stück

verbranntes Papier. Der muffige Geruch von Verwesung verdrängte

das Formaldehyd, und bald blieb nichts zurück als Spike, der noch

- 190 -

immer den angespitzten Pflock in Händen hielt, mit dem er den

abscheulichen Frampton zerstört hatte.

»Fehlt Ihnen was?« fragte er mit triumphierender Miene.

»Nein, alles bestens«, antwortete ich mit zittriger Stimme. »Ja, doch,

es geht mir gut. Noch.«

Er ließ den Pflock sinken und holte mir einen Stuhl, während

flackernd das Licht wieder anging.

»Danke«, murmelte ich. »Mein Blut gehört mir, und so soll es auch

bleiben. Ich glaube, ich stehe in Ihrer Schuld.«

»Unsinn, Thursday. Ich stehe in Ihrer Schuld. Es hat noch nie

jemand auf einen Funkspruch von mir reagiert. Die Symptome setzten

ein, als ich das Beißerchen hier aufgespürt hatte. Ich kam nicht mehr

rechtzeitig an meinen Injektor ran …«

Er verstummte und starrte traurig auf die Scherben und das

vergossene Formaldehyd.

»Ihrem Bericht wird kein Mensch glauben«, murmelte ich.

»Kein Mensch liest meine Berichte, Thursday. Der letzte, der es

versucht hat, ist heute in Therapie. Und so werden Sie einfach

abgelegt und vergessen. Genau wie ich. Das Leben ist manchmal sehr

einsam.«

Ich nahm ihn in den Arm. Ich konnte gar nicht anders. Dankbar

erwiderte er die Geste; er hatte offenbar schon lange keinen Menschen

mehr berührt. Er verströmte einen muffigen, doch keineswegs

unangenehmen Geruch – wie feuchte Erde nach einem leichten

Frühlingsregen. Er war muskulös und mindestens dreißig Zentimeter

größer als ich, und als wir uns so umarmten, schoß mir mit einmal der

Gedanke durch den Kopf, daß ich eigentlich gar nichts dagegen hätte,

wenn er einen Annäherungsversuch unternähme. Vielleicht lag es an

dem Erlebnis, das wir gerade gehabt hatten; ich weiß es nicht –

normalerweise tue ich so etwas nicht. Ich ließ meine Hand seinen

Rücken hinaufgleiten und umfaßte seinen Nacken, aber ich hatte ihn

und die Situation falsch eingeschätzt. Er löste sich vorsichtig von mir

und schüttelte lächelnd den Kopf. Der Augenblick war vorbei.

- 191 -

Ich zögerte einen Moment und schob dann meine Automatik ins

Holster. »Was war denn mit diesem Frampton?«

»Er war gut«, gestand Spike, »verdammt gut sogar. Er hat nicht in

seinem eigenen Revier gewildert und wurde auch nie gierig; gerade

genug, um seinen Durst zu löschen.«

Wir verließen das Labor und traten auf den Gang.

»Und wie sind Sie ihm auf die Spur gekommen?« fragte ich.

»Reiner Zufall. Er stand an der Ampel hinter mir. Ich habe in den

Rückspiegel geschaut – ein leerer Wagen. Ich fuhr ihm nach und zack;

als er den Mund aufmachte, wußte ich gleich, daß er ein Vampir ist.

Wenn meine Krankheit nicht wäre, hätte ich ihn sofort zerstört.«

Bei seinem Streifenwagen blieben wir stehen.

»Und was ist mit Ihnen? Besteht Aussicht auf Heilung?«

»Top-Virologen arbeiten daran, aber vorerst bleibt mir nur, den

Injektor stets griffbereit zu haben und die Sonne tunlichst zu meiden.«

Er holte seine Automatik hervor und zog den Schlitten nach hinten;

eine glänzende Patrone sprang aus der Kammer.

»Silber«, erklärte er und hielt sie mir hin. »Ich nehme nichts

anderes.« Er blickte in die Wolken. Der Schein der Straßenlaternen

färbte sie orange, und sie jagten über den dunklen Himmel. »Es gibt

jede Menge abgefahrenen Scheiß; vielleicht bringt sie Ihnen Glück.«

»Allmählich habe ich das Gefühl, daß es so etwas wie Glück nicht

gibt.«

»Da geht es Ihnen wie mir. Gott schütze Sie, Thursday, und noch

mal vielen Dank.«

Ich nahm die glänzende Pistolenkugel und wollte noch etwas sagen,

doch er war schon verschwunden und durchwühlte den Kofferraum

seines Streifenwagens nach einem Staubsauger und einem Müllsack.

Für ihn war die Nacht noch längst nicht vorbei.

- 192 -

18.

Noch mal Landen

Als ich erfuhr, daß Thursday wieder in Swindon war,

freute ich mich sehr. Ich hatte nie glauben können, daß

sie für immer weg wäre. Ich hatte von ihren

Schwierigkeiten in London gehört und wußte, wie sie auf

Streß reagierte. Wie alle Heimkehrer von der Krim war

ich ohne es zu wollen zum Experten auf diesem Gebiet

geworden …

LANDEN PARKE-LAINE

- Memoiren eines Krimveteranen

»Ich habe Mr. Parke-Laine ausgerichtet, daß Sie hämorrhagisches

Fieber haben, aber er wollte mir nicht glauben«, sagte Liz an der

Rezeption des Finis-Hotels. »Grippe wäre vielleicht glaubwürdiger

gewesen.« Liz zeigte keine Reue. »Er hat Ihnen das hier geschickt.«

Sie schob einen Umschlag über den Tresen. Am liebsten hätte ich ihn

einfach in den Müll geworfen, doch mich quälten leise

Gewissensbisse, weil ich Landen am Abend zuvor so kühl hatte

abblitzen lassen. Der Umschlag enthielt eine Platzkarte für Richard

III. , der jeden Freitagabend im Ritz-Theater gegeben wurde. In

unserer gemeinsamen Zeit waren wir fast jede Woche hingegangen.

Es war ein toller Abend, der durch das Publikum noch gewann.

»Wann sind Sie das letzte Mal mit ihm ausgegangen?« fragte Liz,

die spürte, daß ich mich nicht entscheiden konnte. Ich blickte auf.

»Vor zehn Jahren.«

» Vor zehn Jahren? Meine Güte! Die meisten meiner Ex-Freunde

könnten sich gar nicht soweit zurückerinnern.«

Ich starrte auf die Eintrittskarte. Die Vorstellung begann in einer

Stunde.

- 193 -

»Sind Sie deswegen aus Swindon weggezogen?« fragte Liz, die

Hilfsbereitschaft in Person.

Ich nickte.

»Und Sie haben noch heute immer ein Foto von ihm bei sich?«

Wieder nickte ich.

»Verstehe«, sagte Liz nachdenklich. »Dann gehen Sie sich jetzt

umziehen, und ich rufe Ihnen ein Taxi.«

Ein guter Rat, und so trottete ich auf mein Zimmer, stieg rasch unter

die Dusche und probierte dann meine gesamte Garderobe an. Ich

steckte mein Haar hoch, ließ es herunter, steckte es wieder hoch,

befand Hosen halblaut als »zu knabenhaft« und schlüpfte in ein Kleid.

Ich wählte ein Paar Ohrringe, das ich von Landen geschenkt

bekommen hatte, und verschloß meine Automatik im Zimmersafe. Es

blieb gerade noch genügend Zeit, ein wenig Eyeliner aufzutragen,

bevor ich von einem Ex-Marine, der an der Rückeroberung von

Balaklawa ’61 beteiligt gewesen war, mit einem Taxi durch die

Straßen Swindons kutschiert wurde. Natürlich redeten wir über die

Krim. Er wußte auch nicht, wo Colonel Phelps auftreten würde,

versprach jedoch, sich danach zu erkundigen und »ihm gehörig die

Meinung zu stoßen«.

Das Ritz machte einen ziemlich schäbigen Eindruck. Ich bezweifelte,

daß es seit unserem letzten Besuch überhaupt gestrichen worden war.

Die goldfarbenen Stukkaturen rings um die Bühne waren verstaubt,

der Vorhang stockfleckig von dem Regenwasser, das durchs Dach

sickerte. Seit über fünfzehn Jahren war hier außer Richard III. kein

anderes Stück mehr zur Aufführung gelangt, und das Theater selbst

verfügte über kein nennenswertes Ensemble, nur Bühnenarbeiter und

eine Souffleuse. Sämtliche Schauspieler rekrutierten sich aus dem

Publikum, das den Richard auswendig konnte. Die Besetzung der

Rollen erfolgte normalerweise eine halbe Stunde, ehe der Vorgang

hochging.

Hin und wieder absolvierten Berufs-Schauspieler einen Gastauftritt,

wenn auch stets ohne Vorankündigung. Wenn sie am späten

- 194 -

Freitagabend nichts zu tun hatten, zum Beispiel nach der Vorstellung

an einem von Swindons anderen drei Theatern, kamen sie einfach

vorbei und wurden vom Direktor als besondere Attraktion auf die

Bühne gebeten. Vergangene Woche erst hatte ein Swindoner den

Richard neben Lola Vavoom spielen dürfen, die derzeit in der

Musicalversion von Ganz locker in Ludlow am Swindon Crucible

auftrat. Es war ein ganz besonderes Erlebnis für ihn gewesen, und in

den nächsten vier Wochen würde er sich vor Essenseinladungen kaum

retten können.

Landen erwartete mich am Eingang des Theaters. In fünf Minuten

sollte es losgehen, und der Direktor hatte die Schauspieler schon

ausgewählt – und einen Reservemann, falls jemand durchdrehte oder

das Klo vollkotzte.

»Danke, daß du gekommen bist«, sagte Landen.

»Ja«, antwortete ich, küßte ihn auf die Wange und nahm einen tiefen

Atemzug von seinem Aftershave. Es war Bodmin; ich erkannte den

erdigen Duft.

»Und? Wie war dein erster Tag?« fragte er.

»Eine Entführung, Vampire, ich habe einen Verdächtigen

erschossen, einen Zeugen an einen Profikiller verloren, Goliath hat

versucht, mich umlegen zu lassen, und außerdem hatte ich einen

Platten. In einem Wort: der übliche Mist.«

»Einen Platten? Im Ernst?«

»Nicht ganz. Den Platten hab ich erfunden. Also, das mit gestern

abend tut mir leid. Ich glaube, ich nehme meine Arbeit ein bißchen zu

ernst.«

»Andernfalls«, sagte Landen und lächelte verständnisvoll, »würde

ich mir wirklich Sorgen machen. Komm, es fängt gleich an.«

Er nahm mich am Arm, eine vertraute Geste, die ich immer schon

als angenehm empfunden hatte, und führte mich in den Saal. Das

Publikum schwatzte laut durcheinander, und die grellbunten Kostüme

der Zuschauer, die keine Rolle mehr ergattert hatten, gaben der

Veranstaltung etwas von einer Gala. Ich spürte die Spannung, die in

- 195 -

der Luft lag, und mir wurde klar, wie sehr sie mir gefehlt hatte. Wir

gingen zu unseren Plätzen.

»Wann warst du das letzte Mal hier?« fragte ich, als wir es uns

bequem gemacht hatten.

»Mit dir«, antwortete Landen, stand auf und applaudierte begeistert,

als sich, begleitet von einer mißtönenden Fanfare, der Vorhang hob.

Ein Conferencier in einem rotgefütterten schwarzen Umhang kam

auf die Bühne gerauscht. »Will-kommen, ihr Will-fährigen R3-Fans,

im Ritz zu Swindon, wo heute abend (Trommelwirbel) zu eurem

ERGETZEN, eurer ERBAUUNG und SHAKESPEARIFIKATION

Wills Richard III. gegeben wird, fürs Publikum, vor Publikum, VOM

PUBLIKUM!«

Die Menge johlte, und er brachte sie mit erhobenen Händen zum

Schweigen.

»Aber ehe wir anfangen!… bitte ich um einen donnernden Applaus

für Ralph und Thea Swanavon, die heute zum zweihundertsten Mal

dabei sind!!!«

Die Menge klatschte frenetisch Beifall, als Ralph und Thea aus der

Kulisse traten. Sie waren als Richard und Lady Anne verkleidet und

knicksten und verbeugten sich vor den Zuschauern, die Blumen auf

die Bühne warfen.

»Ralph hat siebenundzwanzigmal Dick the Shit gegeben und

zwölfmal Creepy Clarence; Thea hat einunddreißigmal die Lady Anne

und achtmal die Marianne gespielt!«

Das Publikum stampfte johlend mit den Füßen.

»Zur Feier ihres 200. Jubiläums werden sie heute abend zum ersten

Mal zusammen auftreten!«

Sie knicksten beziehungsweise verbeugten sich noch einmal,

während das Publikum wild applaudierte und der Vorhang fiel,

steckenblieb, wieder aufging und sich endlich schloß.

Nach einer kurzen Pause hob sich der Vorhang erneut und gab den

Blick frei auf Richard, der am Bühnenrand stand. Er hinkte kreuz und

- 196 -

quer über die Bretter und starrte an einer ausgesucht häßlichen

Pappnase herunter böse ins Publikum.

»Schmierenkomödiant!« brüllte jemand von den hinteren Plätzen.

Richard wollte gerade zu seinem ersten Satz anheben, da rief das

gesamte Publikum wie aus einem Munde: » Wann ist der Winter

unseres Mißvergnügens?«

»Jetzt«, antwortete Richard mit einem nachgerade teuflischen

Lächeln, »ward der Winter unseres Mißvergnügens …«

Ein Jubelschrei erhob sich bis hinauf zu den Kronleuchtern unter der

hohen Decke. Das Stück hatte begonnen. Landen und ich jubelten mit.

Richard III. gehörte zu den Stücken, die das Gesetz vom tendenziellen

Fall der Profitrate eindeutig widerlegten; es machte immer wieder

Spaß.

»… Glorreicher Sommer durch die Sonne Yorks«, fuhr Richard fort

und humpelte zum Bühnenrand. Bei dem Wort »Sommer« setzten

sechshundert Menschen dunkle Brillen auf und blickten in eine

imaginäre Sonne.

»… die Wolken all, die unser Haus bedräut, sind in des Weltmeers

tiefem Schoß begraben …«

»Wann zieren unsere Brauen Siegeskränze?« brüllten die Zuschauer.

»Jetzt zieren unsere Brauen Siegeskränze«, fuhr Richard fort, ohne

sie eines Blickes zu würdigen. Obwohl wir das Stück mindestens

dreißigmal gesehen hatten, sprach ich den Text im stillen immer noch

mit.

»… zu den holden Klängen einer Laute …«, sagte Richard und

mußte das Wort »Laute« mehrmals wiederholen, weil einige

Zuschauer Alternativvorschläge machten.

»Nasenflöte!« rief jemand neben uns. »Sackpfeife!« ein anderer.

Obwohl das Stichwort längst gefallen war, krähte von hinten eine

hohe Stimme »Tuba!« durch den Saal und wurde vom Publikum

übertönt, das »Karte ziehen! Karte ziehen!« grölte, als Richard ihm

feierlich erklärte, er tauge »nicht zu Possenspielen …«

- 197 -

Landen sah mich lächelnd an. Instinktiv erwiderte ich das Lächeln;

ich amüsierte mich prächtig.

»Ich, gar wüst geschlagen …«, brummte Richard, und der Rest des

Verses ging im wüsten Schlagen und Trampeln des Publikums unter,

das den Saal erbeben ließ.

Landen und ich hatten nie das Bedürfnis verspürt, selbst auf den

Brettern zu stehen, die angeblich die Welt bedeuten, und uns deshalb

auch nie verkleidet. Die Produktion war das einzige Stück, das am

Ritz gegeben wurde; die übrige Woche stand das Theater leer.

Passionierte Amateurschauspieler und Shakespeare-Fans kamen aus

dem ganzen Land, um darin mitzuspielen, und jede Vorstellung war

ausverkauft. Vor ein paar Jahren hatte eine französische Truppe das

Stück auf französisch aufgeführt und dafür Standing ovations erhalten;

ein paar Monate später reiste eine einheimische Gruppe nach

Sauvignon und erwiderte die Geste.

»… und zwar so lahm und ungeziemend, daß Hunde bellen …«

Das Publikum begann laut zu bellen und zu jaulen wie zur Fütterung

im Hundeheim. Draußen vor der Tür zuckten einige Katzen, die in

dieser Gegend neu waren, vor Schreck zusammen, während ihre

alteingesessenen Kolleginnen lächelnd wissende Blicke tauschten.

So ging das Stück dahin. Die Schauspieler leisteten glänzende

Arbeit, die das Publikum mit – mal originellen, mal obskuren, mal

schlichtweg vulgären – Witzeleien und Zurufen parierte. Als Clarence

erklärte, der König sei davon überzeugt, »daß G den Erben Eduards

nach dem Leben steh’«, brüllte das Publikum: »Gloucester fängt mit

G an, du Trottel!«

Und als Lady Anne den König auf die Knie gezwungen hatte und

Richard das eigene Schwert an die Kehle hielt, ermunterten sie die

Zuschauer, ihm den Hals durchzuschneiden; und als einer von

Richards Neffen verlangte, Richard solle ihn auf den Schultern tragen,

warnte ihn das Publikum: »Kein Wort über den Buckel, Kleiner!«, um

gleich darauf zu verlangen: »Los, in den Tower mit ihm!«

Gespielt wurde die Garricksche Kurzfassung des Stücks, die nur

zweieinhalb Stunden dauert; zur Schlacht von Bosworth erklomm ein

- 198 -

Großteil der Zuschauer die Bühne und stürzte sich ins

Kampfgetümmel. Richard, Catesby und Richmond mußten das Stück

im Mittelgang beenden, während ringsum reichlich Theaterblut

vergossen wurde. Ein rosa Pferd, in dem zwei Männer steckten,

erschien, just als Richard sein Königreich für ein solches Tier anbot,

und die Schlacht endete im Foyer. Dann nahm Richmond eins der

Mädchen hinter dem Eisstand als Elizabeth und sprach seinen

Schlußmonolog vom Balkon, während das Publikum ihn vom Parkett

aus als neuen König Englands bejubelte.

Es war ein toller Abend gewesen. Die Darsteller hatten sich

glänzend geschlagen, und zum Glück war bei der Schlacht von

Bosworth ausnahmsweise niemand ernstlich zu Schaden gekommen.

Landen und ich verließen den Saal und sicherten uns einen Tisch im

Café gegenüber vom Theater. Landen bestellte zwei Kaffee, und wir

sahen uns lange an.

»Du siehst gut aus, Thursday. Du bist besser gealtert als ich.«

»Unsinn«, widersprach ich. »Schau dir diese Falten an …!«

»Lachfalten«, beschwichtigte Landen.

»Nichts ist so komisch.«

»Willst du in Swindon bleiben?«

»Ich weiß noch nicht«, antwortete ich und wandte den Blick ab. Ich

hatte mir fest vorgenommen, kein schlechtes Gewissen zu haben, weil

ich weggegangen war, aber …

»Kommt drauf an.«

»Worauf?«

Ich hob die linke Augenbraue. »Auf SpecOps?«

Da kam zum Glück der Kaffee. Ich setzte mein strahlendstes

Lächeln auf. »Und? Wie waren die letzten zehn Jahre?«

»Sehr gut«, sagte er und setzte mit gesenkter Stimme hinzu: »Aber

auch einsam. Sehr einsam sogar. Und wie geht’s dir?«

Ich wollte ihm sagen, daß auch ich einsam gewesen war, aber

manches läßt sich eben nicht so einfach sagen. Er sollte wissen, daß

- 199 -

ich ihm noch immer übelnahm, was er damals auf der Krim getan

hatte. Vergeben und vergessen, schön und gut, doch für meinen

Bruder galt das leider nicht. Anton war in jedem Sinne des Wortes

gestorben, und das verdankte er Landen.

»Hervorragend.« Ich dachte nach. »Nein, eigentlich nicht.«

»Ich höre.«

»Ehrlich gesagt, es geht mir beschissen. Ich habe in London zwei

Kollegen verloren. Ich bin hinter einem Irren her, den die meisten

Leute für tot halten, Mycroft und Polly sind entführt worden, Goliath

sitzt mir im Nacken, und mein SpecOps-Bezirkskommandeur will

mich so schnell wie möglich vom Dienst suspendieren. Alles bestens,

wie du siehst.«

»Verglichen mit der Krim sind das doch Peanuts, Thursday. Laß

dich nicht verrückt machen.«

Landen rührte drei Stück Zucker in seinen Kaffee, und ich fragte:

»Möchtest du, daß wir wieder zusammenkommen?«

Die Offenheit meiner Frage verblüffte ihn. Er zuckte mit den

Schultern. »Ich glaube, wir waren nie wirklich getrennt.«

Ich wußte genau, was er meinte. Und spirituell gesehen hatte er

durchaus recht.

»Die Zeit der Entschuldigungen ist vorbei, Thursday. Du hast einen

Bruder verloren. Ich ein paar gute Freunde, meine ganze Kompanie

und ein Bein. Ich weiß, wieviel Anton dir bedeutet, aber ich habe mit

eigenen Augen gesehen, wie er Colonel Frobisher das falsche Tal

zeigte, als die Leichte Brigade aufbrach. Es war ein verrückter Tag,

und es waren verrückte Umstände, aber so war es nun einmal, und ich

mußte sagen, was ich gesehen hatte …!«

Ich sah ihm fest in die Augen. »Bevor ich auf die Krim ging, dachte

ich, der Tod wäre das Schlimmste, was einem Menschen zustoßen

kann. Aber bald wurde mir klar, daß der Tod nur der Anfang ist.

Anton ist gefallen; damit kann ich leben. In jedem Krieg sterben

Menschen; das läßt sich nicht vermeiden. Na gut, es war ein

- 200 -

militärisches Debakel von erschreckendem Ausmaß. Auch die

kommen vor, von Zeit zu Zeit. Auf der Krim und anderswo.«

»Thursday!« flehte Landen. »Was ich damals ausgesagt habe, war

nichts als die Wahrheit!«

»Was heißt hier Wahrheit?« fuhr ich ihn wütend an. »Die Wahrheit

ist immer das, womit wir am besten leben können. Der Staub, die

Hitze, der Lärm! Was auch immer damals passiert ist, die Wahrheit

ist, was in den Geschichtsbüchern steht. Das, was du vor dem

Kriegsgericht ausgesagt hast! Anton hat vielleicht einen Fehler

gemacht, aber er war doch nicht der einzige an diesem Tag!«

»Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er auf das falsche Tal

gezeigt hat, Thursday.«

»So ein Fehler wäre ihm nie unterlaufen.«

Ich verspürte einen Zorn, den ich seit zehn Jahren nicht verspürt

hatte. Anton hatte als Sündenbock herhalten müssen, weiter nichts.

Die hohen Militärs hatten sich wieder einmal aus der Verantwortung

gestohlen, und der Name meines Bruders war als der des Mannes, der

die Leichte Brigade auf dem Gewissen hatte, ins nationale Gedächtnis

und die Geschichtsbücher eingegangen. Sowohl der Befehlshaber als

auch Anton waren bei der Schlacht ums Leben gekommen. So war es

Landen gewesen, der den Bericht schreiben mußte.

Ich stand auf.

»Willst du etwa schon wieder davonlaufen, Thursday?« fragte

Landen. »Wie lange eigentlich noch? Ich hatte gehofft, du wärest

milder geworden, daß wir vernünftig miteinander umgehen können,

daß noch ein Rest Liebe in uns steckt, aus dem sich etwas machen

läßt.«

Ich funkelte ihn wütend an.

»Und wie steht es mit deiner Loyalität, Landen? Er war immerhin

dein bester Freund!«

»Und ich habe es trotzdem gesagt«, seufzte Landen. »Eines Tages

wirst du dich damit abfinden müssen, daß Anton Mist gebaut hat. Das

kann passieren, Thursday. Das kann passieren.«

- 201 -

Wir starrten uns an.

»Werden wir je darüber hinwegkommen, Thursday? Ich muß das

dringend wissen.«

»Dringend? Wieso dringend? Nein«, antwortete ich, »nein, nein und

nochmals nein. Tut mir leid, daß ich deine Zeit verschwendet habe!«

Ich rannte aus dem Café, in Tränen aufgelöst und voller Zorn, auf

mich selbst, auf Landen und Anton. Ich dachte an Snood und

Tamworth. Wir hätten auf Verstärkung warten sollen; Tamworth und

ich hatten Mist gebaut, weil wir allein hineingegangen waren, und

Snood hatte Mist gebaut, weil er es wider besseres Wissen mit einem

Feind aufgenommen hatte, dem er weder physisch noch psychisch

gewachsen war. Der Jagdfieber hatte uns gepackt; eine unüberlegte

Handlung, wie auch Anton sie begangen hätte. Es war ein Gefühl wie

damals auf der Krim, und wie damals haßte ich mich dafür.

Gegen ein Uhr morgens war ich wieder im Finis. Das John-MiltonWochenende klang mit einer Disco aus. Als ich in den Fahrstuhl stieg

und auf mein Zimmer fuhr, verwandelte sich der Beat in ein

angenehm dumpfes Wummern. Ich lehnte mich gegen den Spiegel in

der Kabine; das kühle Glas war eine Wohltat. Ich hätte niemals nach

Swindon zurückkommen dürfen, soviel stand fest. Ich würde gleich

morgen früh mit Victor sprechen und mich dann möglichst rasch

versetzen lassen.

Ich schloß die Zimmertür auf, zog die Schuhe aus und legte mich

aufs Bett. Ich starrte an die styroporgeflieste Decke und versuchte,

mich damit abzufinden, was ich zwar immer schon vermutet hatte,

aber nie hatte wahrhaben wollen: Mein Bruder hatte Scheiße gebaut.

So einfach war das, auch wenn im Abschlußbericht des Tribunals von

»taktischen Fehlern im Eifer des Gefechts« und »menschlichem

Versagen« die Rede war. »Scheiße gebaut« klang plausibler; wir alle

machen ab und zu Fehler, der eine mehr, der andere weniger. Doch

nur wenn so ein Fehler Menschenleben kostet, wird er auch bemerkt.

Wäre Anton Bäcker gewesen und hätte die Hefe vergessen, wäre das

kaum der Rede wert gewesen. Mist gebaut hätte er trotzdem.

Während ich so dalag und vor mich hin grübelte, übermannte mich

der Schlaf, und mit dem Schlaf kamen die bösen Träume. Ich war

- 202 -

wieder in Styx’ Haus, nur stand ich diesmal am Hintereingang, neben

mir der umgestürzte Wagen, Commander Flanker und der Rest der

Untersuchungskommission. Auch Snood war da. Er hatte ein

häßliches Loch in der Stirn und sah mich an, als warte er darauf, daß

Flanker ihm sein Recht verschaffte.

»Sind Sie sicher, daß Sie Snood nicht angewiesen hatten, den

Hintereingang zu bewachen?« wollte Flanker wissen.

»Hundertprozentig«, sagte ich und blickte von einem zum anderen.

»Gar nicht wahr«, sagte Acheron im Vorbeigehen. »Ich hab’s

gehört.«

Flanker hielt ihn an. »Wirklich? Und was genau hat sie gesagt?«

Acheron bedachte mich mit einem Lächeln und nickte Snood

freundlich zu.

»Haiti« fuhr ich dazwischen. »Wie können Sie ihm auch nur ein

Wort glauben? Der Mann ist ein Lügner!«

Acheron schaute beleidigt drein, und Flanker drehte sich um und

musterte mich mit stählernem Blick.

»Mit dieser Meinung stehen Sie ziemlich allein, Agent Next.«

Ich kochte innerlich vor Wut über diese schreiende Ungerechtigkeit.

Ich wollte eben losheulen und aufwachen, als mir jemand auf den Arm

tippte. Es war ein Mann im schwarzen Gehrock. Er hatte dichtes

schwarzes Haar, das ihm in dicken Strähnen in sein

scharfgeschnittenes, strenges Gesicht fiel. Ich wußte sofort, wen ich

vor mir hatte.

»Mr. Rochester?«

Er nickte. Doch nun standen wir nicht mehr vor den alten

Lagerhäusern im East End; wir befanden uns in einem großen,

geschmackvoll möblierten Zimmer, das von trübschimmernden

Öllampen und dem Flackerschein eines prasselnden Kaminfeuers

erhellt wurde.

»Wie geht es Ihrem Arm, Miss Next?«

- 203 -

»Danke, sehr gut«, sagte ich und wackelte wie zum Beweis mit den

Fingern.

»Ich an Ihrer Stelle würde mir wegen dieser Herren keine Sorgen

machen«, sagte er und deutete auf Flanker, Acheron und Snood, die in

der Ecke neben dem Bücherregal standen und debattierten. »Sie

existieren lediglich als Trugbilder in Ihrem Traum und spielen daher

keine Rolle. «

»Und Sie?«

Rochester lächelte, ein schroffes, gezwungenes Lächeln. Er lehnte

sich gegen den Kaminsims und starrte in sein Glas, ließ den Madeira

leise kreisen.

»Ich bin niemals echt gewesen.«

Er stellte das Glas auf den Marmorsims, zückte eine große, silberne

Taschenuhr, klappte sie auf, sah auf das Zifferblatt und ließ sie wieder

in seiner Westentasche verschwinden, alles in einer einzigen

fließenden Bewegung. »Die Lage spitzt sich zu, das sagt mir mein

Gefühl. Ich hoffe, ich kann auf Ihre Seelenstärke rechnen, wenn es

soweit ist?«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Das kann ich Ihnen nicht erklären. Ich weiß nicht, wie ich

hierhergelangt bin, ja nicht einmal, wie Sie zu mir gekommen sind.

Erinnern Sie sich, wie Sie mir an jenem kalten Winterabend in den

Weg liefen, als Sie noch ein kleines Mädchen waren?«

Natürlich wußte ich noch ganz genau, wie ich in Haworth House vor

vielen Jahren Jane Eyre betreten und Rochesters Pferd zu Fall

gebracht hatte.

»Das ist lange her.«

»Nicht für mich. Erinnern Sie sich?«

»Aber ja.«

»Ihr Eingreifen hat die Geschichte verbessert.«

»Das verstehe ich nicht.«

- 204 -

»Vorher bin ich meiner Jane lediglich zufällig begegnet und habe

ein paar Worte mit ihr gewechselt. Wenn Sie das Buch vor Ihrem

Besuch gelesen hätten, würden Sie das sofort bemerkt haben. Daß das

Pferd bei dem Versuch, Ihnen auszuweichen, ausrutschte und zu Fall

kam, machte die Begegnung viel dramatischer, finden Sie nicht?«

»Aber war das denn nicht schon immer so?«

Rochester lächelte. »Ganz und gar nicht. Aber Sie waren

keineswegs unser erster Besucher. Und auch nicht der letzte, wenn

meine Vermutung stimmt.«

»Wie meinen Sie das?«

Er nahm sein Glas. »Da Sie gleich erwachen werden, Miss Next,

sage ich Ihnen jetzt lieber Lebewohl. Noch einmal: Kann ich auf Ihre

Seelenstärke rechnen, wenn es soweit ist?«

Es blieb keine Zeit für eine Antwort oder weitere Fragen. Der

bestellte Weckruf riß mich aus dem Schlaf. Ich war angezogen, das

Licht brannte, und der Fernseher lief.

- 205 -

19.

Irrwürden Joffy Next

Liebste Mum,

hier im Lager ZENSIERT haben wir viel Spaß. Das

Wetter ist gut, das Essen durchschnittlich, die

Kameradschaft 1A. Colonel ZENSIERT ist unser

Kommandeur; er ist ein prima Kerl. Ich sehe Thurs

relativ oft, & obwohl Du mich gebeten hast, auf sie

aufzupassen, kann sie das, glaube ich, ganz gut allein.

Sie hat das Damenboxtumier des Bataillons gewonnen.

Nächste Woche ziehen wir weiter nach ZENSIERT, ich

schreibe Dir, wenn es was Neues gibt.

Dein Sohn Anton

Brief von Anton Next,

geschrieben zwei Wochen vor seinem Tod

Abgesehen von einem anderen Gast hatte ich den Frühstücksraum

für mich allein. Wie das Schicksal es wollte, handelte es sich bei

diesem anderen Gast um Colonel Phelps.

»Guten Morgen, Corporal!« sagte er fröhlich, als er mich bei dem

Versuch erwischte, mich hinter meiner Owl zu verstecken.

»Colonel.«

Er setzte sich ohne zu fragen an meinen Tisch. »Bis jetzt ist mein

Auftritt hier, glaube ich, auf positive Resonanz gestoßen«, sagte er

leutselig, nahm sich eine Scheibe Toast und winkte dem Kellner mit

dem Löffel. »Hallo, Chef, mehr Kaffee. Die Diskussionsrunde findet

am Sonntag statt; Sie kommen doch?«

»Durchaus möglich«, antwortete ich wahrheitsgemäß.

- 206 -

»Ausgezeichnet!« rief er begeistert. »Ich muß gestehen, daß ich

dachte, Sie seien vom rechten Wege abgekommen, als wir uns im

Zeppelin begegnet sind.«

»Wo findet die Diskussion denn statt?«

»Nicht so laut, altes Mädchen. Die Wände haben Ohren. Feind hört

mit etc. pp. Ich lasse Ihnen einen Wagen schicken. Schon gesehen?«

Er zeigte mir die Titelseite des Mole. Der widmete sich, wie alle

Zeitungen, fast ausschließlich der bevorstehenden Offensive, die alle

Welt offenbar für so unausweichlich hielt, daß keine Hoffnung mehr

für einen Verhandlungsfrieden bestand. Die letzte größere Schlacht

hatte ’75 stattgefunden, und die bitteren Erinnerungen daran reichten

anscheinend nicht tief genug.

»Ich sagte: Mehr Kaffee! « donnerte Phelps. Der Kellner hatte ihm

versehentlich Tee eingeschenkt. »Dieses neue Plasmagewehr wird der

leidigen Sache ein Ende machen. Ich habe sogar daran gedacht, meine

Rede umzuschreiben und all jene, die ein neues Leben anfangen

wollen, dazu aufzurufen, sich schon jetzt ein Stück Land auf der

Halbinsel zu kaufen. Die Regierung will, wenn die Russen erst

vertrieben sind, so bald wie möglich Menschen dort ansiedeln.«

»Aber begreifen Sie denn nicht?« fragte ich wütend. »Es wird kein

Ende geben. Nicht solange wir noch Truppen auf russischem Boden

haben.«

»Wie war das?« murmelte Phelps. »Hmm? Hä?«

Er machte sich an seinem Hörgerät zu schaffen und legte den Kopf

schief wie ein Papagei. Ich machte ein unverbindliches Geräusch,

stand auf und ging.

Es war noch früh; die Sonne stand am Himmel, aber es war noch kalt.

Nachts hatte es geregnet, und die Luft war feucht. Ich klappte das

Verdeck herunter, in der Hoffnung, daß der Fahrtwind die Erinnerung

an gestern abend und meine Wut darüber, daß ich Landen nicht

vergeben konnte, wegwehen würde. Ich war sechsunddreißig, und

abgesehen von den Monaten mit Filbert, plusminus dem einen oder

anderen One-night-stand, war ich seit zehn Jahren allein. Noch einmal

- 207 -

fünf Jahre, und ich konnte die Hoffnung begraben, mein Leben mit

jemand zu teilen.

Ich raste um die Kurven, und der Wind zerrte an meinen Haaren. Es

war so gut wie kein Verkehr, der Wagen lief wie eine Eins. Bei

Sonnenaufgang hatten sich hier und da kleinere Nebelbänke gebildet,

und ich glitt durch sie hindurch wie ein Luftschiff. Wenn ich in eines

dieser Dunstfelder hineinfuhr, ging ich vom Gas und trat das Pedal

erst wieder durch, wenn ich in die helle Morgensonne hinausschoß.

Wanborough, ein kleines Dorf, lag gut zehn Autominuten vom Hotel

Finis entfernt. Ich parkte vor dem GSG-Tempel – einer ehemaligen

Kirche der Church of England – und stellte den Motor ab. Die

ländliche Stille war eine Wohltat, nur in der Ferne tuckerten ein paar

Traktoren. Ich öffnete das Tor und betrat den schmucken kleinen

Friedhof. Ich war seit meinem Umzug nach London nicht mehr an

Antons Gedenkstein gewesen, wußte aber, daß ihn das nicht gestört

hätte. Vieles von dem, was wir am anderen gemocht hatten, war

unausgesprochen geblieben. Was den Humor, die Liebe und das

Leben anging, hatten wir uns prächtig verstanden. Als ich in

Sebastopol eintraf, um der 3rd Wessex Light Armoured Brigade

beizutreten, waren Landen und Anton schon gute Freunde. Anton war

Captain und der Brigade als Funker zugeteilt; Landen war Lieutenant.

Anton machte uns miteinander bekannt, und allen diesbezüglichen

Befehlen zum Trotz verliebte ich mich in Landen, und er sich in mich.

Ich kam mir vor wie ein Schulmädchen, wenn ich durch das Feldlager

zu einem verbotenen Rendezvous schlich. Anfangs erschien mir der

Krimkrieg wie eine nicht enden wollende Party.

Die Leichen der Gefallenen wurden nicht zurück in die Heimat

gebracht. Eine politische Grundsatzentscheidung. Doch viele hatten

private Gedenksteine. Antons lag am Ende der Reihe, unter den

schützenden Ästen einer alten Eibe, zwischen zwei anderen KrimGedenksteinen. Das Grabmal wirkte gepflegt; offenbar wurde

regelmäßig gejätet, und vor noch nicht allzu langer Zeit hatte jemand

frische Blumen gebracht. Ich stellte mich vor die unscheinbare

Kalksteintafel und las die Inschrift. Schlicht und prägnant.

- 208 -

Name, Rang und das Datum des Angriffs. Sechzehnhundert Meilen

entfernt, auf der Halbinsel, markierte ein ganz ähnlicher Stein Antons

tatsächliches Grab. Andere hatten es nicht so gut getroffen. Vierzehn

meiner damaligen Kameraden wurden nach wie vor »vermißt«,

Militärjargon für »nicht genügend Einzelteile zum Identifizieren«.

Plötzlich schlug mir jemand auf den Hinterkopf. Nicht sehr fest,

trotzdem schrak ich zusammen. Hinter mir stand der GSG-Priester

und grinste mich blöde an.

»Na, du Pflaume?« bellte er.

»Hallo, Joffy«, erwiderte ich leicht irritiert. »Soll ich dir noch mal

die Nase brechen?«

»Ich bin jetzt Pope, Schwesterherz!« rief er. »Und einen Diener des

Herrn verprügelt man nicht.«

Ich starrte ihn einen Moment lang wortlos an. »Wenn ich dich nicht

verprügeln darf«, fragte ich schließlich, »was soll ich dann mit dir

machen?«

»Wir von der GSG sind zum Beispiel ganz groß im Umarmen,

Schwesterherz.«

Und so umarmten wir uns, vor Antons Gedenkstein, ich und mein

bescheuerter Bruder Joffy, den ich mein Lebtag nicht umarmt hatte.

»Gibt’s was Neues von Fettarsch und Superhirn?«

»Falls du Mycroft und Polly meinst, muß ich dich leider

enttäuschen. Nein.«

»Immer schön locker bleiben, Schwesterherz. Mycroft ist nun mal

ein Superhirn, und Polly, also, hat sie vielleicht keinen Fettarsch?«

»Trotzdem nein. Aber Mum und sie haben tatsächlich ein bißchen

zugenommen. Ist mir auch aufgefallen.«

»Das kannst du laut sagen. Im Grunde müßte Tesco nur für die

beiden einen extra Supermarkt eröffnen.«

»Ist es eigentlich die GSG, die dich zu solchen plumpen Attacken

ermutigt?« fragte ich.

- 209 -

Joffy zuckte die Achseln. »Teils, teils«, sagte er. »Das ist ja gerade

das Schöne an der Globalen Standard-Gottheit – sie ist für alles offen.

Außerdem bist du eine Verwandte, und das zählt nicht.«

Ich ließ den Blick über das frisch renovierte Gebäude und den

gepflegten Friedhofschweifen. »Wie geht’s denn so?«

»Sehr gut, danke. Guter Querschnitt von Religionen und sogar ein

paar Neandertaler, was ein schöner Missions-Erfolg ist. Die

Besucherzahlen haben sich fast verdreifacht, seit ich die Sakristei zum

Casino umgebaut habe und dienstags nackte Go-Go-Girls tanzen

lasse.«

»Du machst hoffentlich Witze?«

»Na logisch, du Pflaume!«

»Du kleines Arschloch!« Ich lachte. »Wenn du so weitermachst,

muß ich dir wohl doch noch mal die Nase brechen!«

»Möchtest du vorher noch ein Täßchen Tee?«

»Warum nicht?«

Wir gingen zum Pfarrhaus.

»Wie geht’s deinem Arm?«

»Ganz gut«, sagte ich. »Ich hab den Arzt gefragt, ob ich damit

Geige spielen könnte, und er hat gesagt: ›Ja, natürlich.‹ Das hat mich

sehr überrascht.«

»Wieso?« fragte Joffy.

»Weil ich mein Lebtag noch keine Geige in der Hand gehabt habe,

du Blödmann!«

»Ha, ha!« machte Joffy. »Unheimlich witzig. Eure SpecOps-Partys

müssen echt toll sein. Du solltest öfter mal ausgehen, Schwesterherz.

Das war so ziemlich der schlechteste Witz, den ich je gehört habe.«

Joffy konnte einen ganz schön aufregen, aber wahrscheinlich hatte

er nicht ganz unrecht. Allerdings hätte ich mir lieber die Zunge

abgebissen, als ihm das zu sagen. »Du kannst mich mal.«

Das brachte ihn zum Lachen.

- 210 -

»Du warst immer so ernst, Schwesterherz. Schon als kleines

Mädchen. Ich weiß noch genau, wie du immer auf dem Sofa gesessen

und dir die Nachrichten angeschaut hast … Hallo, Mrs. Higgins!«

Eine alte Dame kam mit einem Blumenstrauß im Arm durch das

Friedhofstor.

»Hallo, Irrwürden!« sagte sie fröhlich, sah mich an und fragte mit

heiserem Flüstern: »Ist das Ihre Freundin?«

»Nein, Gladys … das ist meine Schwester Thursday. Sie ist SpecOps-Agentin und hat folglich weder Humor noch einen Freund,

geschweige denn ein Privatleben.«

»Wie schön, meine Liebe«, sagte Mrs. Higgins, die trotz ihrer

großen Ohren offenbar stocktaub war.

»Hallo, Gladys«, sagte ich und schüttelte ihr die Hand. »Joffy hat

schon als kleiner Junge so oft seinen Bischofsstab gewienert, daß wir

dachten, er wird davon blind.«

»Gut, gut«, murmelte sie.

Joffy ließ sich nicht lumpen und setzte hinzu: »Und unsere kleine

Thursday macht beim Sex solchen Lärm, daß wir sie in den

Gartenschuppen sperren mußten, wenn ihre Freunde über Nacht

kamen.«

Ich stieß ihm den Ellbogen in die Rippen, doch davon bemerkte

Mrs. Higgins nichts; sie lächelte gütig, wünschte uns beiden einen

angenehmen Tag und wackelte davon. Wir sahen ihr nach.

»Nächsten März wird sie hundertvier«, sagte Joffy. »Unglaublich,

was? Wenn sie stirbt, lasse ich sie ausstopfen und stelle sie als

Hutständer in die Vorhalle.«

»Das war jetzt aber wirklich ein Witz.«

Er lächelte.

»Du weißt doch, daß ich nicht ernst sein kann, Schwesterherz.

Komm, ich mach dir einen Tee.«

Das Pfarrhaus war riesig. Es ging das Gerücht, daß die

Kirchturmspitze drei Meter höher gewesen wäre, wenn der damalige

- 211 -

Pfarrer die Steine nicht für seine eigenen vier Wände

zweckentfremdet hätte. Er fiel bei seinem Bischof in Ungnade und

wurde seiner Pflichten enthoben. Aber das überdimensionale

Pfarrhaus blieb stehen.

»Und?« fragte Joffy, stellte mir eine Teetasse hin und setzte sich

aufs Sofa. »Meinst du, Dad vögelt Emma Hamilton?«

»Darüber hat er nicht gesprochen. Aber würdest du es deiner Frau

erzählen, wenn du eine Affäre mit jemandem hast, der schon über

hundert Jahre tot ist?«

»Spricht er manchmal über mich?«

Ich schüttelte den Kopf, und Joffy schwieg einen Augenblick, was

für ihn ziemlich ungewöhnlich ist.

»Ich glaube, es wäre ihm lieber gewesen, wenn ich gefallen wäre

statt Ant, Schwesterherz. Ant war immer sein Lieblingssohn.«

»Das ist doch Unsinn, Joffy. Und selbst wenn es wahr wäre, läßt

sich daran nichts mehr ändern. Ant ist tot und begraben. Und wenn du

dortgeblieben wärest – Militärpfarrer bestimmen ja nun nicht direkt

das Vorgehen der Armee.«

»Und warum kommt Dad mich dann nie besuchen?«

Ich zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Vielleicht hat das was mit

der ChronoGarde zu tun. Mich besucht er auch nie länger als ein paar

Minuten.«

Joffy nickte und fragte dann: »Bist du in London zur Kirche

gegangen, Schwesterherz?«

»Dazu habe ich normalerweise keine Zeit, Joff.«

»Dann mußt du sie dir eben nehmen.«

Ich seufzte. Er hatte recht.

»Nach dem Angriff der Leichten Brigade hab ich den Glauben

verloren. Die SpecOps haben eigene Pfarrer, aber es war einfach nicht

mehr so wie früher.«

- 212 -

»Wir alle haben auf der Krim etwas verloren«, sagte Joffy leise.

»Selbst ich war nicht immun gegen die Leidenschaften der Schlacht.

Als ich auf die Krim kam, war ich vom Krieg begeistert. Ich wollte

den Sieg, ich genoß die Kameradschaft und wollte unsere sogenannten

Feinde töten.«

Plötzlich erschien mir Joffy menschlicher denn je; das war

vermutlich die Seite, die seine Gemeinde so an ihm schätzte.

»Erst im nachhinein erkannte ich, wie falsch das alles war. Bald sah

ich keinen Unterschied mehr zwischen Russen und Engländern,

Franzosen oder Türken. Als ich das zu sagen wagte, wurde ich der

Front verwiesen, damit ich keinen Ärger machte. Mein Bischof

meinte, meine Aufgabe sei nicht, ein Urteil über Recht oder Unrecht

des Krieges zu fällen, sondern für das geistige Wohlergehen der

Männer zu sorgen.«

»Also deshalb bist du nach England zurückgekommen?«

»Deshalb bin ich nach England zurückgekommen.«

»Wußtest du, daß Colonel Phelps in der Stadt ist?«

»Ja. Was für ein Arschloch. Man sollte ihn vergiften. Ich werde als

›Stimme der Mäßigung‹ gegen ihn antreten. Willst du dich nicht mit

zu uns aufs Podium setzen?«

»Ich weiß nicht, Joff.« Ich starrte in meinen Tee und wies den

angebotenen Schokoladenkeks zurück.

»Mum hält die Gedenkstätte ziemlich gut in Schuß, was?« sagte ich

im Bemühen, das Thema zu wechseln.

»Die doch nicht. Mum könnte es nicht mal ertragen, auf den

Friedhof zu kommen – vorausgesetzt sie hätte so viel abgenommen,

daß sie durchs Tor paßt.«

»Wer denn dann?«

»Na, wer schon? Landen natürlich. Hat er dir nichts davon gesagt?«

»Nein. Nein, hat er nicht.«

»Er mag beschissene Bücher schreiben und ein ziemlicher Trottel

sein, aber er war Anton immer ein guter Freund.«

- 213 -

»Aber mit seiner Aussage hat er ihn bis in alle Ewigkeit unmöglich

gemacht …!«

Joffy setzte seine Tasse ab und nahm meine Hand.

»Liebstes Schwesterlein, ich weiß, es ist ein Klischee, aber es

stimmt: Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit. Landen wollte

das widerlegen. Glaub bloß nicht, daß er sich das nicht lange und

gründlich überlegt hat – es wäre weiß Gott einfacher gewesen, zu

lügen und Ants Namen reinzuwaschen. Aber wer einmal lügt, muß

immer weiterlügen. Landen wußte das, und ich glaube, Anton auch.«

Ich hob den Kopf und sah ihn nachdenklich an. Ich hatte keine

Ahnung, was ich zu Landen sagen sollte, hoffte aber, daß mir

rechtzeitig etwas einfallen würde. Er hatte vor zehn Jahren, kurz vor

seiner Aussage vor dem Tribunal, um meine Hand angehalten. Nach

der Anhörung war ich binnen einer Woche nach London abgereist.

»Dann sollte ich ihn vielleicht mal anrufen.«

Joffy lächelte.

»Gute Idee … du Pflaume

- 214 -

20.

Dr. Runcible Spoon

… Ich werde oft gefragt, woher ich die vielen

Präpositionen nehme, die ich brauche, um meine

Bücherwürmer bei Kräften zu halten. Die Antwort ist

einfach: Ich verwende selbstverständlich ausgesparte

Präpositionen, die ein äußerst nahrhaftes Mischfutter

ergeben, besonders wenn man sie mit weggestrichenen

bestimmten Artikeln versetzt, die im Englischen

besonders oft vorkommen. So verfügt das Wort

Journey’s end nicht nur über eine ausgesparte

Präposition, sondern auch über zwei gestrichene

bestimmte Artikel: the end of the journey. Gleiches gilt z.

B. für Bettkante oder Straßenecke und so weiter. Wenn

mir die Vorräte auszugehen drohen, halte ich mich an

meine Lokalzeitung, den Toad, in dessen Schlagzeilen

sich täglich ausgesparte Präpositionen zuhauf finden.

Was nun die Ausscheidungen der Bücherwürmer betrifft,

so bestehen diese größtenteils aus Apostrophen, was sich

allmählich zum Problem entwickelt – gestern erst sah ich

ein Schild mit der Aufschrift: Mittwoch’s nachmittag’s

geschlossen …

MYCROFT NEXT

in einem Artikel für die Rubrik »Noch Fragen?« des New Splicer

Bowden und Victor waren nicht da, als ich im Büro ankam; ich

nahm mir eine Tasse Kaffee und setzte mich an meinen Schreibtisch.

Ich wählte Landens Nummer, doch es war besetzt; ein paar Minuten

später versuchte ich es noch einmal, ohne Erfolg. Sergeant Ross vom

Empfangstisch rief an und sagte, er schicke gleich jemanden vorbei,

der einen LitAg zu sprechen wünsche. Ich drehte eine Weile

Däumchen und kam auch beim dritten Versuch nicht zu Landen

durch, als ein kleiner, gräßlich ungepflegter Mann ins Büro schlurfte,

- 215 -

der wie ein zerstreuter Professor aussah: Er trug einen kleinen Bowler

und eine Jacke mit Fischgrätenmuster, die er hastig über sein

Schlafanzugoberteil gezogen hatte. Aus seiner Aktentasche ragten

Papiere, und in die Schnürsenkel beider Schuhe hatte er Knoten

gemacht. Vom Empfang bis zu meinem Büro waren es zwei Minuten

Fußweg, und er kämpfte noch immer mit seinem Besucherausweis, als

er vor mir stand.

»Darf ich?« sagte ich.

Der Professor stand unbeweglich da, während ich ihm den Ausweis

ansteckte. Dann bedankte er sich geistesabwesend und sah sich hilflos

um.

»Sie wollen zu mir, und Sie sind im richtigen Stockwerk«, sagte ich;

zum Glück hatte ich mit Professoren Erfahrung.

»Tatsächlich?« rief er verblüfft, als habe er sich schon vor

Ewigkeiten damit abgefunden, daß er sich jedesmal verirrte.

»Special Agent Thursday Next«, sagte ich und streckte ihm die

Hand hin. Er schüttelte sie kraftlos und versuchte, mit dem

Aktenkoffer in der Hand den Hut zu lüften. Schließlich gab er es auf

und tippte sich statt dessen an den Kopf.

»Äh … danke, Miss Next. Mein Name ist Dr. Runcible Spoon,

Professor für englische Literatur an der Swindon University. Ich

nehme an, Sie haben schon von mir gehört?«

»Alles nur eine Frage der Zeit, Dr. Spoon. Möchten Sie sich nicht

setzen?«

Dr. Spoon bedankte sich und folgte mir zu meinem Schreibtisch,

wobei er immer wieder innehielt, wenn er ein seltenes Buch entdeckte.

Ich mußte ein paarmal stehenbleiben und auf ihn warten, bevor ich ihn

sicher auf Bowdens Stuhl plaziert hatte. Ich holte ihm eine Tasse

Kaffee.

»Also, wie kann ich Ihnen behilflich sein, Dr. Spoon?«

»Am besten zeige ich es Ihnen, Miss Next.«

Spoon wühlte einen Augenblick in seinem Aktenkoffer und holte

einige unkorrigierte Seminararbeiten und einen Socken mit

- 216 -

Paisleymuster daraus hervor, bevor er endlich gefunden hatte, was er

suchte, nämlich ein schweres Buch mit blauem Einband. Er reichte es

mir.

» Martin Chuzzlewit«, sagte er, schob den Berg von Papieren in

seinen Koffer zurück und schien sich zu fragen, warum sie in der

Zwischenzeit so viel umfangreicher geworden waren als vorher.

»Neuntes Kapitel, Seite 187. Die Stelle ist markiert.«

Ich schlug das Buch dort auf, wo Spoon seine Busfahrkarte

eingelegt hatte, und überflog die Seite.

»Sehen Sie, was ich meine?«

»Sie müssen entschuldigen, Dr. Spoon. Aber ich habe den

Chuzzlewit seit meiner Schulzeit nicht mehr gelesen. Bitte klären Sie

mich auf.«

Spoon blickte mich argwöhnisch an; er schien sich zu fragen, ob ich

echt sei. »Eine Studentin hat mich heute morgen darauf aufmerksam

gemacht. Ich bin so schnell wie möglich hergekommen. Auf Seite 187

unten gab es einen kurzen Absatz, wo Dickens eine der skurillen

Figuren skizzierte, die Mrs. Todgers Pension bewohnen. Einen

gewissen Mr. Quaverley. Er ist ein überaus amüsanter Charakter, der

sich mit anderen Leuten prinzipiell nur über Themen unterhält, von

denen er keine Ahnung hat. Wenn Sie die Zeilen überfliegen, werden

Sie mir vermutlich darin zustimmen, daß er nicht mehr da ist.«

Ich las die Seite mit wachsendem Entsetzen. Der Name Quaverley

sagte mir etwas, doch von dem kurzen Absatz keine Spur. »Und er

kommt auch später nicht mehr vor?«

»Nein, Officer. Meine Studentin und ich sind das Buch mehrmals

durchgegangen. Es besteht nicht der geringste Zweifel. Mr. Quaverley

wurde auf unerklärliche Weise aus dem Roman entfernt.«

»Könnte es sich nicht um einen Druckfehler handeln?« fragte ich

mit wachsender Sorge.

»Ausgeschlossen. Ich habe sieben verschiedene Ausgaben geprüft,

und der Wortlaut ist überall derselbe. Mr. Quaverley weilt nicht mehr

unter uns. «

- 217 -

»Aber das ist doch nicht möglich«, murmelte ich.

»Sie sagen es.«

Die ganze Sache war mir höchst unheimlich, und langsam wurden

mir die dunklen Zusammenhänge zwischen Hades, Jack Schitt und

dem Chuzzlewit- Manuskript klar.

Das Telefon klingelte. Es war Victor. Er war in der Gerichtsmedizin

und bat mich, sofort zu kommen; sie hatten eine Leiche entdeckt.

»Und was hat das mit mir zu tun?« fragte ich.

Während Victor antwortete, beobachtete ich Dr. Spoon, der einen

Essensfleck anstarrte, den er an seiner Krawatte entdeckt hatte.

»Nein, im Gegenteil«, widersprach ich zögernd, »nach allem, was

hier gerade passiert ist, hört sich das ganz und gar nicht seltsam an.«

Das Leichenschauhaus war ein alter viktorianischer Bau, der dringend

renoviert werden mußte. Im Innern war es feucht und roch nach

Formaldehyd. Die Angestellten wirkten blaß und schlichen wie Untote

durch die Gänge des kleinen Gebäudes. Ein alter Witz besagte, in

diesen Hallen hätten bloß die Leichen ein bißchen Charisma. Das

leuchtete ein, besonders wenn man den Chefpathologen Mr.

Rumplunkett kannte. Er war ein melancholischer Bursche mit

mächtigen Hängebacken und buschigen Brauen. Ich fand ihn und

Victor in der Pathologie.

Mr. Rumplunkett nahm mein Eintreten gar nicht zur Kenntnis,

sondern sprach einfach weiter in ein Mikrofon, das von der Decke

hing; seine monotone Stimme erfüllte den gekachelten Raum mit

einem konstanten Summen. Angeblich waren die Stenotypistinnen,

die seine Berichte abtippen mußten, dabei schon oft eingenickt; kein

Wunder, denn auch er selbst war schon zweimal eingeschlafen, als er

seine Rede für das alljährliche Galadiner der Forensiker hielt.

»Vor mir liegt ein männlicher Europäer um die vierzig mit grauem

Haar und schlechten Zähnen. Er ist ungefähr ein Meter siebzig groß

und trägt Kleidung, die ich als viktorianisch bezeichnen würde …«

- 218 -

Außer Bowden und Victor waren auch die beiden Kollegen vom

Morddezernat zugegen, die uns am Abend zuvor vernommen hatten.

Sie wirkten gelangweilt und starrten die LitAg-Abordnung

mißtrauisch an.

»Morgen, Thursday«, sagte Victor vergnügt. »Erinnern Sie sich

noch an den Studebaker von Archers Mörder?«

Ich nickte.

»Tja, unsere Freunde vom Morddezernat haben die Leiche hier im

Kofferraum des Studebakers gefunden.«

»Ist sie schon identifiziert?«

»Noch nicht. Aber sehen Sie sich mal das an.«

Er deutete auf eine Schale aus Edelstahl mit den Habseligkeiten des

Toten. Ich sah sie mir genauer an: ein halber Bleistift, eine unbezahlte

Rechnung über das Stärken mehrerer Kragen und ein Brief von seiner

Mutter, datiert vom 5. Juni 1843.

»Können wir unter vier Augen miteinander sprechen?« fragte ich.

Victor begleitete mich auf den Flur.

»Das ist Mr. Quaverley«, erklärte ich.

»Wer?«

Ich wiederholte, was ich von Dr. Spoon erfahren hatte. Victor schien

nicht im mindesten erstaunt.

»Ich habe mir schon gedacht, daß er aus einem Buch stammt«, sagte

er schließlich.

»Wollen Sie damit sagen, daß so etwas schon mal vorgekommen

ist?«

»Haben Sie Der Widerspenstigen Zähmung gelesen?«

»Logisch.«

»Na, dann erinnern Sie sich doch bestimmt auch an den betrunkenen

Kesselflicker im Vorspiel, dem sie vorgaukeln, er sei der Lord, für den

sie das Stück aufführen?«

- 219 -

»Aber sicher«, antwortete ich. »Er hieß Christopher Sly. Er hat ein

paar Zeilen Text am Ende des ersten Aktes, und danach verschwindet

er auf Nimmerwiedersehen …«

Ich verstummte.

»Genau«, sagte Victor. »Vor sechs Jahren wurde bei Warwick ein

orientierungslos herumirrender, ungebildeter Säufer aufgegriffen, der

nur elisabethanisches Englisch sprach. Er gab sich als Christopher Sly

aus, verlangte einen Drink und wollte wissen, wie das Stück denn

ausgegangen sei. Ich konnte ihn eine halbe Stunde verhören, und in

dieser Zeit hat er mich davon überzeugt, daß er die Wahrheit sagte –

trotzdem war ihm nicht beizubringen, daß er nicht mehr in seinem

Stück war.«

»Was ist aus ihm geworden?«

»Das weiß niemand. Kurz nachdem ich mit ihm gesprochen hatte,

wurde er von zwei anonymen Agenten verhört. Ich habe noch

versucht herauszufinden, was danach geschah, aber Sie wissen ja, wie

verschwiegen SpecOps manchmal ist.«

Ich dachte an mein Kindheitserlebnis in Haworth.

»Und umgekehrt?«

Victor sah mich scharf an.

»Wie meinen Sie das?«

»Haben Sie schon mal davon gehört, daß jemand dasselbe in der

anderen Richtung versucht hätte?«

Victor blickte zu Boden und rieb sich die Nase. »Das ist aber

ziemlich radikal, Thursday.«

»Aber Sie halten es grundsätzlich für möglich?«

»Behalten Sie das bitte für sich, Thursday, aber ich glaube schon.

Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion sind keineswegs so fest,

wie es scheint. Sie sind so ähnlich wie ein zugefrorener See. Hunderte

von Menschen können gefahrlos darübergehen, bis sich eines Abends

eine dünne Stelle bildet und jemand durchbricht; am nächsten Morgen

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ist das Loch wieder zugefroren. Haben Sie Dickens’ Dombey und

Sohn gelesen?«

»Logisch.«

»Erinnern Sie sich noch an Mr. Glubb?«

»Den Fischer aus Brighton?«

»Genau. Dombey wurde 1848 vollendet und 1851 gründlich

überarbeitet und mit einem Personenregister versehen. Darin taucht

Mr. Glubb nicht auf.«

»Ein Versehen?«

»Möglich. 1926 verschwand ein Sammler antiquarischer Bücher bei

der Lektüre von Dombey und Sohn. Der Vorfall fand ein breites

Presseecho, weil sein Sekretär steif und fest behauptete, Bulge habe

sich vor seinen Augen ›in Rauch aufgelöst‹.«

»Und Glubbs Beschreibung paßt auf Bulge?«

»Weitestgehend. Bulge sammelte Bücher über das Meer, und genau

davon handeln Glubbs Geschichten. Rückwärts liest sich Bulges

Name ›Eglub‹, was ›Glubb‹ so nahe kommt, daß man meinen könnte,

Bulge habe ihn sich selbst ausgedacht.« Er seufzte. »Sie finden das

wahrscheinlich ziemlich unglaubwürdig?«

»Ganz und gar nicht«, widersprach ich und dachte an meine

Erlebnisse mit Rochester, »aber sind Sie wirklich sicher, daß Bulge

gefallen ist?«

»Wie meinen Sie das?«

»Er könnte ja in das Buch auch vorsätzlich hineingesprungen sein.

Und dann hat es ihm in dem Roman so gut gefallen, daß er einfach

dortgeblieben ist.«

Victor blickte mich argwöhnisch an. Aus Angst, für einen Spinner

gehalten zu werden, hatte er es nicht gewagt, jemandem von seiner

Theorie zu erzählen, und nun kam auf einmal eine Londoner

LiteraturAgentin daher, kaum halb so alt wie er, und ging weiter, als

er es sich je hätte vorstellen können. Da traf ihn die Erkenntnis.

»Sie haben es selbst schon mal gemacht, stimmt’s?«

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Ich sah ihm fest in die Augen. Für so etwas konnten wir beide vom

Dienst suspendiert und vorzeitig in Rente geschickt werden.

»Einmal«, flüsterte ich. »Als kleines Mädchen. Ich glaube nicht, daß

sich das wiederholen läßt. Ich habe jahrelang geglaubt, ich hätte mir

das alles nur eingebildet.«

Gerade als ich ihm erzählen wollte, daß Rochester nach der

Schießerei in Styx’ Wohnung in den Roman zurückgesprungen war,

streckte Bowden den Kopf in den Flur und rief uns herein.

Mr. Rumplunkett hatte seine vorläufige Untersuchung beendet.

»Ein glatter Herzdurchschuß, sehr sauber, sehr professionell.

Darüber hinaus weist der Leichnam keinerlei Besonderheiten auf,

abgesehen von Anhaltspunkten für eine Rachitis im Kindesalter. Da

diese Krankheit heutzutage ziemlich selten auftritt, dürfte es nicht

allzu schwierig sein, sie zurückzuverfolgen, es sei denn natürlich, er

hat seine Jugend im Ausland verbracht. Sehr schlechte Zähne und

Lausbefall. Auch hat er seit mindestens vier Wochen nicht gebadet.

Ansonsten kann ich Ihnen nicht viel sagen, außer daß seine letzte

Mahlzeit aus Schmalz, Hammelfleisch und Bier bestand. Mehr weiß

ich erst, wenn die Gewebeproben aus dem Labor zurück sind.«

Victor und ich sahen uns an. Ich hatte recht gehabt. Der Tote mußte

Mr. Quaverley sein. Eilig suchten wir das Weite; ich erklärte Bowden,

wer Quaverley war und woher er kam.

»Das verstehe ich nicht«, sagte Bowden auf dem Weg zum Wagen.

»Wie ist es Hades gelungen, Mr. Quaverley aus jedem Exemplar von

Martin Chuzzlewit zu entfernen?«

»Er hat das Originalmanuskript gestohlen«, antwortete ich. »Auf

diese Weise konnte er den größtmöglichen Schaden anrichten.

Sämtliche Exemplare, egal wo, egal in welcher Form, gehen auf

diesen ersten Schöpfungsakt zurück. Wenn sich das Original

verändert, verändern sich auch alle anderen. Wenn man hundert

Millionen Jahre zurückreisen und den genetischen Code der ersten

Säugetiere verändern könnte, sähen wir alle völlig anders aus. Das

wäre in etwa dasselbe.«

- 222 -

»Gut«, sagte Bowden langsam, »aber was verspricht Hades sich

davon? Wenn es um Erpressung geht, warum hat er dann Quaverley

umbringen lassen?«

Ich zuckte die Achseln. »Vielleicht war das nur eine Art Warnschuß.

Vielleicht hat er ganz andere Pläne. Es gibt schließlich weitaus

größere Fische als Mr. Quaverley aus Martin Chuzzlewit.«

»Und warum schweigt er sich darüber dann aus?«

- 223 -

21.

Hades & Goliath

Das Schicksal hat es gut mit mir gemeint. Nur wenige

Menschen wissen, wann und warum sie etwas tun sollen.

Schließlich hat jede scheinbar noch so unbedeutende

Handlung für unsere Umwelt unvorhersehbare

Konsequenzen. Zum Glück hatte ich von Anfang an ein

klares Ziel vor Augen.