MILLON DE FLOSS
- Thursday Next. Eine Biographie
Ich versuchte, mich auf die Neonröhre an der Decke zu
konzentrieren. Es war mir klar, daß etwas passiert war, doch bis auf
weiteres waren sämtliche Erinnerungen an den Tag, an dem Tamworth
und ich uns Acheron Hades hatten vornehmen wollen, aus meinem
Gedächtnis getilgt. Ich runzelte angestrengt die Stirn, hatte aber nur
bruchstückhafte Bilder im Kopf. Ich wußte noch, daß ich dreimal auf
eine alte Dame geschossen hatte und eine Feuerleiter hinuntergerannt
war. Und ich glaubte, mich entsinnen zu können, daß ich auf meinen
eigenen Wagen gefeuert und mich eine Kugel in den Arm getroffen
hatte. Ich betrachtete meinen Arm, und tatsächlich, er war mit einem
weißen Verband umwickelt. Da fiel mir ein, daß ich noch eine zweite
Kugel abbekommen hatte – in die Brust. Ich atmete mehrmals ein und
aus und stellte erleichtert fest, daß kein Rasseln oder Schnarren zu
hören war. Eine Krankenschwester kam ins Zimmer und sagte
lächelnd ein paar Sätze, die ich nicht verstand. Merkwürdig, dachte
ich, und sank von neuem in tiefen, erholsamen Schlaf.
Als ich das nächste Mal erwachte, war es Abend und kälter als
zuvor. Ich lag allein in einem Achtbettzimmer. Überall standen
Blumen und Karten, und vor der Tür schob ein bewaffneter
Polizeibeamter in Uniform Wache. Mit einem Mal öffnete mein
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Unterbewußtsein seine Schleusen, und die Erinnerung an jenen Abend
kehrte auf einen Schlag zurück. Ich kämpfte mit aller Macht dagegen
an, hätte jedoch ebensogut versuchen können, mich gegen eine Flut zu
stemmen. Und mit der Erinnerung kamen die Tränen.
Nach einer Woche war ich so weit wiederhergestellt, daß ich
aufstehen konnte. Paige und Boswell hatten vorbeigeschaut, und
meine Mutter war eigens aus Swindon angereist, um mich zu
besuchen. Zum Leidwesen meines Vaters hatte sie das Schlafzimmer
tatsächlich mauve gestrichen – und gab nun mir die Schuld dafür. Ich
versuchte gar nicht erst, das Mißverständnis aufzuklären. Obwohl ich
mich über ihre Anteilnahme freute, war ich in Gedanken woanders:
Die Sache war ein gigantischer Reinfall gewesen, und irgend jemand
mußte dafür geradestehen; und als einzige Überlebende der
Katastrophe war ich die bei weitem aussichtsreichste Kandidatin.
Im Krankenhaus wurde ein provisorischer Verhörraum eingerichtet,
und herein spazierte Tamworths früherer Chef, ein Mann namens
Flanker, dem ich nie begegnet war und der nicht einen Funken Humor
und Wärme im Leib hatte. Er brachte ein Doppelcassettendeck sowie
mehrere ranghohe SO-1-Beamte mit, die es nicht für nötig hielten,
sich vorzustellen. Ich gab freimütig Auskunft, so emotionslos und
gewissenhaft wie möglich. Zwar wußten die Behörden über Acherons
seltsame Fähigkeiten durchaus Bescheid, dennoch wollte mir Flanker
nicht glauben.
»Ich habe Tamworths Akte über Hades gelesen. Eine ziemlich
bizarre Lektüre, Miss Next«, sagte er. »Tamworth war ein
eigenwilliger Bursche. SO-5 war sein ein und alles; Hades war für ihn
kein Fall, sondern eine fixe Idee. Laut unseren Erkenntnissen hat er
grundlegende SpecOps-Vorschriften wiederholt mißachtet. Anders als
gemeinhin angenommen, sind wir gegenüber dem Parlament nämlich
durchaus zur Rechenschaft verpflichtet, wenn auch auf sehr diskrete
Art und Weise.«
Er hielt einen Moment inne und blätterte in seinen Notizen. Dann
sah er mich an und schaltete den Recorder ein. Er besprach das Band
mit dem Datum, seinem und meinem Namen sowie den
Dienstnummern der übrigen Beamten. Schließlich holte er sich einen
Stuhl und setzte sich.
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»Also, wie war das?«
Ich nahm mich zusammen und erzählte ihm die ganze Geschichte,
angefangen bei meinem ersten Zusammentreffen mit Tamworth bis
hin zu Bucketts eiligem Abgang.
»Es gibt also doch noch vernünftige Menschen auf der Welt«,
meinte einer der SO-1-Agenten. Ich ignorierte ihn.
»Tamworth und ich betraten Styx’ Haus«, sagte ich. »Wir stiegen
über die Treppe in den sechsten Stock, als wir den Schuß hörten. Wir
blieben stehen und horchten, aber es war alles totenstill. Tamworth
dachte, die beiden hätten uns bemerkt.«
»Die beiden hatten Sie bemerkt«, fuhr Flanker dazwischen. »Wie
wir der Abschrift des Bandes entnehmen konnten, hat Snood den
Namen ausgesprochen. Als Hades das hörte, brannte bei ihm eine
Sicherung durch; er bezichtigte Styx des Verrats, nahm das Paket an
sich und brachte seinen Bruder um. Ihr Überraschungsangriff kam
also alles andere als überraschend. Er wußte, daß Sie da waren.«
Ich trank einen Schluck Wasser. Ob wir den Rückzug angetreten
hätten, wenn wir uns darüber im klaren gewesen wären? Ich glaube,
kaum.
»Wer ging voran?«
»Tamworth. Wir schoben uns vorsichtig an der Wand im
Treppenhaus entlang und sahen in den siebten Stock hinauf. Bis auf
eine kleine alte Dame, die auf den Fahrstuhl wartete und wütend vor
sich hin murmelte, war der Treppenabsatz leer. Tamworth und ich
schlichen zu Styx’ offener Tür und warfen einen Blick hinein. Styx
lag auf dem Boden, und wir durchsuchten die kleine Wohnung.«
»Wir haben das Überwachungsvideo gesehen, Next«, sagte einer der
namenlosen Beamten. »Gründliche Arbeit.«
»War Hades auch auf dem Video?«
Der Mann lachte. Sie hatten an Tamworths Aussagen gezweifelt,
doch das Video zerstreute auch die letzten Bedenken. Hades war
darauf nicht zu sehen – man hörte nur seine Stimme.
»Nein«, gestand er schließlich. »Leider nicht.«
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»Tamworth fluchte und ging zur Wohnungstür zurück«, fuhr ich
fort. »Da hörte ich den zweiten Schuß.«
Ich schwieg einen Moment; obwohl mir die Situation deutlich vor
Augen stand, wußte ich noch immer nicht genau, was ich damals
gesehen und empfunden hatte. Mein Herzschlag hatte sich
verlangsamt; plötzlich schien alles glasklar. Ich hatte keine Angst, nur
das dringende Bedürfnis, den Einsatz erfolgreich zu Ende zu bringen.
Ich hatte Tamworth sterben sehen, aber nichts dabei empfunden; das
kam erst viel später.
»Miss Next?« fragte Flanker und riß mich aus meinen Gedanken.
»Was? Entschuldigung. Tamworth war getroffen. Ich wollte ihm
helfen, aber als ich das Ausmaß seiner Verletzungen erkannte, wußte
ich, daß er null Überlebenschancen hatte. Da ich davon ausgehen
mußte, daß Hades auf dem Treppenabsatz wartete, atmete ich tief
durch und riskierte einen Blick.«
»Und?«
»Und sah die alte Dame, die noch immer auf den Fahrstuhl wartete.
Da ich niemanden nach unten hatte rennen hören, nahm ich an, daß
Hades aufs Dach geflüchtet war. Ich riskierte einen zweiten Blick. Die
alte Dame wollte offenbar nicht länger warten, drehte sich um und
schlurfte durch die Wasserpfütze vor der Tür zur Treppe. Als sie an
Tamworths Leiche vorbeikam, machte sie leise tz, tz, tz. Ich behielt
den Treppenabsatz im Auge und schlich zum Dachaufgang, als sich
mein Mißtrauen regte. Ich drehte mich zu der alten Dame auf der
Treppe um, die halblaut über die Straßenbahnfahrpläne schimpfte.
Ihre feuchten Fußabdrücke hatten mich stutzig werden lassen. Obwohl
sie winzige Füße hatte, stammten die Abdrücke eindeutig von einem
Herrenschuh. Das genügte mir als Beweis. Ich dachte an Regel
Nummer Zwei: Acheron hat noch jeden hinters Licht geführt, sei es
mit Worten, Taten, Gedanken oder seinem Äußeren. Zum ersten Mal
in meinem Leben machte ich spontan von der Schußwaffe Gebrauch.«
Da niemand etwas sagte, fuhr ich fort.
»Mindestens drei der vier Kugeln trafen die gedrungene Gestalt auf
der Treppe. Die alte Dame – oder, besser, was ich dafür gehalten hatte
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– stürzte die Treppen hinunter, und ich sah vorsichtig über das
Geländer in die darunterliegende Etage. Die Habseligkeiten der Alten
lagen auf den Betonstufen verstreut, und am Fuß der Treppe stand ihr
Einkaufswagen. Ihre Einkäufe quollen daraus hervor, und mehrere
Dosen Katzenfutter rollten langsam treppab.«
»Dann haben Sie sie also getroffen?«
»Mit Sicherheit.«
Flanker fischte einen kleinen, durchsichtigen Plastikbeutel aus der
Tasche und zeigte ihn mir. Er enthielt drei meiner Pistolenkugeln; sie
waren völlig plattgedrückt, als hätte ich damit auf einen Panzer
geschossen.
Als Flanker weitersprach, triefte seine Stimme geradezu vor
Sarkasmus. »Wollen Sie damit sagen, Acheron hatte sich als alte
Dame verkleidet?«
»Jawohl, Sir«, antwortete ich, ohne ihn anzusehen.
»Und wie hat er das Ihrer Ansicht nach gemacht?«
»Ich weiß es nicht, Sir.«
»Wie könnte sich ein über einsachtzig großer Mann in derart kleine
Frauenkleider zwängen?«
»Ich glaube nicht, daß er sich tatsächlich verkleidet hat; ich glaube,
er hat lediglich das projiziert, was ich sehen sollte.«
»Das ist doch absurd.«
»Wir wissen längst nicht alles über Hades.«
»Das können Sie laut sagen. Die alte Dame hieß Mrs. Grimswold;
ihre Leiche steckte im Kamin von Styx’ Wohnung. Die Kollegen
mußten sie zu dritt herausziehen.«
Flanker dachte einen Augenblick nach und überließ die nächste
Frage einem seiner Begleiter.
»Mich würde brennend interessieren, weshalb Sie beide mit
Deformationsmunition bewaffnet waren«, sagte einer der anderen
Beamten und sah dabei nicht mich, sondern die Wand an. Er war klein
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und dunkelhaarig und litt unter einem lästigen Zucken des linken
Augenlides. »Gerillte Hohlspitzprojektile und
Hochleistungsgeschosse. Was wollten Sie damit erlegen? Büffel?«
Ich holte tief Luft.
»’77 wurde Hades sechsmal angeschossen, Sir, und das ohne
erkennbare Wirkung. Aus diesem Grund gab uns Tamworth die
Spezialmunition. Er sagte, SO-1 hätte das ausdrücklich genehmigt.«
»Daß ich nicht lache. Wenn die Journaille davon Wind bekommt,
sind wir geliefert. SpecOps hat ein, gelinde gesagt, gespanntes
Verhältnis zur Presse, Miss Next. Der Mole versucht seit geraumer
Zeit, uns einen seiner Schreiberlinge auf den Hals zu hetzen. Dabei
sind wir der Politik gegenwärtig ohnehin ein Dorn im Auge.
Deformations-Geschosse! – Scheiße, nicht mal unsere Spezialtruppen
auf der Krim sind damit ausgerüstet.«
»Das habe ich auch gesagt«, entgegnete ich, »aber wenn ich mir die
Dinger so ansehe« – ich hielt den Beutel mit den plattgedrückten
Projektilen in die Höhe –, »muß ich gestehen, daß Tamworth
außerordentlich zurückhaltend gehandelt hat. Wir hätten
Panzerabwehrmunition einsetzen sollen.«
»Sie sind ja wohl nicht ganz gescheit.«
Wir machten eine Pause. Flanker verschwand mit den anderen im
Nebenzimmer, während eine Krankenschwester meinen Verband
wechselte. Ich hatte Glück gehabt; mein Arm hatte sich nicht
entzündet. Ich dachte gerade an Snood, als sie zurückkamen, um die
Vernehmung fortzusetzen.
»Als ich vorsichtig die Treppe hinunterstieg, stellte sich heraus, daß
Acheron inzwischen keine Waffe mehr hatte«, nahm ich den Faden
wieder auf. »Am Fuß der Treppe lag eine 9mm-Beretta neben einer
Tüte Vanillesoßenpulver. Von Acheron und der kleinen alten Dame
keine Spur. Im unteren Stockwerk fand ich eine Wohnungstür, die
jemand mit brutaler Gewalt eingetreten hatte, wobei die Scharniere
und das Schloß zu Bruch gegangen waren. Ich versuchte, die
Bewohner zu befragen, aber die beiden konnten sich kaum halten vor
Lachen; Acheron hatte ihnen offenbar einen Witz über drei
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Ameisenbären in einer Kneipe erzählt, und ich brachte kein
vernünftiges Wort aus ihnen heraus.«
Eine Beamtin schüttelte schwerfällig den Kopf.
»Was ist denn nun schon wieder?« fragte ich pikiert.
»Keine der von Ihnen genannten Personen kann sich an Sie oder
Acheron erinnern. Sie entsinnen sich nur, daß plötzlich ohne
ersichtlichen Grund die Tür aufsprang. Haben Sie dafür eine
Erklärung?«
Ich überlegte einen Augenblick.
»Nein. Vielleicht ist er imstande, willensschwache Menschen zu
kontrollieren. Aber wir haben bislang ohnehin nur eine dunkle
Ahnung von seinen ungeheuren Fähigkeiten.«
»Hmmm«, machte die Beamtin nachdenklich. »Ehrlich gesagt, hat
das Pärchen sogar versucht, uns den Witz über die Ameisenbären zu
erzählen. Das hat uns dann doch ein wenig stutzig gemacht.«
»Er war nicht komisch, stimmt’s?«
»Ganz und gar nicht. Trotzdem haben sich die beiden fast
kaputtgelacht.«
Ich wurde langsam sauer; die Art ihrer Befragung ging mir gegen
den Strich. Ich sammelte meine Gedanken und fuhr fort, um die Sache
so schnell wie möglich hinter mich zu bringen.
»Ich sah mich in der Wohnung um und stellte fest, daß im
Schlafzimmer ein Fenster offenstand. Es ging auf die Feuerleiter, und
als ich hinausspähte, entdeckte ich Acherons Gestalt vier Stockwerke
tiefer auf der rostigen Treppe. Gerade als mir klar wurde, daß ich ihn
nicht mehr einholen konnte, sah ich Snood. Er stolperte hinter einem
geparkten Wagen hervor, richtete seinen Revolver auf Hades und sank
auf die Knie. Damals verstand ich nicht, was er damit bezweckte.«
»Und heute?«
Ich ließ den Kopf hängen.
»Er war meinetwegen da.«
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Ich spürte, wie mir die Tränen kamen, und kämpfte mit aller Macht
dagegen an. Da ich nicht die Absicht hatte, vor diesen Leuten
loszuflennen wie ein kleines Kind, kaschierte ich mein Schniefen
durch geschicktes Hüsteln.
»Er war da, weil er wußte, was er getan hatte«, sagte Flanker. »Er
wußte, daß er Tamworth und Sie in Lebensgefahr gebracht hatte, weil
ihm Hades’ Name herausgerutscht war. Wir gehen davon aus, daß er
seinen Fehler wiedergutmachen wollte. Mit neunundachtzig Jahren
trat er einem Mann gegenüber, der erstens zu allem entschlossen und
ihm zweitens sowohl körperlich als auch intellektuell weit überlegen
war. Das war zwar tapfer. Aber dumm. Konnten Sie hören, worüber
die beiden gesprochen haben?«
»Anfangs nicht. Aber als ich die Feuertreppe weiter hinunterstieg,
hörte ich Snood ›Polizei!‹ und ›Auf den Boden!‹ rufen. Als ich im
zweiten Stock angekommen war, hatte Hades den Alten schon
überredet, ihm seine Waffe auszuhändigen, und erschoß ihn damit. Ich
drückte zweimal ab; Hades schwankte leicht, fing sich allerdings rasch
wieder und rannte zum erstbesten Wagen. Meinem Wagen.«
»Und dann?«
»Ich kletterte die Leiter hinunter, ließ mich fallen und landete
unglücklich in einem Abfallhaufen, wobei ich mir den Fuß
verstauchte. Als ich den Kopf hob, sah ich, wie Acheron das
Seitenfenster meines Wagens einschlug und die Tür öffnete. Es
dauerte nur ein paar Sekunden, dann hatte er das Lenkradschloß
geknackt und den Motor angelassen. Ich wußte, daß die Straße eine
Sackgasse war. Wenn Acheron entkommen wollte, mußte er mich
über den Haufen fahren. Ich humpelte zur Straßenmitte und wartete.
Als er losfuhr, drückte ich ab. Jeder Schuß ein Treffer. Zwei in die
Windschutzscheibe und einer in den Kühlergrill. Acheron gab Gas,
und ich leerte mein Magazin. Ein Seitenspiegel und ein Scheinwerfer
gingen zu Bruch. Wenn er nicht auswich, würde er mich überfahren,
aber das war mir in dem Moment egal. Der Einsatz war ohnehin ein
Desaster. Acheron hatte Tamworth und Snood umgebracht. Er würde
zahllose andere umbringen, wenn ich mich ihm nicht entgegenstellte.
Als meine letzte Kugel seinen rechten Vorderreifen traf, verlor
Acheron schließlich die Kontrolle über den Wagen. Er rammte einen
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am Straßenrand geparkten Studebaker, überschlug sich, schlidderte
auf dem Dach quer über die Straße und kam zu guter Letzt einen
knappen Meter vor mir zum Stehen. Er schaukelte noch einen
Augenblick und lag dann still; das Kühlwasser vermischte sich mit
auslaufendem Benzin.«
Ich trank noch einen Schluck Wasser und blickte in die Runde. Sie
hingen an meinen Lippen, doch das dicke Ende kam erst noch.
»Ich lud nach und riß die Fahrertür des umgestürzten Wagens auf.
Ich hatte eigentlich erwartet, daß er bewußtlos herausfallen würde,
aber Acheron wurde meinen Erwartungen, wie schon so oft an diesem
Abend, leider nicht gerecht. Der Wagen war leer.«
»Hatten Sie ihn entkommen sehen?«
»Nein. Genau darüber dachte ich nach, als ich eine vertraute Stimme
hinter meinem Rücken hörte. Es war Buckett. Er war
zurückgekommen.
›Wo ist der Kerl?‹ brüllte er.
›Keine Ahnung‹ stammelte ich und warf einen Blick auf den
Rücksitz des Wagens. ›Eben war er noch da!‹
›Sie bleiben hier!‹ schrie Buckett. ›Ich sehe vorne nach!‹
Ich war froh, daß mir jemand Befehle erteilte und die Last der
Verantwortung von meinen Schultern nahm. Aber als Buckett sich
zum Gehen wandte, flimmerte er leicht, und da wußte ich, daß etwas
nicht stimmte. Ohne zu zögern, schoß ich Buckett dreimal in den
Rücken. Er brach zusammen …«
»Sie haben auf einen Kollegen geschossen?« fragte die SO-1Agentin ungläubig. »Noch dazu in den Rücken?« Ich ignorierte sie.
»… nur war es natürlich nicht Buckett. Die Gestalt, die vor mir auf
der Fahrbahn lag und sich jetzt mühsam hochrappelte, war Acheron.
Er massierte sich den Rücken an der Stelle, wo ich ihn getroffen hatte,
und lächelte milde.
›Das war nicht sehr sportlich!‹ sagte er grinsend.
›Ich hatte für Sport noch nie etwas übrig‹, versicherte ich ihm.«
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Einer der SO-1-Beamten fiel mir ins Wort.
»Sie scheinen Ihre Gegner des öfteren in den Rücken zu schießen,
Next. Aus kürzester Entfernung, mit gerillten Geschossen, und das
soll er überlebt haben? Tut mir leid, aber das ist unmöglich!«
»Aber wenn ich es Ihnen doch sage!«
»Sie lügt!« rief er empört. »Ich höre mir das nicht länger an!«
Flanker legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm.
»Fahren Sie fort, Miss Next.«
Ich gehorchte.
»›Hallo, Thursday‹, sagte Hades.
›Acheron‹, antwortete ich.
Er lächelte.
›Ihretwegen liegt Tamworth da oben in seinem, Blut. Geben Sie mir
Ihre Waffe, damit das hier ein Ende hat und wir nach Hause gehen
können.‹
Hades streckte die Hand aus, und ich verspürte den
unwiderstehlichen Drang, ihm meine Pistole zu übergeben. Aber ich
hatte ihn schon einmal abgewiesen, obwohl er es damals mit weitaus
überzeugenderen Methoden versucht hatte – als er Dozent gewesen
war und ich seine Studentin. Vielleicht wußte Tamworth, daß ich die
Kraft hatte, ihm zu widerstehen; vielleicht war das einer der Gründe,
weshalb er mich dabeihaben wollte. Ich weiß es nicht. Als Hades das
bemerkte, setzte er ein leutseliges Lächeln auf und sagte: ›Lange nicht
gesehen. Fünfzehn Jahre, stimmt’s?‹
›Sommer ’69‹, erwiderte ich grimmig. Für seine Spielchen war mir
meine Zeit zu schade.
›Neunundsechzig?‹ fragte er und dachte einen Augenblick nach.
›Dann sind es also sechzehn Jahre. Wenn mich nicht alles täuscht,
waren wir damals ziemlich dick befreundet.‹
›Sie waren ein hervorragender Lehrer, Acheron. Ein solches Genie
wie Sie ist mir nie wieder begegnet. Warum das alles?‹
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›Dasselbe könnte ich dich fragen‹, gab Acheron lächelnd zurück.
›Du warst die einzige Studentin, die ich ohne rot zu werden als
hervorragend bezeichnen konnte, und was ist aus dir geworden? Ein
besserer Bulle. Eine LitAg. Eine Sklavin des Networks. Was hat dich
zu SO-5 verschlagen?‹
›Das Schicksal.‹
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Acheron lächelte.
›Ich habe dich von Anfang an gemocht, Thursday. Du hast mich
zurückgewiesen, und wie wir alle wissen, gibt es nichts
Verführerischeres als ein Nein. Ich habe mich oft gefragt, was ich
wohl tun würde, wenn wir uns einmal wiedersehen. Mein Schützling,
meine Meisterschülerin. Fast wären wir ein Paar geworden.‹
›Ihr Schützling bin ich nie gewesen, Hades.‹
Wieder lächelte er.
›Hast du dir schon einmal ein neues Auto gewünscht?‹ fragte er
plötzlich, wie aus heiterem Himmel.
Natürlich. Wer hat das nicht? Und das sagte ich ihm auch.
›Wie steht es mit einem großen Haus? Oder, besser noch, zwei
großen Häusern? Auf dem Land. Mit Park. Und einem Rembrandt.‹
Ich begriff, worauf er hinauswollte.
›Wenn Sie mich kaufen wollen, Acheron, müssen Sie schon die
richtige Währung wählen.‹
Acheron klappte die Kinnlade herunter. ›Du bist zäh, Thursday. Nur
wenige Menschen sind stärker als ihre Habsucht.‹
Mich packte die Wut. ›Was wollen Sie mit dem Chuzzlewit-
Manuskript, Acheron? Es verkaufen?‹
›Etwas stehlen und verkaufen? Wie ordinär‹, sagte er höhnisch.
›Das mit deinen beiden Freunden tut mir aufrichtig leid.
Hohlspitzgeschosse richten eine ziemliche Schweinerei an, nicht
wahr?‹
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Wir standen uns auf der Straße gegenüber. Es konnte nicht mehr
lange dauern, bis SO-14 endlich eintraf.
›Auf den Boden‹, befahl ich. ›Oder ich schieße. So wahr ich hier
stehe.‹
Hades machte eine Bewegung, fast zu schnell fürs bloße Auge. Ich
hörte einen lauten Knall und spürte, wie mich etwas am Oberarm
zupfte. Plötzlich durchströmte mich wohlige Wärme, und ich nahm
mehr oder weniger gleichgültig zur Kenntnis, daß ich angeschossen
worden war.
›Nicht übel, Thursday. Wie wär’s mit dem anderen Arm?‹
Ohne es zu merken, hatte ich einen Schuß in seine Richtung
abgegeben. Dazu gratulierte er mir jetzt. Ich wußte, daß mir höchstens
dreißig Sekunden Zeit blieben, bis der Blutverlust mir das Bewußtsein
raubte. Ich nahm die Automatik in die linke Hand und brachte sie
erneut in Anschlag.
Acheron lächelte anerkennend. Er hätte dieses brutale Spielchen
gewiß noch weitergetrieben, doch jaulende Polizeisirenen in der Ferne
zwangen ihn zum Handeln. Er schoß mir in die Brust und ließ mich
liegen, in dem Glauben, ich sei tot.«
Als ich mit meiner Geschichte fertig war, änderten die SO-1-Beamten
nervös ihre Haltung und wechselten verstohlene Blicke, doch ob sie
mir glaubten oder nicht, war mir egal. Hades hatte mich für tot
gehalten, aber meine Zeit war offenbar noch nicht gekommen.
Tamworths Exemplar von Jane Eyre hatte mir das Leben gerettet. Ich
hatte es in meiner Brusttasche getragen, und Hades’ Kugel hatte es
nicht ganz durchschlagen, sondern war im Einband steckengeblieben.
Ein paar gebrochene Rippen und eine mörderische Prellung – aber ich
hatte es überlebt. Es war Glück, Schicksal oder wie auch immer man
es nennen möchte.
»War das alles?« fragte Flanker.
Ich nickte.
»Das war alles.«
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Das war natürlich längst nicht alles, es gab noch sehr viel mehr, aber
nichts davon ging diese Leute etwas an. So hatte ich ihnen
beispielsweise verschwiegen, auf welch gemeine Weise Hades den
Tod von Snood dazu benutzt hatte, um mich emotional zu
destabilisieren; nur so hatte er den ersten Treffer landen können.
»Mehr brauchen wir nicht zu wissen, Miss Next. Sie können zu SO27 zurückkehren, sobald Sie dazu in der Lage sind. Ich möchte Sie
jedoch daran erinnern, daß Sie zum Stillschweigen verpflichtet sind.
Ein falsches Wort könnte überaus ärgerliche Konsequenzen haben.
Haben Sie uns noch etwas zu sagen?«
Ich holte tief Luft. »Ich weiß, vieles von dem, was ich Ihnen erzählt
habe, klingt unglaubwürdig, aber es ist die Wahrheit. Ich bin die erste
Zeugin, die mit eigenen Augen gesehen hat, wie weit Hades zu gehen
bereit ist, um sein Ziel zu erreichen. Wer auch immer in Zukunft mit
seinem Fall zu tun hat, sollte sich darüber im klaren sein, wozu er
fähig ist.«
Flanker lehnte sich zurück und warf dem Mann mit dem Tic einen
fragenden Blick zu; der nickte.
»Nicht nötig, Miss Next.«
»Wie meinen Sie das?«
»Hades ist tot. Obwohl man ihnen eine gewisse Schießwut
schwerlich wird absprechen können, sind die Kollegen von SO-14
beileibe keine Totalversager. Sie haben ihn an jenem Abend über die
M4 verfolgt, bis er an der Anschlußstelle Zwölf die Kontrolle über
sein Fahrzeug verlor und eine Böschung hinunterraste. Der Wagen
explodierte und brannte aus. Wir wollten es Ihnen nicht sagen, bevor
wir Sie nicht vernommen hatten.«
Die Nachricht traf mich wie ein Faustschlag in den Magen. Rache
war eines der wenigen Gefühle, mit denen ich mich über die
vergangenen zwei Wochen gerettet hatte. Ohne das brennende
Verlangen, Hades seiner gerechten Strafe zuzuführen, hätte ich
vermutlich gar nicht durchgehalten. Ohne Acheron konnte niemand
meine Aussagen bestätigen. Zwar hatte ich nicht erwartet, daß man
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mir alles glaubte, aber so konnte ich mich wenigstens darauf freuen,
rehabilitiert zu werden, wenn andere seine Bekanntschaft machten.
»Wie bitte?« fragte ich.
»Ich habe gesagt, Hades ist tot.«
»Nein, niemals«, widersprach ich, ohne nachzudenken.
Flanker glaubte vermutlich, ich stünde immer noch unter Schock.
»Auch wenn es Ihnen schwerfällt, das zu akzeptieren: Er ist tot. Bis
zur Unkenntlichkeit verbrannt. Wir mußten ihn anhand seiner
zahnärztlichen Unterlagen identifizieren. Er hatte immer noch Snoods
Pistole bei sich.«
»Und das Chuzzlewit-Manuskript?«
»Keine Spur – vermutlich ebenfalls verbrannt.«
Ich sah zu Boden. Der Einsatz war ein einziges Fiasko gewesen.
»Miss Next«, sagte Flanker, stand auf und legte mir eine Hand auf
die Schulter, »es wird Sie freuen zu hören, daß alles unter SO-8
strengster Geheimhaltung unterliegt. Sie können also bedenkenlos zu
Ihrer Abteilung zurückkehren, Ihre Akte bleibt ohne Fehl und Tadel.
Es gab zwar Pannen, aber wer weiß schon, wie die Sache unter
anderen Umständen ausgegangen wäre. Uns werden Sie jedenfalls
nicht wiedersehen.«
Er stellte den Cassettenrecorder ab, wünschte mir gute Besserung
und ging zur Tür hinaus. Die anderen Beamten taten es ihm nach, bis
auf den Mann mit dem Tic. Er wartete, bis seine Kollegen außer
Hörweite waren, und raunte mir dann zu: »Ich halte Ihre Aussage für
Schwachsinn, Miss Next. Das Amt kann es sich nicht leisten, Leute
vom Schlage eines Fillip Tamworth zu verlieren.«
»Danke.«
»Wofür?«
»Dafür, daß Sie mir seinen Vornamen genannt haben.«
Der Mann wollte noch etwas sagen, besann sich dann aber doch
eines Besseren und ging.
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Ich stand auf und starrte aus dem Fenster des provisorischen
Verhörraums. Draußen war es sonnig und warm, und die Bäume
wiegten sich sanft im Wind; die Welt sah aus, als sei für Menschen
wie Hades auf ihr wenig Platz. Die Gedanken an besagte Nacht
kehrten zurück. Die Sache mit Snood hatte ich ihnen wohlweislich
verschwiegen. Acheron hatte auf Snoods müden und verbrauchten
Körper gezeigt und gesagt: »Ich soll dir von Filbert ausrichten, daß es
ihm leid tut.«
»Das ist Filberts Vater!« verbesserte ich ihn.
»Nein«, sagte er kichernd. »Das war Filbert.«
Ich sah mir Snood noch einmal an. Er lag mit offenen Augen auf
dem Rücken, und die Ähnlichkeit war unverkennbar, trotz der vierzig
Jahre Altersunterschied.
»O Gott, nein! Filbert? Wirklich?«
Acheron schien sich königlich zu amüsieren.
»Bis auf weiteres verhindert ist der gängige ChronoGardenEuphemismus für eine Zeitaggregation, Thursday. Komisch, daß du
das nicht wußtest. Eine Minute außerhalb des Hier und Jetzt, und
schon bist du sechzig Jährchen älter. Kein Wunder, daß er sich nie
wieder bei dir gemeldet hat. Er wollte nicht, daß du ihn so siehst.«
Also doch keine Frau in Tewkesbury. Mein Vater hatte mir genug
von Temporaldilationen und ZeitVerzerrungen erzählt. Filbert war
irgendwo zwischen Ereignis, Konus und Horizont gefangen gewesen,
was seine Rückkehr in die Gegenwart »bis auf weiteres« verhindert
hatte. Das Tragische daran war, daß er es mir nicht mehr hatte sagen
können. Ich war derart perplex, daß ich nicht reagierte, als Acheron
die Waffe hob und schoß. Und genau das hatte er wohl geplant.
Ich ging langsam in mein Zimmer zurück und setzte mich aufs Bett.
Ich war am Boden zerstört. Wenn ich allein bin, kommen mir leicht
die Tränen. Nachdem ich fünf Minuten Rotz und Wasser geheult
hatte, ging es mir schon bedeutend besser; ich putzte mir geräuschvoll
die Nase und schaltete den Fernseher ein, um mich ein wenig
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abzulenken. Ich zappte mich durch die Kanäle, bis ich auf das Toad
News Network stieß. Neues von der Krim, was sonst?
»Wir bleiben beim Thema Krim«, verkündete die
Nachrichtensprecherin. »Die Abteilung Spezialwaffen der Goliath
Corporation präsentierte heute ihre jüngste Entwicklung im Kampf
gegen die russischen Aggressoren. Man hofft, mit dem neuen
Ballistischen Plasmagewehr – Codename: Stonk – die entscheidende
Wende im Krieg um die Halbinsel herbeiführen zu können. Unser
Verteidigungsberichterstatter James Backbiter mit den Einzelheiten.«
Schnitt auf die Großaufnahme einer exotisch anmutenden Waffe in
den Händen eines Soldaten in der SpecOps-Armeeuniform.
»Dies ist das neue Plasmagewehr, das die Abteilung Spezialwaffen
der Goliath Corporation heute vorgestellt hat«, verkündete Backbiter
und trat neben den Soldaten; die beiden befanden sich anscheinend auf
einem Schießstand. »Wir können Ihnen aus verständlichen Gründen
nicht allzuviel darüber sagen, aber wir können seine Schlagkraft
demonstrieren und Ihnen verraten, daß es Panzer und gegnerische
Truppen mittels eines konzentrierten Energiestrahls aus bis zu einer
Meile Entfernung ohne weiteres außer Gefecht setzen kann.«
Fassungslos sah ich mit an, wie der Soldat die neue Waffe vorführte.
Unsichtbare Energiestrahlen trafen den Zielpanzer mit der Wucht von
zehn unserer Haubitzen. Als hätte man ein Artilleriegeschütz in der
Hand. Der Feuerstoß brach ab, und Backbiter stellte dem Colonel ein
paar offensichtlich abgesprochene Fragen, während im Hintergrund
Soldaten mit der neuen Waffe aufmarschierten.
»Wann sollen die Truppen der vorderen Linie mit dem Stonk
ausgerüstet werden?«
»Die ersten Waffen sind bereits unterwegs. Der Rest wird geliefert,
sobald wir die nötige Produktions-Kapazität aufgebaut haben.«
»Und abschließend: Wie wird sich das auf den Konflikt
auswirken?«
Eine kaum merkliche Regung huschte über das Gesicht des
Colonels. »Wenn Sie mich fragen, werden die Russen in spätestens
vier Wochen um Frieden betteln.«
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»Ach du Scheiße«, murmelte ich vor mich hin. In meiner Militärzeit
hatte ich diesen Satz unzählige Male zu hören bekommen. Er war
noch dümmer als das gute alte »Bis Weihnachten ist alles vorbei« und
hatte unweigerlich entsetzliche Verluste zur Folge.
Schon vor dem ersten Einsatz dieser neuen Waffe hatte ihre bloße
Existenz das Gleichgewicht der Kräfte auf der Krim empfindlich
gestört. Nicht länger an einem Rückzug interessiert, versuchte die
englische Regierung nun über die Kapitulation aller russischen
Truppen zu verhandeln. Die Russen wollten davon nichts wissen. Die
UNO hatte beide Seiten aufgefordert, die Gespräche in Budapest
wiederaufzunehmen, doch dazu war es zu spät; die KaiserlichRussische Armee hatte sich gegen die erwartete Attacke eingegraben.
Wenige Stunden zuvor war der Sprecher von Goliath vor das
Parlament zitiert worden, um die verzögerte Auslieferung der Waffen
zu begründen, die nun schon seit über einem Monat auf sich warten
ließ.
Reifenquietschen riß mich aus meinen Gedanken. Ich blickte auf.
Mitten im Zimmer stand ein quietschbunter Sportwagen. Ich blinzelte
zweimal, doch er wollte nicht verschwinden. Ich hatte nicht den
leisesten Schimmer, warum, geschweige denn wie
er
dorthingekommen war, aber da stand er nun, dabei paßte schon mein
Krankenbett kaum durch die Tür. Ich roch die Auspuffgase und hörte
den Motor tuckern, fand das sonderbarerweise jedoch nicht weiter
verwunderlich. Die Insassen starrten mich an. Die Mittdreißigerin am
Steuer kam mir irgendwie bekannt vor.
»Thursday!« rief die Fahrerin sichtlich erregt.
Ich runzelte die Stirn. Alles wirkte vollkommen real, und ich war
mir hundertprozentig sicher, daß ich die Frau schon einmal irgendwo
gesehen hatte. Ihr Beifahrer, ein junger Mann im Anzug, winkte
fröhlich.
»Er ist nicht tot!« sagte die Fahrerin hastig, so als bliebe ihr nur
wenig Zeit zum Sprechen. »Der Autounfall war ein Trick! Leute wie
Acheron sind nicht so leicht totzukriegen! Nimm den LitAg-Job in
Swindon!«
- 70 -
»Swindon?« echote ich. Ich hatte eigentlich gehofft, dieser Stadt ein
für allemal entkommen zu sein – sie hielt ein paar allzu schmerzliche
Erinnerungen für mich bereit.
Ich öffnete den Mund und wollte noch etwas sagen, als von neuem
Gummi quietschte und der Wagen sich nicht etwa in Luft auflöste,
sondern sozusagen zusammenklappte, bis von ihm nichts weiter
zurückblieb als das ferne Echo der Reifen und der schwache Geruch
von Benzin. Ich stützte den Kopf in die Hände. Die Fahrerin war mir
sehr bekannt vorgekommen, und ich wußte auch, warum. Sie war
niemand anderes gewesen als ich selbst.
Mein Arm war fast verheilt, als das Ergebnis meiner Vernehmung
durch die Dienstaufsicht bekannt wurde. Ich durfte den Bericht zwar
nicht lesen, aber das störte mich nicht weiter. Hätte ich gewußt, was
darin stand, wäre ich wohl nur noch unzufriedener und wütender
gewesen, als ich es ohnehin schon war. Boswell hatte mich ein
zweites Mal besucht und mir mitgeteilt, daß man mir sechs Monate
Genesungsurlaub gewährt habe, bevor ich an meinen alten
Arbeitsplatz zurückkehren mußte, doch auch das hob meine Laune
nicht sehr. Ich hatte keine Lust, in Boswells öde Höhle
zurückzukehren und darauf zu warten, daß Paige Turner vielleicht
doch noch heiratete.
»Was hast du jetzt vor?« fragte sie, also ich meine, Paige. Sie war
gekommen, um mir beim Packen zu helfen, bevor ich aus dem
Krankenhaus entlassen wurde. »Ein halbes Jahr Urlaub kann einem
ganz schön lang werden, ohne Hobbys, Familie oder Freund«, fuhr sie
fort. Sie war bisweilen ziemlich direkt.
»Ich hab ja jede Menge Hobbys.«
»Zum Beispiel?«
»Malen.«
»Im Ernst?«
»Ja, im Ernst. Im Augenblick male ich ein Seestück.«
»Und wie lange arbeitest du schon daran?«
»Ungefähr sieben Jahre.«
- 71 -
»Dann muß es aber sehr, sehr gut sein.«
»Ganz im Gegenteil.«
»Scherz beiseite«, sagte Paige. In den letzten Wochen waren wir uns
nähergekommen als in all den Jahren zuvor. »Was hast du vor?«
Ich reichte ihr das Amtsblatt von SpecOps-27 mit
Stellenausschreibungen aus dem ganzen Land. Paige las die Annonce,
die ich rot umkringelt hatte.
»Swindon?«
»Warum nicht? Die alte Heimat.«
»Mag sein«, entgegnete Paige, »aber komisch ist es schon.« Sie
tippte auf das Inserat. »Die suchen eine einfache Agentin – du bist seit
über drei Jahren Inspektor!«
»Dreieinhalb. Ist mir egal. Ich gehe trotzdem.«
Den wahren Grund verschwieg ich Paige. Es konnte natürlich Zufall
sein, doch der Rat der Sportwagenfahrerin war unmißverständlich
gewesen: Nimm den LitAg-Job in Swindon! Vielleicht war es ja doch
eine echte Vision! Das Amtsblatt mit dem Stellenangebot war
schließlich erst danach erschienen. Und wenn das mit dem Job in
Swindon stimmte, war vermutlich auch Hades noch am Leben.
Ich hatte mich ohne nachzudenken um den Posten beworben, aber
ich konnte Paige beim besten Willen nichts von dem Sportwagen
erzählen; sie hätte mich, trotz unserer Freundschaft, bei Boswell
angeschwärzt. Boswell hätte mit Flanker gesprochen, was allerlei
Unannehmlichkeiten nach sich ziehen konnte. Ich entwickelte mich
langsam, aber sicher zu einer wahren Meisterin in der Kunst, mit der
Wahrheit hinterm Berg zu halten, und dabei ging es mir so gut wie
schon seit Monaten nicht mehr.
»Du wirst den Kollegen fehlen, Thursday.«
»Das geht vorbei.«
»Du wirst mir fehlen.«
»Danke, Paige, sehr nett von dir. Du wirst mir auch fehlen.«
- 72 -
Wir umarmten uns, sie sagte, ich solle von mir hören lassen, und
ging; ihr Piepser hatte sich gemeldet.
Nachdem ich fertig gepackt hatte, dankte ich den Schwestern, die
mir zum Abschied einen in braunes Packpapier geschlagenen Karton
überreichten.
»Was ist das?« fragte ich.
»Es gehörte Ihrem Lebensretter.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Bevor der Krankenwagen eintraf, hat sich ein Passant um Sie
gekümmert; die Wunde in ihrem Arm war verbunden, und er hat Sie
in seine Jacke gehüllt, um Sie warmzuhalten. Ohne sein Eingreifen
wären Sie wahrscheinlich verblutet.«
Gespannt öffnete ich das Paket. Da war zunächst ein Taschentuch,
das trotz mehrerer Waschgänge immer noch mit meinem Blut befleckt
war. In einer Ecke prangte ein aufgesticktes Monogramm: EFR.
Außerdem enthielt der Karton eine Jacke, eine Art Gehrock, wie er
Mitte des letzten Jahrhunderts in Mode gewesen sein mochte. Ich
durchsuchte die Taschen und fand die Rechnung eines
Herrenschneiders. Sie stammte aus dem Jahre 1833 und lautete auf
einen gewissen Edward Fairfax Rochester, Esq.
Bleischwer sank ich aufs Bett und starrte auf diese Fundstücke.
Normalerweise wäre ich nicht im Traum darauf gekommen, daß
Rochester in jener Nacht Jane Eyre entstiegen sein könnte, um mir zu
helfen; so etwas war schließlich völlig unmöglich. Ich hätte das Ganze
vermutlich als albernen Scherz abgetan, wenn, ja, wenn Edward
Rochester und ich uns nicht schon einmal begegnet wären …
- 73 -
6.
Jane Eyre: Ein kleiner Ausflug in
den Roman
Als wir vor der Wohnung von Styx zusammentrafen, war
dies weder die erste noch die letzte Begegnung zwischen
Rochester und mir. Das erste Mal liefen wir uns in
Haworth House in Yorkshire über den Weg, als ich noch
jung und aufgeschlossen war und die Grenze zwischen
Wirklichkeit und Phantasie sich noch nicht zu dem
Panzer verhärtet hatte, der uns als Erwachsene umgibt.
Damals war die Grenze biegsam, weich, und dank der
Hilfsbereitschaft einer Fremden und dem Zauber ihrer
Stimme machte ich die kleine Reise – hin und zurück.
THURSDAY NEXT
- Ein Leben für SpecOps
Es war 1958. Mein Onkel und meine Tante – die mir damals schon
uralt vorkamen – waren mit mir nach Haworth House, der alten
Brontë-Villa, gefahren. In der Schule hatten wir William Thackeray
gelesen, und da er ein Zeitgenosse der Brontë-Schwestern war, schien
dies eine willkommene Gelegenheit, mein Interesse an dieser Epoche
zu vertiefen. Mein Onkel Mycroft hielt an der Bradford University
Vorlesungen über seine Spieltheorie, was den praktischen Vorteil
hatte, daß ich beim »Mensch, ärgere dich nicht« fast immer gewann.
Da es von Bradford nach Haworth nicht allzu weit war, beschlossen
wir, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden.
Die Museumsführerin, eine dickliche Frau um die sechzig mit
Nickelbrille und Angorastrickjacke, lotste die Besucher mürrisch
durch die Räume, weil ohnehin niemand soviel Ahnung hatte wie sie
und sie sich nun dazu herablassen mußte, die Leute aus ihrer
selbstverschuldeten Unmündigkeit herauszuführen. Gegen Ende des
Rundgangs, als die Gedanken längst bei Ansichtskarten und Eiscreme
- 74 -
waren, erwartete das Glanzstück der Sammlung, das
Originalmanuskript von Jane Eyre, die müden Museumsbesucher.
Obwohl die mit verblaßter schwarzer Tinte bedeckten Seiten längst
vergilbt waren, vermochte das geübte Auge die feine, krakelige
Handschrift, die sich über das Papier zog, durchaus zu entziffern. Alle
zwei Tage wurde eine Seite umgeblättert, so daß die ehrgeizigsten
Brontë-Anhänger und Stammbesucher des Museums den Roman in
seiner ursprünglichen Fassung lesen konnten.
An dem Tag, als ich Haworth House besuchte, lag das Manuskript
an der Stelle aufgeschlagen, wo sich Jane und Rochester das erste Mal
begegnen, ein zufälliges Zusammentreffen an einem Zauntritt.
»… weshalb es als eines der romantischsten Bücher gilt, die je
geschrieben wurden«, leierte die ebenso dickliche wie aufgeblasene
Führerin ihren ewiggleichen Monolog herunter, ohne die erhobenen
Hände lästiger Fragesteller zu beachten.
»Die Figur der Jane Eyre, einer starken, selbstbestimmten Frau,
unterschied sich grundlegend von den üblichen Romanheldinnen jener
Zeit, und auch Rochester, ein abstoßender, im Grunde jedoch
herzensguter Mensch, fiel durch seine Charakterschwächen und seinen
makabren Humor sehr aus dem Rahmen. Jane Eyre schrieb Charlotte
Brontë 1847 unter dem Pseudonym Currer Bell. Thackerey nannte den
Roman ›das Meisterwerk eines großen Genies‹. Wir gehen nun weiter
zum Museumsladen, wo Sie Ansichtskarten, Gedenktafeln, kleine
Plastik-Heathcliffs und andere Souvenirs kaufen können. Ich danke
Ihnen für Ihre …«
Einer der Zuhörer hob kurzentschlossen die Hand und fiel ihr ins
Wort. »Entschuldigen Sie …«, begann der junge Mann mit
amerikanischem Akzent.
Ein Wangenmuskel der Museumsführerin zuckte kaum merklich; es
kostete sie sichtlich Überwindung, anderer Leute Ansichten Gehör zu
schenken. »Ja?« fragte sie mit eisiger Höflichkeit.
»Also«, fuhr der junge Mann fort. »Die Brontës waren bisher
eigentlich nicht so mein Ding, aber ich hatte irgendwie ziemliche
Probleme mit dem Schluß von Jane Eyre.«
- 75 -
»Probleme?«
»Ja. Wenn Jane aus Thornfield Hall abhaut und bei ihren
Verwandten, den Rivers, unterkommt.«
»Der Name ihrer Verwandten ist mir durchaus geläufig, junger
Mann.«
»Also, sie läßt sich mit diesem schleimigen St. John Rivers ein,
heiratet ihn aber nicht, die beiden setzen sich nach Indien ab, und
damit ist das Teil zu Ende? Das kann doch nich’ sein! Was wird aus
Rochester und seiner verrückten Frau? Wie wär’s denn mit ’nem
Happy End?«
Die Museumsführerin schaute finster drein. »Wie hätten Sie’s denn
gern? Sollen Gut und Böse sich in den Gängen von Thornfield Hall
vielleicht einen Kampf auf Leben und Tod liefern?«
»So hab ich das nicht gemeint«, fuhr der junge Mann leicht
verärgert fort. »Aber das Buch schreit doch geradezu nach einem
starken Schluß, der sämtliche Erzählstränge miteinander verknüpft
und die Geschichte zu einem befriedigenden Ende bringt. Für mich
sieht es allerdings eher so aus, als ob ihr schlicht die Puste
ausgegangen wäre.«
Die Museumsführerin starrte ihn durch ihre Nickelbrille
durchdringend an und fragte sich offenbar, weshalb die Besucher sich
nicht einfach wie Schafe benehmen konnten. Leider hatte der Mann
nicht ganz unrecht; sie hatte schon des öfteren über den schwachen
Schluß des Romans nachgedacht und sich – wie Millionen anderer
Leser – gewünscht, die Umstände hätten es Jane und Rochester
gestattet, doch noch den Bund der Ehe einzugehen.
»Manche Dinge werden ewig ein Geheimnis bleiben«, erwiderte sie
unverbindlich. »Da Charlotte nicht mehr unter uns weilt, erübrigt sich
diese Frage von selbst. Wir können nur das studieren und genießen,
was sie uns hinterlassen hat. Außerdem macht ihre überaus lebendige
Sprache die winzigen Unzulänglichkeiten des Romans mehr als wett.«
Der junge Amerikaner nickte, und die kleine Gruppe, darunter auch
meine Tante und mein Onkel, gingen weiter. Ich blieb zurück bis
außer mir und einer japanischen Touristin niemand mehr in Saal war;
- 76 -
dann stieg ich auf die Zehenspitzen und versuchte da
Originalmanuskript von Jane Eyre zu lesen. Was sich als nicht ganz
leicht erwies, da ich für mein Alter ziemlich klein war.
»Soll ich es dir vorlesen?« fragte eine freundliche Stimme dich
neben mir. Es war die japanische Touristin. Sie schenkte mir ein
Lächeln, und ich dankte ihr für ihre Mühe.
Sie vergewisserte sich, daß niemand in der Nähe war, setzte ihn
Brille auf und fing an zu lesen. Sie sprach hervorragend Englisch und
hatte eine wunderbare Lesestimme; die Worte perlten von Papier und
beflügelten mein Vorstellungsvermögen.
… Damals spukten noch allerlei Phantasien in meinem Kopf
Geistergeschichten aus meiner Kindheit kamen mir wieder in den
Sinn; und da ich kein Kind mehr war, nahmen sie eine Kraft und
Lebendigkeit an, die über das Gruseln eines verschrecktet kleinen
Mädchens hinausging …
Ich schloß die Augen, und plötzlich erfüllte ein leichter Frost die
Atmosphäre ringsum. Die Stimme der Touristin war mit einem Mal
ganz klar, so als spräche sie im Freien, und als ich die Augen wieder
aufschlug, war das Museum verschwunden, und ich stand auf einen
Feldweg. Es war ein herrlicher Winterabend, und die Sonne versank
am Horizont. Kein Lüftchen regte sich, und die Farben verblaßten
Abgesehen von ein paar Vögeln, die von Zeit zu Zeit durch die Hecke
huschten, lag die Landschaft gänzlich starr und unbewegt Schaudernd
sah ich, wie sich mein dampfender Atem in der kühler Luft kräuselte,
zog den Reißverschluß meiner Jacke zu und bereute daß ich Mütze
und Handschuhe daheimgelassen hatte. Ich schaut mich um und stellte
fest, daß ich nicht allein war. Kaum drei Meter entfernt saß eine junge
Frau in Mantel und Haube auf einem Zauntritt und betrachtete den
aufgehenden Mond. Als sie den Kopf wandte, sah ich, daß ihr Gesicht
auf den ersten Blick unscheinbar und reizlos wirkte und dennoch von
innerer Kraft und Entschlossenheit zeugte. Ich starrte sie mit
gemischten Gefühlen an. Ich hatte vor nicht allzu langer Zeit erkannt,
daß auch ich keine Schönheit war, und selbst im zarten Alter von neun
- 77 -
Jahren schon mehrfach mit ansehen müssen, wie hübschere Kinder
bevorzugt wurden. Doch die junge Frau hier war der lebende Beweis
dafür, daß sich diese Prinzipien umkehren ließen. Ihre Haltung
unbewußt nachahmend, hob ich den Kopf und reckte das Kinn.
Ich wollte sie gerade fragen, wohin das Museum verschwunden sei,
als uns ein Geräusch herumfahren ließ. Es war ein heranpreschendes
Pferd, und im ersten Moment wirkte die junge Frau erschrocken. Der
Weg war schmal, und ich trat zurück, um das Pferd vorbeizulassen.
Während ich noch wartete, kam ein großer, schwarzweiß gefleckter
Hund die Hecke entlanggelaufen und schnüffelte forschend umher.
Der Hund ignorierte die Gestalt auf dem Zauntritt, blieb jedoch
schlagartig stehen, als er mich sah. Begeistert mit dem Schwanz
wedelnd, sprang er auf mich zu und beschnupperte mich; sein heißer
Atem hüllte mich in einen warmen Mantel, und seine Barthaare
kitzelten meine Wange. Als ich zu kichern anfing, wedelte der Hund
noch aufgeregter mit dem Schwanz. Er schnüffelte seit 130 Jahren bei
jeder Lektüre des Romans an dieser Hecke entlang, war dabei aber
noch nie auf etwas gestoßen, das so, na ja … echt roch. Er schleckte
mich mehrmals ab, mit großer Zuneigung und Hingabe. Ich stieß ihn
kichernd von mir, und er lief davon, um einen Stock zu suchen.
Heute, nach mehrfacher Lektüre des Romans, weiß ich, daß der
Hund – er hieß Pilot – im Buch nie Stöckchen suchen durfte, weil er
dazu viel zu selten auftrat, weshalb er sich diese Gelegenheit auf
keinen Fall entgehen lassen wollte. Vermutlich hatte er instinktiv
gespürt, daß das kleine Mädchen, das da plötzlich auf Seite 81
auftauchte, nicht an die strenge Erzählstruktur gebunden war. Er
wußte, daß er die Grenzen der Geschichte hier und da ein klein wenig
ausweiten und sich zum Beispiel aussuchen konnte, auf welcher Seite
des Weges er schnüffeln wollte; wenn jedoch im Text stand, daß er
bellen, umherrennen oder aufspringen sollte, mußte er sich wohl oder
übel danach richten. Er war zu einem langen, sich endlos
wiederholenden Dasein verurteilt, was die seltenen Auftritte von
Menschen wie mir um so erfreulicher machte.
Als ich aufblickte, stellte ich fest, daß Roß und Reiter die junge Frau
passiert hatten. Der Reiter war ein hochgewachsener Mann mit scharf
geschnittenen Zügen und einem von Sorgen geprägten Gesicht, dessen
- 78 -
Stirn von düsteren Gedanken umwölkt schien. Er hatte meine kleine
Gestalt bislang nicht bemerkt, dabei führte ihn sein Weg genau dort
entlang, wo ich jetzt stand, über eine tückische Eispfütze hinweg.
Gleich darauf stand das Pferd vor mir, trappelte mit schweren Hufen
über den gefrorenen Boden und blies mir aus samtigen Nüstern seinen
heißen Atem ins Gesicht.
Plötzlich, als er das kleine Mädchen sah, das ihm den Weg
verstellte, rief der Reiter: »Verflucht …!« und lenkte das Pferd rasch
nach links, von mir fort, auf das glatte Eis. Das Pferd verlor den Halt
und stürzte krachend zu Boden. Ich trat einen Schritt zurück, beschämt
über den Unfall, den ich verursacht hatte; das Pferd versuchte
verzweifelt Fuß zu fassen. Als der Hund den Tumult bemerkte, kam er
angelaufen, legte mir den Stock vor die Füße, und als er seinen Herrn
in Schwierigkeiten sah und das Pferd ächzen und stöhnen hörte,
begann er aufgeregt zu bellen, so daß sein heiseres Knurren durch den
stillen Abend hallte. Die junge Frau näherte sich dem Mann mit tief
besorgter Miene. Sie wollte sich nützlich machen, ihre
Hilfsbereitschaft zeigen, und sagte: »Sind Sie verletzt, Sir?«
Der Reiter murmelte etwas Unverständliches und würdigte sie
keines Blickes.
»Kann ich etwas für Sie tun?« fragte sie noch einmal.
»Treten Sie beiseite«, antwortete der Reiter schroff und rappelte sich
mühsam hoch. Die junge Frau trat zurück, während der Reiter seinem
Pferd, das wild mit den Hufen klapperte und stampfte, auf die Beine
half. Nachdem er den Hund mit einem lauten »Kusch!« zum
Schweigen gebracht hatte, bückte er sich und betastete sein Bein; es
war offenbar verletzt. Seinem brüsken Benehmen nach zu urteilen,
war mir der Mann gewiß ganz schrecklich böse, doch als er mich zum
zweiten Mal erspähte, zwinkerte er mir zu meinem größten Erstaunen
freundlich zu und mahnte mich zum Schweigen, indem er lächelnd
einen Finger an die Lippen hob. Ich erwiderte sein Lächeln, und der
Reiter wandte sich der jungen Frau zu. Dabei verzog sich sein Gesicht
erneut zu einer düsteren Grimasse, wie es seine Rolle verlangte.
Von ganz weit oben hörte ich eine Stimme. Sie rief meinen Namen.
Dunkle Wolken rasten über den Himmel. Die kalte Luft auf meinen
- 79 -
Wangen erwärmte sich, als der Weg, das Roß, der Reiter und die
junge Frau verschwanden und in den Roman zurückkehrten, dessen
Seiten sie entsprungen waren. Der Museumssaal nahm Gestalt an, und
die Bilder und Gerüche wurden wieder zu bloßen Wörtern, als die
Japanerin den Satz zu Ende las.
… denn er hinkte zum Zauntritt, wo ich eben noch gesessen hatte,
und ließ sich nieder.
»Thursday!« rief meine Tante Polly wütend. »Nun trödel doch nicht
so. Du verpaßt ja die Hälfte!«
Sie nahm mich bei der Hand und zerrte mich davon. Ich drehte mich
um und winkte der Japanerin zum Dank; sie lächelte freundlich
zurück.
Ich war später noch ein paarmal im Museum, aber der Zauber hat nie
wieder gewirkt. Als ich zwölf war, fast schon eine junge Frau,
bewegten sich meine Gedanken längst in anderen Bahnen. Der einzige
Mensch, mit dem ich je darüber gesprochen habe, war mein Onkel. Er
nickte weise und glaubte mir aufs Wort. Sonst weiß niemand davon.
Gewöhnliche Erwachsene haben es nicht so gern, wenn Kinder über
Dinge sprechen, für die sie das Gespür verloren haben.
Mit den Jahren begann ich an meinen Erinnerungen zu zweifeln, bis
ich sie an meinem achtzehnten Geburtstag schließlich ein für allemal
zum Produkt meiner überhitzten kindlichen Phantasien erklärte. Daß
Rochester am fraglichen Abend vor der Wohnung von Styx
aufgetaucht war, verwirrte mich allerdings ziemlich. Die Wirklichkeit,
soviel stand fest, geriet zusehends aus den Fugen.
- 80 -
7.
Schitt von der Goliath Corporation
… Niemand wird ernstlich bestreiten, daß wir der Goliath
Corporation zu Dank verpflichtet sind. Sie hat uns beim
Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg tatkräftig
unterstützt, das dürfen wir keinesfalls vergessen. In
jüngster Zeit jedoch hat es den Anschein, als habe sich
die Goliath Corporation vom Prinzip der Fairness und der
Solidarität verabschiedet. Wir befinden uns nunmehr in
der unangenehmen Lage, eine Schuld abtragen zu
müssen, die wir längst beglichen haben – mit Zinsen …
Parlamentsrede des englischen Goliathskeptikers
SAMUEL PRING
Ich stand auf dem SpecOps-Gedenkfriedhof in Highgate und
betrachtete Snoods Grabstein. Die Inschrift lautete:
Filbert R. Snood
Er opferte seinem Beruf
die besten Jahre seines Lebens.
Die Zeit wartet auf niemanden
SO-12 & SO-5
1953-1985
Es heißt, Arbeit macht alt – sie hatte Filbert um Jahrzehnte altern
lassen. Es war vermutlich besser, daß er sich nach dem Unfall nicht
bei mir gemeldet hatte. Es hätte nie im Leben funktioniert, und die –
unvermeidliche – Trennung wäre zu schmerzhaft gewesen. Ich legte
einen Kiesel auf seinen Grabstein und wünschte ihm Lebewohl.
»Sie sind ein Glückspilz«, sagte eine Stimme. Ich drehte mich um;
auf der Bank mir gegenüber saß ein kleiner Mann im teuren Anzug.
»Wie bitte?« fragte ich etwas verdattert, weil er mich so
unvermittelt aus meinen Gedanken gerissen hatte.
- 81 -
»Ich möchte mich mit Ihnen über Acheron unterhalten, Miss Next.«
»Das ist einer der beiden Flüsse in die Unterwelt«, erklärte ich ihm.
»Gehen Sie in die Stadtbibliothek und schlagen Sie unter griechischer
Mythologie nach.«
»Ich meinte nicht den Fluß.«
Ich starrte ihn einen Moment lang an und versuchte hinter seine
Identität zu kommen. Ein kleiner, flacher Hut saß schräg auf seinem
rundlichen Schädel, der an einen kurzgeschorenen Tennisball
erinnerte. Er hatte kantige Züge, schmale Lippen und war alles andere
als attraktiv. Er protzte mit schwerem Goldschmuck und einer
Krawattennadel, die funkelte und glänzte wie ein Diamant. Über
seinen schwarzen Lackschuhen spannten sich weiße Gamaschen, und
eine goldene Uhrkette baumelte an seiner Westentasche. Er war nicht
allein. Ein junger Mann – ebenfalls im dunklen Anzug, der an der
Stelle, wo man normalerweise eine Pistole trug, eine verräterische
Beule aufwies – stand neben ihm. Ich war so sehr in Gedanken
versunken gewesen, daß ich die beiden nicht gehört hatte. Sie kamen
vermutlich von der SpecOps-Dienstaufsicht; wahrscheinlich waren
Flanker und Co. noch nicht fertig mit mir.
»Hades ist tot«, antwortete ich kurz und knapp, da ich keine Lust auf
Diskussionen hatte.
»Das glauben Sie doch nicht im Ernst.«
»Nun ja, ich bin wegen Streß ein halbes Jahr krankgeschrieben.
Mein Therapeut meint, ich leide unter dem False Memory Syndrome
und schweren Halluzinationen. Ich an Ihrer Stelle würde mir kein
Wort glauben – einschließlich dessen, was ich gerade gesagt habe.«
Das Lächeln des kleinen Mannes entblößte einen großen Goldzahn.
»Ich glaube, Sie leiden ganz und gar nicht unter Streß, Miss Next. Sie
sind genauso klar im Kopf wie ich. Wenn jemand, der die Krim, die
Polizei und acht Jahre LitAg überlebt hat, zu mir käme und mir
erzählen würde, daß Hades noch lebt, dann würde ich auf ihn hören.«
»Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«
- 82 -
Er reichte mir eine Karte mit Goldrand, auf der das dunkelblaue
Logo der Goliath Corporation prangte.
»Mein Name ist Schitt«, sagte er. »Jack Schitt.«
Ich zuckte die Achseln. Laut seiner Karte war er der Leiter von
Goliaths Sicherheitsdienst, einer zwielichtigen Organisation, die nicht
der Kontrolle durch die Regierung unterlag; die Verfassung
garantierte ihr im ganzen Land freie Hand. Ranghohe Mitarbeiter der
Goliath Corporation saßen als Ehrenmitglieder in beiden Häusern des
Parlaments und als Berater im Finanzministerium. Goliath hatte seine
Leute im Auswahlgremium für die Richter des Obersten Gerichtshofs,
und die wichtigen Fachbereiche der meisten größeren Universitäten
wurden von Goliath-Angehörigen geleitet. Niemand war sich
überhaupt bewußt, welchen Einfluß sie hatten, was bewies, daß sie
erstklassige Arbeit leisteten. Doch obgleich Goliath scheinbar nichts
als das Wohl der Menschen im Auge hatte, regte sich allmählich
Kritik an der uneingeschränkten Vormachtstellung des Konzerns.
Seine Beamten waren weder vom Volk noch von der Regierung
gewählt, und seine Aktivitäten waren bis in alle Ewigkeit gesetzlich
abgesegnet. Kaum ein Politiker wagte seinen Unmut darüber zu
äußern.
Ich setzte mich neben ihn auf die Bank, und er schickte seinen
Gorilla weg.
»Was interessiert Sie eigentlich so sehr an Hades, Mr. Schitt?«
»Ich will wissen, ob er tot ist oder noch lebt.«
»Haben Sie den gerichtsmedizinischen Bericht nicht gelesen?«
»Darin stand nur, daß ein Mann von Hades’ Größe und Statur mit
identischem Gebiß in einem Auto verbrannt ist. Hades hat sich schon
aus übleren Situationen befreit. Ich habe auch Ihren Bericht gelesen;
weitaus interessanter. Keine Ahnung, weshalb die Armleuchter von
SO-1 nichts davon wissen wollten. Jetzt, wo Tamworth tot ist, sind Sie
die einzige, die Hades kennt. Wer am fraglichen Abend den
entscheidenden Fehler begangen hat, ist mir egal. Mich interessiert
vielmehr: Was hatte Hades mit dem Chuzzlewit- Manuskript vor?«
»Erpressung, vielleicht?« schlug ich vor.
- 83 -
»Schon möglich. Wo ist es jetzt?«
»Hatte er es denn nicht bei sich?«
»Nein«, antwortete Schitt tonlos. »Bei Ihrer Vernehmung haben Sie
ausgesagt, daß es in einem Lederkoffer steckte. In dem ausgebrannten
Autowrack war von einem Lederkoffer keine Spur. Wenn er noch
existiert, dann dürfte auch das Manuskript noch existieren.«
Ich starrte ihn ausdruckslos an und fragte mich, worauf er
hinauswollte.
»Vielleicht hat er es einem Komplizen übergeben.«
»Schon möglich. Auf dem Schwarzmarkt bringt es an die fünf
Millionen, Miss Next. Eine hübsche Stange Geld, finden Sie nicht
auch?«
»Was wollen Sie damit andeuten?« fragte ich.
»Gar nichts; aber Ihre Aussage und Hades’ Leiche passen irgendwie
nicht ganz zusammen, oder? Sie haben behauptet, Sie hätten auf ihn
geschossen, nachdem er den jungen Beamten getötet hatte?«
»Er hieß Snood«, sagte ich spitz.
»Wie auch immer. Aber der verbrannte Leichnam wies trotz der
zahlreichen Schüsse, die Sie auf ihn abgegeben haben, keinerlei
Schußverletzungen auf.«
Ich starrte ihn an. Schitt fuhr fort.
»Ich habe die plattgedrückten Projektile gesehen. Sie hätten dieselbe
Wirkung erzielt, wenn Sie damit auf Beton gefeuert hätten.«
»Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, warum sagen Sie es mir dann
nicht einfach?«
Schitt drehte den Deckel einer Thermosflasche ab und hielt sie mir
hin. Ich lehnte ab; er goß sich etwas zu trinken ein und fuhr fort: »Ich
glaube, Sie wissen mehr, als Sie uns verraten. Was die Ereignisse
jener Nacht angeht, müssen wir uns auf Ihre Aussage verlassen. Sagen
Sie, Miss Next, was hatte Hades mit dem Manuskript vor?«
»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt: Ich habe keine Ahnung.«
- 84 -
»Und warum fangen Sie dann bei den Swindoner LitAgs an?«
»Weil ich nichts Besseres gefunden habe.«
»Unsinn. Ihre Arbeit wurde durchgehend als überdurchschnittlich
bewertet, und laut Ihrer Personalakte sind Sie seit zehn Jahren nicht in
Swindon gewesen, obwohl Sie dort Verwandte haben. Eine Notiz in
Ihrer Akte verweist auf romantische Verwicklungen. Liebeskummer in
Swindon?«
»Das geht Sie nichts an.«
»Ich habe festgestellt, daß mich in meinem Beruf fast alles etwas
angeht. Einer Frau mit Ihren Fähigkeiten stehen sämtliche Türen
offen, und da wollen Sie ausgerechnet nach Swindon? Ich habe das
dunkle Gefühl, daß ein anderes Motiv dahintersteckt.«
»Und das steht wirklich alles in meiner Akte?«
»Aber ja.«
»Was für eine Augenfarbe habe ich?«
Schitt ignorierte meine Frage und trank einen Schluck Kaffee.
»Kolumbianischer. Der beste, den es gibt. Sie glauben, daß Hades
noch am Leben ist, Next. Ich glaube, Sie haben eine Ahnung, wo er
steckt. Gehe ich recht in der Annahme, daß er in Swindon ist und Sie
deswegen dorthin wollen?«
Ich sah ihm direkt in die Augen. »Nein. Ich will nach Hause, um mit
mir selbst ins reine zu kommen.«
Jack Schitt ließ sich nicht überzeugen. »Für mich gibt es keinen
Streß. Bloß schwache Menschen und starke Menschen. Und nur starke
Menschen überleben Männer wie Hades. Sie sind eine sehr starke
Frau.«
Er schwieg einen Augenblick.
»Falls Sie es sich anders überlegen, rufen Sie mich an. Aber seien
Sie gewarnt. Ich behalte Sie im Auge.«
»Wie Sie wollen, Mr. Schitt, trotzdem würde ich Sie gern etwas
fragen.«
- 85 -
»Ja?«
»Was interessiert Sie eigentlich so sehr an Hades?«
Wieder lächelte Jack Schitt. »Ich fürchte, das unterliegt der
Geheimhaltung, Miss Next. Guten Tag.«
Er tippte sich an den Hut, stand auf und ging. Ein schwarzer Ford
mit getönten Scheiben hielt vor dem Friedhof, Schitt stieg ein, und der
Wagen brauste davon.
Ich blieb sitzen und dachte nach. Als ich dem Polizeipsychiater
erklärt hatte, ich könne wieder arbeiten, hatte ich gelogen; als ich Jack
Schitt das genaue Gegenteil versichert hatte, auch. Daß Goliath sich
für Hades und das Chuzzlewit-Manuskript interessierte, konnte
eigentlich nur finanzielle Gründe haben. Wenn die Goliath
Corporation gemeinnützig und selbstlos war, dann war Dschingis
Khan ein Polsterstuhl. Den Goliath-Leuten ging’s einzig und allein um
Kohle, und niemand traute ihnen auch nur eine Handbreit über den
Weg. Zwar hatten sie England nach dem Zweiten Weltkrieg
wiederaufgebaut und der Wirtschaft neues Leben eingehaucht. Doch
früher oder später mußte die gesundete Nation auf eigenen Füßen
stehen, und Goliath wurde längst nicht mehr als großzügiger Onkel,
sondern nur noch als despotischer Stiefvater betrachtet.
- 86 -
8.
Luftschiff nach Swindon
… Es ist schlicht sinnlos, gutes Geld für den Bau eines
Flugzeugmotors ohne Propeller auszugeben. Was spricht
eigentlich gegen Luftschiffe? Sie tragen die Menschheit
seit hundert Jahren nahezu unfallfrei durch die Lüfte, und
ich sehe keinen Grund, ihre Popularität zu untergraben …
Die Kongreßabgeordnete Kelly
in einer Rede gegen die Bereitstellung
öffentlicher Gelder für die Entwicklung
eines sogenannten Düsenantriebs,
August 1972
Ich flog mit dem Luftschiff nach Swindon. Der kleine Zwanzigsitzer
war nur halbvoll, und dank des kräftigen Rückenwinds machten wir
gute Fahrt. Die Eisenbahn wäre natürlich billiger gewesen, aber wie so
viele Menschen flog ich für mein Leben gern mit einer »Zigarre«. Als
kleines Mädchen war ich mit meinen Eltern an Bord eines
gigantischen Luftschiffes der Klipperklasse nach Afrika gereist. Wir
waren quer durch Frankreich geflogen, über den Eiffelturm hinweg,
vorbei an Lyon, mit Zwischenstop in Nizza, und dann weiter über das
glitzernde Mittelmeer, wo ich Fischern und den Passagieren von
Ozeandampfern zuwinkte, und sie winkten zurück. Nachdem der
Captain den Leviathan durch gekonnten Einsatz der zwölf voll
schwenkbaren Propeller einmal rings um die Pyramiden gelenkt hatte,
landeten wir in Kairo. Drei Tage später fuhren wir nilaufwärts nach
Luxor, wo wir ein Kreuzfahrtschiff bestiegen, das uns wieder zur
Küste brachte. Dann traten wir an Bord der Ruritania die Heimreise
nach England an, durch die Straße von Gibraltar und den Golf von
Biskaya. Kein Wunder, daß ich sooft es ging zu den lieben
Erinnerungen meiner Kindheit zurückkehrte.
»Eine Zeitschrift, Ma’am?« fragte der Steward.
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Ich verneinte. Bordzeitschriften waren langweilig, außerdem machte
es mir Spaß, die englische Landschaft vorübergleiten zu sehen. Es war
ein herrlicher Sonnentag, und das Luftschiff brummte an den
watteweißen Wölkchen vorbei, die den Himmel fleckten wie eine
Herde fliegender Schafe. Die Chilterns erhoben sich artig, um uns zu
begrüßen, und verblaßten in der Ferne, während wir Wallingford,
Didcot und Wantage überflogen. Das Uffington White Horse zog
unter uns vorbei und weckte Erinnerungen an Picknicks und
Liebeleien. Landen und ich waren oft dort gewesen.
»Corporal Next?« erkundigte sich eine vertraute Stimme. Im Gang
stand ein Mann in mittleren Jahren, um dessen Lippen der Anflug
eines Lächelns spielte. Ich erkannte ihn sofort, obwohl wir uns seit
zwölf Jahren nicht gesehen hatten.
»Major!« antwortete ich und nahm in Gegenwart meines ehemaligen
Vorgesetzten unwillkürlich Haltung an. Ich hatte unter Phelps gedient,
als unser Bataillon irrtümlich den Russen vor die Rohre lief, die einen
Angriff auf Balaklawa zu verhindern suchten. Ich hatte unter Phelps’
Kommando einen Truppentransportpanzer gefahren, und das war alles
andere als ein Zuckerschlecken.
Das Luftschiff begann mit dem Anflug auf Swindon.
»Wie geht’s Ihnen, Next?« fragte er; unser ehemaliges Verhältnis
bestimmte die Art und Weise, wie wir miteinander sprachen.
»Gut, Sir. Und Ihnen?«
»Kann nicht klagen.« Er lachte. »Also, ich könnte schon, aber das
würde wenig nützen. Diese Vollidioten haben mich zum Colonel
gemacht, ob Sie’s glauben oder nicht.«
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte ich und rutschte verlegen hin und
her.
Der Steward bat uns, die Sicherheitsgurte anzulegen, und Phelps
setzte sich neben mich und schnallte sich an. Er fuhr mit leicht
gesenkter Stimme fort.
»Ich mache mir ein wenig Sorgen wegen der Krim.«
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»Wer tut das nicht?« entgegnete ich und fragte mich, ob sich Phelps’
politische Ansichten seit unserer letzten Begegnung wohl geändert
hatten.
»Sie sagen es. Daß diese UNO-Heinis ihre Nase immer in fremde
Angelegenheiten stecken müssen. Wenn wir die Halbinsel jetzt
zurückgeben, sind Millionen aufrechter Soldaten umsonst gestorben.«
Ich seufzte. Seine Ansichten hatten sich nicht geändert, und ich
wollte mich nicht mit ihm streiten. Kaum war ich an der Front, sehnte
ich auch schon das Kriegsende herbei. Dieser Krieg hatte mit meiner
Vorstellung eines gerechten Krieges nichts zu tun. Die Nazis aus
Europa zu vertreiben war gerecht gewesen. Der Kampf um die Krim
jedoch verdankte sich ausschließlich arrogantem Fremdenhaß und
falschverstandenem Patriotismus.
»Was macht die Hand?« fragte ich.
Phelps zeigte mir eine lebensechte linke Hand. Er drehte das
Handgelenk und wackelte mit den Fingern. Ich war beeindruckt.
»Bemerkenswert, nicht wahr?« sagte er. »Die Impulse kommen von
so einem Sensordings, das direkt mit meinem Bizeps verbunden ist.
Hätte ich das verdammte Ding über dem Ellbogen verloren, hätte ich
dumm dagestanden.« Er schwieg einen Moment und kehrte dann zu
seinem Ausgangsthema zurück.
»Ich mache mir ein wenig Sorgen, daß die Regierung aufgrund des
öffentlichen Drucks noch vor der Offensive den Geldhahn zudreht.«
»Offensive?«
Colonel Phelps lächelte. »Na sicher. Freunde an höchster Stelle
haben mir versichert, daß die erste Lieferung der neuen
Plasmagewehre schon in wenigen Tagen eintrifft. Glauben Sie, die
Russen haben Stonk etwas entgegenzusetzen?«
»Ehrlich gesagt, nein; es sei denn, sie haben eine eigene Version.«
»Auf keinen Fall. Goliath baut die modernsten Waffen der Welt.
Glauben Sie mir, ich hoffe genau wie jeder andere, daß wir es niemals
einsetzen müssen, aber Stonk ist der entscheidende Durchbruch, auf
den dieser Konflikt gewartet hat.«
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Er kramte in seiner Aktentasche und holte ein Faltblatt daraus
hervor.
»Ich mache eine Vortragsreise durch ganz England und setze mich
für die Krim ein. Ich möchte, daß Sie mich begleiten.«
»Ich glaube eigentlich nicht …«, begann ich, nahm das Faltblatt
aber trotzdem.
»Unsinn!« erwiderte Colonel Phelps. »Als gesunde und erfolgreiche
Veteranin des Feldzuges ist es Ihre Pflicht, für die einzutreten, die das
letzte Opfer gebracht haben. Wenn wir die Halbinsel zurückgeben,
wird jeder einzelne dieser tapferen Kameraden umsonst gestorben
sein.«
»Mit Verlaub, Sir, aber diese Menschen sind bereits gestorben, und
daran wird nichts und niemand mehr etwas ändern.«
Er tat, als hätte er mich nicht gehört, und ich verfiel in Schweigen.
Colonel Phelps’ fanatischer Einsatz war seine Art, mit dem Desaster
umzugehen, an dem wir beide beteiligt gewesen waren. Wir hatten
Order erhalten, gegen einen vermeintlichen »Scheinwiderstand«
vorzugehen, der sich jedoch als massierte russische Feldartillerie
entpuppte. Phelps hatte in der Ausstiegsluke des TTP gesessen, bis die
Russen aus allen Rohren feuerten; ein Granattreffer riß ihm den
Unterarm ab und spickte ihm den Rücken mit Splittern. Wir packten
ihn mit so vielen anderen Soldaten wie möglich hintenrein und
kehrten mit einem Laderaum voll stöhnender Leiber zu den englischen
Linien zurück. Sämtliche Befehle mißachtend, fuhr ich noch einmal
an die Front und suchte in dem Chaos aus Trümmern und Metall nach
Überlebenden. Von den 76 TTP und Panzern unserer Brigade kamen
nur zwei Fahrzeuge zurück. Von den 534 beteiligten Soldaten
überlebten 51, davon nur 8 unverletzt. Unter den Toten war auch
Anton Next, mein Bruder. Desaster war da noch geschmeichelt.
Zu meinem Glück dockte das Luftschiff kurz darauf an, und es gelang
mir, Colonel Phelps im Empfangsgebäude abzuhängen. Ich nahm
meinen Koffer vom Laufband und schloß mich auf der Damentoilette
ein, bis ich sicher sein konnte, daß er gegangen war. Ich riß sein
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Faltblatt in winzige Fetzen und spülte sie ins Klo. Als ich herauskam,
war das Gebäude verlassen. Für das geringe Verkehrsaufkommen war
der Flughafen viel zu groß; eine Investitionsruine, welche die
zerschlagenen Hoffnungen der Swindoner Stadtplaner widerspiegelte.
Auch die Wartehalle war bis auf ein Studentenpärchen mit einem
Antikrimkriegstransparent menschenleer. Sie hatten von Phelps’
Ankunft läuten hören und hofften, ihn von seiner Kriegstreiberei
abbringen zu können. Sie hatten keine Chance, aber nutzten sie.
Als sie mich ansahen, wandte ich mich eilig ab. Wenn sie wußten,
wer Phelps war, kannten sie womöglich auch mich. Vor dem Terminal
war alles leer. Ich hatte mit Victor Analogy – dem Leiter der
Swindoner LiteraturAgenten – telefoniert, und er hatte mir angeboten,
mich abholen zu lassen. Doch der Wagen war nicht gekommen.
Da mir heiß war, zog ich meine Jacke aus. Über Lautsprecher
wurden nicht vorhandene Autofahrer in regelmäßigen Abständen
ermahnt, nicht in der verlassenen Halteverbotszone zu parken, und ein
gelangweilter Flugplatzangestellter schob ein paar Gepäckwagen
vorbei. Ich setzte mich neben eine Will-Speak-Maschine am Ende der
Wartehalle. Bei meiner letzten Reise nach Swindon hatte der
Flugplatz noch aus nichts weiter als einer großen Wiese mit einem
rostigen Mast darauf bestanden. Und das war vermutlich nicht das
einzige, was sich verändert hatte.
Ich wartete fünf Minuten, dann stand ich auf und lief ungeduldig hin
und her. Die Rezitiermaschine – ein sogenannter LiteraturVerkaufsautomat – brachte Richard III. Sie bestand aus einem
schmucklosen Kasten, dessen obere Hälfte durchsichtig war. Im
Inneren sah man den Torso einer Puppe im jeweils passenden Kostüm.
Für zehn Pence gab die Maschine eine kurze Shakespeare-Passage
zum besten. Die Dinger wurden seit den dreißiger Jahren nicht mehr
hergestellt und galten inzwischen als Rarität; die Zerstörungswut der
Baconier sowie mangelnde Pflege und Wartung hatten ihren
Untergang beschleunigt.
Ich fischte ein Zehnpencestück aus der Tasche und warf es ein.
Sirrend und klickend erwachte die Maschine zum Leben. Als ich noch
ein Kind gewesen war, hatte an der Commercial Road ein HamletAutomat gestanden. Mein Bruder und ich bettelten unsere Mutter
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dauernd um Kleingeld an und lauschten der Puppe, die lauter Sachen
sagte, die wir nicht verstanden. Sie erzählte uns vom »unentdeckten
Land«. In seiner kindlichen Naivität meinte mein Bruder, er wolle
dieses Land besuchen, was er siebzehn Jahre später dann auch tat,
sechzehnhundert Meilen von daheim, begleitet vom Donnern der
Panzermotoren und dem bumm-bumm-bumm der russischen Artillerie.
Ward je in dieser Laun ein Weib gefreit? fragte die Puppe, wild mit
den Augen rollend, streckte einen Finger in die Luft und zuckte hin
und her.
Ward je in dieser Laun ein Weib gewonnen?
Sie machte eine Kunstpause.
Ich will sie haben, doch nicht lang behalten …
»Verzeihung?«
Ich blickte auf. Einer der Studenten war neben mich getreten und
hatte mich am Arm berührt. Er trug einen Peace-Button am Revers,
und auf seiner riesigen Nase saß ein gefährlich krängender Kneifer.
»Sind Sie nicht Next?«
»Wie bitte?«
»Corporal Next, Leichte Panzerbrigade.«
Ich massierte mir die Stirn.
»Ich bin nicht mit dem Colonel hier. Das war reiner Zufall.«
»Ich glaube nicht an Zufälle.«
»Ich auch nicht. Ist das nicht ein Zufall?«
Der Student sah mich verwirrt an, während seine Freundin zu uns
trat. Er stellte mich ihr vor.
»Sie sind doch die Frau, die aufs Schlachtfeld zurückgefahren ist«,
staunte sie, als sei ich ein seltener ausgestopfter Papagei. »Sie haben
einen direkten Befehl mißachtet. Sie sollten dafür vors Kriegsgericht
gestellt werden.«
»Wurde ich aber nicht.«
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»Weil die Owl on Sunday von der Sache Wind bekam. Ich habe Ihre
Aussage vor der Untersuchungskommission gelesen. Sie sind gegen
den Krieg.«
Die beiden sahen sich an, als könnten sie ihr Glück kaum fassen.
»Wir brauchen noch jemanden, der bei Colonel Phelps’
Versammlung spricht«, sagte der junge Mann mit der großen Nase.
»Jemanden von der Gegenseite. Der dabei war. Und der einen Namen
hat. Würden Sie uns helfen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Ich sah mich um, in der Hoffnung, daß wie durch ein Wunder mein
Chauffeur erschienen war. Vergeblich.
… den ich, fuhr die Puppe fort, vor drei Monden zu Tewkesbury in
meinem Grimm erstach?
»Paßt auf, Leute, ich würde euch ja gern helfen, aber ich kann nicht.
Ich versuche seit zwölf Jahren, das alles zu vergessen. Sucht euch
einen anderen Veteranen. Es gibt Tausende von uns.«
»Aber keine wie Sie, Miss Next. Sie haben den Angriff überlebt. Sie
haben Ihre gefallenen Kameraden da rausgeholt. Sie sind eine von den
einundfünfzig. Es ist Ihre verdammte Pflicht, im Namen der Toten zu
sprechen.«
»Unsinn. Ich bin einzig und allein mir selbst verpflichtet. Seit dem
Angriff der Leichten Brigade versuche ich, damit zurechtzukommen,
daß ich ihn überlebt habe. Ich stelle mir jeden Tag und jede Nacht
dieselbe Frage: Warum ich? Warum lebe ich, während die anderen,
unter ihnen mein eigener Bruder, sterben mußten? Auf diese Frage
gibt es keine Antwort, und damit fängt der Schmerz erst an. Ich kann
euch nicht helfen.«
»Sie brauchen ja nicht unbedingt zu sprechen«, drängte das
Mädchen, »aber halten Sie es nicht auch für besser, eine alte Wunde
aufzureißen statt tausend neuer?«
»Komm mir bloß nicht auf die moralische, du kleine Schlampe«,
sagte ich mit erhobener Stimme.
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Das verfehlte seine Wirkung nicht. Sie drückte mir ein Flugblatt in
die Hand, nahm ihren Freund am Arm und zerrte ihn mit sich davon.
Ich schloß die Augen. Mein Herz hämmerte wie das Bumm-BummBumm der russischen Geschütze. So laut, daß ich glatt überhörte, wie
ein Streifenwagen neben mir hielt.
»Miss Next?« fragte eine fröhliche Stimme.
Ich drehte mich um, nickte dankbar und schleppte meinen Koffer
zum Wagen. Der Beamte im Wagen lächelte mir zu. Er hatte lange
Dreadlocks und eine übergroße dunkle Brille auf der Nase. Sein
Uniformhemd war, ziemlich salopp für einen SpecOps-Beamten, bis
zum Nabel aufgeknöpft, und er trug reichlich Schmuck, ebenfalls ein
grober Verstoß gegen die Vorschriften.
»Willkommen in Swindon, Frau Kollegin! Die Stadt, in der alles
passieren kann und aller Voraussicht nach auch wird!«
Er zeigte mit dem Daumen breitlächelnd zum Wagenheck.
»Hinten ist offen.«
Im Kofferraum lagen jede Menge Eisenpflöcke, mehrere Hämmer,
ein großes Kruzifix sowie eine Spitzhacke und ein Spaten. Außerdem
verströmte er einen modrigen Geruch, den Geruch von Fäulnis und
Tod – ich warf eilig mein Gepäck hinein und knallte den Deckel zu.
Ich ging zur Beifahrertür und stieg ein.
»Scheiße!« rief ich, als ich merkte, daß auf dem Rücksitz, hinter
einem robusten Drahtgitter, ein sibirischer Wolf auf und ab lief. Der
Agent lachte laut.
»Lassen Sie sich von dem Hündchen nicht stören, Ma’am! Darf ich
bekanntmachen? Mr. Meakle. Mr. Meakle, das ist Officer Next.«
Er meinte den Wolf. Ich starrte das Tier an, das meinen Blick mit
beunruhigender Intensität erwiderte. Der Beamte lachte vergnügt und
fuhr mit quietschenden Reifen los. Ich hatte völlig vergessen, wie
merkwürdig es in Swindon bisweilen zuging.
Während wir davonbrausten, beendete die Will-Rezitiermaschine
ihren Monolog:
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… Komm, holde Sonn, als Spiegel mir zustatten und zeige, wenn ich
geh, mir meinen Schatten.
»Schöner Tag«, meinte ich, als wir den Flugplatz hinter uns gelassen
hatten.
»Jeder Tag ist ein schöner Tag, Miss Next. Ich heiße Stoker …«
Er nahm die Umgehungsstraße Richtung Stratton.
»… SpecOps-17. Vampir-und Werwolfentsorgung. Vulgo Sauger
und Beißer. Meine Freunde nennen mich Spike. Sie«, setzte er breit
grinsend hinzu, »dürfen mich Spike nennen.«
Wie als Erklärung zeigte er auf einen Pflock nebst Hammer, die an
dem Schutzgitter befestigt waren.
»Wie werden Sie genannt, Miss Next?«
»Thursday.«
»Freut mich, Thursday.«
Dankbar schüttelte ich seine Pranke. Er war mir auf Anhieb
sympathisch. Er lehnte sich gegen die Türverstrebung, ließ sich den
kühlen Fahrtwind ins Gesicht wehen und trommelte mit den Fingern
rhythmisch aufs Lenkrad. Aus einem frischen Kratzer an seinem Hals
quoll ein Tropfen Blut.
»Sie bluten«, bemerkte ich.
Spike wischte es mit der Hand weg.
»Halb so wild. Er hat sich ein bißchen gewehrt …«
Wieder sah ich auf die Rückbank. Der Wolf hatte sich hingesetzt
und kratzte sich mit dem Hinterlauf am Ohr.
»… aber ich bin gegen Lykanthropie geimpft. Mr. Meakle will seine
Medizin partout nicht nehmen. Stimmt’s, Mr. Meakle?«
Als sich das letzte noch verbliebene Fünkchen Mensch in ihm seines
Namens erinnerte, spitzte der Wolf die Ohren. Er hechelte wegen der
Hitze. Spike fuhr fort: »Seine Nachbarn haben uns verständigt.
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Sämtliche Katzen in der Gegend waren verschwunden; ich fand ihn,
als er die Mülltonnen hinter einer SmileyBurger-Filiale durchstöberte.
Ich liefere ihn ein, er wird behandelt, und wenn er sich
zurückverwandelt hat, wird er spätestens am Freitag entlassen. Er hat
eben auch Rechte. Und was machen Sie so?«
»Ich … äh … fange bei SpecOps-27 an.«
Wieder schüttelte sich Spike vor Lachen. »Eine LitAg!? Es ist doch
immer wieder nett, jemanden kennenzulernen, der genauso
unterfinanziert ist wie ich. Da arbeiten ein paar sehr gute Leute. Ihr
Chef ist Victor Analogy. Lassen Sie sich von seinen grauen Haaren
nicht täuschen – der Mann ist schwer auf Zack, trotz seines Alters. Die
anderen Kollegen sind allesamt A-1. Ziemlich arrogante
Klugscheißer, wenn Sie mich fragen, aber was soll’s. Wohin wollen
Sie eigentlich?«
»Hotel Finis.«
»Sind Sie das erste Mal in Swindon?«
»Leider nein«, antwortete ich. »Ich bin hier geboren. Ich war bis ’75
bei der Swindoner Polizei. Und Sie?«
»Zehn Jahre Wachdienst an der walisischen Grenze. Als ich ’79 in
Oswestry mit der Finsternis in Berührung kam, stellte ich fest, daß das
irgendwie auf meiner Wellenlänge lag. Als die beiden Depots
zusammengelegt wurden, bin ich aus Oxford hierhergekommen. Vor
Ihnen sitzt der einzige Pfähler südlich von Leeds. Ich bin zwar mein
eigener Herr, aber ein bißchen Gesellschaft könnte ich manchmal gut
gebrauchen. Sie kennen nicht zufällig jemanden, der mit dem Hammer
umgehen kann?«
»Leider nein«, antwortete ich und fragte mich, weshalb jemand für
ein SpecOps-Grundgehalt die höheren Mächte der Finsternis
bekämpfte, »aber wenn mir jemand über den Weg läuft, gebe ich
Ihnen Bescheid. Was ist eigentlich aus Chesney geworden? Als ich
das letzte Mal hier war, hat er die Abteilung geleitet.«
Eine dunkle Wolke huschte über Spikes heiteres Gesicht, und er
seufzte. »Er war ein guter Freund von mir, bis er der Schattenwelt
anheimfiel und zum Diener der Finsternis wurde. Ich habe ihn selbst
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erledigt. Pflock rein, Kopf ab – kein Problem. Wesentlich kniffliger
war es, seiner Frau das Ganze beizubringen – sie war nicht sonderlich
erfreut.«
»Ich wäre wahrscheinlich auch leicht angesäuert.«
»Wie dem auch sei«, fuhr Spike fort, als wäre nichts weiter, »es geht
mich zwar einen feuchten Kehricht an, aber was hat eine
gutaussehende SpecOps-Kollegin bei den Swindoner LitAgs
verloren?«
»Ich hatte Ärger in London.«
»Aha«, lautete Spikes vielsagende Antwort.
»Außerdem suche ich jemanden.«
»Wen denn?«
Ich musterte ihn und wußte: Wenn ich einem trauen konnte, dann
Spike.
»Hades.«
»Acheron? Fehlanzeige, Schwester. Der Typ ist nur noch ein
Haufen Asche. An der J-12 auf der M4 in seiner Karre verbrannt.«
»Angeblich. Wenn Sie was hören …?«
»Kein Problem, Thursday.«
»Das bleibt doch unter uns?«
Er lächelte. »Pfählen und Geheimnisse bewahren sind meine
Spezialität.«
»Moment mal …« Bei einem Gebrauchtwagenhändler auf der
anderen Straßenseite hatte ich einen quietschbunten Sportwagen
entdeckt. Spike ging vom Gas.
»Was ist?«
»Ich … äh … brauche einen Wagen. Können Sie mich da drüben
rauslassen?«
Spike wendete verkehrswidrig, so daß unser Hintermann scharf
bremsen mußte und sein Wagen quer über die Straße schlidderte. Der
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Fahrer schrie uns wüste Beleidigungen hinterher, aber als er erkannte,
daß er es mit einem SpecOps-Streifenwagen zu tun hatte, hielt er
lieber den Mund und fuhr weiter. Ich holte mein Gepäck aus dem
Kofferraum.
»Danke fürs Mitnehmen. Machen Sie’s gut.«
»Machen Sie’s besser«, sagte Spike. »Ich will sehen, was ich über
Ihren vermißten Freund ausgraben kann.«
»Das wäre nett. Danke.«
»Wiedersehen.«
»Bis bald.«
»Tschüs«, sagte ein schüchternes Stimmchen auf dem Rücksitz. Wir
drehten uns um. Mr. Meakle hatte sich zurückverwandelt. Ein hageres,
ziemlich erbärmlich aussehendes Männlein saß auf der Rückbank,
splitternackt und von Kopf bis Fuß mit Schlamm bedeckt. Mit den
Händen bedeckte er schamhaft seine Geschlechtsteile.
»Mr. Meakle! Da sind Sie ja wieder!« rief Spike breit grinsend und
setzte tadelnd hinzu: »Sie haben Ihre Tabletten mal wieder nicht
genommen, was?«
Mr. Meakle schüttelte beschämt den Kopf.
Ich bedankte mich noch einmal bei Spike. Als er davonfuhr, winkte
mir Mr. Meakle ein wenig dümmlich durch die Heckscheibe zu.
Wieder wendete Spike, so daß ein zweites Auto bremsen mußte, dann
war er verschwunden.
Ich starrte den Sportwagen an. Er stand gleich in der ersten Reihe,
unter einem Transparent mit der Aufschrift SONDERANGEBOT. Ein
Irrtum war ausgeschlossen. Es war zweifellos derselbe Wagen, der
mir in meinem Krankenzimmer erschienen war. Und ich hatte ihn
gefahren. Ich hatte mir geraten, nach Swindon zu gehen. Ich hatte zu
mir gesagt, daß Acheron noch lebte. Wäre ich nicht nach Swindon
gekommen, hätte ich den Wagen nicht gesehen und ihn folglich auch
nicht kaufen können. Das leuchtete mir zwar alles nicht recht ein, aber
so viel stand fest: Ich mußte diesen Wagen haben.
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»Kann ich Ihnen behilflich sein, Ma’am?« fragte ein schmieriger,
stark schwitzender Verkäufer, der wie aus dem Nichts erschienen war,
und rieb sich nervös die Hände.
»Der Wagen hier. Wie lange haben Sie den schon?«
»Den Porsche? Ungefähr ein halbes Jahr.«
»Ist er währenddessen zufällig in London gewesen?«
»London?« wiederholte der Verkäufer verwirrt. »Mit Sicherheit
nicht. Warum?«
»Nur so. Ich nehme ihn.«
Der Verkäufer machte ein leicht schockierten Eindruck.
»Sind Sie sicher? Möchten Sie nicht lieber etwas Praktischeres? Ich
hätte da zum Beispiel ein paar erstklassige Buicks, gerade frisch
hereingekommen. Goliath-Firmenwagen, aber kaum gefahren, also
…«
»Den hier«, beharrte ich.
Der Verkäufer lächelte verlegen. Der Wagen wurde offenbar zu
einem Schleuderpreis verkauft, und der Laden verdiente keinen Penny
daran. Halblaut vor sich hin murmelnd ging er den Schlüssel holen.
Ich setzte mich hinein. Die Ausstattung war sehr spartanisch. Ich
hatte mich nie für Autos interessiert, aber dieser Fall lag anders.
Obwohl er mit seiner kuriosen giftgrünen Lackierung auffiel wie der
sprichwörtliche bunte Hund, gefiel er mir sofort. Der Verkäufer kam
mit dem Schlüssel, und beim zweiten Versuch sprang der Motor an.
Der Mann erledigte den nötigen Papierkram, und eine halbe Stunde
später lenkte ich den Wagen vom Verkaufsgelände auf die Straße. Der
Wagen beschleunigte rasant, mit knatterndem Auspuff. Nach ein paar
hundert Metern waren wir unzertrennlich.
- 99 -
9.
Familie Next
… Ich kam an einem Donnerstag zur Welt, daher der Name. Mein
Bruder wurde an einem Montag geboren und erhielt folglich den
Namen Anton. Meine Mutter hieß Wednesday, kam aber an einem
Sonntag zur Welt – warum, weiß ich nicht –, und mein Vater hatte
überhaupt keinen Namen – nach seinem Abgang löschte die
ChronoGarde seinen Namen und seine Identität. Im Grunde existierte
er gar nicht. Aber das spielte keine Rolle. Für mich war er ohnehin nur
Dad …
THURSDAY NEXT
-Ein Leben für SpecOps
Ich fuhr mit heruntergelassenem Verdeck aufs Land hinaus; trotz
der Sommerhitze war der Fahrtwind kühl. Die vertraute Umgebung
hatte sich kaum verändert; sie war noch genauso schön, wie ich sie in
Erinnerung hatte. Swindon hingegen hatte sich sehr verändert. Die
Stadt war in die Höhe und in die Breite gegangen. Am Rand hatte sich
Leichtindustrie angesiedelt, im Zentrum schossen die gläsernen
Hochhäuser der Banken in den Himmel. Die Wohngebiete hatten sich
entsprechend ausgedehnt; vom Stadtzentrum hinaus aufs Land war es
ein ganzes Stück.
Es war Abend, als ich vor einer unscheinbaren Doppelhaushälfte
hielt, von deren Sorte es in dieser Straße vierzig oder fünfzig gab. Ich
klappte das Verdeck hoch und schloß den Wagen ab. Hier war ich
aufgewachsen; mein altes Zimmer lag hinter dem Fenster direkt über
der Haustür. Man sah dem Haus sein Alter an. Die Farbe an den
Fensterrahmen war verblichen, und an mehreren Stellen bröckelte der
Putz. Mühsam stieß ich das Gartentor auf, das sich meinen
Anstrengungen beharrlich widersetzte, und schloß es unter Stöhnen
und Ächzen – was mir um so schwerer fiel, als sich eine Handvoll
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Dodos erwartungsvoll um mich versammelt hatten und aufgeregt
durcheinander plock ten, als sie mich wiedererkannten.
»Hallo, Mordechai!« sagte ich zu dem ersten, der zur Begrüßung
wippend auf und ab hüpfte. Woraufhin sie alle gekrault und
gestreichelt werden wollten, und so blieb ich eine Weile und kitzelte
sie unterm Kinn, während sie meine Taschen neugierig nach
Marshmallows durchsuchten, einer Süßigkeit, die bei den Dodos
besonders beliebt ist.
Meine Mutter öffnete die Tür, um nachzusehen, weshalb die Vögel
einen solchen Radau veranstalteten, und kam dann den Gartenweg
entlanggerannt, um mich willkommen zu heißen. Da meine Mutter in
diesem Tempo eine echte Bedrohung darstellt, suchten die Dodos
wohlweislich das Weite.
»Thursday!« rief sie mit glänzenden Augen. »Warum hast du uns
denn nicht gesagt, daß du kommst?«
»Weil es dann ja keine Überraschung mehr gewesen wäre. Ich habe
mich hierher versetzen lassen.«
Sie hatte mich mehrmals im Krankenhaus besucht und mich mit
amüsanten Details von Margot Vishlers Hysterektomie und anderem
Klatsch aus dem Hausfrauenbund von meinen Verletzungen
abgelenkt.
»Was macht der Arm?«
»Er ist manchmal ein bißchen steif, und wenn ich darauf schlafe,
wird er völlig taub. Der Garten sieht gut aus. Kann ich reinkommen?«
Meine Mutter schob mich unter Entschuldigungen durch die Tür,
nahm mir die Jacke ab und hängte sie an die Garderobe. Da sie
ängstlich auf die Automatik in meinem Schulterholster starrte, stopfte
ich die Waffe in meinen Koffer. Im Haus hatte sich, wie ich bald
merkte, nichts, aber auch gar nichts verändert: dasselbe Chaos,
dieselben Möbel, derselbe Geruch. Ich blickte mich um, ließ alles auf
mich wirken und suhlte mich in liebgewordenen Erinnerungen. Hier in
Swindon hatte ich das letzte Mal so etwas wie Glück empfunden, und
dieses Haus war zwanzig Jahre lang mein Lebensmittelpunkt
- 101 -
gewesen. Mich beschlich das ungute Gefühl, daß ich vielleicht doch
lieber hätte dableiben sollen.
Wir gingen ins Wohnzimmer, das noch immer vor schauderhaften
Braun-und Grüntönen starrte und aussah wie ein Teppich-und
Vorhangmuseum. Das Foto von meiner Abschlußparade an der
Polizeischule stand auf dem Kaminsims, daneben eines von Anton
und mir, lächelnd, in Kampfanzügen, unter der erbarmungslosen
Sommersonne der Krim. Auf dem Sofa saß ein altes Pärchen und sah
fern.
»Polly!… Mycroft!… Schaut mal, wer da ist!«
Meine Tante war höflich und stand zur Begrüßung auf, während
mein Onkel sich mehr für das Fernsehquiz Name that Fruit
interessierte. Er lachte schnaubend über einen schlechten Witz und
winkte in meine Richtung, ohne aufzublicken.
»Hallo, Thursday, Schätzchen«, sagte Tante Polly. »Vorsicht, mein
Make-up.«
Wir hielten die Wangen aneinander und machten laut mmuuah.
Mein Tante roch stark nach Lavendel und hatte so viel Make-up
aufgelegt, daß selbst die gute alte Queen Bess entsetzt gewesen wäre.
»Wie geht’s, Tantchen?«
»Könnte nicht besser sein.« Sie versetzte ihrem Mann einen
schmerzhaften Tritt an den Knöchel. »Mycroft, deine Nichte ist da.«
»Hallo, Kleine«, sagte er, ohne mich eines Blickes zu würdigen, und
rieb sich den Fuß. Polly senkte die Stimme.
»Es ist schrecklich. Entweder sitzt er vor dem Fernseher oder bastelt
in seiner Werkstatt. Manchmal habe ich das Gefühl, da drin herrscht
gähnende Leere.«
Sie starrte einen Augenblick auf seinen Hinterkopf und wandte sich
dann wieder mir zu.
»Bleibst du länger?«
»Thursday hat sich hierher versetzen lassen, nach Swindon.«
»Hast du abgenommen?«
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»Ich treibe Sport.«
»Hast du einen Freund?«
»Nein«, antwortete ich. Die nächste Frage galt todsicher Landen.
»Hast du Landen angerufen?«
»Nein. Und du rufst ihn bitte auch nicht an.«
»So ein netter junger Mann. Der Toad hat sein letztes Buch in den
höchsten Tönen gelobt: Der letzte Schurke. Hast du es gelesen?«
Ich gab keine Antwort.
»Gibt’s was Neues von Vater?« fragte ich.
»Daß ich das Schlafzimmer mauve gestrichen habe, hat ihm gar
nicht gefallen«, sagte meine Mutter. »Wie bist du bloß darauf
gekommen?«
Tante Polly winkte mich näher heran und zischte mir so laut, daß es
jeder hören konnte, ins Ohr: »Du mußt deine Mutter entschuldigen;
sie denkt, dein Vater hätte was mit einer anderen Frau!«
Mutter entschuldigte sich und stürzte unter einem fadenscheinigen
Vorwand aus dem Zimmer.
Ich runzelte die Stirn. »Was denn für eine Frau?«
»Er hat sie bei der Arbeit kennengelernt – Lady Emma Soundso.«
Ich rief mir mein letztes Gespräch mit Dad ins Gedächtnis, die
Geschichte mit Nelson, dem Duke of Wellington und den
französischen Revisionisten.
»Meinst du Emma Hamilton?«
Meine Mutter steckte den Kopf zur Tür herein. »Du kennst sie?«
fragte sie alarmiert und beleidigt.
»Nicht persönlich. Soviel ich weiß, ist sie Mitte des neunzehnten
Jahrhunderts gestorben.«
Meine Mutter kniff die Augen zusammen. »Alter Trick.«
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Sie nahm sich zusammen und brachte tatsächlich ein Lächeln
zustande. »Bleibst du zum Essen?«
Ich bejahte, und sie machte sich auf die Suche nach einem
Hühnchen, das sie zerkochen konnte; ihr Zorn auf meinen Vater
schien vorerst vergessen. Das Fernsehquiz war zu Ende, und Mycroft
kam in einer grauen Strickjacke mit Reißverschluß und dem New
Splicer unterm Arm in die Küche gewatschelt.
»Was gibt’s zu Abend?« fragte er und stand im Weg herum. Tante
Polly sah ihn an, als sei er ein verzogenes Kind.
»Mycroft, was hältst du davon, wenn du, statt hier herumzulaufen
und deine Zeit zu verschwenden, zur Abwechslung Thursdays Zeit
verschwendest und ihr zeigst, was du in deiner Werkstatt treibst?«
Mycroft blickte uns ausdruckslos an. Dann winkte er mich
achselzuckend zur Hintertür, vertauschte seine Hausschuhe mit einem
Paar Gummistiefel und die Strickjacke mit einer wirklich
grauenhaften karierten Joppe.
»Dann komm mal mit, mein Mädchen«, brummte er, verscheuchte
die Dodos von der Hintertür, wo sie sich in Erwartung eines
Leckerbissens versammelt hatten, und stapfte zu seiner Werkstatt.
»Du könntest das Gartentor mal reparieren, Onkel – so schlimm war
es noch nie.«
»Im Gegenteil«, antwortete er mit einem Augenzwinkern. »Immer
wenn es jemand auf-oder zumacht, erzeugt er dabei so viel Energie,
daß ich davon eine Stunde fernsehen kann. Ich habe dich in letzter
Zeit nicht viel gesehen. Warst du verreist?«
»Äh, ja; zehn Jahre.«
Er schob seine Brille auf die Nasenspitze und sah mich erstaunt an.
»Wirklich?«
»Ja. Ist Owens noch bei dir?«
Owens war Mycrofts Assistent. Ein alter Knabe, der für Rutherford
gearbeitet hatte, als diesem die Atomspaltung gelang; Mycroft und er
waren zusammen zur Schule gegangen.
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»Eine tragische Geschichte, Thursday. Wir bastelten gerade an der
Entwicklung einer Maschine zur Gewinnung von Methanol aus
Zucker, Eiweiß und Hitze, als ein Stromstoß eine Implosion
verursachte. Owens verwandelte sich schlagartig in ein Baiser. Als wir
ihn endlich aus dem Zeug herausgemeißelt hatten, war der Arme
hinüber. Jetzt geht mir Polly zur Hand.«
Wir waren in seiner Werkstatt angekommen. Ein Baumstumpf, in
dem eine Axt steckte, diente als Türschließer. Mycroft tastete nach
dem Schalter, die Neonröhren flackerten auf und tauchten den Raum
in grelles Licht. Im Labor herrschte noch genau dasselbe Chaos wie
bei meinem letzten Besuch, nur die Erfindungen waren neue. Aus den
vielen Briefen meiner Mutter wußte ich, daß es Mycroft gelungen war,
Pizza per Fax zu versenden, und daß er einen 2B-Bleistift mit
eingebauter Rechtschreibprüfung erfunden hatte, doch womit er sich
im Augenblick befaßte, entzog sich meiner Kenntnis.
»Hat der Gedächtnislöscher eigentlich funktioniert, Onkel?«
»Was?«
»Der Gedächtnislöscher. Als wir uns das letzte Mal gesehen haben,
warst du gerade dabei, ihn zu testen.«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst, liebes Kind. Was hältst du
davon?«
In der Raummitte stand ein großer weißer Rolls-Royce. Ich trat
näher, während Mycroft an eine Neonröhre klopfte, damit sie aufhörte
zu flackern.
»Neuer Wagen, Onkel?«
»Nein, nein«, antwortete Mycroft hastig. »Ich habe doch gar keinen
Führerschein. Ein Freund von mir, der diese Gefährte vermietet, hat
sich darüber beklagt, wie teuer es sei, zwei Stück davon zu
unterhalten, einen schwarzen für Beerdigungen und einen weißen für
Hochzeiten – da habe ich mir etwas einfallen lassen.«
Er streckte die Hand durchs Fenster und drehte einen großen Knopf
am Armaturenbrett. Begleitet von einem leisen Summen, verfärbte
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sich der Wagen erst gräulich, dann grau, dann anthrazit und
schließlich schwarz.
»Wirklich beeindruckend, Onkel.«
»Findest du? Der Lack besteht aus Flüssigkristallen. Aber damit
nicht genug. Paß auf.«
Er drehte den Regler noch ein wenig weiter nach rechts, und der
Wagen wurde erst blau, dann grün und schließlich grün mit gelben
Punkten.
»Einfarbige Autos gehören endgültig der Vergangenheit an! Aber
das ist noch längst nicht alles. Wenn ich den Pigmentierer einschalte,
so, dann müßte sich der Wagen eigentlich … ja, schau dir das an!«
Mit wachsendem Erstaunen beobachtete ich, wie sich der Wagen
vor meinen Augen in Luft auflöste; die Flüssigkristallbeschichtung
imitierte die Grau-und Brauntöne von Mycrofts Werkstatt. Binnen
Sekunden hatte sich der Wagen seiner Umgebung vollständig
angepaßt. Ich dachte daran, wieviel Spaß es machen würde,
Verkehrspolizisten damit zu ärgern.
»Ich habe es ChameleoCar getauft; ziemlich spaßig, nicht?«
»Sehr sogar.«
Ich streckte die Hand aus und berührte die warme Oberfläche des
unsichtbaren Rolls-Royce. Ich wollte Mycroft fragen, ob er auch
meinem Speedster eine solche »Tarnkappe« verpassen konnte, aber
dazu war es schon zu spät; von meinem Interesse angestachelt, war er
zu einem großen Sekretär getrottet und winkte mich aufgeregt zu sich.
»Übersetzungskohlepapier«, verkündete er und deutete auf mehrere
Stapel grellbunter Metallfolien. »Ich nenne es Rosette-Papier.
Vorführung gefällig? Man nehme ein einfaches Blatt Papier, unterlege
dies mit einem Spanisch-Kohlepapier, ein zweites Blatt Papier –
immer schön darauf achten, daß es mit der richtigen Seite nach oben
liegt! –, Polnisch, dann noch ein Blatt Papier, Deutsch, noch ein Blatt
und schließlich Französisch und das letzte Blatt … fertig.«
Er rückte den Stapel auf dem Schreibtisch zurecht, während ich mir
einen Stuhl heranzog.
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»Schreib etwas auf das erste Blatt. Was du willst.«
»Egal was?«
Mycroft nickte, und ich schrieb: Have you seen my Dodo?
»Und jetzt?«
Mycroft schaute triumphierend drein. »Schau nach, liebes Kind.«
Ich hob das oberste Blatt Kohlepapier ab, und da stand in meiner
eigenen Schrift: ¿ Ha visto mi dodo?
»Das ist ja phantastisch!«
»Danke«, antwortete mein Onkel. »Und jetzt das nächste!«
Unter dem Polnisch-Papier stand: Gdzie jest moj dodo?
»Ich arbeite noch an Hieroglyphen und der demotischen Schrift«,
erklärte Mycroft, während ich die deutsche Übersetzung las: Haben
Sie meinen Dodo gesehen? »Mit den Maya-Codices hatte ich so meine
Schwierigkeiten, aber Esperanto kriege ich einfach nicht hin. Keine
Ahnung, warum.«
»Dafür gibt es Dutzende von Anwendungsmöglichkeiten«, stieß ich
hervor, während ich das letzte Blatt aufdeckte und zu meiner großen
Enttäuschung las: Mon aardvark n’a pas de nez.
»Moment mal, Onkel. Mein Erdferkel hat keine Nase? «
Mycroft sah mir über die Schulter und stöhnte. »Da hast du
wahrscheinlich nicht fest genug aufgedrückt. Du bist doch bei der
Polizei, nicht wahr?«
»SpecOps, um genau zu sein.«
»Dann könnte dich das hier interessieren«, verkündete er und winkte
mich vorbei an weiteren wundersamen Gerätschaften, deren Zweck
sich bestenfalls erahnen ließ. »Am Mittwoch führe ich diese Maschine
dem Polizeiausschuß für technischen Fortschritt vor.«
Neben einem Apparat mit großem Trichter, der aussah wie ein altes
Grammophon, blieb er stehen und räusperte sich. »Das ist mein
Olfaktograph. Es funktioniert nach einem ganz einfachen Prinzip. Wie
dir jeder Bluthund, der sein Geld wert ist, versichern wird, ist der
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Geruch eines Menschen ebenso einzigartig wie sein Daumenabdruck,
woraus folgt, daß eine Maschine, die in der Lage ist, einen Straftäter
anhand seines Körpergeruchs zu identifizieren, vor allem dort von
Nutzen ist, wo andere erkennungsdienstliche Methoden versagen. Ein
Dieb mag Handschuhe und Maske tragen, aber seinen Geruch, den
kann er nicht verbergen.«
Er zeigte auf den Trichter.
»Die Gerüche werden hier hineingesaugt und von einem
Olfaktoskop, dem von mir erfundenen Analysegerät des
Olfaktographen, in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt und analysiert,
woraus sich ein unverwechselbarer ›Duftabdruck‹ des Täters ergibt.
Das Gerät kann die Gerüche von zehn verschiedenen Personen, die
sich in ein und demselben Raum befinden, auseinanderhalten, und
wenn jemand verschiedene Gerüche ausströmt, kann sie das
Olfaktoskop zeitlich einordnen. Es kann dreißig verschiedene
Zigarrenmarken unterscheiden, und den Geruch nach verbranntem
Toast erkennt es noch nach sechs Monaten.«
»Könnte nützlich sein«, sagte ich zweifelnd. »Und was ist das hier?«
Ich deutete auf ein Gebilde, das aussah wie ein mit
Weihnachtsschmuck behängter Messinghut.
»Ach ja«, sagte mein Onkel, »das gefällt dir bestimmt.«
Er stülpte mir den Messinghut über den Kopf und legte einen großen
Schalter um. Ein Summen erfüllte den Raum.
»Und jetzt?« fragte ich.
»Mach die Augen zu und atme tief durch. Versuch, an nichts zu
denken.«
Ich schloß die Augen und wartete geduldig.
»Funktioniert’s?« fragte Mycroft.
»Nein«, antwortete ich und rief: »Warte!«, als ich einen Stichling
vorbeischwimmen sah. »Da ist ein Fisch. Direkt vor meiner Nase.
Warte, da ist noch einer!« Nicht lange, und vor meinen geschlossenen
Augen schwamm ein ganzer Schwarm bunter Fische herum. Es war
eine Schleife; etwa alle fünf Sekunden sprangen die Fische zum
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Ausgangspunkt zurück und wiederholten ihre Bewegungen.
»Unglaublich!«
»Entspann dich, sonst verschwinden sie«, sagte Mycroft beruhigend.
»Versuch’s mal damit.«
Die Unterwasserszene verwandelte sich, fast zu schnell fürs bloße
Auge, in ein pechschwarzes Sternenfeld; es war, als flöge ich durchs
All.
»Oder damit«, sagte Mycroft und ließ eine Parade geflügelter
Toaster vorüberflattern. Ich schlug die Augen auf, und das Bild
verschwand. Mycrofts Blick war ernst.
»Gefällt’s dir?« fragte er.
Ich nickte.
»Ich nenne es den Netzhaut-Schoner. Sehr praktisch bei
langweiliger Arbeit; statt geistesabwesend aus dem Fenster zu starren,
kann man seine Umgebung in eine Landschaft aus beruhigenden
Bildern verwandeln. Sobald das Telefon klingelt oder der Chef
hereinkommt, braucht man nur zu blinzeln und – zack! – ist man
wieder im Hier und Jetzt.«
Ich gab ihm den Hut zurück.
»Wird bei SmileyBurger garantiert ein Renner. Wann geht das Ding
in Serie?«
»Ich weiß nicht genau; er hat noch die eine oder andere Macke.«
»Wie zum Beispiel?« fragte ich, hellhörig geworden.
»Mach die Augen zu und sieh selbst.«
Ich gehorchte, und ein Fisch schwamm vorbei. Beim nächsten
Blinzeln sah ich einen Toaster. Der Netzhaut-Schoner war eindeutig
noch nicht ausgereift.
»Keine Sorge«, versicherte er mir. »Das geht in ein paar Stunden
vorbei.«
»Das Olfaktoskop war mir lieber.«
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»Das Beste kommt noch!« sagte Mycroft und tänzelte zu einem
großen, mit Werkzeug und Maschinenteilen übersäten Arbeitstisch.
»Dieses Gerät ist meine wahrscheinlich sensationellste Entdeckung.
Es ist der einsame Höhepunkt meiner dreißigjährigen Arbeit und ein
biotechnologisches Wunderwerk. Wenn du erst dahinterkommst,
worum es geht, dann flippst du aus, das garantiere ich dir!«
Mit einer schwungvollen Bewegung zog er ein Geschirrhandtuch
von einem Goldfischglas, in dem sich Unmengen von
Fruchtfliegenlarven tummelten.
»Maden?«
Mycroft lächelte. »Von wegen Maden, mein liebes Kind.
Bücherwürmer sind das! «
Seine Stimme vibrierte so sehr vor Stolz und Zuversicht, daß ich
mich unwillkürlich fragte, ob mir womöglich etwas entgangen war.
»Ist das gut?«
»Sehr gut sogar, Thursday. Diese Würmer sehen zwar aus wie
leckeres Forellenfutter, aber jedes dieser kleinen Kerlchen ist
genetisch derart komplex, daß der Gencode deines Dodos dagegen wie
der Einkaufszettel von Polly aussieht!«
»Moment mal, Onkel«, wandte ich ein. »Haben sie dir nach der
Geschichte mit den Garnelen nicht die Splicense entzogen?«
»Ein kleines Mißverständnis«, sagte er mit einer wegwerfenden
Handbewegung. »Diese Idioten von SpecOps-13 haben ja keine
Ahnung von der Bedeutung meiner Arbeit.«
»Und worum geht es diesmal?« fragte ich pflichtschuldig.
»Um die Speicherung möglichst vieler Informationen auf kleinstem
Raum. Ich habe die besten Wörterbücher, Thesauri und Lexika sowie
Studien zur Grammatik, Morphologie und Etymologie der englischen
Sprache zusammengetragen und sie in die DNA dieser winzigen
Würmer integriert. Ich nenne sie HyperBücherwürmer. Du wirst mir
hoffentlich zustimmen, daß das ein bemerkenswerter Erfolg ist.«
»Natürlich. Aber wie zapfst du diese Informationen an?«
Mycroft machte ein betrübtes Gesicht.
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»Wie gesagt, ein bemerkenswerter Erfolg, mit einem winzigen
Nachteil. Aber die Sache hat sich quasi von selbst erledigt; einige
meiner Würmer konnten entkommen und paarten sich mit anderen, die
ich zuvor mit einem kompletten Satz enzyklopädischer, historischer
und biographischer Nachschlagewerke gefüttert hatte; das Resultat
war eine neue Art, die ich auf den Namen Hyper BücherwurmPlus
getauft habe. Diese Burschen sind die eigentlichen Stars in der Show.«
Er holte ein Blatt Papier aus einer Schublade, riß eine Ecke ab und
schrieb »bemerkenswert« auf den kleinen Fetzen.
»Nur um dir einen Eindruck davon zu vermitteln, was diese
Tierchen alles können.« Mit diesen Worten warf er den Zettel in das
Goldfischglas. Die Würmer ließen sich nicht zweimal bitten und
hatten sich im Nu um den Papierfetzen geschart. Doch statt ihn zu
fressen, wimmelten sie aufgeregt durcheinander und untersuchten den
Eindringling mit lebhaftem Interesse, wie es schien.
»Die Würmer bei mir in London mochten auch kein Papier …«
»Pssst!« zischte mein Onkel und winkte mich näher heran.
Verblüffend!
»Was denn?« fragte ich leicht verwirrt, doch als ich Mycrofts
Lächeln sah, wurde mir klar, daß nicht er gesprochen hatte.
Erstaunlich!
murmelte die Stimme leise. Unglaublich!
Überwältigend! Unbeschreiblich!
Ich starrte stirnrunzelnd auf die Würmer, die einen Ring um den
Papierfetzen gebildet hatten und sanft pulsierten.
Herrlich! murmelten die Bücherwürmer. Phantastisch!
Beeindruckend!
»Wie findest du sie?« fragte Mycroft.
»Thesaurusmaden – Onkel, du verblüffst mich immer wieder.«
Doch Mycroft war mit einem Mal todernst. »Das ist mehr als ein
bloßer Bio-Thesaurus, mein liebes Kind. Diese kleinen Kerlchen
haben Sachen drauf, die du kaum glauben wirst.«
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Er öffnete einen Schrank und holte ein großformatiges, in Leder
gebundenes Buch daraus hervor, auf dessen Rücken in Gold die
Buchstaben PP prangten. Der Band war reich verziert und mit
schweren Messingbändern gesichert. An der Oberseite befanden sich
allerlei Regler und Knöpfe, Hebel und Schalter. Es bot einen durchaus
beeindruckenden Anblick, aber Mycrofts Erfindungen waren
keineswegs immer so zuverlässig und nützlich, wie sie auf den ersten
Augenblick aussahen. Anfang der siebziger Jahre zum Beispiel hatte
er eine wunderschöne Maschine entwickelt, die nichts Aufregenderes
tat, als mit bestürzender Genauigkeit die Anzahl von Kernen in einer
ungeöffneten Orange vorherzusagen.
»Was ist das?«
»Das«, begann Mycroft strahlend und mit stolzgeschwellter Brust,
»ist ein …«
Doch er kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden. Denn genau in
diesem Augenblick rief Tante Polly vom Haus herüber:
»Abendessen!«, und Mycroft lief eilig zur Tür. Er murmelte halblaut
»Hoffentlich gibt’s Würstchen« und bat mich, beim Hinausgehen das
Licht auszumachen. Ich blieb allein in seiner leeren Werkstatt zurück.
Mycroft hatte sich wahrhaftig selbst übertroffen.
Traumhaft! pflichteten die Bücherwürmer bei. Das Abendessen ging
friedlich über die Bühne. Wir hatten vieles nachzuholen, meine Mutter
erzählte vom Hausfrauenbund. »Letztes Jahr haben wir fast
siebentausend Pfund für ChronoGarden-Waisen gesammelt«, sagte
sie.
»Sehr gut«, antwortete ich. »Für Spenden ist SpecOps immer
dankbar, obwohl man gerechterweise sagen muß, daß andere
Abteilungen weitaus schlechter dran sind als die ChronoGarde.«
»Ich weiß«, erwiderte meine Mutter, »aber daß das alles so geheim
ist. Was treiben die bloß alle?«
»Glaub mir, das weiß ich genausowenig wie du. Reichst du mir mal
den Fisch?«
»Welchen Fisch?« fragte meine Tante. »Du hast deine Nichte doch
nicht etwa als Versuchskaninchen mißbraucht, Crofty?«
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Mein Onkel tat, als habe er nichts gehört; ich blinzelte, und der
Fisch verschwand.
»Die einzige andere Abteilung unter SO-20, die ich kenne, ist SO6«, setzte Polly hinzu. »Das war der Staatsschutz. Und auch das
wissen wir nur, weil er sich seinerzeit so rührend um Mycroft
gekümmert hat.«
Sie knuffte ihn in die Rippen, doch er beachtete sie nicht; er kritzelte
ein Rezept für »gefundene Eier« auf eine Serviette.
»Ich glaube, in den Sechzigern verging nicht eine Woche, ohne daß
er von der einen oder anderen ausländischen Macht gekidnappt
worden wäre.« Polly seufzte wehmütig und dachte mit einem Anflug
von Nostalgie an die gute alte Zeit zurück.
»Manches muß aus ermittlungstaktischen Gründen geheimgehalten
werden«, plapperte ich wie ein Papagei. »Geheimhaltung ist unsere
schlagkräftigste Waffe.«
»Im Mole habe ich gelesen, daß SpecOps angeblich von
Geheimbünden unterwandert ist, besonders von Wombats«, murmelte
Mycroft und verstaute die fertige Gleichung in seiner Jackentasche.
»Stimmt das?«
Ich zuckte die Achseln. »Nicht mehr als anderswo, nehme ich an.
Ich habe noch nichts davon gemerkt, aber die Wombats interessieren
sich ohnehin nicht für Frauen.«
»Das ist doch ungerecht«, sagte Polly mißbilligend. »Natürlich bin
ich für Geheimbünde – je mehr, desto besser –, aber ich finde, sie
sollten allen offenstehen, Männern und Frauen.«
»Es reicht doch, wenn Männer Mitglied werden«, entgegnete ich.
»Wenigstens bleibt es der Hälfte der Bevölkerung auf diese Weise
erspart, sich zum Affen zu machen. Komisch, daß man dir noch keine
Mitgliedschaft angetragen hat, Onkel.«
Mycroft grunzte. »Damals in Oxford war ich eine Weile bei den
Wombats. Reine Zeitverschwendung. Und noch dazu reichlich albern;
der Beutel scheuerte furchtbar, und das ewige Genage machte meinem
Überbiß ziemlich zu schaffen.«
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Niemand sagte etwas.
»Major Phelps ist in der Stadt«, versuchte ich das Gespräch in
andere Bahnen zu lenken. »Ich habe ihn im Luftschiff getroffen. Er ist
jetzt Colonel, predigt aber immer noch denselben Quatsch.«
Einem ungeschriebenen Gesetz zufolge verlor zu Hause niemand
auch nur ein Wort über Anton oder die Krim. Folglich herrschte
eisiges Schweigen.
»Ach ja?« fragte meine Mutter betont emotionslos.
»Joffy leitet jetzt eine Gemeinde in Wanborough«, versuchte Polly
das Thema zu wechseln. »Er hat die erste GSG-Kirche in Wessex
eröffnet. Ich habe letzte Woche noch mit ihm gesprochen; er sagt, sie
erfreut sich regen Zuspruchs.«
Jofry war mein anderer Bruder. Schon in jungen Jahren religiös
geworden, hatte er mit allerlei Religionen herumexperimentiert und
sich schließlich für die GSG entschieden.
»GSG?« brummte Mycroft. »Was in drei Teufels Namen ist denn
das nun wieder?«
»Die Globale Standard-Gottheit«, erklärte Polly. »Eine Mischung
aus allen Religionen. Soll angeblich Religionskriege verhindern
helfen.«
Wieder grunzte Mycroft. »Religion ist nie der Grund, sondern
immer nur der Vorwand für einen Krieg. Bei welcher Temperatur
schmilzt Beryllium?«
»180,57 Grad Celsius«, antwortete Polly wie aus der Pistole
geschossen. »Ich glaube, Joffy leistet hervorragende Arbeit. Du mußt
ihn unbedingt mal anrufen, Thursday.«
»Mal sehen.« Joffy und ich hatten uns nie besonders nahegestanden.
Fünfzehn Jahre lang hatte er mich nur »du Pflaume« genannt und mir
einmal täglich auf den Hinterkopf geschlagen. Er hörte erst damit auf,
als ich ihm die Nase brach.
»Apropos anrufen, was hältst du davon, wenn du …«
»Mutter!«
- 114 -
»Wie man hört, ist er inzwischen recht erfolgreich, Thursday. Es
könnte dir gut tun, ihn wiederzusehen.«
»Das mit Landen und mir ist endgültig vorbei, Mutter. Außerdem
habe ich einen Freund.«
Das hörte meine Mutter ausgesprochen gern. Es hatte ihr
beträchtlichen Kummer bereitet, daß ich mich nicht mit
geschwollenen Knöcheln, Hämorrhoiden und Rückenschmerzen
herumquälte, am laufenden Band Enkel produzierte und sie nach
obskuren Verwandten benannte. Da Joffy nicht der Typ war, der
Kinder in die Welt setzte, ruhten alle Hoffnungen auf mir. Ehrlich
gesagt, hatte ich gar nichts gegen Kinder, solange ich sie nicht selbst
kriegen mußte. Und Landen war der letzte Mann gewesen, der für
mich als Lebensgefährte auch nur ansatzweise in Frage kam.
»Einen Freund? Wie heißt er?«
Ich nahm den erstbesten Namen, der mir in den Sinn kam.
»Snood. Filbert Snood.«
»Schöner Name.« Mutter lächelte.
»Blöder Name«, murrte Mycroft. »Genau wie Landen Parke-Laine,
wenn du mich fragst. Darf ich aufstehen? Jetzt kommt Für alle Fälle
Spratt.«
Polly und Mycroft standen auf und ließen uns allein. Die Namen
Landen und Anton fielen nicht noch einmal. Meine Mutter bot mir
mein altes Zimmer an. Ich lehnte dankend ab. Wir hatten uns
schrecklich gestritten, als ich noch zu Hause gewohnt hatte.
Außerdem war ich fast sechsunddreißig. Ich trank meinen Kaffee aus
und ließ mich von meiner Mutter zur Haustür bringen.
»Sag mir Bescheid, wenn du es dir anders überlegst, Schätzchen«,
sagte sie. »Dein Zimmer ist noch genau wie früher.«
Wenn das stimmte, waren die Wände noch immer mit den
grauenhaften Postern meiner Teenageridole gepflastert. Schon bei
dem Gedanken wurde mir ganz anders.
- 115 -
10.
Hotel Finis, Swindon
Die Miltons waren die mit Abstand glühendsten DichterVerehrer. Ein Blick ins Londoner Telefonbuch ergab gut
viertausend John Miltons, zweitausend William Blakes,
ein knappes Tausend Samuel Coleridges, fünfhundert
Shelleys, dieselbe Anzahl von Wordsworths und Keats’
sowie eine Handvoll Drydens. Diese Flut von
Namensänderungen führte zwangsläufig zu Problemen
bei der Strafverfolgung. Nach einem Zwischenfall in
einem Pub, bei dem sowohl der Angreifer, das Opfer, der
Zeuge, der Wirt, der festnehmende Polizeibeamte als
auch der Richter Alfred Tennyson hießen, war ein Gesetz
verabschiedet worden, das sämtliche Namensvettern und
-schwestern verpflichtete, sich eine Kennnummer hinters
Ohr tätowieren zu lassen. Wie so viele praktische
polizeiliche Maßnahmen stieß es auf wenig Gegenliebe.