THURSDAY NEXT

- Ein Leben für SpecOps

Die Antwort ließ nicht auf sich warten. Als ich aufs Revier

zurückkam, lag ein Brief auf meinem Schreibtisch. Vielleicht von

Landen? Fehlanzeige. Auf dem Umschlag klebte keine Marke, und er

war vormittags gekommen. Niemand wußte, wer ihn abgegeben hatte.

Sofort nachdem ich es gelesen hatte, rief ich Victor und legte das

Blatt Papier auf meinen Schreibtisch, damit ich es möglichst nicht

anzufassen brauchte. Victor setzte seine Brille auf und las den Brief

laut vor.

Liebe Thursday,

als ich hörte, daß Du Dich hast versetzen lassen, glaubte ich

zunächst an eine göttliche Fügung. Vielleicht können wir unsere

Differenzen jetzt beilegen. Mr. Quaverley war nur der Anfang. Als

nächstes muß Martin Chuzzlewit persönlich dran glauben, es sei

denn, ich bekomme 10 Millionen Pfund in gebrauchten Scheinen,

einen Gainsborough, vorzugsweise den Knaben in Blau, und eine

Inszenierung von Macbeth am Old Vic (Spielzeit: acht Wochen) für

meinen Freund Thomas Hobbes. Außerdem möchte ich, daß Ihr

eine Autobahnraststätte nach der Mutter eines meiner Mitarbeiter

auf den Namen »Leigh Delamare« tauft. Signalisiert Euer

- 224 -

Einverständnis durch eine Kleinanzeige in der Mittwochsausgabe

des Swindon Globe, in der Ihr Angorakaninchen zum Verkauf

anbietet. Dann erhaltet Ihr weitere Instruktionen.

Victor sank auf einen Stuhl. »Die Unterschrift stammt von Acheron

selbst! Stellen Sie sich vor: Martin Chuzzlewit ohne Chuzzlewit!« rief

er. »Das Buch wäre nach einem halben Kapitel zu Ende. Können Sie

sich einen Roman vorstellen, in dem die Charaktere tatenlos

herumsitzen und auf das Eintreffen der Hauptfigur warten. Das wäre

wie Hamlet ohne den Prinzen!«

»Und was machen wir jetzt?« fragte Bowden.

»Wenn Sie nicht gerade einen Gainsborough und zehn Millionen in

kleinen Scheinen übrig haben, gehen wir damit zu Braxton.«

Als wir hereinkamen, war Jack Schitt schon im Büro des Commanders

und machte auch keine Anstalten hinauszugehen, als wir Hicks

mitteilten, daß es wichtig sei.

»Was gibt’s denn?« fragte der Commander mit einem Blick zu

Schitt, der auf dem Teppich Einlochen übte.

»Hades lebt«, erklärte ich ihm und sah zu Jack Schitt, der eine

Augenbraue hochzog.

»Um Himmels willen!« stieß Schitt mit gespieltem Entsetzen

hervor. »Ja, ist es denn die Möglichkeit?«

Wir ignorierten ihn.

»Lesen Sie das«, sagte Victor und gab Hicks den Brief in einer

Klarsichthülle. Der Commander überflog ihn und reichte ihn dann an

Schitt weiter.

»Geben Sie die Annonce auf, Officer Next«, sagte Hicks von oben

herab. »Sie haben Acheron anscheinend so beeindruckt, daß er Ihnen

vertraut. Ich werde mit meinen Vorgesetzten über seine Forderungen

sprechen, und Sie geben mir Bescheid, wenn er sich wieder meldet.«

- 225 -

Er stand auf, um anzudeuten, daß das Gespräch damit für ihn

beendet sei, doch ich blieb sitzen. »Was geht hier vor, Sir?«

»Streng geheim, Next. Es wäre uns lieb, wenn Sie die Übergabe für

uns übernehmen könnten, aber alles Weitere werden Sie wohl oder

übel anderen überlassen müssen. Mr. Schitt verfügt über eine gut

ausgebildete Spezialeinheit, die sich um die Ergreifung von Acheron

kümmern wird. Guten Tag.«

Ich stand noch immer nicht auf. »Sie werden mir schon noch ein

wenig mehr verraten müssen, Sir. Es geht schließlich unter anderem

um meinen Onkel, und wenn ich mitspielen soll, möchte ich wissen,

was vorgeht.«

Die Augen des Commanders verengten sich zu schmalen Schlitzen.

»Ich fürchte …«

»Was soll’s«, fuhr Schitt dazwischen. »Sagen Sie’s ihr doch,

Braxton.« Er hob den Schläger und peilte den Ball an.

Hicks warf Schitt einen wütenden Blick zu. »Das überlasse ich

lieber Ihnen«, sagte er. »Schließlich sind Sie der Boss.«

Schitt lochte achselzuckend ein. Der Golfball traf sein Ziel, und

Schitt lächelte. »In den vergangenen hundert Jahren sind die Grenzen

zwischen Fiktion und Wirklichkeit aus unbekannten Gründen

zunehmend durchlässiger geworden. Wir wissen …« – an dieser Stelle

warf er Victor einen spöttischen Blick zu – »… daß unser Mr.

Analogy hier dieses Phänomen seit einiger Zeit heimlich erforscht,

und wir wissen von Mr. Glubb und anderen, die in Büchern

verschwunden sind. Da keine dieser Figuren je wieder auftauchte,

nahmen wir an, daß es kein Zurück gibt. Christopher Sly hat uns da

eines Besseren belehrt.«

»Dann haben Sie ihn?« fragte Victor, dem es offenbar peinlich war,

daß Schitt und Hicks von seinen Überlegungen wußten.

»Nein; er ist wieder in seinem Stück, in Der Widerspenstigen

Zähmung. Und zwar mehr oder weniger auf eigenen Wunsch, nur war

er dabei leider so betrunken, daß er nicht in der Folio-Ausgabe

gelandet ist, sondern in einer ziemlich fragwürdigen Fassung aus den

- 226 -

Bad Quartes. Obwohl er streng bewacht wurde, war er eines Tages

wie vom Erdboden verschluckt.«

Er machte eine Kunstpause und polierte den Golfschläger mit einem

großen, rotgepunkteten Taschentuch.

»Die Abteilung Spezialwaffen der Goliath Corporation arbeitet seit

geraumer Zeit an einer Maschine, die uns Zugang zu literarischen

Werken verschaffen soll. Doch trotz dreißig Jahren intensiver

Forschung, von dem immensen Kapitalaufwand zu schweigen, ist uns

nichts weiter gelungen, als aus den Bänden eins bis acht der Großen

Käse-Enzyklopädie einen minderwertigen Cheddar zu synthetisieren.

Wir wußten, daß Hades daran interessiert war, außerdem kursierten

Gerüchte über heimliche Experimente hier in England. Als das

Chuzzlewit-Manuskript verschwand und wir dahinterkamen, daß der

Diebstahl auf Acherons Konto ging, wußte ich, daß wir auf dem

richtigen Weg sind. Die Entführung Ihres Onkels war ein Indiz dafür,

daß er die Maschine perfektioniert hatte, die Extraktion Quaverleys

der endgültige Beweis. Wir werden Hades kriegen, auch wenn wir in

erster Linie hinter der Maschine her sind.«

»Sie scheinen zu vergessen«, sagte ich langsam, »daß Ihnen die

Maschine nicht gehört. Wie ich meinen Onkel kenne, wird er seine

Erfindung eher zerstören, als sie dem Militär zu überlassen.«

»Wir sind bestens über Mycroft informiert, Miss Next. Er wird

einsehen müssen, daß jemand, der außerstande ist, das eigentliche

Potential seiner Maschine zu erkennen, einen solchen Quantensprung

im wissenschaftlichen Denken auf keinen Fall für sich behalten darf.

Seine Erfindung gehört dem Staat.«

»Das ist ein Irrtum«, beharrte ich, stand auf und wandte mich zum

Gehen. »Ein fataler Irrtum. Mycroft wird jede Maschine, die seiner

Ansicht nach verheerendes militärisches Potential besitzt, sofort

zerstören. Wenn sich alle Wissenschaftler doch nur endlich

entschließen würden, sich über die Auswirkungen ihrer Entdeckungen

Gedanken zu machen! Dann wären wir alle auf diesem Planeten sehr

viel sicherer.«

Schitt klatschte höhnischen Beifall. »Schöne Rede, Miss Next. Aber

mich verschonen Sie bitte mit Ihren Moralpredigten. Wenn Sie weiter

- 227 -

Ihren Kühlschrank, Ihre Gefriertruhe, Ihr Auto, ein schönes Haus,

asphaltierte Straßen und ein funktionierendes Gesundheitssystem

haben wollen, dann bedanken Sie sich bei der Rüstungsindustrie, bei

der Kriegswirtschaft und bei Goliath. Der Krimkrieg ist gut, Thursday

– gut für England und vor allem gut für die Wirtschaft. Sie mögen die

Rüstungsindustrie vielleicht nicht, aber ohne sie wären wir ein

zehntklassiges Land, das größte Mühe hätte, einen Lebensstandard

aufrechtzuerhalten, der auch nur annähernd dem unserer europäischen

Nachbarn entspricht.«

»Wenigstens hätten wir dann ein reines Gewissen.«

»Naiv, Next, sehr naiv.«

Schitt widmete sich aufs neue dem Golfspiel, und jetzt übernahm

der Commander wieder die Führung. »Officer Next«, sagte er. »Wir

haben der Goliath Corporation in dieser Angelegenheit unsere

größtmögliche Unterstützung zugesagt. Sie müssen uns helfen, Hades

zu fassen. Sie kennen ihn doch aus Ihrer Studienzeit, und dieser Brief

ist ausdrücklich an Sie gerichtet. Wir werden auf seine Forderungen

eingehen und eine Übergabe vereinbaren. Anschließend werden wir

ihn verfolgen und festnehmen. Ein Kinderspiel. Goliath kriegt das

ProsaPortal, wir kriegen das Manuskript, Ihr Onkel und Ihre Tante

sind frei, und SpecOps kriegt Hades. Jeder bekommt etwas, und alle

sind zufrieden. Vorerst jedoch lassen wir uns nicht verrückt machen

und warten auf weitere Anweisungen zwecks Übergabe des

Lösegeldes.«

»Ich weiß genausogut wie Sie, daß man Erpressern niemals

nachgibt, Sir. So leicht läßt sich Hades nicht hinters Licht führen.«

»Keine Sorge«, entgegnete Hicks. »Wir geben ihm das Geld und

schnappen ihn uns, bevor er entwischen kann. Ich setze größtes

Vertrauen in Schitts Leute.«

»Mit Verlaub, Sir, aber Acheron ist weitaus raffinierter und

skrupelloser, als Sie denken. Wir sollten das allein erledigen. Schitts

Profikiller, die wild durch die Gegend ballern, wären dabei nur im

Wege.«

- 228 -

»Abgelehnt, Next. Entweder Sie tun, was ich sage, oder Sie tun gar

nichts. Das war’s.«

Komischerweise blieb ich vollkommen ruhig. Es war alles wie immer

– Goliath ließ sich nie auf Kompromisse ein. Und weil alles wie

immer war, gab es auch keinen Grund, sich aufzuregen. Wir mußten

uns mit dem begnügen, was wir hatten.

Als wir wieder im Büro waren, wählte ich noch einmal Landens

Nummer. Diesmal kam eine Frau an den Apparat; ich fragte nach ihm.

»Er schläft«, sagte sie knapp.

»Könnten Sie ihn vielleicht wecken?« fragte ich. »Es ist ziemlich

wichtig.«

»Nein, kann ich nicht. Wer sind Sie überhaupt?«

»Mein Name ist Thursday Next.«

Die Frau gab ein boshaftes Kichern von sich, das mir gar nicht

gefiel.

»Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Thursday«, sagte sie

höhnisch.

»Wer sind denn Sie?«

»Daisy Mutlar, Schätzchen, Landys Verlobte

Ich lehnte mich langsam zurück und schloß die Augen. Das konnte

unmöglich wahr sein. Kein Wunder, daß Landen so sehr daran

gelegen war, daß ich ihm verzieh.

»Na, Schätzchen, Sie haben’s sich doch nicht etwa anders

überlegt?« fragte Daisy spöttisch. »Landen ist ein wunderbarer Mann.

Er hat fast zehn Jahre auf Sie gewartet, aber jetzt ist er leiderleider in

mich verliebt. Wenn Sie Glück haben, schicken wir Ihnen vielleicht

ein Stück Torte, und wenn Sie uns ein Geschenk schicken wollen, die

Hochzeitsliste liegt bei Camp Hopson aus.«

Ich hatte einen dicken Kloß im Hals.

»Wann ist denn der große Tag?«

- 229 -

»Für Sie oder für mich?« Daisy lachte. »Für Sie … wer weiß? Was

mich angeht, werden mein Landy-Schatz und ich Samstag in vierzehn

Tagen zu Mr. und Mrs. Parke-Laine erklärt.«

»Lassen Sie mich mit ihm sprechen«, verlangte ich mit erhobener

Stimme.

» Vielleicht sage ich ihm, daß Sie angerufen haben, wenn er wach

wird.«

»Ist es Ihnen lieber, wenn ich vorbeikomme und Ihnen die Tür

eintrete?« fragte ich, noch lauter werdend. Bowden sah mit

hochgezogenen Augenbrauen zu mir herüber.

»Jetzt paß mal auf, du blöde Kuh«, sagte Daisy mit gedämpfter

Stimme, damit es Landen nicht hörte, »du hättest Landen heiraten

können, und du hast es vermasselt. Schluß, Aus, Ende. Warum suchst

du dir nicht irgendeinen verkommenen LitAg oder so jemand – ihr

Typen von SpecOps seid doch sowieso alle pervers.«

»Hör zu, du …«

»Nein«, schnauzte Daisy. » Du hörst mir zu. Ich warne dich. Wenn

du dich meinem Glück in den Weg stellst, dann dreh ich dir den Hals

um!«

Plötzlich war die Leitung tot. Wortlos legte ich den Hörer auf und

nahm meine Jacke von der Stuhllehne.

»Wo wollen Sie denn hin?« fragte Bowden.

»Auf den Schießstand«, sagte ich, »und das kann dauern.«

- 230 -

22.

Däumchen drehen

Jedesmal wenn ein Felix starb, rief das bei Acheron

schmerzliche Erinnerungen an den Verlust des ersten

Felix hervor. Es war ein harter Schlag gewesen – nicht

nur weil er einen getreuen Freund und Komplizen

eingebüßt hatte, sondern weil ihn die befremdlichen

Gefühle, die dabei auftraten, an seine halb menschliche

Herkunft erinnerten, und das war ihm zutiefst zuwider.

Wie Hades war auch Felix durch und durch verdorben

und unmoralisch gewesen. Zu seinem Leidwesen

verfügte Felix aber nicht über Hades’ dämonische

Fähigkeiten und erlitt an jenem schicksalhaften Tag des

Jahres 1975, als er und Hades die Goliath-Bank in

Hartlepool ausrauben wollten, einen tödlichen

Bauchschuß. Felix fügte sich mit stoischer Gelassenheit

in sein Los und ermahnte seinen Freund, er solle ja »am

Ball bleiben«, bevor ihn Hades von seinen Qualen

erlöste. Zum Andenken entfernte Hades das Gesicht

seines Freundes und verließ damit den Tatort. Seither

genoß jeder Diener, den er der Bevölkerung entnahm, die

zweifelhafte Ehre, nicht nur den Namen seines einzigen

Freundes, sondern auch dessen Antlitz zu tragen.

MILLON DE FLOSS

- Die vielen Leben des Felix Tabularasa

Bowden setzte die Annonce in den Swindon Globe. Zwei Tage

später trafen wir uns in Victors Büro zu einer Lagebesprechung.

»Bei uns sind zweiundsiebzig Anrufe eingegangen«, verkündete

Victor. »Leider alles Anfragen wegen der Kaninchen.«

»Der Preis ist aber auch wirklich ziemlich niedrig«, frotzelte ich.

- 231 -

»Ich bin eben nicht allzu bewandert, was Kaninchen angeht«, sagte

Bowden beleidigt. »Ich fand den Preis völlig angemessen.«

»Streitet euch nicht.« Victor legte eine Akte auf den Tisch. »Die

Polizei hat den Kerl, den ihr in Sturmey Archers Werkstatt erschossen

habt, doch noch identifizieren können. Er hatte keine Fingerabdrücke,

und was sein Gesicht betrifft, lagen Sie mit Ihrer Vermutung

goldrichtig, Thursday – es war nicht sein eigenes.«

»Und wer war er?«

Victor klappte die Akte auf. »Ein Buchhalter aus Newbury namens

Adrian Smarts. Er ist vor zwei Jahren spurlos verschwunden. Keine

Vorstrafen, nicht mal ein Strafmandat wegen zu schnellen Fahrens.

Netter Kerl. Familienvater, Kirchgänger und engagiertes

Gemeindemitglied.«

»Hades hat ihm seinen Willen gestohlen«, murmelte ich. »Die

reinsten Seelen lassen sich am leichtesten mißbrauchen. Als wir ihn

erschossen haben, war von Smarts nicht mehr viel übrig. Was ist mit

dem Gesicht?«

»Daran arbeiten wir noch. Die Identifizierung könnte sich als

weitaus schwieriger erweisen. Laut kriminaltechnischer Untersuchung

war Smarts nicht der einzige, der dieses Gesicht getragen hat.«

Ich schrak zusammen.

»Und er muß noch lange nicht der letzte gewesen sein.«

Victor erriet meine Gedanken, griff zum Telefon und wählte Hicks’

Nummer. Binnen zwanzig Minuten hatte ein SO-14-Kommando das

Bestattungsunternehmen umstellt, wo Smarts’ Leichnam seiner

Familie übergeben worden war. Doch die Kollegen kamen zu spät.

Das Gesicht, das Smarts zwei Jahre lang getragen hatte, war schon

verschwunden, und die Überwachungskameras hatten, wie zu

erwarten war, nichts aufgezeichnet.

Die Nachricht von Landens bevorstehender Hochzeit hatte mich

ziemlich getroffen. Später fand ich heraus, daß er Daisy Mutlar ein

gutes Jahr zuvor bei einer Signierstunde kennengelernt hatte. Sie war

- 232 -

allem Anschein nach sexy und hübsch, aber mit Sicherheit etwas

übergewichtig. Und ein großes Licht war sie wohl auch nicht,

zumindest redete ich mir das ein. Landen hatte sich immer schon eine

Familie gewünscht, und die hatte er natürlich auch verdient.

Um meine Enttäuschung zu überwinden, reagierte ich neuerdings

sogar positiv auf Bowdens schüchterne Versuche, mich zum Essen

einzuladen. Doch außer einem gewissen Interesse an der Frage, wer

denn nun wirklich hinter Shakespeares Stücken steckte, hatten wir

nicht viel gemeinsam. Auch jetzt saß er wieder an seinem Schreibtisch

und starrte auf ein Stück Papier mit einer umstrittenen Unterschrift.

Das Papier war echt, die Tinte auch. Der Namenszug aber nicht.

Vielleicht mußte ich ihn ein bißchen ermutigen?

»Äh«, sagte ich, »warum erzählen Sie mir nicht ein bißchen von

Edward De Vere, dem Earl of Oxford?«

Bowden stierte eine Weile nachdenklich vor sich hin.

»Der Earl of Oxford war Schriftsteller, soviel steht fest. Meres, ein

Kritiker und Zeitgenosse De Veres, erwähnt ihn in seiner Palladis

Tamia von 1598.«

»Könnte er die Stücke geschrieben haben?« fragte ich.

»Er könnte durchaus«, antwortete Bowden. »Das Dumme ist nur,

daß Meres auch zahlreiche Shakespeare-Stücke aufzählt und

ausdrücklich Shakespeare zuschreibt. Womit Oxford, wie Derby oder

Bacon, in die Kategorie der Strohmann-Theorie fällt, derzufolge Will

als Fassade für andere herhalten mußte.«

»Ist das denn so abwegig?«

»Vermutlich nicht. Die Weiße Königin glaubte schon vor dem

Frühstück jede Menge unmögliche Dinge, und das hat ihr auch nicht

geschadet. Die Strohmann-Theorie klingt durchaus plausibel, aber es

spricht noch einiges mehr dafür, daß Oxford hinter Shakespeare

steckt.«

Wir schwiegen. Manche Leute nahmen die Frage nach der

Urheberschaft der Stücke äußerst ernst, und viele kluge Köpfe hatten

sich ein Leben lang damit beschäftigt.

- 233 -

»Die Theorie besagt, daß Oxford und eine Gruppe von Höflingen

am Hofe Königin Elizabeths einzig zu dem Zweck in Diensten

standen, staatstragende Stücke zu verfassen. Und da scheint

tatsächlich etwas dran zu sein.«

Er schlug ein Buch auf und las eine unterstrichene Stelle. »Ein

Collegium höfischer Poeten, lauter Adels-und Edelleute, welche

ausdermaßen trefflich zu schreiben vermögen, wie es sich wohl

erzeigte, würde ihr Treiben offenbart und kundgetan, dem zuvorsteht

ein Edelmann, der Earl of Oxford.«

Er klappte das Buch wieder zu.

»Puttenham 1598. Oxford erhielt eine jährliche Zuwendung in Höhe

von tausend Pfund, auch wenn sich heute leider nicht mehr

nachvollziehen läßt, ob dieses Geld nun für die eigentliche Abfassung

der Stücke oder vielleicht doch für ein ganz anderes Projekt bestimmt

war. Es gibt keinen gesicherten Beleg dafür, daß er die Stücke

tatsächlich geschrieben hat. Zwar sind ein paar an Shakespeare

erinnernde Gedichtzeilen überliefert, aber ein schlüssiger Beweis ist

das natürlich nicht; gleiches gilt im übrigen für den

speerschwingenden Löwen auf dem Oxforder Wappen.«

»Und er ist 1604 gestorben«, sagte ich.

»Das kommt erschwerend hinzu. Die Strohmann-Theorien hauen

einfach nicht hin. Wenn Sie mich fragen, war Shakespeare mit

Sicherheit alles andere als ein Adliger, der unbedingt anonym bleiben

wollte. Wenn die Stücke wirklich nicht von ihm stammen, würde ich

einen anderen elisabethanischen Bürgerlichen ins Visier nehmen,

einen Mann von bemerkenswertem Verstand, der nicht nur Kühnheit,

sondern auch Charisma besaß.«

»Kit Marlowe?« fragte ich.

»Sie haben es erfaßt.«

An dieser Stelle knallte Victor den Hörer seines Telefons auf die

Gabel und rief uns zu sich ans andere Ende des Büros.

»Das war Schitt; Hades hat sich gemeldet. Wir sollen in einer halben

Stunde in Hicks’ Büro sein.«

- 234 -

23.

Die Übergabe

Ich hatte noch nie einen Koffer mit 10 Millionen Pfund in

der Hand gehabt. Und das hatte ich auch damals nicht.

Denn in seiner ungeheuren Arroganz war Jack Schitt

davon ausgegangen, daß er Hades würde festnehmen

können, ehe der überhaupt dazu kam, einen Blick auf das

Geld zu werfen. Was für ein Trottel! Die Farbe des

Gainsborough war noch nicht trocken, und die English

Shakespeare Company spielte nicht mit. Die einzige

erfüllte Forderung Acherons war die Umbenennung der

Autobahnraststätte. Kingston St. Michael hieß ab sofort

Leigh Delamare.

THURSDAY NEXT

- Ein Leben für SpecOps

Braxton Hicks setzte uns den Plan in groben Zügen auseinander –

noch eine Stunde bis zur Übergabe. Auf diese Weise wollte Jack

Schitt von vornherein verhindern, daß wir eigene Pläne verfolgten.

Dies war in jeder Hinsicht eine Goliath-Operation – Victor, Bowden

und ich sollten der Sache lediglich die nötige Glaubwürdigkeit

verleihen, nur für den Fall, daß uns Hades beobachtete. Die Übergabe

sollte bei einer alten Eisenbahnbrücke stattfinden. Die einzigen

Zufahrtswege waren zwei Straßen sowie die stillgelegte Bahnstrecke,

die sich jedoch nur mit einem Geländewagen befahren ließ. GoliathLeute sollten beide Straßen und die Trasse kontrollieren. Sie hatten

den Befehl, Hades zwar herein-, aber nicht wieder hinauszulassen.

Eigentlich ganz einfach – zumindestens theoretisch.

Die Fahrt zu der stillgelegten Bahnstrecke verlief ohne

Zwischenfälle, obwohl der gefälschte Gainsborough in dem kleinen

Porsche mehr Platz wegnahm, als ich gedacht hätte. Schitts Leute

- 235 -

waren gut getarnt; auf dem Weg zu der einsam in der Landschaft

liegenden Brücke begegneten Bowden und ich keiner Menschenseele.

Obwohl die Brücke schon seit langem außer Betrieb war, befand sie

sich in ziemlich gutem Zustand. Ich parkte den Wagen etwa zwanzig

Meter entfernt und ging das letzte Stück des Weges zu Fuß. Es war ein

schöner Tag, und kaum ein Laut war zu hören. Ich kletterte die

Böschung hinauf, sah jedoch nichts von Belang, nur das breite

Schotterbett, leicht aufgewühlt, wo man die Schwellen herausgerissen

hatte. Zwischen den Steinen wucherte Unkraut, und neben dem Gleis

stand ein altes Stellwerk, wo ich die obere Hälfte eines Periskops zu

erkennen glaubte, durch das mich jemand zu beobachten schien. Ich

nahm an, es handele sich um einen von Schitts Leuten, und warf einen

Blick auf meine Armbanduhr. Es war soweit.

Das gedämpfte Piepen eines Funkgeräts ließ mich aufhorchen. Ich

legte den Kopf schief und versuchte es zu orten.

»Ich höre ein Funkgerät piepen«, sprach ich in mein Walkie-talkie.

»Keins von unseren«, kam Schitts Antwort aus der Einsatzzentrale

in einem verlassenen Farmhaus eine Viertelmeile entfernt.

Das Funkgerät steckte in einer Plastiktüte und hing halb versteckt in

den Zweigen einer kleinen Birke am Rande des Bahndamms. Es war

Hades, und die Verbindung war schlecht – es klang, als säße er in

einem Auto.

»Thursday?«

»Hier.«

»Allein?«

»Ja.«

»Wie geht’s dir? Es tut mir leid, aber mir blieb leider nichts anderes

übrig. Du weißt ja, wie verzweifelt wir Psychopathen manchmal

sind.«

»Wie geht es meinem Onkel?«

»Bestens, meine Liebe. Er fühlt sich pudelwohl; ein wahrer

Geistesriese, aber leiderleider etwas zerstreut. Mit seinem Verstand

- 236 -

und meiner Energie könnte ich die Welt regieren, statt mich mit

banalen Kleinigkeiten wie Erpressung abgeben zu müssen.«

»Es zwingt Sie niemand«, sagte ich. Hades ignorierte meinen

Einwurf und fuhr fort:

»Spiel nicht die Heldin, Thursday. Wie du dir sicherlich denken

kannst, befindet sich das Chuzzlewit- Manuskript in meinem Besitz,

und ich schrecke nicht davor zurück, es zu zerstören.«

»Wo sind Sie?«

»Na, na, Thursday, was meinst du, mit wem du es zu tun hast? Über

die Freilassung deines Onkels unterhalten wir uns, sobald ich mein

Geld habe. Auf der Brüstung in der Mitte der Brücke findest du einen

Karabinerhaken an einem Stück Draht. Stell das Geld und den

Gainsborough auf die Brüstung und mach beides daran fest. Wenn du

soweit bist, komme ich die Sachen holen. Bis zum nächsten Mal, Miss

Thursday Next!«

Ich gab der Einsatzzentrale durch, was er gesagt hatte. Sie befahlen

mir, die Anweisungen genau zu befolgen.

Also stellte ich die Tasche mit dem Geld und den Gainsborough auf

die Brüstung und machte beides an dem Karabinerhaken fest. Dann

ging ich zum Wagen zurück, setzte mich auf die Motorhaube und ließ

Hades’ Beute nicht aus den Augen. Sowohl die Tasche als auch das

Gemälde waren von unten ausgezeichnet zu sehen. Erst vergingen

zehn Minuten, dann eine halbe Stunde. Ich fragte Victor; er riet mir,

mich nicht von der Stelle zu rühren.

Die Sonne wurde heißer, und die Fliegen summten fröhlich um die

Hecken. Ich roch den schwachen Duft von frischgemähtem Heu und

hörte in der Ferne das leise Brummen des Verkehrs. Es sah so aus, als

wolle Acheron uns auf die Probe stellen, was bei so heiklen Aktionen

wie Lösegeldübergaben durchaus nicht ungewöhnlich war. Bei der

Entführung des Staatsdichters Nr. 1 vor fünf Jahren hatte das Lösegeld

erst beim neunten Versuch übergeben werden können. Schließlich war

der SD1 unversehrt wieder aufgetaucht; wie sich herausstellte, hatte er

- 237 -

die ganze Sache selbst inszeniert, um den schleppenden Absatz seiner

Autobiographie anzukurbeln.

Ich begann mich zu langweilen und kletterte, Schitts Befehl

mißachtend, erneut auf die Brücke. Ich untersuchte den

Karabinerhaken und entdeckte ein dünnes, hochfestes Drahtseil. Als

ich vorsichtig daran zog, stellte ich fest, daß es an einem elastischen

Bungeeseil befestigt war, das wie eine Schlange im trockenen Gras

lag. Gespannt verfolgte ich das Bungee bis zu einem weiteren dünnen

Drahtseil, das mit Isolierband etwa drei Meter über meinem Kopf

zwischen zwei Telegrafenmasten gespannt war.

Ich runzelte die Stirn, als ich das tiefe Grollen eines Motors hörte,

und fuhr unwillkürlich herum. Obwohl ich nichts sehen konnte, kam

das Motorengeräusch eindeutig auf mich zu, und zwar ziemlich

schnell. Ich blickte das Schotterbett der alten Bahntrasse entlang, wo

ich einen Geländewagen vermutete, aber es war nichts zu sehen. Der

nahende Motorenlärm wurde immer lauter, bis plötzlich hinter einer

Hecke ein Leichtflugzeug auftauchte, das sich offenbar im Tiefflug

genähert hatte, um nicht entdeckt zu werden.

»Ein Flugzeug!« schrie ich in mein Walkie-talkie. »Die haben ein

Flugzeug!«

Da fielen auch schon die ersten Schüsse. Es war unmöglich

auszumachen, wer das Feuer eröffnete oder woher es kam, doch im

Nu zerfetzte das trockene, ungezielte Knattern von Handfeuerwaffen

und Gewehren die ländliche Stille. Ich ging instinktiv in Deckung;

mehrere Kugeln trafen die Brüstung, und roter Ziegelstaub regnete auf

mich herab. Ich zog meine Automatik und entsicherte sie, als das

Flugzeug über die Brücke flog. Es war ein Aufklärungshochdecker

derselben Bauart, die auf der Krim feindliche Artilleriestellungen

ausspähten; die Seitentür war ausgehängt, und in der Öffnung, mit

einem Fuß auf der Flügelstrebe, saß Acheron. Er hatte ein leichtes

Maschinengewehr im Anschlag und ballerte damit munter auf alles,

was sich bewegte. Er durchlöcherte das verfallene Stellwerk, und der

Goliath-Mann erwiderte das Feuer ebenso heftig; die Kugeln rissen

erste Löcher in die Bespannung der Maschine. Hinter ihr schwang ein

Haken im Flugwind. Als sie über mich hinwegflog, verfing sich der

Haken in dem zwischen den Masten gespannten Drahtseil und riß

- 238 -

Geldtasche und Gainsborough mit sich, wobei das Bungee

offensichtlich den Ruck mildern sollte.

Ich sprang auf und feuerte auf die davonfliegende Maschine, doch

die drehte steil ab und verschwand hinter dem Bahndamm; Geldtasche

und Gainsborough baumelten gefährlich am Seilende. Da wir sie –

und damit vielleicht die letzte Chance, Hades zu ergreifen – auf

keinen Fall verlieren durften, stürzte ich mich die Böschung hinunter,

rannte zum Wagen und setzte, eine Wolke aus Staub und

Kieselsteinen aufschleudernd, zurück. Mit einer Hand klammerte sich

Bowden fest, mit der anderen griff er nach dem Sicherheitsgurt.

Aber das Flugzeug war mit uns noch nicht fertig. Um mehr Fahrt zu

bekommen, ging die kleine Maschine in einen flachen Sinkflug und

beschrieb dann eine fast senkrechte Linkskurve. Die Spitze des

Backbordflügels streifte fast die Krone einer hohen Buche, als der

Pilot wendete. Ein mit Goliath-Leuten besetzter Studebaker, der die

Verfolgung aufgenommen hatte, mußte eine Vollbremsung hinlegen,

als der Flieger direkt auf sie zugerast kam; der Pilot drückte das linke

Ruder herunter, damit Acheron sein Ziel besser ins Visier nehmen

konnte. Nicht lange, und der schwarze Wagen landete, von Kugeln

durchsiebt, im Graben. Ich stieg auf die Bremse, als sich ein zweiter

Studebaker vor mich setzte. Auch er wurde von Acheron mit Blei

gespickt und krachte in eine flache Mauer kurz vor der Brücke. Das

Flugzeug flog weiter, über mich hinweg, und der Gainsborough hing

jetzt so tief, daß er gegen meine Motorhaube knallte; kaum einer von

Schitts Männern erwiderte das Feuer.

Ich trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch und raste dem

Flugzeug hinterher. Die Straße war schnurgerade, und Hades’

Maschine hatte mit leichtem Gegenwind zu kämpfen; mit ein bißchen

Glück konnten wir sie vielleicht sogar einholen. Aber am Ende der

Geraden gabelte sich die Straße, und in der Mitte führte ein Gatter

aufs Feld. Die Maschine flog geradeaus. Bowden warf mir einen

nervösen Blick zu.

»Und jetzt?« brüllte er.

Als Antwort auf seine Frage zog ich meine Automatik, zielte damit

auf das Gatter und drückte ab. Die ersten beiden Schüsse gingen

- 239 -

daneben, doch die nächsten drei trafen ihr Ziel; die Scharniere

zersplitterten, das Gatter brach aus den Angeln, und ich holperte aufs

Feld, wo eine Herde verwirrter Kühe graste. Das Flugzeug brummte

weiterhin vor uns her, und wenn wir es auch nicht direkt einholten, so

hielten wir doch einigermaßen mit.

»Wir verfolgen das Flugzeug der Verdächtigen in, äh, östlicher

Richtung, glaube ich«, brüllte Bowden ins Sprechfunkgerät.

An ein Flugzeug hatte niemand von uns gedacht. Zwar befand sich

ein Polizeiluftschiff ganz in der Nähe, doch wäre es wohl zu langsam

gewesen, um Hades den Weg abzuschneiden.

Wir fuhren in eine flache Senke hinunter, im Slalom um diverse

Färsen, und hielten weiter auf das Ende des Feldes zu, wo ein Farmer

mit Land Rover eben das Gatter schließen wollte. Als er den

schlammbespritzten Sportwagen auf sich zurollen sah, machte er ein

verblüfftes Gesicht, öffnete das Gatter aber trotzdem. Ich schlug das

Lenkrad ein, bog scharf rechts ab und schlidderte breitseits die Straße

entlang, mit einem Hinterrad im Graben, bis ich den Wagen wieder in

die Gewalt bekam und mächtig auf die Tube drückte, jetzt im rechten

Winkel zu unserem Zielobjekt. Die nächste Abzweigung zur linken

führte auf einen Bauernhof; ich riß das Steuer herum, und wir suchten,

erschrockene Hühner in alle Himmelsrichtungen scheuchend, nach

einem Weg hinaus aufs Feld. Das Flugzeug war zwar noch zu sehen,

aber durch Umwege wie diesen gerieten wir immer weiter ins

Hintertreffen.

»Hollycroft Farm!« brüllte Bowden in sein Funkgerät, um alle, die

es interessierte, auf dem laufenden zu halten. Ich karriolte über den

Hof, durchbrach einen Stacheldrahtzaun, der fünf lange, tiefe Kratzer

im Lack des Porsche hinterließ, und verwüstete die Obstplantage.

Immer schneller jagten wir über die Wiese, rumpelten schwer über

steinharte Furchen aus dem vorigen Winter. Zwar setzte der Wagen

zweimal auf, aber so kamen wir wenigstens voran. Als wir direkt

unter dem Flugzeug waren, drehte es urplötzlich links ab. Ich tat es

ihm nach und gelangte auf einen Holzfällerpfad, der in ein Wäldchen

führte. Durch das über uns dahinschnellende Laub war die Maschine

kaum zu sehen.

- 240 -

»Thursday …!« Bowdens Stimme ging im Stampfen des Motors

nahezu unter.

»Was?«

»Straße!«

»Straße?«

»Straße!«

Der Übergang kam derart unvermittelt, daß der Wagen buchstäblich

abhob. Wir flogen durch die Luft, legten eine leicht mißglückte

Landung hin und schlitterten seitlich in einen Brombeerstrauch. Der

Motor war abgesoffen; ich ließ ihn wieder an und jagte in die

Richtung davon, in die das Flugzeug entkommen war. Ich

beschleunigte, und wir ließen das Wäldchen hinter uns; das Flugzeug

hatte nur ein paar hundert Meter Vorsprung. Wieder trat ich aufs

Gaspedal, und der Wagen machte Tempo. Wir bogen rechts ab auf ein

weiteres Feld und näherten uns dem Flugzeug, das noch immer gegen

den Wind ankämpfte.

»Thursday!«

»Was ist denn nun schon wieder?«

»Da vorne ist ein Fluß!«

Er hatte recht. Kaum eine halbe Meile weiter schnitt uns das breite

Bett des Severn den Weg ab. Acheron floh nach Wales und in die

Marches, und wir konnten nichts dagegen unternehmen.

»Übernehmen Sie das Steuer!« schrie ich, als wir das Flugzeug

eingeholt hatten. Bowden starrte nervös auf das nahende Flußufer.

Wir rasten mit fast siebzig Meilen in der Stunde über das flache

Grasland; bald würde es kein Zurück mehr geben. Ich brachte die

Waffe beidhändig in Anschlag und feuerte von unten in das Flugzeug.

Es begann heftig zu schwanken und zu schlingern. Im ersten

Augenblick glaubte ich, den Piloten getroffen zu haben, doch dann

änderte die Maschine den Kurs; sie war lediglich ein wenig gesunken,

um besser beschleunigen zu können.

Fluchend trat ich auf die Bremse und riß das Lenkrad herum. Der

Wagen schlidderte über die Wiese, krachte seitlich durch einen Zaun,

- 241 -

rutschte die Uferböschung hinab und blieb schließlich stehen, mit

einem Vorderrad im Wasser. Ich sprang auf und feuerte vergeblich auf

die davonfliegende Maschine, bis mein Magazin halb leer war, in der

vagen Hoffnung, daß Acheron umkehren und im Tiefflug über uns

hinwegdonnern würde, doch das blieb ein frommer Wunsch. Das

Flugzeug verschwand mit Hades, einem gefälschten Gainsborough

und zehn Millionen Pfund Falschgeld nach Wales.

Wir stiegen aus und betrachteten den ramponierten Wagen.

»Totalschaden«, murmelte Bowden, nachdem er über Funk einen

letzten Lagebericht durchgegeben hatte. »Es dauert bestimmt nicht

lange, bis Hades merkt, daß das Geld, das wir ihm angedreht haben,

nicht von erster Qualität ist.«

Ich starrte dem Flugzeug nach; es war nur noch ein kleiner Punkt am

Horizont.

»Meinen Sie, er fliegt in die Republik?« fragte Bowden.

»Sieht so aus«, sagte ich und fragte mich, wie wir ihn jemals kriegen

sollten, wenn er in Wales Zuflucht suchte. Zwar gab es ein

Auslieferungsabkommen, aber die anglo-walisischen Beziehungen

waren alles andere als gut, und das Politbüro hatte die unselige

Neigung, Feinde Englands als Freunde zu betrachten.

»Was jetzt?« wollte Bowden wissen.

»Ich weiß nicht genau«, erwiderte ich zögernd, »aber wenn Sie

Martin Chuzzlewit noch nicht gelesen haben, sollten Sie das, glaube

ich, so schnell wie möglich nachholen. Ich habe das dunkle Gefühl,

wenn Acheron dahinterkommt, daß er beschissen worden ist, muß

Martin dran glauben.«

Hades’ Maschine verschwand in der Ferne. Bis auf das leise

Plätschern des Flusses war alles still. Ich legte mich ins Gras, schloß

die Augen und versuchte, mich ein paar Minuten zu entspannen, bevor

wir von neuem in den Mahlstrom von Goliath, Hades, Chuzzlewit et

cetera geschleudert wurden. Es war ein friedlicher Moment – die Ruhe

vor dem Sturm. Dabei war ich in Gedanken ganz woanders. Ich dachte

- 242 -

immer noch an Daisy Mutlar. Die Nachricht von ihrer bevorstehenden

Hochzeit kam erwartet und unerwartet zugleich; Landen hätte mir

durchaus davon erzählen können, andererseits war er dazu nach

zehnjähriger Trennung natürlich keineswegs verpflichtet. Ich fragte

mich, wie es wohl wäre, Kinder zu haben, und dann, ob ich die

Antwort darauf je erfahren würde.

Bowden legte sich neben mich. Er zog einen Schuh aus und

schüttelte ein paar Kieselsteine heraus.

»Der Posten in Ohio, von dem ich Ihnen erzählt habe – wissen Sie

noch?«

»Ja?«

»Die Versetzung ist heute morgen genehmigt worden.«

»Phantastisch! Wann fangen Sie an?«

Bowden senkte den Blick.

»Ich habe noch nicht zugesagt.«

»Warum nicht?«

»Waren Sie … ähm … schon mal in Ohio?« fragte er so

unverfänglich wie möglich.

»Nein, aber schon ein paarmal in New York.«

»Es soll sehr schön sein dort.«

»Amerika ist überhaupt sehr schön.«

»Sie bieten mir das doppelte von Victors Gehalt.«

»Na prima.«

»Und sie haben gesagt, ich könnte jemanden mitbringen.«

»Und an wen dachten Sie da so?«

»An Sie.«

Ich sah ihn an, und seine gespannte, hoffnungsvolle Miene sagte mir

alles.

»Das ist ein äußerst großzügiges Angebot, Bowden.«

- 243 -

»Dann denken Sie darüber nach?«

Ich zuckte die Achseln.

»Im Augenblick kann ich an nichts anderes denken als an Hades.

Nachdem ich schon den ganzen Tag mit ihm verbringe, hatte ich

eigentlich gehofft, wenigstens nachts von ihm verschont zu bleiben,

aber selbst dann läßt er mich nicht in Ruhe, sondern starrt mich im

Traum lüstern an.«

Dazu wußte Bowden nichts rechtes zu sagen, vermutlich weil er

Hades nie begegnet war. Und so lagen wir eine Stunde schweigend da

und betrachteten das träge dahinfließende Wasser, bis der

Abschleppwagen kam.

Ich streckte mich in der riesigen Eisenwanne meiner Mutter aus und

trank einen Schluck von dem großen Gin-Tonic, den ich mit ins Bad

geschmuggelt hatte. Die Werkstatt hätte den Porsche am liebsten

verschrottet, doch ich bat den Mechaniker, den Wagen unter allen

Umständen wieder flottzumachen, da er mir unschätzbare Dienste

geleistet habe. Ich lag in dem warmen, nach Kiefernöl duftenden

Wasser und wollte gerade eindösen, als es an die Tür klopfte. Es war

Landen.

»Heilige Scheiße, Landen! Kann eine Frau denn nicht mal in Ruhe

baden?«

»Tut mir leid, Thurs.«

»Wie bist du überhaupt ins Haus gekommen?«

»Deine Mutter hat mich reingelassen.«

»Was du nicht sagst. Was willst du?«

»Kann ich reinkommen?«

»Nein.«

»Du hast mit Daisy gesprochen.«

»Allerdings. Du willst diese blöde Kuh doch nicht allen Ernstes

heiraten?«

- 244 -

»Ich kann verstehen, daß du wütend bist, Thursday. Du solltest es

nicht auf diese Art und Weise erfahren. Ich wollte es dir selber sagen,

aber als wir uns das letzte Mal gesehen haben, bist du ja einfach

weggelaufen.«

Eine Zeitlang herrschte betretenes Schweigen. Ich starrte die

Armaturen an.

»Ich muß auch sehen, wo ich bleibe«, sagte Landen schließlich. »Ich

werde im Juni einundvierzig, und ich hätte gern eine Familie.«

»Und Daisy ist die richtige dafür?«

»Ja; sie ist eine tolle Frau, Thursday. Natürlich kein Vergleich mit

dir, trotzdem ist sie eine tolle Frau, sehr …«

»Zuverlässig?«

»Eher solide. Nicht unbedingt aufregend, aber verläßlich.«

»Liebst du sie?«

»Selbstverständlich.«

»Und was willst du dann noch von mir?«

Landen zögerte.

»Ich wollte mich nur vergewissern, daß ich die richtige

Entscheidung treffe.«

»Hast du mir nicht gerade erzählt, daß du sie liebst?«

»Ja.«

»Und daß sie dir die Kinder schenken wird, die du dir so sehnlich

wünschst?«

»Ja.«

»Dann solltest du sie auch heiraten.«

Landen zögerte kurz.

»Du hast also nichts dagegen?«

»Seit wann brauchst du meine Erlaubnis?«

- 245 -

»Darum geht es nicht. Ich wollte dich nur fragen, ob du dir auch

einen anderen Ausgang dieser Geschichte vorstellen könntest?«

Ich legte mir einen Waschlappen aufs Gesicht und stöhnte leise. Das

hatte mir gerade noch gefehlt.

»Nein. Landen, du mußt sie heiraten. Erstens hast du es ihr

versprochen, und zweitens …« Ich dachte rasch nach. »… gehe ich

nach Ohio.«

»Ohio?«

»Als LitAg. Ein Kollege hat mir den Posten angeboten.«

»Wer?«

»Er heißt Cable. Ein netter Kerl.«

Landen ließ es gut sein, stöhnte, bedankte sich und versprach, mir

eine Einladung zu schicken. Dann machte er sich aus dem Staub –

aber als ich zehn Minuten später herunterkam, hatte meine Mutter

noch immer diesen wehmütigen »Ach-wär-er-doch-meinSchwiegersohn«-Blick.

- 246 -

24.

Glück für Martin Chuzzlewit

Seit über vierzig Jahren befasse ich mich bei meiner

Arbeit hauptsächlich mit der Elastizität von Körpern. In

der Regel denkt man dabei natürlich an Gummi oder

ähnliche Substanzen, dabei läßt sich fast jedes nur

erdenkliche Material biegen und strecken. Und ich

schließe Raum, Zeit, Distanz und Wirklichkeit dabei

ausdrücklich ein …

PROFESSOR MYCROFT NEXT

»Crofty …!«

»Polly …!«

Sie trafen sich am Seeufer, bei den Narzissen, die sich sanft im

Wind wiegten. Die Sonne schien hell und sprenkelte die Wiese mit

zarten Schattentupfern. Der frische Duft des Frühlings lag in der Luft

und brachte ein Gefühl des Friedens mit sich, das die Sinne dämpfte

und die Seele beruhigte. Ein Stück weiter saß ein alter Mann im

schwarzen Umhang auf einem Fels und warf gleichgültig Kieselsteine

in das kristallklare Wasser. Ein geradezu vollkommenes Bild, wäre

Felix8 nicht gewesen, der, das Gesicht noch kaum verheilt, inmitten

der Narzissen stand und ein wachsames Auge auf seine

Schutzbefohlenen hatte. Um Mycroft für seine Sache zu begeistern,

hatte Acheron ihm erlaubt, in Wordsworths Daffodils einzusteigen

und seine Frau zu besuchen.

»Geht es dir gut, meine Liebe?«

Polly deutete verstohlen auf die Gestalt im Umhang.

»Mir geht es bestens, und es ginge mir noch besser, wenn sich Mr.

W. nicht für einen Herzensbrecher halten würde. Er denkt wohl, er

wäre das Geschenk Gottes an die Frauen der Welt. Er hat mich schon

- 247 -

dreimal eingeladen, ihn in ein paar unveröffentlichte Werke zu

begleiten. Die eine oder andere blumige Phrase, und er denkt, ich

schmelze dahin.«

»So ein Schuft!« rief Mycroft und stand auf. »Am liebsten würde

ich ihm eins auf die Nase geben!«

Polly legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm, und er setzte sich

neben sie. Dennoch: Bei dem Gedanken, daß ihr über siebzigjähriger

Gemahl und Wordsworth sich um sie prügeln könnten, überlief Polly

ein Schauder der Erregung – damit würde sie beim nächsten Treffen

des Hausfrauenbundes bestimmt Eindruck machen.

»Also, wirklich …!« sagte Mycroft. »Diese Dichter sind doch üble

Schürzenjäger.« Er hielt inne. »Du hast hoffentlich nein gesagt?«

»Aber natürlich.«

Sie schenkte Mycroft ihr bezauberndstes Lächeln, doch er war schon

wieder ganz woanders.

»Bleib in den Daffodils, sonst weiß ich nicht, wo ich dich suchen

soll.«

Er nahm ihre Hand, und sie blickten gemeinsam hinaus auf den See.

Der erstreckte sich uferlos, so weit das Auge reichte, und die

Kieselsteine, die Wordsworth träge ins Wasser schnippte, sprangen

kurz darauf wieder an Land. Sonst war alles wie in Wirklichkeit.

»Ich habe etwas ziemlich Dummes getan«, gestand Mycroft

plötzlich, senkte den Blick und strich mit der flachen Hand über das

Gras.

»Wie dumm?« fragte Polly eingedenk der prekären Situation.

»Ich habe das Chuzzlewit-Manuskript verbrannt.«

» Was hast du gemacht? Sag das noch mal!«

»Ich habe gesagt …«

»Das habe ich gehört. So ein Originalmanuskript ist doch von

unschätzbarem Wert. Wie konntest du so etwas tun?«

Mycroft seufzte. Er hatte keineswegs leichtfertig gehandelt.

- 248 -

»Ohne das Originalmanuskript«, erklärte er, »läßt sich der Roman

nicht so leicht zerstören. Ich habe dir doch erzählt, daß dieser

Wahnsinnige Mr. Quaverley aus dem Buch geholt und ermordet hat.

Dabei hätte er es bestimmt nicht belassen. Wer wäre wohl als nächstes

an der Reihe gewesen? Mrs. Gamp? Mr. Pecksniff? Martin

Chuzzlewit selbst? Ich habe der Welt vermutlich einen Gefallen

getan.«

»Und die Verbrennung des Manuskripts macht dem ein Ende?«

»Natürlich; ohne Originalmanuskript keine Massenzerstörung.« Sie

drückte seine Hand, als ein Schatten auf die beiden fiel.

»Die Zeit ist um«, sagte Felix8.

Mit meinen Vorhersagen zu Acherons Machenschaften hatte ich

zugleich richtig und falsch gelegen. Wie Mycroft mir später erzählte,

war Hades außer sich vor Wut, als er feststellte, daß niemand ihn ernst

genommen hatte, aber Mycrofts Vernichtung des Chuzzlewit Manuskripts fand er geradezu witzig. Obwohl er es nicht gewohnt

war, hinters Licht geführt zu werden, schien er die ungewohnte

Erfahrung fast zu genießen. Statt ihm die Glieder einzeln auszureißen,

wie Mycroft befürchtet hatte, schüttelte Acheron ihm die Hand.

»Gratuliere, Mr. Next«, sagte er lächelnd, »zu Ihrer ebenso tapferen

wie einfallsreichen Tat. Tapfer, einfallsreich, aber leider völlig

zwecklos. Meine Wahl ist nämlich keineswegs zufällig auf Chuzzlewit

gefallen.«

»Ach nein?« entgegnete Mycroft scharf.

»Nein. Ich mußte das Buch in der Schule lesen und habe das

Scheißding aus tiefstem Herzen gehaßt. Diese endlosen,

moralinsauren Suaden über Selbstsucht und Egoismus. Ich finde

Chuzzlewit nur unwesentlich spannender als Unser gemeinsamer

Freund. Selbst wenn die Übergabe glattgegangen wäre, hätte ich ihn

umgebracht, und zwar mit dem allergrößten Vergnügen.«

Er hielt inne, lächelte Mycroft an und fuhr dann fort: »Dank Ihres

mutigen Eingreifens kann Martin Chuzzlewit seine Abenteuer

- 249 -

fortsetzen. Mrs. Todgers’ Pension wird nicht niederbrennen, und sie

können ihr langweiliges Leben ungestört fortsetzen.«

»Das freut mich«, sagte Mycroft.

»Sparen Sie sich Ihre Gefühle, Mr. Next, ich bin noch nicht fertig.

Ihretwegen werde ich mich nach einer gangbaren Alternative umsehen

müssen. Nach einem Buch, das im Unterschied zum Chuzzlewit echte

literarische Qualitäten aufweist.«

»Doch nicht etwa Große Erwartungen? «

Acheron blickte ihn mitleidig an. »Dickens ist abgehakt, Mr. Next.

Wie gern hätte ich mich in Hamlet eingeschlichen und diesen

depressiven Dänenprinzen erwürgt, oder gleich in Romeo und Julia,

um diesen kleinen Scheißer aus Verona endlich verschwinden zu

lassen.« Er seufzte, bevor er weitersprach. »Aber leider ist ja keins

von Shakespeares Originalmanuskripten erhalten.« Er dachte einen

Augenblick nach. »Aber die Bennetts könnten eventuell auf das eine

oder andere Familienmitglied verzichten …«

» Stolz und Vorurteil?« brüllte Mycroft. »Sie herzloses Ungeheuer!«

»Mit Schmeicheleien kommen Sie bei mir nicht weit, Mycroft.

Ohne Darcy und Elizabeth wäre Stolz und Vorurteil doch ziemlich

fad, oder? Aber Austen ist vielleicht nicht ganz das richtige. Wie

wär’s mit Trollope? Eine geschickt plazierte Nagelbombe in

Barchester wäre bestimmt lustig. Der Verlust von Mr. Crawley würde

ohne Zweifel hohe Wellen schlagen. Wie Sie sehen, mein lieber

Mycroft, könnte sich die Rettung Mr. Chuzzlewits im nachhinein als

äußerst töricht erweisen.«

Lächelnd wandte er sich an Felix8: »Mein Freund, warum ziehen

Sie nicht einige Erkundigungen zu Umfang und Verbleib der

Manuskripte ein?«

Felix8 blieb kühl: »Ich bin nicht Ihr Sekretär, Sir. Ich finde, Mister

Hobbes wäre für diese Aufgabe wesentlich besser geeignet.«

Acheron runzelte die Stirn. Von allen Felixen hatte nur Felix3 es je

gewagt, einen direkten Befehl zu verweigern. Bald darauf hatte er den

Armen aufgrund einer überaus enttäuschenden Leistung anläßlich

- 250 -

eines mißlungenen Überfalls exekutieren müssen. Aber das war

Acherons eigene Schuld; um Felix3 etwas mehr Persönlichkeit zu

geben, hatte er ihm einen Hauch von Moral gelassen. Seither waren

ihm sämtliche Felixe nur mehr treue Diener; wenn er intellektueller

Stimulanz bedurfte, hielt er sich an Hobbes und Dr. Müller.

»Hobbes!« schrie Hades aus vollem Hals. Der arbeitslose

Schauspieler kam mit einem großen Holzlöffel in der Hand aus der

Küche gelaufen.

»Ja, Herr?«

Acheron wiederholte seinen Befehl, und Hobbes zog sich mit einer

tiefen Verbeugung zurück.

»Felix8!«

»Sir?«

»Wenn es Ihnen nicht zuviel Mühe macht, schließen Sie Mycroft in

seinem Zimmer ein. Ich denke, wir werden eine Weile auf ihn

verzichten können. Geben Sie ihm zwei Tage kein Wasser und fünf

Tage nichts zu essen. Das sollte als Strafe für die Vernichtung des

Manuskripts genügen.«

Felix8 nickte und entfernte Mycroft aus dem Salon des Hotels. Er

zerrte ihn quer durch die Halle und die breite Marmortreppe hinauf.

Außer ihnen befand sich niemand in dem modrigen alten Gebäude; die

große Eingangstür war fest verschlossen.

Am Fenster blieb Mycroft stehen und sah hinaus. Er war schon

einmal in der walisischen Hauptstadt gewesen, um auf Einladung der

Republik einen Vortrag über die Kohlehydrierung zu halten. Auch

damals hatte er in diesem Hotel gewohnt. Er hatte der Crème de la

crème aus Politik und Wissenschaft die Hand geschüttelt; und sogar

Brawd Uljanow, der über achtzigjährige Führer der Volksrepublik

Wales, hatte ihm eine der seltenen Audienzen gewährt. Das mußte

jetzt fast dreißig Jahre her sein, aber die tiefliegende Stadt hatte sich

kaum verändert. Damals wie heute dominierte Schwerindustrie die

karge Landschaft, und der Gestank von Eisenhütten schwängerte die

Luft. In den letzten Jahren waren viele Bergwerke geschlossen

worden, aber die Fördertürme standen noch; ehern wachten sie als

- 251 -

dunkle Silhouetten über die flachen, schiefergedeckten Häuser. Hoch

über der Stadt, auf Morlais Hill, blickte die gigantische

Kalksteinstatue von John Frost auf die Republik hinab, die er

gegründet hatte; Gerüchten zufolge gab es Bestrebungen, die

Hauptstadt aus dem industrialisierten Süden zu verlegen, doch dazu

war Merthyr als spirituelles Zentrum zu bedeutend.

Sie gingen weiter und gelangten schließlich zu Mycrofts Zelle, einer

spärlich möblierten, fensterlosen Kammer. Als die Tür hinter ihm ins

Schloß fiel und er allein war, kehrten Mycrofts Gedanken zu dem

zurück, was ihm am meisten Sorgen machte: Polly. Zwar hatte er

immer schon gewußt, daß sie bisweilen zum Flirten neigte, dem aber

keine besondere Bedeutung beigemessen; Mr. Wordsworths

anhaltendes Interesse an seiner Frau jedoch erfüllte ihn mit einer

gehörigen Portion Eifersucht.

- 252 -

25.

Zeit zum Nachdenken

Ich hatte ja keine Ahnung, daß Martin Chuzzlewit so

populär war. Niemand von uns rechnete mit dem

Aufschrei der Entrüstung und dem ungeheuren

Medienecho, das Mr. Quaverleys Ermordung hervorrief.

Seine Autopsie war eine Sensation; zu seiner Beerdigung

kamen 150.000 Dickens-Fans aus aller Welt. Braxton

Hicks versuchte die LitAg-Beteiligung geheimzuhalten,

doch die Katze war im Handumdrehen aus dem Sack.

BOWDEN CALBE

im Gespräch mit der Owl

Commander Hicks knallte die Zeitung vor uns auf den Schreibtisch.

Er lief noch ein paar Schritte hektisch auf und ab, bevor er sich

schwerfällig in seinen Sessel fallen ließ.

»Ich will wissen, wer die Presse informiert hat«, verkündete er. Jack

Schitt stand gegen den Fensterrahmen gelehnt, beobachtete uns und

rauchte eine kleine, dafür aber besonders übelriechende türkische

Zigarette. Die Schlagzeile war eindeutig:

CHUZZLEWIT-MORD: SPECOPS SCHULD?

Der Artikel zitierte eine »namentlich nicht genannte Quelle« aus

Swindoner SpecOps-Kreisen, der zufolge eine verpatzte

Lösegeldzahlung Quaverleys Tod verursacht hatte. Zwar ging es in

dem Bericht wie Kraut und Rüben durcheinander, doch die

grundlegenden Fakten stimmten.

Die ganze Geschichte war Hicks derart an die Nieren gegangen, daß

er sein geliebtes Budget um eine beträchtliche Summe überzogen

hatte, um Hades’ Aufenthaltsort zu ermitteln. Das ausgebrannte

Wrack des Erkundungsflugzeugs, das Bowden und ich verfolgt hatten,

war auf einem Feld auf der englischen Seite von Hay-on-Wye

- 253 -

gefunden worden, zusammen mit dem falschen Gainsborough und der

mit Blüten gefüllten Geldtasche. Acheron hatte sich nicht für dumm

verkaufen lassen. Wir alle waren davon überzeugt, daß Hades sich in

Wales aufhielt, doch selbst politische Intervention auf höchster Ebene

blieb erfolglos – obgleich der walisische Innenminister feierlich

versichert hatte, daß man sich keinesfalls dazu herablassen werde,

einem so berüchtigten Verbrecher Unterschlupf zu gewähren. Da wir

auf der walisischen Seite der Grenze nichts zu melden hatten,

konzentrierten wir unsere Suche auf die Marches – vergebens.

»Wir waren es nicht«, sagte Victor. »Schließlich bringen uns

Presseberichte keine Vor-, sondern nur Nachteile.« Er blickte zu Jack

Schitt; der zuckte die Achseln.

»Gucken Sie mich nicht so an«, sagte Schitt kühl, »ich bin nur als

Beobachter im Auftrag von Goliath hier.«

Hicks erhob sich und lief nervös auf und ab. Bowden, Victor und ich

sahen ihm schweigend dabei zu. Hicks tat uns leid; er war kein übler

Kerl, nur ein Schwächling. Die Chuzzlewit-Entführung war eine

mißliche Angelegenheit, und wenn Hicks nicht schleunigst etwas

unternahm, konnte ihn das seinen Job kosten.

»Hat jemand eine Idee?«

Wir sahen ihn an. Wir hatten zwar ein paar Ideen, wollten aber auf

keinen Fall in Schitts Gegenwart darüber sprechen. Seit wir wußten,

daß er uns an jenem Abend in Archers Werkstatt ohne weiteres hätte

abknallen lassen, war Goliath für uns erledigt.

»Ist Mrs. Delamare gefunden worden?«

»Ja, und es geht ihr gut«, antwortete ich. »Sie hat sich übrigens sehr

darüber gefreut, daß wir eine Autobahnraststätte nach ihr benannt

haben. Sie hat ihren Sohn seit fünf Jahren nicht gesehen, wird aber

überwacht, nur für den Fall, daß er sich bei ihr meldet.«

»Gut«, murmelte Braxton. »Was noch?«

Victor ergriff das Wort.

»Unseres Wissens hat Hades Felix7 schon ersetzt. Ein junger Mann

aus Reading namens Danny Chance wird vermißt; sein Gesicht wurde

- 254 -

in einem Papierkorb im dritten Stock seines Wohnhauses gefunden.

Wir haben die Fotos der Leiche von Felix7 an alle Einsatzkräfte

weitergeleitet; sie müßten eigentlich auch auf den neuen Felix

passen.«

»Sind Sie sicher, daß Archer nichts weiter gesagt hat als ›Felix7‹,

bevor Sie ihn erschossen haben?«

»Hundertprozentig«, log Bowden, ohne rot zu werden.

Mißmutig kehrten wir in unser Büro zurück. Wenn Hicks tatsächlich

seinen Hut nehmen mußte, konnte das zu gefährlichen Verwerfungen

innerhalb der Abteilung führen, außerdem durfte ich Mycroft und

Polly nicht vergessen. Victor hängte seine Jacke auf und fragte

Finisterre, ob sich etwas verändert habe. Finisterre blickte von einer

abgegriffenen Chuzzlewit-Ausgabe auf. Seit Acherons Flucht lasen

Bailey, Herr Beicht und er den Roman im Vierundzwanzig-StundenSchichtdienst. Bislang hatte sich verblüffenderweise gar nichts

verändert. Die Forty-Brüder verfolgten die einzige Information, die

wir SO-5 und Goliath voraushatten. Kurz vor seinem Ableben hatte

Sturmey Archer einen gewissen Dr. Müller erwähnt, und danach

wurden die Datenbanken von Polizei und SpecOps jetzt durchkämmt

– unter größter Geheimhaltung und Diskretion allerdings, was die

Suche so zeitraubend machte.

»Gibt’s was Neues, Jeff?« fragte Victor und krempelte sich die

Hemdsärmel auf.

Jeff hustete. »In England sind keine Dr. Müllers registriert, weder

med. noch phil. …«

»Dann ist es also ein falscher Name.«

»… die noch am Leben wären.« Jeff lächelte. »Aber 1972 saß ein

gewisser Dr. Müller im Gefängnis in Parkhurst.«

»Ich bin ganz Ohr.«

»Zur selben Zeit, als Delamare wegen Betrugs in den Knast ging.«

»Das wird ja immer besser.«

»Und Delamare teilte sich die Zelle mit einem gewissen Felix

Tabularasa.«

- 255 -

»Da bekommt die Sache doch gleich ein ganz anderes Gesicht«,

murmelte Bowden.

»Wohl wahr. Gegen Dr. Müller wurde bereits wegen des Handels

mit Spendernieren ermittelt. Er beging ’74 kurz vor der Verhandlung

Selbstmord. Er schwamm aufs Meer hinaus, nicht ohne vorher einen

Abschiedsbrief zu hinterlassen. Seine Leiche wurde nie gefunden.«

Victor rieb sich triumphierend die Hände.

»Klingt nach vorgetäuschtem Exitus. Nur wie, bitte schön, sollen

wir einen Toten jagen?«

Jeff hielt ein Fax in die Höhe. »Ich mußte bei der Ärztekammer

klafterweise Süßholz raspeln; die geben normalerweise keine

Personalakten heraus, egal ob der Betreffende lebendig ist oder tot,

aber hier ist sie.«

Victor riß ihm das Fax aus der Hand und las die entscheidenden

Absätze laut vor.

»Theodore Müller. Studierte zunächst Physik, bevor er auf Medizin

umsattelte. ’74 wurde ihm wegen grob standeswidrigen Verhaltens die

Approbation entzogen. Er spielte in Cambridge den Hamlet, und das

nicht einmal schlecht, war ein hervorragender Tenor, Angehöriger des

Ehrwürdigen Wombat-Ordens, begeisterter Eisenbahn-Späher und

Gründungsmitglied der Erdkreuzer.«

»Hmm«, machte ich. »Wahrscheinlich frönt er seinen alten Hobbys

heute noch und benutzt bloß einen falschen Namen.«

»Was schlagen Sie vor?« fragte Victor. »Sollen wir auf die nächste

Lokomotivenschau warten? Wenn mich nicht alles täuscht, verteidigt

die Mallard nächsten Monat ihren Geschwindigkeitsrekord.«

»Zu spät.«

»Die Wombats geben die Namen ihrer Mitglieder nie preis«,

bemerkte Bowden.

Victor nickte. »Das war’s dann wohl.«

»Nicht unbedingt«, sagte ich langsam.

»Was schlagen Sie vor?«

- 256 -

»Ich dachte, es könnte jemand das nächste Erdkreuzertreffen zu

infiltrieren versuchen.«

»Die Erdkreuzer?« sagte Victor. »Da läuft nichts, Thursday.

Komische Heilige, die auf entlegenen Hügeln heimlich sonderbare

Rituale praktizieren? Haben Sie eine Ahnung, was man über sich

ergehen lassen muß, um in diesen exklusiven Verein aufgenommen zu

werden?«

Ich lächelte und warf meinem Chef einen prüfenden Blick zu. »Die

Mitglieder sind hauptsächlich namhafte und angesehene Akademiker

reiferen Alters.«

Victor sah von mir zu Bowden. »Dieser Blick gefällt mir nicht, Frau

Kollegin«, sagte er pointiert.

Aber Bowden hatte schon hektisch in der aktuellen Ausgabe des

Almanachs der Astronomen zu blättern begonnen. »Na, wer sagt’s

denn? Hier steht, sie treffen sich übermorgen um 14 Uhr auf dem

Liddington Hill. Uns bleiben also fünfundfünfzig Stunden

Vorbereitungszeit.«

»Auf keinen Fall«, protestierte Victor empört. »Und wenn Sie sich

auf den Kopf stellen, ich werde mich auf keinen Fall, ich wiederhole,

auf gar keinen Fall als Erdkreuzer ausgeben. Ich weigere mich, den

verdeckten Ermittler zu machen.«

- 257 -

26.

Die Erdkreuzer

Ein Asteroid kann klein sein wie eine Männerfaust oder

groß wie ein Berg. Asteroiden sind der Schutt des

Sonnensystems, die Trümmer, die zurückbleiben, wenn

die galaktischen Sprengmeister ihre Arbeit verrichtet

haben. Die meisten Asteroiden findet man zwischen Mars

und Jupiter. Obwohl ihre Zahl in die Millionen geht,

bringen sie es zusammengenommen doch nur auf einen

Bruchteil der Masse der Erde. Hin und wieder schneidet

ein Asteroid die Umlaufbahn unseres Planeten und wird

damit zum Erdkreuzer. Für die Erdkreuzer-Gesellschaft

kommt die Ankunft eines Asteroiden auf einem Planeten

der Rückkehr eines verirrten Ausreißers, eines verlorenen

Sohnes gleich. Sie ist ein höchst bedeutendes Ereignis.

MR. S. A. ORBITER

- Die Erdkreuzer

Von Liddington Hill blickt man auf Wroughton, den einstigen RAF-und zeitweiligen Luftwaffen- Stützpunkt. Der flache Hügel ist zudem

Teil einer von mehreren aus der Eisenzeit stammenden

Befestigungsanlagen rings um die Marlborough und Lambourn

Downs.

Doch nicht die Altertümer hatten die Erdkreuzer angelockt. Sie

folgten vielmehr den wunderlichen Weissagungen ihres Gewerbes und

trafen sich scheinbar willkürlich mal hier, mal dort, in nahezu

sämtlichen Ländern dieser Welt. Dabei gingen sie immer nach

derselben Methode vor: Wenn sie sich auf einen Treffpunkt geeinigt

hatten, schlossen sie mit den Eigentümern einen lukrativen Vertrag

über dessen uneingeschränkte Nutzung und zogen etwa vier Wochen

vorher dort ein, wobei entweder die örtlichen Sicherheitsbehörden

- 258 -

oder aber jüngere Mitglieder der Gruppe dafür sorgten, daß sich kein

Außenstehender einschleichen konnte.

Vermutlich gelang es den militanten Astronomen auf diese Weise,

ihr Treiben streng geheimzuhalten. Eine annähernd perfekte Tarnung

für Dr. Müller, der die Gesellschaft Anfang der fünfziger Jahre

zusammen mit Samuel Orbiter, einem seinerzeit recht populären

Fernseh-Astronomen, ins Leben gerufen hatte.

Victor stellte den Wagen ab und ging unbekümmert auf die beiden

Gorillas zu, die neben einem Land Rover Posten schoben. Victor sah

nach links und rechts. Alle dreihundert Meter stand eine Gruppe

bewaffneter Wachleute mit Hunden und Walkie-talkies und hielt nach

Eindringlingen Ausschau. Da war kein Durchkommen. Wenn man

unbemerkt irgendwo hineingelangen wollte, ging man am besten

durch die Tür und tat so, als wäre man dort zu Hause.

»Tag«, sagte Victor und versuchte, einfach an den Gorillas

vorbeizumarschieren. Aber das mißlang gründlich. Einer der beiden

stellte sich ihm in den Weg und legte ihm seine Pranke auf die

Schulter.

»Guten Tag, Sir. Schönes Wetter heute. Darf ich Ihren Ausweis

sehen?«

»Natürlich«, antwortete Victor, kramte in seiner Tasche und

präsentierte den Ausweis, den er hinter ein halbblindes

Plastiksichtfenster seines Portemonnaies gequetscht hatte. Wenn ihn

die Gorillas herauszogen und feststellten, daß es sich um eine

Fotokopie handelte, war alles aus.

»Ich habe Sie hier noch nie gesehen, Sir«, sagte der andere

Aufpasser argwöhnisch.

»Nein«, sagte Victor ruhig, »wenn Sie sich meine Karte anschauen,

werden Sie feststellen, daß ich zum Spiralarm Berwick-upon-Tweed

gehöre.«

Der erste Gorilla reichte Victors Portemonnaie seinem Kollegen.

»Das wäre nicht der erste Infiltrant, nicht wahr, Mr. Europa?«

Der zweite Gorilla gab Victor das Portemonnaie grunzend zurück.

- 259 -

»Name?« fragte der erste und hielt ein Klemmbrett hoch.

»Ich stehe wahrscheinlich nicht auf der Liste«, sagte Victor

langsam. »Ich bin gewissermaßen ein Nachzügler. Ich habe Dr. Müller

deswegen gestern angerufen.«

»Ich kenne keinen Dr. Müller«, sagte der erste, sog Luft durch die

Zähne und sah Victor aus schmalen Augenschlitzen an, »aber wenn

Sie tatsächlich Erdkreuzer sind, können Sie mir doch bestimmt sagen,

welcher Planet die höchste Dichte hat?«

Victor blickte von einem zum anderen und lachte. Die Gorillas

lachten mit.

»Selbstverständlich.«

Er versuchte, einen Schritt weiterzugehen, und das Lächeln wich

von den Gesichtern der Gorillas. Einer von ihnen streckte seine

mächtige Pratze aus und hielt Victor zurück.

»Und?«

»Das ist grotesk«, sagte Victor empört. »Ich bin seit dreißig Jahren

Erdkreuzer und habe so etwas noch nie erlebt.«

»Wir haben was gegen Eindringlinge«, wiederholte der erste Mann.

»Die bringen uns nur in Verruf. Soll ich Ihnen verraten, was wir mit

Schwindlern anstellen? Also. Noch mal. Welcher Planet hat die

höchste Dichte?«

Die beiden Männer starrten Victor bedrohlich an.

»Die Erde. Und die niedrigste hat Pluto. Zufrieden?«

Doch so leicht ließen sich die beiden Wachleute nicht überzeugen.

»Das ist doch Kinderkram, Mister. Wie lange dauert ein

Wochenende auf Saturn?«

Bowden und ich saßen zwei Meilen entfernt in Bowdens Wagen,

rechneten hektisch und gaben Victor die Antwort über Funk auf den

Ohrhörer. Unser Wagen war bis obenhin mit astronomischer

Fachliteratur vollgestopft; wir konnten nur hoffen, daß die beiden

keine allzu ausgefallenen Fragen stellten.

- 260 -

»Zwanzig Stunden«, flüsterte Bowden ins Mikrofon.

»Etwa zwanzig Stunden«, sagte Victor zu den Wachmännern.

»Umlaufgeschwindigkeit des Merkur?«

»Im Aphelium oder im Perihelium?«

»Jetzt werden Sie mal nicht frech, junger Mann. Der Durchschnitt

genügt.«

»Moment. Ich muß die beiden addieren und – ach, du liebe Zeit, ist

das etwa ein Buchfink?«

Die beiden Männer drehten sich nicht um.

»Und?«

»Ähm, hundertsechstausend Meilen pro Stunde.«

»Die Uranusmonde?«

»Die Uranusmonde?« echote Victor, um Zeit zu schinden. »Wußten

Sie, daß das Uran nur deshalb nach dem Uranus heißt, weil es im

selben Jahrzehnt entdeckt wurde?«

»Die Monde, Sir.«

»Natürlich. Oberon, Titania, Umb-«

»Halt! Ein echter Erdkreuzer hätte mit dem innersten angefangen!«

»Cordelia, Ophelia, Bianca, Cressida, Desdemona, Juliet, Portia,

Rosalind, Belinda, Puck, Miranda, Ariel, Umbriel, Titania und

Oberon.«

Die beiden Männer sahen Victor an, nickten und traten dann zurück,

um ihn vorbeizulassen; mit einem Mal waren sie äußerst höflich, ja

beinahe zuvorkommend.

»Danke, Sir. Sie müssen entschuldigen, aber wie Sie sicher wissen,

haben wir viele Gegner, die uns liebend gern ins Handwerk pfuschen

würden. Ich bin sicher, Sie haben Verständnis für unsere

Vorsichtsmaßnahmen.«

»Natürlich! Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Sorgfalt, Gentlemen. Guten

Tag.«

- 261 -

Aber als Victor vorbei wollte, hielten sie ihn erneut zurück. »Haben

Sie nicht etwas vergessen, Sir?«

Victor drehte sich um. Ich hatte von Anfang an befürchtet, daß es so

etwas wie eine Parole gab, und wenn sie die jetzt hören wollten, waren

wir geliefert. Victor beschloß, den beiden die Initiative zu überlassen.

»Haben Sie ihn vielleicht im Wagen vergessen?« fragte der erste

Mann schließlich. »Hier, nehmen Sie solange meinen.«

Der Wachmann griff in sein Jackett und holte nicht etwa eine Waffe,

wie Victor gefürchtet hatte, sondern einen gewaltigen

Baseballhandschuh daraus hervor. Er überreichte ihn Victor mit einem

herzlichen Lächeln. »Ich werde es heute vermutlich sowieso nicht auf

den Berg schaffen.«

Victor schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Ein Gedächtnis wie

ein Sieb. Ich muß ihn zu Hause liegengelassen haben. Stellen Sie sich

vor, da fahre ich zu einem Erdkreuzertreffen und vergesse meinen

Baseballhandschuh!«

Die beiden Wachtposten lachten artig mit; dann sagte der erste:

»Viel Vergnügen, Sir. Der Einschlag findet um 14 Uhr 32 statt.

Vielleicht haben Sie Glück!«

Er dankte den beiden und sprang in den wartenden Land Rover,

bevor sie es sich anders überlegten. Mißtrauisch betrachtete er den

Handschuh. Was, um Himmels willen, ging dort oben vor?

Der Land Rover setzte ihn am Osteingang der Hügelfestung ab, wo

etwa fünfzig stahlbehelmte Männer und Frauen durcheinanderliefen.

In der Festungsmitte stand ein großes Zelt mit zahllosen Antennen und

einer gigantischen Satellitenschüssel auf dem Dach. Ein Stück den

Hügel hinauf drehte sich langsam eine Radarantenne. Er hatte ein

riesiges Teleskop oder so etwas erwartet, doch nichts dergleichen war

zu sehen.

»Name?«

Victor fuhr herum; vor ihm stand ein kleiner Mann und starrte ihn

an. Er hatte ein Klemmbrett in der Hand, einen Stahlhelm auf dem

- 262 -

Kopf und schien seine begrenzte Autorität über die Maßen zu

genießen.

Victor versuchte es mit einem Bluff. »Das da bin ich«, sagte er und

zeigte auf einen Namen am Ende der Liste.

»Dann sind Sie also Mr. Bitte Wenden?«

»Darüber«, entgegnete Victor eilig.

»Mrs. Trotswell?«

»Hmm, äh, nein. Ceres. Augustus Ceres.«

Der kleine Mann sah in seiner Liste nach und ging die Namen der

Reihe nach mit seinem stählernen Kugelschreiber durch.

»Hier gibt es niemanden dieses Namens«, sagte er langsam und

beäugte Victor mißtrauisch.

»Ich bin aus Berwick-upon-Tweed«, erklärte Victor. »Nachzügler.

Hat Ihnen denn niemand Bescheid gesagt? Dr. Müller meinte, ich

könne jederzeit vorbeikommen.«

Der kleine Mann erschrak. »Müller? Wir haben hier niemanden

dieses Namens. Sie meinen vermutlich Dr. Cassiopeia.« Er zwinkerte

ihm grinsend zu. »So weit, so gut«, setzte er hinzu, sah erst auf seine

Liste und blickte sich dann in der Festung um, »die Außenposten sind

schwach besetzt. Sie können B3 übernehmen. Haben Sie einen

Handschuh? Gut. Wie steht’s mit einem Helm? Macht nichts. Hier,

nehmen Sie meinen; ich hole mir einen neuen aus dem Lager.

Einschlag um 14 Uhr 32. Schönen Tag noch.«

Victor nahm den Helm und ging in die Richtung, in die der kleine

Mann gezeigt hatte.

»Haben Sie gehört, Thursday?« zischte er. »Dr. Cassiopeia.«

»Ja«, antwortete ich. »Mal sehen, ob wir was über ihn rausfinden

können.«

Bowden sprach schon mit Finisterre, der im Büro auf eine

ebensolche Anfrage gewartet hatte.

- 263 -

Victor stopfte seine Bruyèrepfeife und ging gemächlich in Richtung

Posten B3, als ihn ein Mann in dicker Winterjacke fast über den

Haufen rannte. Er kannte Dr. Müllers Gesicht von dem

Verbrecherfoto. Victor lüftete den Hut, entschuldigte sich und ging

weiter.

»Warten Sie!« rief Müller. Victor drehte sich um. Müller starrte ihn

mit hochgezogener Augenbraue an.

»Habe ich Ihr Gesicht nicht schon mal woanders gesehen?«

»Nein, es war immer schon da, wo es ist«, versuchte Victor die

Situation mit einem Scherz zu überspielen. Müller starrte ihn mit

ausdrucksloser Miene an, während Victor weiter seine Pfeife stopfte.

»Ich weiß genau, daß ich Sie schon mal irgendwo gesehen habe«,

fuhr Müller fort, doch Victor konnte so leicht nichts erschüttern.

»Das glaube ich kaum«, widersprach er und streckte die Hand aus.

»Ceres«, setzte er hinzu. »Vom Spiralarm Berwick-upon-Tweed.«

»Ach, Berwick-upon-Tweed?« sagte Müller. »Dann kennen Sie

doch bestimmt auch meinen guten Freund und Kollegen Professor

Barnes?«

»Nie von ihm gehört«, gestand Victor; Müller wollte ihn vermutlich

auf die Probe stellen. Müller sah lächelnd auf seine Armbanduhr.

»Einschlag in sieben Minuten, Mr. Ceres. Sie sollten langsam Posten

beziehen.«

Victor steckte seine Pfeife an und ging in die Richtung, die man ihm

gewiesen hatte. In der Erde steckte ein Pflock mit der Aufschrift B3;

er stellte sich daneben und kam sich reichlich albern vor. Die anderen

Erdkreuzer hatten ihre Helme aufgesetzt und suchten den westlichen

Himmel ab. Victor blickte sich um und erregte die Aufmerksamkeit

einer attraktiven Frau seines Alters, die ein paar Schritte weiter an B2

Aufstellung genommen hatte.

»Hallo!« sagte er fröhlich und tippte sich an den Helm.

Die Frau klimperte verschämt mit den Wimpern.

»Alles in Ordnung?« fragte sie.

- 264 -

»Tipptopp!« erwiderte Victor elegant und setzte rasch hinzu: »Nun

ja, nicht ganz. Das ist mein erstes Mal.«

Die Frau winkte lächelnd mit ihrem Handschuh.

»Es ist kinderleicht. Halten Sie die Augen offen, und fangen Sie nur

mit ausgestrecktem Arm. Mal prasseln sie regelrecht vom Himmel,

mal gucken wir buchstäblich in den Mond, aber wenn Sie einen

erwischen, legen Sie ihn sofort ins Gras. Wenn sie die Erdatmosphäre

passiert haben, sind sie zumeist recht heiß.«

Victor starrte sie fassungslos an. »Soll das heißen, wir fangen

Meteore mit bloßen Händen?«

Das Lachen der Frau klang glockenhell. »Nein, nein, Sie

Dummchen! Dazu haben wir doch die Handschuhe! Außerdem sind es

Meteoriten. Meteore verbrennen in der Atmosphäre. Seit ’64 war ich

bei siebzehn mutmaßlichen Einschlägen dabei. Einmal, ’71 in Terra

del Fuego, hätte ich beinahe einen erwischt. Aber damals«, setzte sie

betrübt hinzu, »hat ja auch mein lieber George noch gelebt …«

Sie sah ihn an und lächelte. Victor erwiderte das Lächeln. Sie fuhr

fort: »Wenn wir heute Zeugen eines Einschlags werden, ist das der

erste korrekt vorhergesagte Einschlag in Europa. Stellen Sie sich vor,

Sie fangen einen Meteoriten! Sie sind der Schutt, der bei der

Schöpfung des Universums vor viereinhalb Milliarden Jahren

entstand! Das ist wie die Heimkehr eines verlorenen Sohnes!«

»Sehr … poetisch«, befand Victor stockend, während ich ihm über

Funk ins Ohr flüsterte.

»In unserer Kartei gibt es keinen Dr. Cassiopeia«, sagte ich. »Lassen

Sie ihn um Himmels willen nicht aus den Augen!«

»Ist gut«, antwortete Victor und hielt Ausschau nach Dr. Müller.

»Wie bitte?« fragte die Frau auf B2, die ihn und nicht etwa den

Himmel angestarrt hatte.

»Ist gut«, erwiderte Victor hastig, »wenn ich, äh, einen fange, lasse

ich ihn sofort fallen.«

Ein Lautsprecher plärrte: »Zwei Minuten bis zum Einschlag.« Ein

Raunen ging durch die Menge.

- 265 -

»Viel Glück!« sagte die Frau, zwinkerte ihm einladend zu und

starrte in den wolkenlosen Himmel.

Plötzlich sagte eine Stimme dicht hinter Victor: »Jetzt weiß ich,

woher ich Sie kenne.«

Victor drehte sich um und starrte in das ausgesprochen

unangenehme Gesicht Dr. Müllers. Ein Stück hinter ihm stand ein

stämmiger Wachmann mit der Hand in der Innentasche seines

Jacketts.

»Sie sind SpecOps-Agent. Ein LitAg. Victor Analogy, nicht wahr?«

»Nein, mein Name ist Dr. Augustus Ceres, Berwick-upon-Tweed.«

Nervös lachend setzte Victor hinzu: »Victor Analogy! Was ist denn

das für ein Name?«

Müller winkte seinem Leibwächter, der mit gezogener Automatik

auf Victor losging. Er sah aus, als könne er es kaum erwarten, sie zu

benutzen.

»Tut mir leid, mein Freund«, sagte Müller freundlich, »aber das

genügt mir nicht. Wenn Sie wirklich Analogy sind, haben Sie hier

nichts zu suchen. Sollten Sie sich jedoch tatsächlich als Dr. Ceres aus

Berwick-upon-Tweed entpuppen, bitte ich vielmals um

Entschuldigung.«

»Moment mal …«, begann Victor, doch Müller ließ ihn gar nicht

erst zu Wort kommen.

»Ich gebe Ihrer Familie dann Bescheid, wo sie die Leiche findet«,

sagte er großmütig.

Victor blickte sich hilfesuchend um, doch alle anderen Erdkreuzer

starrten bloß in den Himmel.

»Leg ihn um.«

Lächelnd krümmte der Leibwächter den Finger am Abzug. In

diesem Augenblick hörte Victor ein Heulen am Himmel, und ein

verirrtet Meteorit krachte auf den Helm des Wachmannes. Der

Leibwächter kippte um wie ein Kartoffelsack, die Pistole ging los, und

das Projektil durchschlug Victors Baseballhandschuh. Plötzlich

schwirrte die Luft von rotglühenden Meteoriten, die jaulend zur Erde

- 266 -

regneten. Der heftige Schauer stürzte die versammelten Erdkreuzer

gänzlich in Verwirrung; sie konnten sich nicht entscheiden, ob sie in

Deckung gehen oder versuchen sollten, die Meteoriten zu fangen.

Müller kramte in seiner Jackentasche nach seiner Pistole, als

plötzlich ganz in der Nähe jemand »Achtung!« rief. Beide wirbelten

herum, doch nicht Müller, sondern Victor fing den kleinen Meteoriten.

Er hatte in etwa die Größe eines Kricketballs und glühte leuchtend rot.

Victor warf ihn Müller zu, der instinktiv die Hand danach ausstreckte.

Leider trug er keinen Baseballhandschuh. Erst hörte man ein Zischen,

dann ein Jaulen und schließlich einen Schmerzensschrei, als Victor

ihm mit einer Gewandtheit, die man einem Fünfundsiebzigjährigen

niemals zugetraut hätte, einen Kinnhaken versetzte. Müller fiel um

wie ein Kegel, und Victor hechtete nach der am Boden liegenden

Waffe. Er hielt sie Müller ins Genick, zog ihn hoch und stieß ihn vor

sich her zum Ausgang der Hügelfestung. Der Meteoritenschauer ließ

nach, und ich mahnte ihn über Funk zur Vorsicht.

»Sie sind Analogy, stimmt’s?« fragte Müller.

»Stimmt. SpecOps-27. Und Sie sind vorläufig festgenommen.«

Victor, Bowden und ich saßen mit Müller in Verhörraum 3, als Hicks

und Schitt erfuhren, wen wir da geschnappt hatten. Victor hatte Müller

gerade erst nach seinem Namen gefragt, als die Tür aufflog. Es war

Schitt, flankiert von zwei SO-9-Agenten, die keinen besonders

humorvollen Eindruck machten.

»Mein Gefangener, Analogy.«

»Mein Gefangener, Mr. Schitt«, hielt Victor nachdrücklich dagegen.

»Meine Festnahme, mein Zuständigkeitsbereich; ich vernehme Dr.

Müller im Fall Chuzzlewit

Jack Schitt wandte sich zu Commander Hicks um, der hinter ihm

stand.

»So leid es mir tut, Victor, aber die Swindoner Sektionen SO-9 und

SO-27 fallen ab sofort unter die Zuständigkeit der Goliath Corporation

und ihres örtlichen Repräsentanten. Wer dem amtierenden SpecOps

- 267 -

Kommandanten Schitt relevante Informationen und/oder Unterlagen

vorenthält, kann wegen Behinderung einer laufenden Ermittlung

strafrechtlich belangt werden. Ist Ihnen klar, was das heißt?«

»Das heißt, daß Schitt tun und lassen kann, was er will«, erwiderte

Victor.

Ȇbergeben Sie Ihren Gefangenen, Victor. Die Goliath Corporation

hat Vorrang.«

Victor starrte ihn wütend an und bahnte sich einen Weg zur Tür

hinaus.

»Ich möchte bleiben«, bat ich.

»Nichts zu machen«, befand Schitt. »Der SO-27-Sicherheitsstatus

reicht in diesem Fall nicht aus.«

»Wie gut«, gab ich zurück, »daß ich meine SO-5-Marke noch

habe.«

Jack Schitt fluchte, sagte jedoch weiter nichts. Bowden wurde

hinausgeschickt, und die beiden SO-9-Agenten postierten sich links

und rechts der Tür; Schitt und Hicks setzten sich an den Tisch, wo

Müller scheinbar desinteressiert eine Zigarette rauchte. Ich lehnte

mich gegen die Wand und harrte der Dinge, die da kommen mochten.

»Keine Angst, der holt mich hier raus«, sagte Müller langsam und

verzog den Mund zu einem seltenen Lächeln.

»Das glaube ich kaum«, meinte Schitt. »Die Swindoner SpecOpsZentrale ist im Augenblick von mehr SO-9-Agenten und SEK-Leuten

umstellt, als Sie in einem Monat zählen können. Nicht mal ein Irrer

wie Hades würde versuchen, hier reinzukommen.«

Das Lächeln wich von Müllers Lippen.

»SO-9 ist die beste Antiterroreinheit der Welt«, fuhr Schitt fort.

»Keine Angst, wir kriegen ihn. Die Frage ist nur, wann. Und wenn Sie

uns helfen, stehen Sie vor Gericht vielleicht gar nicht so schlecht da.«

Doch davon ließ sich Müller nicht beirren.

»Und weil Ihre SO-9-Agenten die besten der Welt sind, hat mich ein

fünfundsiebzigjähriger LitAg festgenommen?«

- 268 -

Darauf wußte Jack Schitt keine Antwort. Müller wandte sich an

mich.

»Und wenn Ihre SO-9 tatsächlich so eine heiße Nummer ist, warum

ist es dann ausgerechnet der jungen Dame hier gelungen, Hades in die

Enge zu treiben?«

»Ich hatte Glück«, antwortete ich und setzte hinzu: »Wieso hat

Acheron Martin Chuzzlewit nicht umgebracht? Leere Drohungen sind

doch sonst nicht sein Stil.«

»Wohl wahr«, bestätigte Müller. »Wohl wahr.«

»Beantworten Sie die Frage, Müller«, fuhr Schitt ihn an. »Ich kann

sehr ungemütlich werden.«

Müller lächelte ihn an. »Nicht halb so ungemütlich wie Acheron. Im

Who’s Who des Verbrechens gibt er als Hobbys Folter und Floristik

an.«

»Wollen Sie im Knast versauern?« fragte Hicks, um auch etwas zum

Gespräch beizutragen. »Entweder Sie machen sich schon mal auf

fünfmal lebenslänglich gefaßt. Oder Sie marschieren in ein paar

Minuten als freier Mann hier raus. Was ist Ihnen lieber?«

»Sie können machen, was Sie wollen, Officers. Von mir erfahren

Sie kein Sterbenswörtchen. Hades holt mich raus, egal wie.«

Müller verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. Eine Zeitlang

herrschte Schweigen. Schließlich beugte Schitt sich vor und stellte den

Casettenrecorder ab. Er zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche

und hängte es über die Videokamera in der Ecke des Verhörraums.

Hicks und ich wechselten nervöse Blicke. Müller schaute zu, wirkte

jedoch nicht sonderlich beunruhigt.

»Also, noch mal von vorn«, sagte Schitt, zog seine Automatik und

richtete sie auf Müllers Schulter. »Wo steckt Hades?«

Müller sah ihn an. »Entweder Sie erledigen mich jetzt, oder Hades

erledigt mich, wenn er dahinterkommt, daß ich gesungen habe. Tot

bin ich so oder so, und Ihre Methode ist wahrscheinlich nicht

annähernd so schmerzhaft wie Acherons. Ich habe ihn in Aktion

gesehen. Sie haben ja keine Ahnung, wozu der Mann fähig ist.«

- 269 -

»Ich schon«, sagte ich langsam.

Schitt entsicherte die Automatik. »Ich zähle bis drei.«

»Ich kann es Ihnen nicht sagen …!«

»Eins.«

»Er würde mich umbringen.«

»Zwei.«

Das war mein Stichwort. »Wir könnten Sie in Schutzgewahrsam

nehmen.«

»Schutz? Vor ihm?« rief Müller. »Daß ich nicht lache!«

»Drei!«

Müller schloß die Augen und begann zu zittern. Schitt ließ die

Waffe sinken. So kamen wir nicht weiter. Plötzlich hatte ich eine Idee.

»Er hat das Manuskript gar nicht mehr, nicht wahr?«

Müller öffnete ein Auge und sah mich an. Genau darauf hatte ich

gewartet.

»Mycroft hat es vernichtet, nicht?« fragte ich weiter. Ich versuchte,

wie mein Onkel zu denken – offenbar mit Erfolg.

»Stimmt das?« wollte Jack Schitt wissen. Müller schwieg.

»Dann braucht er jetzt vermutlich dringend eine Alternative«, gab

Hicks zu bedenken.

»Es gibt Tausende von Originalmanuskripten«, murmelte Schitt.

»Und die können wir unmöglich alle bewachen. Hinter welchem ist er

her?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, stotterte Müller; seine

Entschlossenheit ging langsam, aber sicher zum Teufel. »Er würde

mich umbringen.«

»Er wird Sie mit Sicherheit umbringen, wenn er erfährt, daß Sie uns

die Geschichte mit Mycroft und dem Manuskript verraten haben«,

sagte ich mit ruhiger Stimme.

- 270 -

»Aber das habe ich doch gar nicht …!«

»Woher soll er das wissen? Wir können Sie schützen, Müller, aber

wir müssen Hades fassen. Wo ist er?«

Müller blickte von einem zum anderen.

»Schutzgewahrsam?« stammelte er. »Dazu werden Sie eine kleine

Armee brauchen.«

»Das läßt sich arrangieren«, versicherte Schitt, der für seinen

sparsamen Umgang mit der Wahrheit berühmt war. »Die Goliath

Corporation ist durchaus bereit, sich in dieser Angelegenheit

großzügig zu zeigen.«

»Na schön … ich sag’s Ihnen.«

Er blickte in die Runde und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Ist es nicht ziemlich heiß hier drin?« fragte er.

»Nein«, antwortete Schitt. »Wo ist Hades?«

»Also, er ist … im …«

Plötzlich verstummte er. Sein Gesicht verzerrte sich vor Angst, ein

heftiger Stich fuhr ihm ins Kreuz, und er schrie auf vor Schmerz.

»Raus mit der Sprache! Schnell!« rief Schitt, sprang auf und packte

den Gepeinigten am Revers.

»Pen-de-rynnnnnn …«, kreischte er. »Er ist im …!«

»Weiter!« schrie Schitt. »Es gibt wahrscheinlich tausend

Penderyns!«

»Das ist ein Quizzzzzz«, stöhnte Müller. »… aaah! «

»Ich hab die Nase voll von Ihren Spielchen!« brüllte Schitt und

schüttelte Müller. »Raus mit der Sprache, oder ich erwürge Sie mit

bloßen Händen!«

Doch Müller konnte nicht mehr klar denken und war auch für

Schitts Drohungen nur noch begrenzt empfänglich. Sich in Krämpfen

windend, fiel er zu Boden.

- 271 -

»Sanitäter!« schrie ich und kniete mich neben dem konvulsivisch

zuckenden Müller hin, um ihm zu helfen. Aber es war schon zu spät.

Ein stummer Schrei entrang sich seiner Kehle, und er stellte die

Augen auf Null. Der Geruch von versengter Kleidung stieg mir in die

Nase. Ich wich zurück, als eine grelle, orangerote Flamme aus seinem

Jackett schlug. Sie setzte seinen Körper in Brand, und wir räumten

eilig das Feld, während er in der starken Hitze bis zur Unkenntlichkeit

verkohlte; das Ganze dauerte keine vierzig Sekunden.

»Mist!« stieß Schitt hervor, als sich der Rauch verzogen hatte.

Müller war nur noch ein glühendes Häuflein Asche. Das reichte nicht

mal, um ihn zu identifizieren.

»Hades«, murmelte ich. »Eine Art eingebaute Sicherung. Sobald

Müller sich verplappert … puff, geht er in Flammen auf. Raffiniert.«

»Das hört sich an, als ob Sie ihn bewundern würden, Miss Next«,

meinte Schitt. »Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich?«

»Ehre, wem Ehre gebührt.« Ich zuckte die Achseln. »Wie der Hai

hat Acheron sich im Lauf der Jahre zu einem fast perfekten Räuber

entwickelt. Ich habe noch nie Großwild gejagt und würde es auch

niemals tun, aber ich verstehe jetzt, was manche Leute daran so

reizvoll finden. Als erstes«, fuhr ich fort, ohne den qualmenden

Aschehaufen zu beachten, der noch vor kurzem Müller gewesen war,

»müssen wir überall dort, wo Originalmanuskripte aufbewahrt

werden, die Zahl der Wachtposten verdreifachen. Danach müssen wir

jedes noch so abgelegene Penderyn durchsuchen.«

»Ich kümmere mich darum«, sagte Hicks, der nur auf eine

Gelegenheit gewartet hatte, sich aus dem Staub zu machen.

Schitt und ich sahen uns an.

»Sieht aus, als stünden wir auf derselben Seite, Miss Next.«

»Leider«, gab ich zurück. »Sie wollen das ProsaPortal. Ich will

meinen Onkel wiederhaben. Und bevor einer von uns kriegt, was wir

wollen, müssen wir Acheron ausschalten. Ich fürchte, wir müssen eine

Weile zusammenarbeiten.«

- 272 -

»Eine ebenso nützliche wie glückliche Verbindung«, meinte Schitt

grinsend.

Ich stieß einen Finger in seine Krawatte. »Damit wir uns nicht

mißverstehen, Mr. Schitt. Sie mögen die Macht auf Ihrer Seite haben,

aber ich garantiere Ihnen, daß ich alles tun werde, um meine Familie

zu schützen. Verstanden?«

Schitts Blick war eiskalt.

»Versuchen Sie nicht, mir zu drohen, Miss Next. Ich kann Sie

schneller in die LitAg-Außenstelle Lerwick versetzen lassen, als Sie

›Swift‹ sagen können. Vergessen Sie das nicht. Sie sind hier, weil Sie

gut sind. Genau wie ich. Wir sind uns ähnlicher, als Sie glauben.

Schönen Tag noch, Miss Next.«

Die Schnellsuche ergab vierundachtzig walisische Ortschaften namens

Penderyn, doppelt so viele Straßen und noch einmal dieselbe Anzahl

von Pubs, Clubs und Vereinen. Kein Wunder, daß es so viele waren;

Die Penderyn war 1831 hingerichtet worden, weil er angeblich

während des Merthyr-Aufstands einen Soldaten angeschossen hatte.

Er war der erste Märtyrer des Freiheitskampfes der Waliser und so

etwas wie eine Galionsfigur des republikanischen Widerstands. Selbst

wenn Goliaths Leute in der Lage sein sollten, Agenten nach Wales

einzuschleusen, hätten die nicht gewußt, in welchem Penderyn sie mit

ihrer Suche nach Hades anfangen sollten. Das konnte dauern.

Müde machte ich mich auf den Heimweg. Ich holte meinen Wagen

aus der Werkstatt; die Mechaniker hatten es tatsächlich geschafft, die

Frontachse auszutauschen, einen neuen Motor einzubauen und die

Einschußlöcher zu stopfen: Einige Kugeln hatten Bowden und mich

nur um Haaresbreite verfehlt. Als ich vor dem Hotel Finis hielt,

brummte ein Luftschiff der Klipperklasse langsam über mich hinweg.

Eben brach die Dämmerung herein, und die Navigationsleuchten auf

beiden Seiten des Zeppelins blinkten matt am Abendhimmel. Mit

seinen zehn Propellern, die die Luft mit rhythmischem Summen in

Bewegung versetzten, bot er einen ebenso eleganten wie erhabenen

Anblick; tagsüber konnte ein Luftschiff die Sonne verdunkeln. Ich

- 273 -

betrat das Hotel. Die Milton-Konferenz war vorbei, und Liz begrüßte

mich eher wie eine Freundin als wie einen Gast.

»Guten Abend, Miss Next. Alles in Ordnung?«

»Nicht direkt.« Ich lächelte. »Trotzdem danke der Nachfrage.«

»Ihr Dodo ist heute gekommen«, verkündete Liz. »Er ist in Zwinger

fünf. So etwas spricht sich herum; die Swindoner Dodo-Liebhaber

waren schon hier. Sie meinten, es handele sich um eine äußerst seltene

Version eins oder so etwas – Sie möchten sie anrufen.«

»Er ist eine 1.2«, sagte ich geistesabwesend. Dodos interessierten

mich momentan nicht allzusehr. Ich zögerte einen Augenblick. Liz

spürte meine Unentschlossenheit.

»Kann ich etwas für Sie tun?«

»Hat, äh, Mr. Parke-Laine angerufen?«

»Nein. Haben Sie seinen Anruf erwartet?«

»Nein – nicht direkt. Falls er sich meldet und Sie mich nicht auf

meinem Zimmer erreichen, bin ich im Cheshire Cat. Wenn Sie mich

dort auch nicht finden können, würden Sie ihn dann bitten, in einer

halben Stunde noch mal anzurufen?«

»Ich kann ihm auch gleich einen Wagen schicken lassen.«

»O Gott, ist es so offensichtlich?«

Liz nickte.

»Er heiratet.«

»Eine andere?«

»Ja.«

»Das tut mir leid.«

»Mir auch. Hat Ihnen schon mal jemand einen Heiratsantrag

gemacht?«

»Klar.«

»Und? Was haben Sie gesagt?«

- 274 -

»Ich habe gesagt: ›Frag mich noch mal, wenn du rauskommst.‹«

»Und?«

»Ich warte noch heute.«

Ich ging nach Pickwick sehen, der sich bestens eingelebt zu haben

schien. Als er mich sah, fing er aufgeregt an zu Blocken. Entgegen

sämtlichen Theorien von Experten hatten sich die Dodos als

erstaunlich intelligent und recht agil erwiesen – die weitverbreitete

Legende, es seien plumpe, tolpatschige Vögel, erwies sich als falsch.

Ich gab ihm eine Handvoll Erdnüsse und schmuggelte ihn unter dem

Mantel auf mein Zimmer. Die Zwinger waren nicht etwa schmutzig

oder dergleichen; ich wollte ihn bloß nicht allein lassen. Ich legte ihm

seinen Lieblingsteppich ins Bad, damit er einen Platz zum Schlafen

hatte, und bedeckte den Fußboden mit Zeitungspapier. Ich versprach,

ihn gleich morgen früh zu meiner Mutter zu bringen, und ließ ihn aus

dem Fenster auf den Parkplatz hinaussehen.

»Guten Abend, Miss«, sagte der Barmann im Cheshire Cat. »Was

haben der Rabe und ein Schreibtisch gemeinsam?«

»Beide fangen mit B an?«

»Sehr gut. Ein kleines Vorpal’s Special, stimmt’s?«

»Das soll wohl ein Witz sein? Gin-Tonic. Einen doppelten.«

Er lächelte und drehte sich zu den Flaschen um. »Polizei?«

»SpecOps.«

»LitAg?«

»Nja.«

Ich nahm mein Glas entgegen.

»Ich wollte auch mal LitAg werden«, sagte er wehmütig, »habe es

aber nur bis zum Kadetten gebracht.«

»Warum?«

- 275 -

»Meine Freundin war eine militante Marlowianerin. Sie baute ein

paar Will-Maschinen so um, daß sie den Tamerlan aufsagten, und als

sie geschnappt wurde, wurde ich auch mit verhaftet. Und damit hatte

es sich dann mit meiner Karriere. Nicht mal das Militär wollte mich

haben.«

»Wie heißen Sie?«

»Chris.«

»Thursday.«

Wir schüttelten uns die Hand.

»Ich kann nur für mich persönlich sprechen, Chris, aber ich war

sowohl beim Militär als auch bei den SpecOps, und Sie sollten Ihrer

Freundin auf Knien danken.«

»Mach ich«, versicherte Chris. »Jeden Tag. Wir sind inzwischen

verheiratet und haben zwei Kinder. Abends jobbe ich hier als

Barmann, und tagsüber leite ich den Swindoner Ableger der KitMarlowe-Gesellschaft. Wir haben fast viertausend Mitglieder. Nicht

übel für einen elisabethanischen Fälscher, Mörder, Spieler und

Atheisten, was?«

»Manche sagen, er könnte die Stücke verfaßt haben, die

normalerweise Shakespeare zugeschrieben werden.«

Chris war erstaunt. Und mißtrauisch.

»Ich weiß nicht, ob ich mit einer LitAg über dieses Thema sprechen

soll.«

»Gespräche sind doch nicht verboten, Chris. Wofür halten Sie uns,

für die Gedankenpolizei?«

»Nein, das ist SO-2, nicht wahr?«

»Aber zurück zu Marlowe …«

Chris senkte die Stimme. »Na schön. Wenn Sie mich fragen, könnte

Marlowe die Stücke durchaus geschrieben haben. Er war ohne Zweifel

ein begnadeter Dramatiker, wie der Faust, der Tamerlan und Edward

II. eindrucksvoll belegen. Er war als einziger seiner Altersgenossen

- 276 -

dazu in der Lage. Vergessen Sie Bacon und Oxford; Marlowe ist der

klare Favorit.«

»Aber Marlowe wurde 1593 ermordet«, wandte ich ein. »Die

meisten Stücke sind erst danach entstanden.«

Chris sah mich an und sagte in verschwörerischem Tonfall:

»Stimmt. Falls er tatsächlich bei besagter Kneipenschlägerei ums

Leben kam.«

»Was wollen Sie damit andeuten?«

»Daß sein Tod vielleicht vorgetäuscht war.«

»Warum?«

Chris holte tief Luft. Auf diesem Gebiet kannte er sich aus.

»Sie dürfen nicht vergessen, daß Elisabeth eine protestantische

Königin war. Dinge wie Atheismus oder Papismus stellten die

Autorität der protestantischen Kirche und damit auch der Königin als

deren Oberhaupt in Frage.«

»Verrat«, murmelte ich. »Darauf stand die Todesstrafe.«

»Genau. Im April 1593 verhaftete der Kronrat einen gewissen

Thomas Kyd als mutmaßlichen Verfasser regierungskritischer

Pamphlete. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung fand man

atheistische Schriften.«

»Und?«

»Kyd lieferte Marlowe ans Messer. Er behauptete, sie stammten von

Marlowe, mit dem er sich zwei Jahre zuvor ein Zimmer geteilt hatte.

Marlowe wurde am 18. Mai 1593 festgenommen, verhört und auf

Kaution wieder freigelassen, das heißt die Beweise reichten

vermutlich nicht aus, um ihn vor Gericht zu stellen.«

»Und was ist mit seiner Freundschaft zu Walsingham?« fragte ich.

»Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Walsingham

bekleidete eine einflußreiche Stellung beim Geheimdienst; die beiden

kannten sich seit Jahren. Da täglich neue Beweise gegen Marlowe ans

Licht kamen, schien seine Verhaftung unausweichlich. Aber am

- 277 -

Morgen des 30. Mai kommt Marlowe bei einer Kneipenschlägerei zu

Tode, angeblich, weil er die Zeche nicht bezahlen wollte.«

»Wie praktisch.«

»Allerdings. Ich bin der festen Überzeugung, daß Walsingham den

Tod seines Freundes nur vorgetäuscht hat. Die drei Männer in der

Schenke standen allesamt in seinen Diensten. Er bestach den Coroner,

und Marlowe machte Shakespeare zu seinem Strohmann. Will, ein

verarmter Schauspieler, der Marlowe aus seiner Zeit am ShoreditchTheater kannte, brauchte dringend Geld; und so begann Shakespeares

Aufstieg mit dem Ende von Marlowes Karierre.«

»Interessante Theorie. Aber erschien Venus und Adonis nicht schon

ein paar Monate vor Marlowes Tod? Noch vor der Verhaftung Kyds?«

Chris hustete. »Guter Einwand. Dazu kann ich nur sagen, daß das

Komplott entweder von langer Hand vorbereitet war, oder jemand hat

die historischen Quellen manipuliert.«

Er schwieg einen Moment, blickte sich um und senkte die Stimme

noch weiter.

»Bitte verraten Sie den anderen Marlowianern nichts, aber noch

etwas spricht gegen einen vorgetäuschten Tod.«

»Ich bin ganz Ohr.«

»Marlowe kam im Verwaltungsbezirk des Coroners zu Tode.

Sechzehn Juroren sahen seinen angeblich vertauschten Leichnam, und

es ist äußerst unwahrscheinlich, daß sich der Coroner bestechen ließ.

Ich an Walsinghams Stelle hätte Marlowes Tod in der Provinz getürkt,

wo man einen Coroner wesentlich leichter kaufen konnte. Er hätte

sogar noch weiter gehen und den Leichnam verstümmeln lassen

können, um die Identifizierung unmöglich zu machen.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Daß Walsingham Marlowe womöglich selbst ermorden ließ, um

ihn zum Schweigen zu bringen. Unter Folter hätte er vermutlich

ausgepackt, und es spricht einiges dafür, daß Marlowe wußte, wieviel

Dreck Walsingham am Stecken hatte.«

- 278 -

»Und?« fragte ich. »Wie erklären Sie es sich dann, daß wir so gut

wie nichts über Shakespeare wissen? Daß er ein kurioses Doppelleben

führte? Und daß seine literarische Arbeit in Stratford praktisch

unbekannt war?«

Chris zuckte die Achseln.

»Keine Ahnung. Aber außer Marlowe gab es im elisabethanischen

London niemanden, der auch nur annähernd dazu in der Lage gewesen

wäre, solche Stücke zu schreiben.«

»Irgendwelche Theorien?«

»Nein. Aber die Elisabethaner waren ein komischer Haufen.

Höfische Intrigen, der Geheimdienst …«

»Und alles wandelt sich ins Gegenteil …«

»Sie sagen es. Prost.«

Wir stießen an, und Chris ging davon, um einen anderen Gast zu

bedienen. Ich spielte eine halbe Stunde Klavier und zog mich dann

zurück. Ich fragte noch einmal bei Liz nach, doch Landen hatte sich

nicht gemeldet.

- 279 -

27.

Hades findet ein neues Manuskript

Ich hatte gehofft, ein Manuskript von Austen oder

Trollope, Thackeray, Fielding oder Swift zu finden.

Vielleicht auch einen Johnson, Wells oder Conan Doyle.

Ein Defoe wäre nicht schlecht gewesen. Und nun stellen

Sie sich meine Freude vor, als ich erfuhr, daß Charlotte

Brontës Meisterwerk Jane Eyre in ihrem Elternhaus zur

Ansicht auslag. Wie sollte ich an so einer Gelegenheit

vorbeigehen?

ACHERON HADES

-Die Lust am Laster

Unsere Sicherheitsempfehlungen waren dem Brontë-Museum

übermittelt worden, und in jener Nacht taten fünf bewaffnete

Wachleute Dienst. Es waren allesamt kräftige Burschen aus

Yorkshire, die man für diese ehrenhafte Aufgabe ausgesucht hatte,

weil sie auf den literarischen Ruhm von Charlotte Brontë natürlich

besonders stolz waren. Einer beaufsichtigte das Manuskript, ein

zweiter hielt im Gebäude Wache, Nummer drei und vier gingen auf

dem Gelände Streife, und der fünfte saß in einem kleinen Raum vor

sechs TV-Bildschirmen. Er aß ein Brot mit Ei und Zwiebeln und ließ

die Fernseher nicht aus den Augen, konnte auf den Monitoren jedoch

keinerlei Unregelmäßigkeit entdecken. Allerdings hatte er keine

Ahnung, über welche besonderen Fähigkeiten Hades verfügte. Diese

Informationen waren ausschließlich Mitarbeitern der Sektionen SO-1

bis 9 zugänglich.

Es fiel Hades also nicht schwer, sich Zutritt zu verschaffen; er

schlüpfte einfach durch die Küchentür, nachdem er das Schloß mit

einem Stemmeisen aufgebrochen hatte. Der Wachmann, der im Haus

seinen Rundgang machte, hörte Acheron nicht kommen. Sein lebloser

Körper wurde später unter dem Ausgußbecken gefunden. Lautlos stieg

- 280 -

Hades die Treppe hinauf. Dabei hätte er soviel Lärm machen können,

wie er nur wollte. Er wußte, daß ihm die Wachleute mit ihren 38ern

nichts anhaben konnten, aber mir nichts, dir nichts hineinzuspazieren

und sich zu bedienen machte einfach keinen Spaß. Langsam tappte er

den Flur entlang zu dem Zimmer, in dem das ausgestellte Manuskript

lag, und spähte hinein. Das Zimmer war leer. Der Wachmann war aus

irgendeinem Grund nicht da. Hades trat vor den Schaukasten aus

Panzerglas und legte die Hand genau über das Buch. Das Glas unter

seinem Handteller begann sich zu kräuseln und wurde weich; bald war

es so biegsam, daß Hades die Finger hindurchstecken und das

Manuskript ergreifen konnte. Die destabilisierte Oberfläche dehnte

und streckte sich wie Gummi, als er das Buch herauszog, und

verwandelte sich gleich darauf in festes Glas zurück; allenfalls eine

leichte Sprenkelung ließ erahnen, daß seine Molekularstruktur

verändert worden war. Mit einem triumphierenden Lächeln auf den

Lippen las Acheron das Titelblatt:

Jane Eyre

von CURRER BELL

Okt. ’47

Eigentlich wollte Hades das Buch einstecken und mitnehmen, doch

die Geschichte hatte ihm immer schon gefallen. Und so gab er der

Versuchung nach, schlug das Manuskript auf und begann zu lesen.

Er hatte die Stelle aufgeschlagen, wo Jane im Bett liegt und

plötzlich ein leises, dämonisches Lachen von der Türe her hört. Als

sie erleichtert feststellt, daß das Gelächter nicht aus ihrem Zimmer

kommt, steht sie auf, schiebt den Türriegel zurück und ruft hinaus:

»Wer ist da?«

Statt einer Antwort hört sie jemanden glucksen und stöhnen. Dann

entfernen sich schwere Schritte, und eine Tür fällt ins Schloß. Jane

zieht sich ihr Kleid an, wirft sich ein Tuch um die Schultern, entriegelt

die Tür, öffnet sie einen Spaltbreit und späht vorsichtig hinaus. Auf

dem Boden entdeckt sie eine brennende Kerze und bemerkt überdies,

daß der Flur voller Rauch ist. Dann hört sie Rochesters halboffene

Zimmertür knarren und sieht den Flackerschein züngelnder Flammen.

- 281 -

Im Nu ist alles andere vergessen. Jane stürzt in Rochesters brennende

Kammer und versucht den Schlafenden zu wecken mit den Worten:

»Aufwachen! Aufwachen!«

Doch Rochester rührt sich nicht, und mit wachsendem Entsetzen

stellt Jane fest, daß das Bettzeug schon angesengt ist und jeden

Moment Feuer fangen wird. Sie rennt zum Waschtisch, nimmt Becken

und Krug, die beide mit Wasser gefüllt sind, schüttet sie über

Rochester aus und läuft dann in ihr eigenes Zimmer, um Nachschub

zu holen und auch die Vorhänge noch mit Wasser zu besprengen. Mit

Mühe gelingt es ihr, den Brand zu löschen, aber als Rochester endlich

erwacht und merkt, daß er in einer Pfütze liegt, stößt er wilde

Verwünschungen aus und sagt zu Jane: »Haben wir eine

Überschwemmung?«

»Keine Überschwemmung, Herr«, antwortet sie. »Aber es hat

gebrannt. Rasch, stehen Sie auf; Sie sind ganz naß. Ich hole Ihnen eine

Kerze.«

Rochester hat noch immer nicht begriffen, was geschehen ist.

»Bei allen Elfen der Christenheit, ist das nicht Jane Eyre?« fragt er.

»Was hast du mit mir gemacht, du Hexe, du Zauberin! Wer ist bei dir?

Wolltet ihr mich ertränken?«

»Drehen Sie sich gaaanz langsam um«, sagte der Wachmann und

unterbrach Acheron rüde in seiner Lektüre.

»Es ist doch immer dasselbe!« lamentierte Hades und wandte sich

zu dem Sicherheitsbeamten um, der seine Waffe auf ihn gerichtet

hielt. » Gerade wenn’s am schönsten ist!«

»Rühren Sie sich nicht vom Fleck, und legen Sie das Manuskript

hin.«

Acheron gehorchte. Der Wachmann löste das Walkie-talkie von

seinem Gürtel und hielt es sich an den Mund.

»Das würde ich nicht tun«, sagte Acheron leise.

»Ach ja?« gab der Wachmann dreist zurück. »Und wieso nicht,

wenn ich fragen darf?«

- 282 -

»Weil«, antwortete Acheron langsam und blickte dem Wachmann

tief in die Augen, »Sie dann nie erfahren werden, weshalb Ihre Frau

Sie verlassen hat.«

Der Wachmann ließ sein Walkie-talkie sinken.

»Woher kennen Sie meine Denise?«

Ich träumte unruhig. Ich war wieder auf der Krim, im Ohr das

unausgesetzte Donnern der Geschütze, das metallische Kreischen der

Granaten. Staub, Kordit und Amatol, die erstickten Schreie meiner

Kameraden, das ungezielte Krachen der Artillerie. Die Kanonen vom

Kaliber 88 waren so nah, daß die Geschosse explodierten, bevor man

sie kommen hörte. Ich saß im Transportpanzer und fuhr allen

Befehlen zum Trotz ins Kampfgetümmel zurück. Ich holperte über das

Grasland, vorbei an den Überresten früherer Gefechte. Plötzlich spürte

ich, wie etwas Großes an meinem Fahrzeug zerrte und das Dach

aufriß. Ein betörend schöner Sonnenstrahl stach in den Staub herab.

Dieselbe unsichtbare Hand ergriff den Panzer und schleuderte ihn in

die Luft. Er balancierte ein paar Meter weit auf einer Kette und sackte

dann wieder in die Waagerechte. Der Motor lief noch, die Steuerung

schien zu funktionieren; ich fuhr weiter, ohne den Schaden zu

bemerken. Erst als ich die Hand nach dem Schalter des Funkgeräts

ausstreckte, registrierte ich, daß das Dach nicht mehr da war. Eine

ernüchternde Entdeckung, aber zum Nachdenken hatte ich jetzt keine

Zeit. Vor mir lagen die qualmenden Überreste der Leichten PanzerBrigade. Die russischen 88er schwiegen; statt dessen tobte ein wildes

Gefecht mit Maschinengewehren und Handfeuerwaffen. Ich hielt bei

der erstbesten Gruppe von Verwundeten und öffnete die Heckklappe.

Sie klemmte, aber das spielte keine Rolle; mit dem Dach war auch die

Seitentür verschwunden, und ich schaffte in Windeseile

zweiundzwanzig Verwundete und Sterbende in den für acht Personen

bestimmten Transporter. Obendrein klingelte in einem fort ein

Telefon. Mein Bruder kümmerte sich ebenfalls, ohne Helm und mit

blutüberströmtem Gesicht, um die Verletzten. Er bat mich, ihn

nachzuholen. Als ich davonfuhr, spickte ein Scharfschütze die

Karosse mit Kugeln, die als jaulende Querschläger abprallten; die

russische Infanterie rückte an. Das Telefon klingelte immer noch. Ich

- 283 -

griff im Dunkeln nach dem Hörer, ließ ihn aus Versehen fallen und

tastete fluchend den Fußboden danach ab. Es war Bowden.

»Alles in Ordnung?« fragte er.

»Alles bestens«, antwortete ich und versuchte, meine Stimme so

normal wie möglich klingen zu lassen. Ich sah auf meinen Wecker. Es

war drei Uhr morgens. Ich stöhnte.

»Es ist schon wieder ein Manuskript gestohlen worden. Die

Nachricht kam gerade über Funk. Dieselbe Vorgehensweise wie bei

Martin Chuzzlewit. Die Täter sind einfach reinmarschiert und haben es

mitgenommen. Zwei Wachleute sind tot. Der eine wurde mit seiner

eigenen Dienstwaffe erschossen.«

»Jane Eyre.«

»Woher zum Kuckuck wissen Sie das?«

»Von Rochester.«

»Von wem …?«

»Vergessen Sie’s. Haworth House?«

»Vor einer Stunde.«

»Ich hole Sie in zwanzig Minuten ab.«

Eine Stunde später brausten wir nach Norden Richtung Rugby. Die

Nacht war klar und kühl, und die Straßen waren so gut wie leer.

Obwohl ich das Verdeck zugeklappt hatte und die Heizung auf vollen

Touren lief, zog es im Wageninnern, weil sich immer wieder heftige

Windböen unter die Motorhaube verirrten. Mich schauderte bei dem

Gedanken, wie sich der Wagen wohl im Winter fuhr.

»Ich werde das hoffentlich nicht bereuen«, murmelte Bowden.

»Hicks wird nicht sonderlich erfreut sein, wenn er von unserem

Ausflug erfährt.«

»Wer sagt: ›Ich werde das hoffentlich nicht bereuen‹, tut das in der

Regel schon. Also, wenn ich Sie rauslassen soll, brauchen Sie es nur

zu sagen. Zum Teufel mit Hicks. Zum Teufel mit Goliath und Jack

- 284 -

Schitt. Manche Dinge sind einfach wichtiger als die Vorschriften.

Regierungen und Moden kommen und gehen, aber Jane Eyre ist für

die Ewigkeit. Ich würde buchstäblich alles dafür tun, um den Roman

zu retten.«

Bowden schwieg. Ich hatte das Gefühl, ihm machte sein Job richtig

Spaß, seit wir zusammenarbeiteten. Ich schaltete einen Gang herunter,

überholte einen Lastwagen und sprintete los.

»Woher wußten Sie, daß es um Jane Eyre ging, als ich angerufen

habe?«

Ich dachte einen Moment nach. Wem sollte ich davon erzählen,

wenn nicht Bowden? Ich zog Rochesters Taschentuch hervor. »Sehen

Sie das Monogramm?«

»EFR?«

»Es gehört Edward Fairfax Rochester.«

Bowden sah mich zweifelnd an. »Langsam, Thursday. Ich bin zwar

kein Brontë-Experte, aber so blöd bin ich nicht, daß ich nicht wüßte,

daß diese Figuren nicht echt sind.«

»Ob echt oder nicht, ich bin ihm mehrmals begegnet. Ich habe auch

seine Jacke.«

»Moment mal – das mit Quaverleys Extraktion leuchtet mir ein,

aber was wollen Sie damit andeuten? Daß Charaktere nach Lust und

Laune aus ihren Romanen heraushüpfen können?«

»Zugegeben, das klingt alles sehr merkwürdig, und ich habe auch

keine Erklärung dafür. Aber die Grenze zwischen Rochester und mir

ist irgendwie durchlässig. Und nicht nur ist er aus dem Roman

herausgekommen; sondern einmal, als kleines Mädchen, habe ich

sogar das Buch betreten. Ich kam genau in dem Moment an, als sich

die beiden das erste Mal begegnen. Wissen Sie noch?«

Bowden blickte verlegen aus dem Seitenfenster.

»Ziemlich billig für bleifrei«, sagte er, als wir an einer Tankstelle

vorbeikamen.

Ich erriet den Grund. »Sie haben Jane Eyre nie gelesen, stimmt’s?«

- 285 -

»Nein …«, stammelte er. »Aber, äh …«

Ich lachte. »Na, na, ein LitAg, der Jane Eyre nicht kennt?«

»Ja, ja, geschenkt. Dafür habe ich Sturmhöhe und Villette gelesen.

Ich wollte mir das Buch zwar vornehmen, aber wie so vieles habe ich

es schlicht vergessen.«

»Dann will ich Ihnen mal ein bißchen auf die Sprünge helfen.«

»Ich bitte darum«, brummte Bowden betreten.

Im Laufe der folgenden Stunde erzählte ich ihm die Geschichte von

Jane Eyre, beginnend mit dem jungen Waisenmädchen Jane, ihrer

Kindheit im Hause von Mrs. Reed und deren Cousinen und ihrer Zeit

in Lowood, einer schrecklichen Armenschule, die von einem

grausamen und scheinheiligen Prediger geleitet wird, über die

Typhusepidemie und den Tod ihrer Freundin Helen Burns bis zu

ihrem Aufstieg zur Musterschülerin und schließlich Lehrerin unter der

Leitung von Miss Temple.

»Jane verläßt Lowood und zieht nach Thornfield, wo sie nur noch

einen Schützling hat, nämlich Rochesters Mündel Adele.«

»Was ist, bitte, ein Mündel?« fragte Bowden.

»Nun ja«, antwortete ich. »Sagen wir, eine dezente Umschreibung

dafür, daß das Mädchen einer früheren Liaison entstammt. Heutzutage

würde Adele auf der Titelseite des Toad als ›Kind der Liebe‹

bloßgestellt.«

»Aber Rochester kommt seinen väterlichen Pflichten doch offenbar

nach?«

»Und ob. Jedenfalls gefällt es Jane in Thornfield ausgesprochen gut,

trotz der sonderbaren Atmosphäre – Jane hat den Eindruck, daß dort

etwas vor sich geht, worüber niemand spricht. Rochester kehrt von

einer längeren Reise heim und erweist sich als mürrisch und

herrschsüchtig; dennoch beeindruckt ihn Janes Seelenstärke, als sie

ihn bei einem mysteriösen Zimmerbrand vor dem Verbrennungstod

rettet. Jane verliebt sich in Rochester, muß jedoch mit ansehen, wie er

Blanche Ingram, einem richtigen Luder, den Hof macht. Jane verläßt

Thornfield, um Mrs. Reed zu pflegen, die im Sterben liegt, und bei

- 286 -

ihrer Rückkehr hält Rochester um ihre Hand an; denn in ihrer

Abwesenheit hat er erkannt, daß Janes Charaktereigenschaften Miss

Ingrams Reize bei weitem übertreffen, trotz des Klassenunterschieds.«

»Und wenn sie nicht gestorben sind …«

»Immer mit der Ruhe. Die Hochzeit platzt nämlich. Das Brautpaar

steht schon in der Kirche, da kommt ein Anwalt und behauptet,

Rochester sei schon verheiratet, was sich als zutreffend herausstellt.

Die wahnsinnige Bertha Rochester bewohnt sogar ein Zimmer im

Obergeschoß von Thornfield Hall, wo sie von der schrulligen Grace

Poole gepflegt wird. Der Brand in Rochesters Zimmer geht auf ihr

Konto. Wie Sie sich sicher vorstellen können, ist Jane zutiefst

schockiert. Rochester versucht sein Benehmen dadurch

wiedergutzumachen, daß er ihr immer wieder seine Liebe beteuert. Er

bittet sie, als seine Mätresse mit ihm fortzugehen, aber sie weigert

sich. Obwohl sie ihn noch immer liebt, läuft sie davon und findet ein

neues Zuhause bei den Rivers, zwei Schwestern und deren Bruder, die

sich als ihre Verwandten entpuppen.«

»Ist das nicht ziemlich unwahrscheinlich?«

»Schhh. Janes Onkel, der auch der Onkel der Geschwister ist, hat

vor kurzem das Zeitliche gesegnet und ihr sein gesamtes Vermögen

hinterlassen. Sie beteiligt die drei an ihrem Erbe und will ein

selbständiges Leben führen. Der Bruder, St. John Rivers, beschließt,

als Missionar nach Indien zu gehen, und möchte, daß Jane mitkommt

und der Kirche dient. Jane ist zwar durchaus bereit, ihm zu dienen,

will ihn aber nicht heiraten. Sie betrachtet die Ehe als einen Bund der

Liebe und der gegenseitigen Achtung, nicht als Pflichtübung. Nach

langem Hin und Her willigt sie schließlich ein, mit ihm als seine

›rechte Hand‹ nach Indien zu gehen. Und damit endet der Roman.«

»Das ist alles?« fragte Bowden erstaunt.

»Wie meinen Sie das?«

»Also, ich finde den Schluß enttäuschend. Wir versuchen, die Kunst

so vollkommen wie irgend möglich zu machen, eben weil uns das im

wirklichen Leben nie gelingt, und Charlotte Brontë beendet ihren

Roman auf eine Art und Weise, die wahrscheinlich ihr eigenes

- 287 -

unglückliches Liebesleben reflektiert. Ich an Charlottes Stelle hätte

dafür gesorgt, daß Jane und Rochester doch noch irgendwie

zusammenfinden.«

»Fragen Sie mich nicht«, sagte ich. »Ich habe das Buch nicht

geschrieben.« Ich dachte einen Augenblick nach. »Sie haben natürlich

recht«, murmelte ich dann. »Der Schluß ist beschissen. Erst läuft alles

wie am Schnürchen, und dann läßt sie den Leser im Regen stehen.

Selbst Brontë-Puristen sind sich einig, daß es wesentlich besser

gewesen wäre, wenn sie am Ende geheiratet hätten.«

»Und wie, solange Bertha noch am Leben ist?«

»Keine Ahnung; sie könnte zum Beispiel sterben. Hmm, gar nicht so

einfach.«

»Woher kennen Sie Jane Eyre eigentlich so gut?« fragte Bowden.

»Es war immer schon eins meiner Lieblingsbücher. Ich hatte ein

Exemplar davon in meiner Jackentasche, als ich in London

angeschossen wurde. Die Kugel blieb darin stecken. Kurz darauf

erschien Rochester und klemmte meine Armverletzung ab, bis die

Sanitäter kamen. Er und das Buch haben mir das Leben gerettet.«

Bowden sah auf seine Uhr. »Nach Yorkshire ist es noch ein ganzes

Stück. Wir sind frühestens um … Holla, was ist das?«

Auf der Autobahn schien sich ein Unfall ereignet zu haben. Es

standen schon mehr als zwei Dutzend Autos im Stau. Als wir auch

nach ein paar Minuten noch nicht vom Fleck gekommen waren, lenkte

ich den Wagen auf den Standstreifen und rollte langsam zur Spitze der

Kolonne. Ein Verkehrspolizist hielt uns an, warf einen skeptischen

Blick auf die Einschußlöcher in der Karosserie und sagte: »Tut mir

leid, Ma’am. Ich kann Sie hier nicht …«

Aber als ich meine alte SO-5-Marke zückte, war er wie

ausgewechselt: »Tut mir leid, Ma’am. Aber wir haben es hier mit

etwas ziemlich Ungewöhnlichem zu tun.«

Bowden und ich sahen uns an und stiegen aus. Eine Schar

Neugieriger drängte sich hinter der Polizeiabsperrung. Schweigend

verfolgten sie das Schauspiel, das sich ihnen bot. Drei Funkstreifen

- 288 -

und ein Krankenwagen waren schon vor Ort; zwei Sanitäter

behandelten einen Säugling, der in eine Decke gehüllt auf einer Trage

lag und schrie.

Die Beamten waren heilfroh, daß ich da war – der ranghöchste

Kollege war ein Sergeant, und jetzt konnten sie die Verantwortung auf

jemand anderen abwälzen. Ein so hohes Tier wie eine SO-5-Agentin

hatten die meisten von ihnen ihr Lebtag noch nicht mal gesehen.

Ich borgte mir ein Fernglas und blickte auf das vor uns liegende

Stück Autobahn. Etwa fünfhundert Meter weiter hatten die Straße und

der nächtliche Sternenhimmel eine Art Strudel gebildet, einen

Trichter, der das spärliche Licht, das in den Spiralnebel eindrang,

zerlegte und verformte. Ich seufzte. Mein Vater hatte mir von

ZeitVerzerrungen erzählt, aber ich hatte bisher noch nie eine gesehen.

Im Zentrum des Wirbels, wo sich das gebrochene Licht zu einem

wirren Muster fügte, befand sich ein pechschwarzes Loch, das weder

Farbe noch Tiefe zu besitzen schien, nur Form: ein makelloser Kreis

von der Größe einer Grapefruit. Die Polizei hatte auch den Verkehr

auf der Gegenfahrbahn gestoppt, und die blinkenden blauen Lichter

verfärbten sich rot, sobald sie durch die Ränder der schwarzen Masse

schimmerten, und die dahinterliegende Straße krümmte sich wie durch

ein Marmeladenglas betrachtet. Vor dem Strudel stand ein blauer

Datsun, und die Motorhaube wurde immer länger, je näher er der

ZeitVerzerrung kam. Dahinter stand ein Motorrad und dahinter – und

uns am nächsten – ein grüner Kombi. Solange ich sie auch anstarrte,

die Fahrzeuge rührten sich nicht von der Stelle. Der Biker, seine

Maschine und die Insassen der Autos schienen steif und unbewegt wie

Statuen.

»Mist!« stieß ich halblaut hervor und sah auf meine Armbanduhr.

»Wann hat sich der Wirbel geöffnet?«

»Vor gut einer Stunde«, sagte der Sergeant. »Ein Wagen des ExcoMat-Labors hatte einen Unfall. Er hätte sich keinen ungünstigeren

Zeitpunkt aussuchen können; meine Schicht war fast zu Ende.«

Er zeigte mit dem Daumen auf das Baby, das mit Schreien aufgehört

und sich die Finger in den Mund geschoben hatte. »Das war der

Fahrer. Vor dem Unfall war er einunddreißig. Als wir ankamen, war

- 289 -

er acht – in ein paar Minuten ist er nur noch ein feuchter Fleck auf der

Decke.«

»Haben Sie die ChronoGarde alarmiert?«

»Ja, sicher«, antwortete er resigniert. »Aber bei Tesco in Wareham

hat sich ein Zeitloch aufgetan. Die sind frühestens in vier Stunden

hier.«

Ich dachte rasch nach. »Wie viele Tote hat es bis jetzt gegeben?«

»Sir«, fuhr ein Beamter dazwischen und deutete die Straße entlang,

»schauen Sie sich das an!«

Tatenlos mußten wir zusehen, wie der blaue Datsun sich verzerrte

und verformte, bis er schließlich wie eine Papierkugel zerknüllt und in

den Schlund gezogen wurde. In Sekundenschnelle war er

verschwunden, auf ein Milliardstel seiner Größe zusammengepreßt

und ins Anderswo katapultiert.

Seufzend schob der Sergeant sich die Mütze in den Nacken. Er

konnte nichts dagegen unternehmen.

Ich wiederholte meine Frage.

»Wie viele Tote?«

»Äh, das waren ein Lastwagen, eine komplette Fahrbücherei, zwölf

Personenkraftwagen und ein Motorrad. So an die zwanzig, würde ich

sagen.«

»Das ist jede Menge Materie. Bis die ChronoGarde hier ist, könnte

die Verzerrung so groß wie ein Fußballfeld sein.«

Der Sergeant zuckte die Achseln. Niemand hatte ihm beigebracht,

wie man mit einer Zeitinstabilität verfuhr. Ich wandte mich an

Bowden.

»Kommen Sie.«

»Was?«

»Wir haben was zu erledigen.«

»Sie sind verrückt.«

- 290 -

»Schon möglich.«

»Sollen wir nicht lieber auf die Kollegen der ChronoGarde warten?«

»Bis die hier sind, ist es längst zu spät. Kommen Sie, es geht ganz

leicht. Das könnte selbst ein hirnamputierter Affe.«

»Und wo kriegen wir um diese nachtschlafende Zeit einen

hirnamputierten Affen her?«

»Sie sind ein Feigling, Bowden.«

»Stimmt. Wissen Sie, was passiert, wenn etwas schiefgeht?«

»Keine Panik. Es ist wirklich das reinste Kinderspiel. Mein Dad war

bei der ChronoGarde; er hat es mir genau erklärt. Aber dazu brauchen

wir eine Kugel. In vier Stunden könnte es vor unseren Augen zu einer

globalen Katastrophe kommen. Zu einem Zeitriß, so groß und tief, daß

aus dem Hier und Jetzt im Handumdrehen das Irgendwo und

Irgendwann werden könnte. Der Untergang der Zivilisation, Panik auf

den Straßen, das Ende unserer Welt. He, Kleiner …!«

Ich hatte einen Jungen gesehen, der mitten auf der Straße einen

Basketball springen ließ. Schweren Herzens rückte er ihn heraus, und

ich ging damit zu Bowden, der neben dem Wagen stand und nervös

von einem Bein aufs andere trat. Wir klappten das Verdeck auf, und

Bowden sank, den Basketball fest umklammernd, auf den

Beifahrersitz.

»Ein Basketball?«

»Eine Kugel ist eine Kugel ist eine Kugel«, zitierte ich einen alten

Tip meines Vaters. »Alles klar?«

»Alles klar«, bestätigte Bowden, und seine Stimme zitterte kaum

merklich.

Ich ließ den Motor an und rollte langsam zu der Stelle, wo die

Verkehrspolizisten wie vom Donner gerührt auf die Zeit Verzerrung

starrten.

»Wissen Sie auch wirklich, was Sie da tun?« fragte mich der junge

Beamte.

- 291 -

»Mehr oder weniger«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Hat jemand eine

Armbanduhr mit zweitem Zeiger?«

Der jüngste Verkehrspolizist nahm seine Uhr ab und reichte sie mir.

Ich notierte mir die tatsächliche Zeit – 5:30 Uhr –, stellte die Zeiger

auf zwölf und schnallte die Armbanduhr an den Rückspiegel.

Der Sergeant wünschte uns viel Glück, als wir davonfuhren, obwohl

er vermutlich dachte: »Lieber die als ich.«

Obgleich sich der Himmel im Osten schon rot färbte, herrschte rings

um die Autos noch tiefste Nacht. Von außen betrachtet, stand für die

gefangenen Fahrzeuge die Zeit still. Den Insassen hingegen erschien

alles ganz normal; nur wenn sie sich umdrehten, konnten sie sehen,

wie rasch die Morgendämmerung kam.

Die ersten fünfzig Meter ging alles glatt, doch je näher wir kamen,

desto schneller schienen der Kombi und das Motorrad zu werden, und

als wir mit dem grünen Wagen gleichzogen, zeigte der Tacho etwa

sechzig Meilen in der Stunde. Ich sah auf die Armbanduhr am

Rückspiegel; es waren genau drei Minuten verstrichen.

Bowden hatte beobachtet, was hinter uns vor sich ging. Als er und

ich auf die Zeitinstabilität zufuhren, beschleunigten sich die

Bewegungen der Polizeibeamten immer mehr, bis sie mit bloßem

Auge nicht mehr zu erkennen waren. Die Autos, welche die Fahrbahn

verstopft hatten, wendeten und rasten in halsbrecherischem Tempo

über den Standstreifen. Als Bowden sah, wie schnell hinter uns die

Sonne aufging, fragte er sich, worauf er sich da eingelassen hatte.

In dem grünen Kombi saßen ein Mann und eine Frau. Die Frau

schlief, und der Mann starrte auf das dunkle Loch, das sich vor ihnen

aufgetan hatte. Ich forderte ihn zum Anhalten auf. Er kurbelte sein

Fenster herunter, und ich wiederholte meine Worte, setzte »SpecOps!«

hinzu und winkte ihm mit meiner Marke. Er drosselte pflichtschuldig

das Tempo, und seine Bremslichter strahlten in der Dunkelheit. Seit

unserem Fahrtantritt waren drei Minuten und sechsundzwanzig

Sekunden vergangen.

Von ihrer Position aus konnte die ChronoGarde nur sehen, wie in

dem schwarzen Trichter, der durch das Ereignis entstanden war, die

- 292 -

Bremslichter des grünen Kombis aufleuchteten. Geschlagene zehn

Minuten standen die Gardisten da und sahen zu, wie der Wagen

unendlich langsam wendete und auf den Standstreifen rollte. Es war

kurz vor zehn, und eine Vorhut der ChronoGarde war direkt aus

Wareham eingetroffen. Die Agenten und ihre Ausrüstung kamen mit

einem Chinook-Hubschrauber der SO-12, und Colonel Rutter war

vorausgeflogen, um die Lage zu sondieren. Er fand es höchst

verwunderlich, daß zwei gewöhnliche Agenten sich freiwillig für

diesen gefährlichen Einsatz gemeldet hatten, zumal ihm niemand

sagen konnte, wer wir waren. Selbst eine Überprüfung meines KfzKennzeichens erbrachte nichts, da der Wagen immer noch auf die

Werkstatt angemeldet war, bei der ich ihn gekauft hatte. Er meinte,

das einzig Positive an dem ganzen verdammten Schlamassel sei, daß

der Beifahrer eine Art Kugel bei sich habe. Falls das Loch noch

größer würde und sich die Zeit weiter verlangsame, könne es selbst

mit ihrem schnellsten Fahrzeug Monate dauern, ehe sie zu uns

vordringen würden. Seufzend ließ er das Fernglas sinken. Was für ein

mieser, entsetzlicher, einsamer Job. Er war seit fast vierzig Jahren

Standard-Erdzeit bei der ChronoGarde. In verbuchter Arbeitszeit

gemessen war er 209. Physisch gesehen war er keine 28. Seine Kinder

waren älter als er, und seine Frau lebte im Pflegeheim. Seine

anfängliche Hoffnung, die bessere Bezahlung sei eine angemessene

Wiedergutmachung für diese Entbehrungen, hatte sich nicht erfüllt.

Als der grüne Kombi jäh zurückfiel, drehte Bowden sich um und sah,

daß die Sonne immer schneller aufstieg. Und jetzt erschien auch ein

Hubschrauber mit dem unverwechselbaren »CG«-Emblem am Rumpf.

Vor uns war jetzt nur noch der Motorradfahrer, der sich dem

wirbelnden schwarzen Loch langsam, aber unausweichlich zu nähern

begann. Er trug rote Lederkluft und fuhr eine teure, PS-starke

Triumph, ironischerweise die einzige Maschine, mit der er dem

Strudel hätte entkommen können, wenn er gewußt hätte, wo das

Problem lag. Es hatte uns weitere sechs Minuten gekostet, ihn

einzuholen, als mit einem Schlag ein ohrenbetäubendes Heulen

einsetzte, das selbst den Fahrtwind übertönte; so ähnlich mußte ein

Taifun klingen, wenn er über einen hinwegzog. Wir waren noch gut

dreieinhalb Meter hinter dem Motorrad und hatten Mühe, mit ihm

- 293 -

Schritt zu halten. Die Tachonadel des Porsche zeigte fast neunzig. Ich

drückte auf die Hupe, doch das ging im Getöse unter.

»Achtung!« rief ich Bowden zu, während der Wind wie wild an

unseren Haaren und Kleidern zerrte. Ich betätigte zum wiederholten

Mal die Lichthupe; endlich sah er uns. Er drehte sich um und winkte,

wohl weil er irrtümlich annahm, wir wollten ihn zu einem Rennen

drängen, schaltete einen Gang herunter und zog davon. Im Nu hatte

der Wirbel ihn erfaßt, und er schien sich erst zu dehnen, dann zu

strecken und schließlich sein Inneres nach außen zu stülpen, bevor ihn

die Instabilität verschlang; in Sekundenschnelle war er verschwunden.

Da wir unmöglich noch näher heranfahren konnten, trat ich auf die

Bremse und brüllte: »Jetzt!«

Mit qualmenden Reifen schlitterten wir über den Asphalt. Bowden

warf den Basketball, und wir sahen, wie er das Loch traf und einmal

aufsprang. Ich blickte auf die Uhr, während wir durch das Loch in den

Abgrund hineinrasten. Der Basketball versperrte endgültig den Blick

auf die Welt hinter uns, und wir stürzten ins Anderswo. Bis zu dem

Punkt, wo wir das Ereignis passiert hatten, waren zwölf Minuten und

einundvierzig Sekunden verstrichen. Draußen waren es fast sieben

Stunden.

»Das Motorrad ist verschwunden«, sagte Colonel Rutter. Sein

Stellvertreter grunzte nur. Er konnte es nicht leiden, wenn Amateure

sich als ChronoGarden versuchten. Schließlich war es ihnen gelungen,

die mystische Aura, welche die Garde umgab, über fünf Jahrzehnte

aufrechtzuerhalten, mit dem entsprechenden Salär; tollkühne Helden

störten da nur, denn sie erschütterten das eiserne Vertrauen der

Menschen in die Arbeit der CG. Und diese Arbeit war weiß Gott nicht

schwer; sie brauchte bloß sehr viel Zeit. Er selbst hatte einen

ähnlichen Riß in der Raumzeit gekittet, im Stadtpark von Weybridge,

auf halber Strecke zwischen Blumenuhr und Konzertpavillon. Die

eigentliche Reparatur hatte keine zehn Minuten gedauert; er war

schlicht hineinspaziert und hatte das Loch mit einem Tennisball

gestopft, während draußen sieben Monate vergingen – sieben Monate

mit doppeltem Gehalt plus Zulagen, die Firma dankt.

- 294 -

Die ChronoGardisten stellten eine große Uhr auf, deren Zifferblatt

auf das Loch gerichtet war, damit die Agenten im Einflußbereich des

Kraftfeldes wußten, was vor sich ging. Eine ähnliche Uhr an der

Rückseite des Helikopters vermittelte den außerhalb postierten

Beamten eine ungefähre Vorstellung davon, wie langsam die Zeit im

Innern tatsächlich verrann.

Nach dem Verschwinden des Motorrades warteten sie noch eine

halbe Stunde, um zu sehen, wie es weiterging. Sie beobachteten, wie

Bowden langsam aufstand und einen Basketball warf.

»Zu spät«, murmelte Rutter, der so etwas schon hundertmal erlebt

hatte. Er erteilte seinen Männern den Einsatzbefehl, und sie ließen

eben die Rotoren des Hubschraubers an, als die Dunkelheit rings um

das Loch verschwand. Die Nacht wich zurück, und vor ihnen lag die

leere Straße. Sie sahen, wie die Insassen des grünen Kombi ausstiegen

und staunend ins jähe Tageslicht blinzelten. Hundert Meter weiter

hatte der Basketball den Riß geschlossen und hing nun schwach

vibrierend in der Luft, da der Sog des Strudels noch immer an ihm

zerrte. Binnen Sekunden war der Riß verheilt, und der Basketball

landete mit einem sanften Plopp auf der Straße, sprang noch ein

paarmal auf und rollte schließlich an den Fahrbahnrand. Der Himmel

war klar, und nichts wies darauf hin, daß sich mit der Zeit nicht alles

genauso wie immer verhielt. Nur von dem Datsun, dem

Motorradfahrer und dem quietschbunten Porsche fehlte jede Spur.

Mein Wagen schoß dahin. An die Stelle der Autobahn war eine

wildwirbelnde Masse aus Licht und Farben getreten, mit der weder

Bowden noch ich etwas anfangen konnten. Gelegentlich nahm das

Chaos erkennbare Gestalt an, und ein paarmal glaubten wir sogar, in

die stabile Zeit zurückgekehrt zu sein, wurden im nächsten

Augenblick jedoch erneut in den Strudel gerissen, wo der Taifun toste.

Beim ersten Mal befanden wir uns plötzlich auf einer Straße in den

Home Counties rings um London. Es war Winter, und direkt vor uns

bog ein hellblauer Austin Allegro aus einer Einfahrt. Ich drückte

wütend auf die Hupe, wich aus und raste vorbei. Sofort zersplitterte

das Bild und fügte sich zum schmutzigen Frachtraum eines Schiffes.

Der Wagen klemmte zwischen zwei Kisten auf dem Weg nach

- 295 -

Shanghai. Das Heulen des Strudels hatte nachgelassen, dafür hörten

wir ein neues Brüllen, das Brüllen eines Sturms auf hoher See. Das

Schiff schlingerte, und Bowden und ich sahen uns fragend an: War

unsere Reise hier zu Ende? Das Brüllen wurde immer lauter, bis der

feuchte Frachtraum implodierte und einem weißgetünchten

Krankensaal Platz machte. Der Orkan legte sich, der Motor des

Wagens tuckerte im Leerlauf vor sich hin. In dem einzigen belegten

Bett lag eine schläfrige, verwirrte Frau mit dem Arm in der Schlinge.

Ich wußte, wen ich vor mir hatte.

»Thursday …!« rief ich aufgeregt.

Die Frau im Bett runzelte die Stirn. Sie sah zu Bowden, der winkte

fröhlich zurück.

»Er ist nicht tot!« rief ich. Inzwischen wußte ich, daß es die

Wahrheit war. Das Brüllen des Sturms kam wieder näher. Nicht mehr

lange, und er würde uns mit sich fortreißen.

»Der Autounfall war ein Trick! Leute wie Acheron sind so leicht

nicht totzukriegen! Nimm den LitAg-Job in Swindon!«

Der Frau im Bett blieb gerade noch genug Zeit, mein letztes Wort zu

wiederholen, als sich die Erde auftat und wir von neuem in den

Mahlstrom stürzten. Nach einem überwältigenden Spektakel aus

buntem Lärm und lautem Licht wurde der Strudel durch den Parkplatz

einer Autobahnraststätte ersetzt. Der Sturm flaute ab und legte sich.

»War’s das?« fragte Bowden.

»Ich weiß nicht.«

Es war Nacht, und die Straßenlaternen tauchten das regennasse

Pflaster des Parkplatzes in gelbes Licht. Neben uns hielt ein Wagen,

ein großer Pontiac, in dem eine Familie saß. Die Frau schalt ihren

Mann, weil er am Steuer eingeschlafen war, und die Kinder weinten.

Sie waren anscheinend nur um Haaresbreite einem Unfall entgangen.

»Entschuldigung!« schrie ich. Der Mann kurbelte sein Fenster

herunter.

»Ja?«

»Welches Datum haben wir heute?«

- 296 -

»Welches Datum?«

»Den 18. Juli«, antwortete die Frau und warf ihm und uns einen

erbosten Blick zu.

Ich dankte ihr und drehte mich wieder zu Bowden um.

»Dann sind wir drei Wochen in der Vergangenheit?« fragte er.

»Oder neunundvierzig Wochen in der Zukunft.«

»Wenn nicht hunderteins.«

»Ich will wissen, wo wir sind.«

Ich stellte den Motor ab und stieg aus. Bowden tat es mir nach, und

zusammen gingen wir zum Restaurant. Hinter dem Gebäude sah man

die Autobahn und dahinter die Fußgängerbrücke hinüber zur

Raststätte auf der anderen Seite.

Mehrere Abschleppwagen, die leere Autos hinter sich herzogen,

fuhren an uns vorbei.

»Hier stimmt doch was nicht.«

»Allerdings«, antwortete Bowden. »Nur was?«

Plötzlich flog die Restauranttür auf, und eine Frau bahnte sich einen

Weg nach draußen. Sie hatte eine Pistole in der Hand und stieß einen

Mann vor sich her, der prompt ins Straucheln geriet. Bowden zog

mich hinter einen geparkten Lieferwagen. Wir linsten vorsichtig um

die Ecke und sahen, daß die Frau ungebetenen Besuch bekommen

hatte; wie aus dem Nichts waren mehrere Männer erschienen, alle

bewaffnet.

»Ach du Scheiße …!« flüsterte ich, als mir klar wurde, was hier los

war. »Das bin ich!«

Und tatsächlich. Ich sah zwar etwas älter aus, war aber doch

zweifellos ich selbst. Das war auch Bowden nicht entgangen.

»Was haben Sie denn mit Ihren Haaren angestellt?«

»Gefallen Sie Ihnen lang besser?«

»Natürlich.«

- 297 -

Einer der drei Männer befahl meinem anderen Ich, die Waffe fallen

zu lassen. Ich/sie sagte etwas, das wir nicht verstehen konnten, warf

die Waffe weg und ließ den Mann los. Einer der anderen Männer

packte ihn unsanft und riß ihn an sich.

»Was soll das alles?« fragte ich völlig verwirrt.

»Wir müssen los!« drängte Bowden.

»Und was ist mit ihr/mir?«

»Sehen Sie doch, wir müssen zurück!« Er zeigte auf unseren

Wagen. Der bebte leicht, als ob ihn ein Windstoß erfaßt hätte.

»Ich muß ihr/mir da unbedingt raushelfen!«

Doch Bowden zerrte mich zum Wagen, der jetzt heftig wackelte und

allmählich verblaßte.

»Moment!«

Ich riß mich los, zog meine Automatik und versteckte sie unter dem

erstbesten Wagen, dann rannte ich Bowden hinterdrein und sprang auf

die Rückbank des Porsche. Keine Sekunde zu früh. Ein greller Blitz,

ein Donnerschlag und endlich Stille. Ich schlug ein Auge auf und sah

Bowden an, der auf dem Fahrersitz gelandet war. Wo sich eben noch

der Autobahnrastplatz befunden hatte, verlief jetzt eine idyllische

Landstraße. Unsere Reise war zu Ende.

»Alles klar?« fragte ich.

Bowden strich sich den Dreitagebart, der ihm unerklärlicherweise

gewachsen war.

»Ich glaube, schon. Und wie geht’s Ihnen?«

»Den Umständen entsprechend.«

Ich tastete nach meinem Schulterholster. Es war leer.

»Mir platzt gleich die Blase«, sagte ich, auch wenn das nicht sehr

damenhaft war. »Ich habe das Gefühl, ich bin seit einer Woche nicht

mehr pinkeln gewesen.«

Bowden nickte mit gequältem Gesicht. »Das geht mir ähnlich. Wer

weiß, wie lange wir schon unterwegs sind.«

- 298 -

Ich flitzte hinter eine Mauer. Bowden stakste über die Straße und

stellte sich vor eine Hecke.

»Was glauben Sie, wo wir sind?« rief ich hinter der Mauer hervor.

»Oder, besser, wann?«

»Wagen achtundzwanzig«, knatterte das Funkgerät, »bitte

kommen.«

»Wer weiß?« rief Bowden über die Schulter. »Aber wenn Sie das

unbedingt noch mal versuchen wollen, dann bitte mit jemand

anderem.«

Spürbar erleichtert trafen wir uns beim Wagen. Es war ein

wunderschöner Tag, trocken und recht warm. Der Duft von frischgemähtem Heu lag in der Luft, und in der Ferne hörte man einen

Traktor über ein Feld rumpeln.

»Was, bitte, sollte diese Raststättengeschichte?« fragte Bowden.

Ich zuckte die Achseln.

»Fragen Sie mich nicht. Ich kann nur hoffen, daß ich mit heiler Haut

davonkomme. Die Typen sahen nicht unbedingt so aus, als ob sie für

die Kirche sammeln würden.«

»Sie werden es noch früh genug erfahren.«

»Vermutlich. Trotzdem würde mich interessieren, wer der Mann

war, den ich zu schützen versuchte.«

»Keine Ahnung.«

Ich hockte mich auf die Kühlerhaube und setzte eine dunkle Brille

auf. Bowden ging zu einem Gatter und sah hinüber. Im Tal unter uns

drängten sich ein paar Häuser aus grauem Stein, und auf dem Feld

graste friedlich eine Herde Kühe.

Bowden zeigte auf einen Meilenstein, den er entdeckt hatte.

»Wir haben Glück.«

Dem Meilenstein zufolge waren es nur sechs Meilen bis Haworth.

Ich hörte nicht hin. Ich dachte an mich in meinem Krankenbett.

Hätte ich mich nicht gesehen, wäre ich nicht nach Swindon

- 299 -

gekommen, und wäre ich nicht nach Swindon gekommen, hätte ich

mir nicht dazu raten können. Mein Vater fand so etwas vermutlich

ganz normal, doch mich machte der Gedanke ziemlich nervös.

»Wagen achtundzwanzig«, plärrte das Funkgerät, »bitte kommen.«

Ich hörte auf zu grübeln und kontrollierte statt dessen den

Sonnenstand.

»Es müßte gegen Mittag sein.«

Bowden nickte zustimmend.

»Sind wir Wagen achtundzwanzig?« fragte er stirnrunzelnd. Ich

nahm das Mikrofon.

»Hier Wagen achtundzwanzig. Ich höre.«

»Na endlich!« sagte eine erleichterte Stimme über Funk. »Colonel

Rutter von der ChronoGarde möchte Sie sprechen.«

Bowden trat näher, damit er besser hören konnte. Wir wechselten

ratlose Blicke, weil wir nicht wußten, was jetzt kommen würde, eine

Standpauke, Glückwünsche und Belobigungen oder, und so war es

denn auch, beides.

»Officers Next und Cable. Können Sie mich hören?« drang eine

tiefe Stimme aus dem Lautsprecher.

»Jawohl, Sir.«

»Gut. Wo sind Sie?«

»Etwa sechs Meilen von Haworth entfernt.«

»Ach, ganz da oben?« Er lachte schallend. »Ausgezeichnet.« Er

räusperte sich. Es war soweit.

»Inoffiziell war das einer der tapfersten und mutigsten Einsätze, die

ich je erlebt habe. Sie haben zahlreiche Menschen vor dem Tod

bewahrt und Schlimmeres verhindert. Sie beide können sehr stolz auf

sich sein, und es wäre mir wahrhaftig eine große Ehre, zwei so

hervorragende Beamten wie Sie zu meinen Mitarbeitern zählen zu

dürfen.«

»Danke, Sir, ich …«

- 300 -

»Ich bin noch nicht fertig«, schnauzte er so laut, daß wir vor

Schreck zusammenfuhren. » Offiziell haben Sie gegen so ziemlich jede

denkbare Vorschrift verstoßen. Eigentlich müßte ich ein

Disziplinarverfahren wegen Amtsanmaßung und Überschreitung Ihrer

Befugnisse gegen Sie einleiten. Und wenn so etwas noch mal

vorkommt, tue ich das auch. Ist das klar?«

»Jawohl, Sir.«

Ich sah Bowden an. Uns interessierte nur eine Frage.

»Wie lange sind wir weggewesen?«

»Wir befinden uns im Jahr 2016«, sagte Rutter. »Sie waren,

einunddreißig Jahre weg!!«

- 301 -

28.

Haworth House

Es soll Leute geben, die den Humor der ChronoGarde

köstlich finden. Ich fand ihn schlichtweg grauenhaft. Ich

hatte gehört, daß die Gardisten neue Rekruten in

Gravitationsanzüge steckten und nur so zum Spaß eine

Woche in die Zukunft schickten. Das Spielchen wurde

erst verboten, als ein Rekrut jenseits des Konus

verschwand. Theoretisch ist er zwar immer noch da,

außerhalb unserer Zeit, kann aber weder in sie

zurückkehren noch mit uns Kontakt aufnehmen.

Berechnungen zufolge werden wir ihn in etwa

vierzehntausend Jahren einholen – und er wird bis dahin

nur um zwölf Minuten gealtert sein. Sehr witzig.

THURSDAY NEXT

- Ein Leben für SpecOps

Wir waren auf einen makabren Scherz der ChronoGarde

hereingefallen. Rutters hatte uns gründlich veräppelt. In Wirklichkeit

war es kurz nach Mittag des nächsten Tages. Sieben Stunden waren

wir weggewesen, mehr nicht. Ernüchtert stellten wir unsere Uhren und

fuhren langsam nach Haworth hinein.

Im Haworth House war die Hölle los. Ich hatte gehofft, daß wir

ankommen würden, bevor der Medienzirkus seine Zelte aufschlug,

aber das Loch auf der M 1 hatte uns einen Strich durch die Rechnung

gemacht. Auch Lydia Startright vom Toad News Network war da und

berichtete für die Mittagssendung. Sie stand mit einem Mikrofon auf

der Treppe vor Haworth House und konzentrierte sich.

Dann gab sie ihrem Kameramann ein Zeichen, setzte ihre schönste

Betroffenheitsmiene auf und hob an.

- 302 -

»… Als heute morgen die Sonne aufging, begann die Polizei mit den

Ermittlungen in einem besonders dreisten Fall von Diebstahl und

Mord. Im Laufe des gestrigen Abends ist ein Unbekannter in das

Museum Haworth House eingedrungen und hat einen Wachmann

erschossen, der ihn daran hindern wollte, das Originalmanuskript von

Jane Eyre zu entwenden. Die Polizei ist bereits seit den frühen

Morgenstunden am Tatort, hält sich bislang jedoch bedeckt. Fest steht

nur, daß es offenbar deutliche Parallelen zum Diebstahl des Martin-

Chuzzlewit-Manuskripts gibt, der – trotz aller Bemühungen von

Polizei und SpecOps – bislang nicht aufgeklärt werden konnte. Nach

der Extraktion und anschließenden Ermordung Mr. Quaverleys muß

jedoch davon ausgegangen werden, daß Rochester und Jane von

einem ähnlichen Schicksal bedroht sind. Die Ermittler der Goliath

Corporation, die am heutigen Vormittag überraschend hier eintrafen,

waren – wie üblich – zu keinem Kommentar bereit.«

»Und … Schnitt! Das war schon sehr gut, Schätzchen«, verkündete

Lydias Producer. »Können wir das noch mal machen, ohne Goliath

beim Namen zu nennen? Das schneiden sie uns sowieso raus!«

»Mir doch egal.«

»Lyds, Baby …! Was glaubst du eigentlich, wer uns bezahlt? Ich

bin ja auch für Redefreiheit, aber bitte nicht in meiner Sendung,

hmm?«

Sie ignorierte ihn und schaute sich um, als ein Wagen vorfuhr.

Sofort hellte sich ihre Miene auf. Sie ging auf das Auto zu und winkte

ihrem Kameramann, ihr zu folgen.

Ein hagerer Polizeibeamter um die vierzig mit silbergrauem Haar

und dunklen Ringen unter den Augen blickte flehentlich gen Himmel,

als er sie kommen sah. Sein Gesicht verzog sich zu einer lächelnden

Maske. Geduldig wartete er, bis sie ihn den Zuschauern vorgestellt

hatte.

»Neben mir steht Detective Inspector Oswald Mandias von der

Kripo Yorkshire. Sagen Sie, Inspector, glauben Sie, es besteht ein

Zusammenhang zwischen diesem Verbrechen und dem Diebstahl?«

- 303 -

Er lächelte freundlich, schließlich würde er abends auf dreißig

Millionen Fernsehschirmen zu sehen sein. »Es ist noch zu früh, um

etwas Genaues zu sagen; wir werden uns aber zu gegebener Zeit an

die Presse wenden.«

»Ist das nicht ein Fall für die LitAgs? Jane Eyre ist schließlich einer

der wertvollsten Kunstschätze Yorkshires.«

Mandias sah sie an. »Im Unterschied zu anderen SpecOpsAbteilungen verlassen sich die LitAgs der Grafschaft Yorkshire auf

das Beweismaterial, das ihnen die Polizei zur Verfügung stellt. LitAgs

sind keine Polizeibeamten und haben bei einer polizeilichen

Ermittlung folglich nichts verloren.«

»Warum, glauben Sie, hat Goliath eigene Ermittler an den Tatort

geschickt?«

»Keine weiteren Fragen!« rief Mandias’ Stellvertreter, weil sich

inzwischen ein ganzer Pulk von Reportern um Lydia und Mandias

drängte. Die Goliath-Leute waren hiergewesen, mehr durfte die

Öffentlichkeit darüber nicht erfahren. Die Polizisten eilten weiter, und

Lydia machte Pause, um endlich etwas zu essen. Sie hatte schon vor

dem Frühstück mit der Liveberichterstattung begonnen. Kurz darauf

kreuzten Bowden und ich auf.

»Sieh mal einer an«, murmelte ich, als ich aus dem Wagen stieg.

»Wenn das nicht Lydia Startright ist. Morgen, Lyds!«

Lydia erstickte fast an ihrem SmileyBurger und warf ihn weg. Sie

schnappte sich ihr Mikrofon und jagte hinter mir her.

»Obwohl die LitAgs und Goliath offiziell nicht mit von der Partie

sind«, plapperte sie, während sie mit uns Schritt zu halten versuchte,

»haben die Ereignisse mit dem Eintreffen von Thursday Next von SO27 eine interessante Wendung genommen. Entgegen ihren üblichen

Gepflogenheiten haben die LitAgs ihren Schreibtisch verlassen und

nehmen den Tatort persönlich in Augenschein.«

Ich blieb stehen, um mich ein wenig zu amüsieren. Lydia

konzentrierte sich und begann mit dem Interview.

- 304 -

»Sagen Sie, Miss Next, was machen Sie hier, fernab Ihres

Zuständigkeitsbereiches?«

»Hallo, Lydia. Sie haben Mayonnaise an der Oberlippe.

SmileyBurger sind verdammt salzig, Sie sollten so etwas nicht essen.

Was den Fall angeht, kann ich nur sagen: ›Sie werden sicherlich

Verständnis dafür haben, daß wir die Einzelheiten aus

ermittlungstaktischen Gründen vorerst bla, bla, bla.‹ Zufrieden?«

Lydia unterdrückte ein Grinsen. »Meinen Sie, zwischen den beiden

Diebstählen gibt es einen Zusammenhang?«

»Mein Bruder Joffy ist ein großer Fan von Ihnen, Lyds; könnten Sie

mir nicht bei Gelegenheit ein Foto mit Widmung zukommen lassen?

Joffy mit zwei F. Ich danke Ihnen.«

»Das nächste Mal kommen Sie mir nicht so leicht davon!« rief sie

mir nach. »Bis bald!«

Wir traten vor die Polizeiabsperrung und wiesen uns aus. Der

diensthabende Constable inspizierte erst unsere Marken, dann uns. Er

schien nicht sonderlich beeindruckt. Er wandte sich an Mandias.

»Sir, diese beiden LitAgs aus Wessex wollen sich den Tatort

ansehen.«

Mandias kam quälend langsam näher. Er musterte uns von Kopf bis

Fuß und wählte seine Worte mit Bedacht. »Bei uns in Yorkshire sitzen

die LitAgs an ihrem Schreibtisch.«

»Das merkt man. Ich habe die Festnahmeprotokolle gelesen«,

erwiderte ich ungerührt.

Mandias seufzte. Vermeintliche »Eierköpfe« im Zaum zu halten,

besonders wenn diese aus einem anderen SpecOps-Bezirk stammten,

machte ihm offenbar keinen allzu großen Spaß.

»Ich habe es hier mit einem Doppelmord zu tun, und da möchte ich

den Tatort möglichst intakt belassen. Warum warten Sie nicht, bis der

Bericht vorliegt, und ermitteln dann weiter?«

»Die beiden Morde sind natürlich tragisch«, antwortete ich, »aber

hier geht es in erster Linie um Jane Eyre. Deshalb müssen wir den

Tatort untersuchen. Jane Eyre ist bedeutender als Sie oder ich. Wenn

- 305 -

Sie sich weigern, werde ich mich bei Ihrem Vorgesetzten über Sie

beschweren.«

Doch Mandias ließ sich durch – mehr oder minder leere –

Drohungen nicht aus der Ruhe bringen. Schließlich waren wir in

Yorkshire. Er starrte mich an und sagte halblaut: »Nur zu, Mädchen,

beschwer dich, bei wem du willst. Auf solche Büromäuse wie dich

haben wir gerade gewartet.«

Ich machte einen weiteren Schritt auf ihn zu, aber er wich nicht von

der Stelle. Ganz im Gegenteil: Ein weiterer Beamter ging hinter ihm

in Stellung, um ihm notfalls beispringen zu können.

Ich war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren, als Bowden sich

zu Wort meldete.

»Sir«, begann er, »wenn wir uns langsam auf ein Ziel zubewegen

könnten, wären wir möglicherweise in der Lage, uns sozusagen mit

kräftigen Krallenhieben aus der Grube zu befreien, die wir uns selbst

gegraben haben.«

Mit einem Mal war Mandias wie ausgewechselt. Er lächelte

feierlich: »Unter diesen Umständen wäre ich eventuell geneigt, Sie

rasch einen Blick hineinwerfen zu lassen – wenn Sie mir versprechen,

nichts anzurühren.«

»Auf mein Wort«, antwortete Bowden theatralisch und tätschelte

sich den Bauch. Die beiden schüttelten sich die Hand, zwinkerten

einander zu, und wir wurden ins Museum eskortiert.

»Wie, zum Teufel, haben Sie das jetzt gemacht?« fragte ich.

»Schauen Sie sich seinen Ring an«, flüsterte er.

Ich schaute. Er trug einen großen Ring mit ebenso sonderbarem wie

auffallendem Muster am Mittelfinger.

»Was ist damit?«

»Die Ehrwürdige Bruderschaft des Wombats.«

Ich grinste.

- 306 -

»Also, worum geht’s?« fragte ich laut. »Ein Doppelmord und ein

fehlendes Manuskript? Und die Täter haben lediglich das Manuskript

mitgenommen, stimmt’s? Sonst nichts?«

»Stimmt«, antwortete Mandias.

»Und der Wachmann wurde mit seiner eigenen Dienstwaffe

erschossen?«

Mandias warf mir einen strengen Blick zu. »Woher wissen Sie

das?«

»Glückstreffer«, sagte ich ruhig. »Was ist mit den Videobändern?«

»Die werden noch überprüft.«

»Es ist nichts drauf, hab ich recht?«

Mandias warf mir einen mißtrauischen Blick zu. »Wissen Sie etwa,

wer dahintersteckt?«

Ich folgte ihm in das Zimmer, in dem sich einst das Manuskript

befunden hatte. Der unversehrte Glaskasten stand noch immer einsam

und verlassen in der Mitte des Raumes. Ich fuhr mit den Fingerspitzen

über eine leicht gesprenkelte, unebene Stelle an der Oberseite.

»Danke, Mandias, Sie sind ein Schatz«, sagte ich und ging wieder

hinaus. Bowden und Mandias sahen sich an und rannten beunruhigt

hinter mir her.

»Das ist alles?« fragte Mandias. »Das ist Ihre ganze Untersuchung?«

»Ich habe alles gesehen, was ich wissen wollte.«

»Können Sie mir denn nicht irgendwie weiterhelfen?« bettelte

Mandias, der seine liebe Mühe hatte, mit uns Schritt zu halten. Er sah

Bowden an. »Bruder, du kannst es mir doch verraten.«

»Wir sollten dem Detective Inspector sagen, was wir wissen,

Thursday. Das sind wir ihm schuldig.«

Ich blieb so plötzlich stehen, daß Mandias mich beinahe über den

Haufen gerannt hätte. »Sagt Ihnen der Name Hades etwas?«

Mandias wurde sichtlich blaß und sah sich nervös um.

- 307 -

»Keine Sorge; er ist längst über alle Berge.«

»Es heißt, er sei in Venezuela ums Leben gekommen.«

»Es heißt, er könne durch Wände gehen«, entgegnete ich. »Es heißt

auch, er gebe Farbe an die Atmosphäre ab, wenn er sich bewegt.

Hades lebt, er ist gesund und munter, und ich muß ihn finden, bevor er

sich an dem Manuskript vergreift.«

Seit er wußte, wer hinter der ganzen Sache steckte, schien Mandias

von aller Tatkraft verlassen. »Und was soll ich jetzt tun?«

Ich zögerte einen Augenblick. »Beten Sie, daß Sie ihm nie

begegnen.«

Die Rückfahrt nach Swindon verlief ohne Zwischenfälle, und auf der

M 1 wies nichts auf die Schwierigkeiten der vergangenen Nacht hin.

Victor erwartete uns im Büro; er wirkte nervös.

»Der Commander hat mir den ganzen Vormittag damit in den Ohren

gelegen, daß die Versicherung nicht zahlt, wenn seine Leute sich

außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs betätigen«, sagte er.

»Immer dieselbe Scheiße.«

»Das habe ich ihm auch gesagt. Ich habe übrigens die meisten

Kollegen angewiesen, Jane Eyre zu lesen, nur für den Fall, daß etwas

passiert – aber bis jetzt ist alles ruhig.«

»Das ist nur eine Frage der Zeit.«

»Hmm.«

»Müller hat behauptet, Hades wäre in einem Ort namens Penderyn«,

sagte ich. »Gibt es da schon was Neues?«

»Nicht, daß ich wüßte. Schitt meinte, er habe das überprüft und eine

glatte Niete gezogen – es kommen über dreihundert Penderyns in

Frage. Aber das ist noch längst nicht alles. Haben Sie schon die

Morgenzeitung gelesen?«

Ich verneinte. Er zeigte mir die Seite zwei des Mole. Da stand:

- 308 -

TRUPPENAUFMARSCH AN

DER WALISISCHEN GRENZE?

Besorgt las ich weiter. Anscheinend hatte es in der Nähe von

Hereford, Chepstow und der umkämpften Grenzstadt Oswestry

Truppenbewegungen gegeben. Ein Militärsprecher hatte die Manöver

als »Übungen« abgetan, trotzdem hörte sich das gar nicht gut an. Ganz

und gar nicht gut. Ich wandte mich an Victor.

»Jack Schitt? Meinen Sie, er will das ProsaPortal so dringend haben,

daß er Wales dafür den Krieg erklären würde?«

»Wer weiß, wie weit die Macht der Goliath Corporation reicht?

Aber vielleicht hat er mit der Sache ja gar nichts zu tun. Es könnte

sich um einen bloßen Zufall handeln, trotzdem können wir es

natürlich nicht einfach ignorieren.«

»Dann müssen wir ihm zuvorkommen. Bloß wie?«

»Was hat Müller eigentlich genau gesagt?« fragte Finisterre.

Ich setzte mich. »Er hat geschrien: ›Er ist in Penderyn‹; sonst

nichts.«

»Sonst nichts?« erkundigte sich Bowden.

»Nein; als Schitt ihn fragte, welches Penderyn er meine, es gäbe

schließlich Hunderte davon, sagte Müller, es wäre ein Quiz.«

Bowden meldete sich zu Wort. »Was hat er gesagt? Quiz? «

»Ja, ›Quiz‹. Das hat er dann noch einmal wiederholt, und danach hat

er nur noch geschrien – er hatte wohl schreckliche Schmerzen. Die

Vernehmung ist natürlich aufgezeichnet worden, aber unsere

Chancen, an das Band zu kommen, sind wahrscheinlich gleich …«

»Vielleicht meinte er ja etwas anderes«, gab Bowden zu bedenken.

»Nämlich?«

»Ich spreche zwar nur ein paar Brocken Walisisch, aber gwesty heißt

Hotel.«

»Ach du grüne Neune«, rief Victor.

- 309 -

»Victor?« fragte ich, doch der durchforstete bereits den Berg von

Landkarten, die wir zusammengetragen hatten; alle Orte namens

Penderyn waren markiert. Er breitete einen großen Stadtplan von

Merthyr Tydfil über den Tisch und deutete auf einen Punkt zwischen

Justizpalast und Regierungsgebäude. Wir reckten die Hälse.

»Das Penderyn-Hotel«, sagte er grimmig. »Ich habe da meine

Flitterwochen verbracht. Einst war es dem Adelphi oder Raffles

ebenbürtig, aber seit den sechziger Jahren steht es leer. Wenn ich ein

sicheres Versteck suchen würde …«

»Da ist er!« sagte ich leicht nervös. »Da werden wir ihn finden.

Mitten in der walisischen Hauptstadt.«

»Und wie sollen wir da reinkommen?« fragte Bowden. »Wie sollen

wir unbemerkt nach Wales gelangen, in schwerbewachtes Gebiet

eindringen, uns Mycroft und das Manuskript schnappen und heil

wieder rauskommen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Man muß ja schon auf ein Visum mindestens vier Wochen

warten!«

»Das schaffen wir schon«, sagte ich langsam. »Sind Sie

wahnsinnig?« rief Victor. »So etwas würde Commander Hicks

niemals zulassen!«

»Es sei denn, Sie überreden ihn.«

»Ich? Warum sollte Braxton auf mich hören?«

»Weil ihm nichts anderes übrigbleibt.«

- 310 -

29.

JaneEyre

Jane Eyre erschien 1847 unter dem Pseudonym Currer

Bell, einem betont neutralen Namen, der Charlotte

Brontës Geschlecht bewußt verbarg. Der Roman war ein

großer Erfolg; William Thackeray nannte ihn »einen

Geniestreich«. Aber es gab auch Kritiker des Buches: G.

H. Lewes riet Charlotte, sich mit dem Werk Jane Austens

zu befassen und »ihre Schwächen nach dem Vorbild

jener großen Künstlerin zu korrigieren«. Charlotte hielt

dagegen, Miss Austens Werk sei – gemessen an dem, was

sie sich vorgenommen habe – recht eigentlich gar kein

Roman, und nannte es »einen höchst kultiviert bestellten

Garten ohne freie Flächen«. Das endgültige Urteil steht

noch aus.

W.H.H.F. RENOUF

-Die Brontës

Hobbes schüttelte den Kopf, weil er sich auf den Fluren von

Thornfield Hall nur schwer zurechtfand. Es war Nacht, und in

Rochesters Haus herrschte Totenstille. Der Flur lag im Dunkeln, und

Hobbes tastete nach seiner Taschenlampe. Ein orangefarbener

Lichtstrahl durchbohrte die Finsternis, während Hobbes sich langsam

über den Korridor im oberen Stockwerk schob. Vor sich sah er eine

angelehnte Tür, durch die der matte Flackerschein einer Kerze drang.

An der Tür blieb er stehen und spähte vorsichtig in das erleuchtete

Zimmer. Er sah eine in Lumpen gekleidete Frau mit wild zerzaustem

Haar, die gerade den Inhalt einer Petroleumlampe auf die Bettdecke

goß, unter der Rochester schlief.

Plötzlich wußte Hobbes, wo er war; gleich würde Jane kommen und

den Brand löschen, er wußte nur nicht, aus welcher Tür. Er wandte

sich um und fuhr vor Schreck fast aus der Haut, als er sich einer

- 311 -

hochgewachsenen Frau mit gerötetem Gesicht gegenübersah. Sie roch

stark nach Alkohol und funkelte ihn herausfordernd und mit kaum

verhohlener Verachtung an. So standen sie eine ganze Weile da;

Hobbes fragte sich, was tun, während die Frau leise schwankte, ihn

jedoch keine Sekunde aus den Augen ließ. Als Hobbes schließlich in

Panik geriet und seine Waffe ziehen wollte, ergriff die Frau

blitzschnell seinen Arm und umklammerte ihn so fest, daß Hobbes

sich sehr zurückhalten mußte, um nicht laut aufzuschreien vor

Schmerz.

»Was machen Sie hier?« zischte sie, und eine Augenbraue zuckte.

»Wer, in Gottes Namen, sind Sie?« fragte Hobbes.

Ehe er sich’s versah, hatte sie ihm eine schallende Ohrfeige versetzt.

»Mein Name ist Grace Poole«, sagte Grace Poole. »Ich bin zwar nur

eine Bediente, aber das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, den

Namen des Herrn zu mißbrauchen. Sie gehören nicht hierher, das sehe

ich an Ihrer Kleidung. Was wollen Sie?«

»Ich, ähm, arbeite für Mr. Mason«, stammelte er.

»Unfug«, erwiderte sie und starrte ihn feindselig an.

»Ich will Jane Eyre«, stotterte er.

»Das will Mr. Rochester auch«, sagte sie sachlich. »Aber er küßt sie

erst auf Seite einhunderteinundachtzig.«

Hobbes warf einen Blick ins Zimmer. Die Irre tanzte gackernd und

grinsend umher, während die Flammen auf Rochesters Bett von

Sekunde zu Sekunde höher schlugen.

»Wenn sie nicht bald kommt, gibt es keine Seite

hunderteinundachtzig.«

Grace Poole fixierte ihn mit bösem Blick.

»Sie wird ihn retten, wie sie ihn schon tausendmal gerettet hat und

noch weitere tausend Mal retten wird. So war es immer, und so wird

es bleiben.«

»Ach ja?« gab Hobbes zurück. »Wenn Sie sich da mal nicht

gewaltig täuschen.«

- 312 -

Doch jetzt kam plötzlich die Irre aus dem Zimmer und stürzte sich

mit ausgestreckten Krallen auf ihn. Mit einem wahnsinnigen Lachen,

das ihm das Trommelfell zu zerreißen drohte, schlug sie ihm ihre

scharfen, ungeschnittenen Fingernägel in die Wangen. Er jaulte vor

Schmerz, und Grace Poole nahm Mrs. Rochester in den

Schwitzkasten, drehte ihr den Arm auf den Rücken und zerrte sie mit

sich zum Dachboden. An der Tür drehte sie sich noch einmal um und

sagte zu Hobbes: »Denken Sie daran: So war es immer, und so wird es

bleiben.«

»Und Sie wollen gar nichts unternehmen, um mich aufzuhalten?«

fragte Hobbes ungläubig.

»Ich bringe die arme Mrs. Rochester jetzt nach oben«, antwortete

sie. »So steht es geschrieben.«

Kaum war die Tür hinter ihr ins Schloß gefallen, wurde sein

Augenmerk wieder auf das brennende Zimmer gelenkt. »Aufwachen!

Aufwachen!« schrie eine Stimme. Und richtig: Eben kippte Jane im

Nachthemd einen Krug Wasser über Rochesters reglose Gestalt.

Hobbes wartete, bis das Feuer aus war, zog seine Waffe und trat ins

Zimmer. Die beiden blickten auf, und die »Elfen der Christenheit«

erstarben auf Rochesters Lippen.

»Wer sind Sie?« fragten sie wie aus einem Munde.

»Ach, das würde zu weit führen. Glauben Sie mir!«

Hobbes nahm Jane am Arm und schleifte sie mit sich auf den Flur.

»Edward! Mein Edward!« flehte Jane und streckte die Arme nach

Rochester aus. »Ich werde dich nicht verlassen, Geliebter!«

»Moment mal«, sagte Hobbes und hielt inne. »Aber ihr beiden seid

doch noch gar nicht verliebt!«

»Irrtum«, murmelte Rochester und zog eine Perkussionspistole unter

seinem Kopfkissen hervor. »Ich hatte bereits vermutet, daß so etwas

geschehen würde.« Er nahm Hobbes ins Visier und drückte ab. Doch

die große Bleikugel verfehlte ihr Ziel und blieb im Türrahmen

stecken. Hobbes gab einen Warnschuß ab; Hades hatte ausdrücklich

- 313 -

darauf bestanden, daß die Romanfiguren unversehrt blieben.

Rochester zog eine zweite Pistole und spannte den Hahn.

»Lassen Sie sie los«, rief er, sein Unterkiefer mahlte, und sein

dunkles Haar hing in feuchten Strähnen in sein Gesicht.

Hobbes hielt Jane wie einen Schutzschild vor sich.

»Machen Sie keinen Quatsch, Rochester! Wenn alles glattgeht,

bekommen Sie Jane umgehend wieder; Sie werden nicht mal merken,

daß sie weg war!«

Hobbes zerrte Jane rückwärts über den Flur, bis zu der Stelle, wo

sich jeden Augenblick das ProsaPortal öffnen würde. Rochester folgte

ihm, die Pistole im Anschlag, und mußte schweren Herzens mit

ansehen, wie seine einzig wahre Liebe kurzerhand aus dem Roman

entfernt und an jenen anderen Ort verbracht wurde, wo Jane und er

niemals so würden leben können wie in Thornfield. Hobbes und Jane

verschwanden durch das Portal, das sich jäh hinter ihnen schloß.

Rochester ließ seine Waffe sinken und starrte düster vor sich hin.

Kurz darauf waren Hobbes und eine zutiefst verwirrte Jane durch das

ProsaPortal gestürzt und im heruntergekommenen Rauchsalon des

alten Penderyn-Hotels gelandet.

Acheron half Jane auf und legte ihr seinen Mantel um die Schultern,

damit sie nicht fror. Im Unterschied zu Thornfield Hall war es im

Hotel ziemlich zugig.

»Miss Eyre …!« begrüßte Hades sie gutgelaunt. »Mein Name ist

Hades, Acheron Hades. Es ist mir eine Ehre, Sie als meinen Gast

willkommen zu heißen; bitte nehmen Sie Platz, und machen Sie es

sich bequem.«

»Edward …?«

»Keine Bange, meine liebe Freundin. Kommen Sie, ich bringe Sie in

einen wärmeren Flügel des Hotels.«

»Werde ich meinen Edward jemals wiedersehen?«

Hades lächelte.

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»Das kommt ganz darauf an, wieviel Sie Ihren Lesern wert sind.«

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30.

Eine Welle der Betroffenheit

Ich glaube, vor Jane Eyres Entführung war sich niemand

– schon gar nicht Hades selbst – darüber im klaren, wie

beliebt sie eigentlich war. Es war, als habe man dem

englischen Volk die Symbolfigur seines literarischen

Erbes genommen. Etwas Besseres hätte uns gar nicht

passieren können.