MILLON DE FLOSS

- Eine kurze Geschichte des Special Operations Network

Ich quetschte mich in eine Parklücke vor dem großen, angestrahlten

Gebäude, stieg aus und schloß den Wagen ab. Im Hotel herrschte

anscheinend Hochbetrieb, und als ich durch die Tür trat, sah ich auch,

warum. Mindestens zwei Dutzend Männer und Frauen in

Kniebundhosen und weiten, weißen Hemdblusen liefen in der Lobby

herum. Meine Laune war dahin. Ein großes Schild an der Treppe hieß

alle Teilnehmer der 112. Jahresversammlung der John-MiltonGesellschaft willkommen. Ich holte tief Luft und kämpfte mich zur

Rezeption durch. Eine nicht mehr ganz junge Empfangsdame mit

überdimensionalen Ohrgehängen schenkte mir ihr bezaubernstes

Begrüßungslächeln.

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»Guten Abend, Ma’am, willkommen im Finis, dem Nonplusultra in

Sachen Eleganz und Stil. Wir sind ein Vier-Sterne-Hotel mit

modernster Ausstattung und zahlreichen Serviceleistungen. Es ist uns

ein aufrichtiges Anliegen, Ihnen Ihren Aufenthalt so angenehm wie

möglich zu gestalten.«

Sie leierte den Text herunter wie ein Mantra. Ich hätte sie mir

ebensogut hinter einer SmileyBurger-Theke vorstellen können.

»Mein Name ist Next. Ich hatte reserviert.«

Die Empfangsdame nickte und ging die Reservierungskarten durch.

»Mal sehen. Milton, Milton, Milton, Milton, Milton, Next, Milton,

Milton, Milton, Milton, Milton, Milton. Nein, tut mir leid. Sieht nicht

so aus, als ob wir eine Buchung für Sie vorliegen hätten.«

»Könnten Sie noch mal nachsehen?«

Sie sah noch einmal nach und wurde fündig. »Da ist sie ja. Jemand

hatte sie aus Versehen unter Milton abgelegt. Dann brauche ich Ihre

Kreditkarte. Wir nehmen: Babbage, Goliath, Newton, Pascal,

Breakfast Club und Jam Roly-Poly.«

»Jam Roly-Poly?«

»Entschuldigung«, sagte sie verlegen, »falsche Liste. Das sind die

Puddings für heute abend, die unsere Küchenchefs zubereiten.« Als

ich ihr meine Babbage-Karte gab, lächelte sie wieder.

»Sie haben Zimmer 8128«, sagte sie und reichte mir einen

Schlüsselring, der so groß war, daß ich ihn kaum heben konnte. »All

unsere Zimmer sind vollklimatisiert und mit einer Minibar,

Tauchsiedern und Teebeuteln ausgestattet. Haben Sie Ihren Wagen

auf einem der 300 Plätze unseres geräumigen, selbstregelnden

Parkdecks abgestellt?«

Ich verkniff mir ein Lächeln.

»Danke, ja. Haben Sie eine Unterbringungsmöglichkeit für

Haustiere?«

»Selbstverständlich. Alle Finis-Hotels verfügen über eine

Tierpension. Um was für ein Tier handelt es sich denn?«

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»Einen Dodo.«

»Wie süß! Mein Cousin Arnold hatte mal einen großen Alk namens

Beany – eine Version 1.4, darum wurde er leider nicht sehr alt. Aber

die neuen sollen ja viel besser sein. Ich reserviere Ihrem kleinen

Freund einen Platz. Angenehmen Aufenthalt. Ich hoffe, Sie

interessieren sich für die Lyrik des siebzehnten Jahrhunderts.«

»Höchstens aus beruflichen Gründen.«

»Dozentin?«

»LitAg.«

»Aha.«

Die Empfangsdame beugte sich zu mir und senkte die Stimme.

»Offen gestanden, Miss Next, ich hasse Milton. Gut, seine frühen

Sachen, meinetwegen. Aber nachdem sie Karl einen Kopf kürzer

gemacht hatten, ist es mit ihm den Bach runtergegangen. Tja, da sieht

man mal, wo ein Übermaß an republikanischer Gesinnung hinführen

kann.«

»Sie sagen es.«

»Fast hätte ich’s vergessen. Die sind für Sie.«

Sie zauberte einen Blumenstrauß unter der Theke hervor.

»Von einem Mr. Landen Parke-Laine …«

Mist. Aufgeflogen.

»… und im Cheshire Cat warten zwei Herren auf Sie.«

»Cheshire Cat?«

»Das ist unsere beliebte, gutsortierte Bar, ein gemütlicher,

einladender Bereich zur Entspannung unserer Gäste, der von

freundlichem Fachpersonal betreut wird.«

»Und wer sind die beiden?«

»Das Personal?«

»Nein, die beiden Herren.«

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»Sie haben ihre Namen nicht genannt.«

»Danke, Miss …?«

»Barrett-Browning«, sagte die Empfangsdame. »Liz BarrettBrowning.«

»Gut, Liz. Behalten Sie die Blumen. Machen Sie Ihren Freund

eifersüchtig. Wenn Mr. Parke-Laine noch einmal anruft, sagen Sie

ihm, ich sei an hämorrhagischem Fieber gestorben.«

Ich zwängte mich durch die Massen von Miltons in Richtung Cheshire

Cat. Es war nicht zu verfehlen. Über der Tür hing eine große rote

Neonkatze, die in einem grünen Neonbaum saß. In regelmäßigen

Abständen fing das rote Neon an zu flackern und ging aus, so daß nur

noch das Grinsen der Katze zurückblieb. Aus der Bar drangen die

Klänge einer Jazzband an mein Ohr, und ein Lächeln huschte über

meine Lippen, als ich Holroyd Wilsons unverwechselbares

Klavierspiel erkannte. Er war ein waschechter Swindoner. Ein

Telefonanruf, und er hätte in ganz Europa auftreten können, doch er

hatte es vorgezogen, in Swindon zu bleiben. Die Bar war gut besucht,

aber nicht voll, und die meisten Gäste waren Miltons, die trinkend und

lachend beieinandersaßen, die Wiedereinsetzung der Stuarts beklagten

und sich mit John anredeten.

Ich ging zum Tresen. Im Cheshire Cat war Happy Hour, jedes

Getränk 52 Pence.

»Guten Abend«, sagte der Barkeeper. »Was haben der Rabe und ein

Schreibtisch gemeinsam?«

»Poe. Er hat auf letzterem über ersteren geschrieben.«

»Sehr gut.« Er lachte. »Was darf’s sein?«

»Ein kleines Vorpal’s Special, bitte. Mein Name ist Next. Wartet

hier vielleicht jemand auf mich?«

Der Barkeeper, der wie ein Hutmacher gekleidet war, deutete auf

einen Tisch am anderen Ende des Schankraums, an dem, halb im

Schatten, zwei Männer saßen. Ich nahm mein Glas und ging zu ihnen.

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Die Kneipe war zu voll, als daß sie mir Ärger hätten machen können.

Je näher ich kam, desto deutlicher konnte ich die beiden erkennen.

Der ältere war ein grauhaariger Gentleman Mitte siebzig. Er hatte

volles weißes Haar und mächtige Koteletten. Er trug einen eleganten

Tweedanzug und Seidenfliege. Ein Paar brauner Handschuhe klemmte

zwischen seinen Fingern, die den Knauf eines Spazierstocks

umfaßten, und auf dem Platz neben ihm lag eine Jagdmütze. Sein

Gesicht war stark gerötet, und als ich an den Tisch trat, warf er den

Kopf in den Nacken und lachte bellend wie ein Seehund über eine

Bemerkung seines Begleiters.

Der Mann ihm gegenüber war um die dreißig. Er hockte auf der

Sitzkante und wirkte leicht nervös. Er nippte an einem Glas Tonic und

trug einen teuren Nadelstreifenanzug, der aber schon bessere Tage

gesehen hatte. Ich wußte, daß ich ihm schon mal irgendwo begegnet

war, ich wußte nur nicht, wo.

»Die Herren suchen mich?«

Die beiden standen auf. Der ältere sprach zuerst. »Miss Next? Sehr

erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Mein Name ist Analogy.

Victor Analogy. Leiter der Swindoner LitAg-Abteilung. Wir haben

telefoniert.«

Er streckte die Hand aus, und ich schüttelte sie.

»Nett, Sie kennenzulernen, Sir.«

»Das ist Agent Bowden Cable. Sie beide werden

zusammenarbeiten.«

»Es ist mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen, Madam«,

sagte Bowden verlegen. Er war ziemlich unbeholfen und wirkte sehr

steif. Der Blick, den er mir zuwarf, sprach Bände. Er schien lange

keine Frau mehr als Kollegin gehabt zu haben.

»Haben wir uns nicht schon mal gesehen?« fragte ich und schüttelte

ihm die Hand.

»Nein«, antwortete Bowden nachdrücklich. »Daran würde ich mich

bestimmt erinnern.«

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Victor deutete auf den Platz neben Bowden, der Höflichkeiten vor

sich hin murmelnd zur Seite rückte. Ich nippte an meinem Drink. Er

schmeckte wie alte, in Urin eingeweichte Pferdedecken. Ich bekam

einen Hustenanfall. Bowden hielt mir ritterlich sein Taschentuch hin.

»Vorpal’s Special?« sagte Victor mit hochgezogener Augenbraue.

»Tapferes Mädchen.«

»D-danke.«

»Willkommen in Swindon«, fuhr Victor fort. »Zunächst einmal

möchte ich Ihnen sagen, wie sehr wir Ihr kleines Malheur bedauern.

Nach allem, was man hört, muß Hades ja ein regelrechtes Ungeheuer

gewesen sein. Um ihn ist es nicht schade. Ich hoffe, Sie haben sich

einigermaßen erholt?«

»Ich schon, andere hatten da weniger Glück.«

»Das tut mir sehr leid, aber Sie sind hier hoch willkommen. Es ist

das erste Mal, daß sich jemand von Ihrem Kaliber in die Provinz

verirrt.«

Ich sah Analogy fragend an. »Ich glaube, ich verstehe nicht ganz,

worauf Sie hinauswollen.«

»Ich wollte damit sagen – und das ist nun weiß Gott kein Geheimnis

–, daß es sich bei unseren Mitarbeitern eher um Akademiker als um

typische SpecOps-Agenten handelt. Ihr Vorgänger war Jim Crometty.

Er wurde in der Altstadt bei einem mißlungenen Buchkauf erschossen.

Er war Bowdens Partner. Jim war uns allen ein ganz besonderer

Freund; er hatte eine Frau, drei Kinder. Ich möchte … nein, ich muß

die Person fassen, die uns Crometty genommen hat.«

Ich starrte verwirrt in ihre ernsten Gesichter, bis der Groschen

endlich fiel. Sie hielten mich für eine waschechte SO-5-Agentin auf

Heimaturlaub. So etwas war durchaus nicht ungewöhnlich. Bei SO-27

hatten wir ständig ausgemusterte SO-9-und SO-7-Leute zugeteilt

bekommen. Sie waren ausnahmslos verrückt gewesen.

»Sie haben meine Akte gelesen?« fragte ich vorsichtig.

»Die haben sie nicht herausgerückt«, sagte Analogy. »Es kommt

nicht allzu häufig vor, daß sich ein Agent aus den schwindelnden

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Höhen von SpecOps-5 zu unserem kleinen Verein versetzen läßt. Wir

brauchten einen kampferprobten Ersatz, der in der Lage ist … tja, wie

soll ich sagen …?«

Analogy verstummte, um Worte verlegen. Bowden antwortete statt

seiner.

»Wir brauchen jemanden, der im Notfall nicht vor extremer

Gewaltanwendung zurückschreckt.«

Ich sah sie an und überlegte, ob ich ihnen nicht lieber reinen Wein

einschenken sollte; schließlich hatte ich in letzter Zeit lediglich auf

mein eigenes Auto sowie auf einen offensichtlich unverwundbaren

Meisterverbrecher geschossen. Offiziell gehörte ich SO-27 an, nicht

SO-5. Aber da es gut möglich war, daß Acheron noch lebte, und ich

nach wie vor auf Rache sann, war es vielleicht gar nicht so schlecht,

wenn ich mitspielte.

Analogy rutschte nervös herum. »Im Fall Crometty ermittelt

selbstverständlich die Mordkommission. Inoffiziell können wir also

nicht sehr viel unternehmen, aber SpecOps hält sich auf seine

Unabhängigkeit seit jeher einiges zugute. Wenn wir im Laufe

anderweitiger Ermittlungen rein zufällig auf Beweise stoßen würden,

hätte niemand etwas dagegen. Sie verstehen?«

»Durchaus. Haben Sie eine Ahnung, wer Crometty umgebracht

haben könnte?«

»Jemand bot ihm etwas zum Kauf an. Ein rares DickensManuskript. Er wollte es sich ansehen und … tja, er war nicht

bewaffnet, wissen Sie.«

»Nur wenige Swindoner LitAgs können überhaupt mit der Waffe

umgehen«, setzte Bowden hinzu, »und die meisten wollen es auch gar

nicht lernen. Literarische Ermittlungsarbeit und Schußwaffen passen

einfach nicht zusammen. Wie heißt es doch? Die Feder ist mächtiger

als das Schwert.«

»Nichts gegen schöne Worte«, entgegnete ich kühl; allmählich

machte es mir Spaß, die mysteriöse SO-5-Agentin zu spielen, »aber

eine Neun-Millimeter ist im Zweifelsfall effektiver.«

- 122 -

Sie starrten mich eine Weile schweigend an. Dann zog Victor ein

Foto aus einem gelbbraunen Umschlag und legte es vor mir auf den

Tisch. »Was halten Sie davon? Das wurde gestern aufgenommen.«

Ich betrachtete das Foto. Ich kannte das Gesicht nur zu gut. »Jack

Schitt.«

»Und was wissen Sie über ihn?«

»Nicht viel. Er ist der Leiter von Goliaths Internem

Sicherheitsdienst. Er wollte wissen, was Hades mit dem Chuzzlewit Manuskript vorhatte.«

»Ich verrate Ihnen ein Geheimnis. Sie haben recht, Schitt arbeitet für

Goliath, aber nicht für die Interne Sicherheit.«

»Sondern?«

»Für die Abteilung Spezialwaffen. Acht Milliarden Jahresetat, und

alles läuft über ihn.«

»Acht Milliarden?«

»Plus Kleingeld. Angeblich wurde bei der Entwicklung des

Plasmagewehrs selbst dieses Budget noch überschritten. Er ist

intelligent, ehrgeizig und wenig flexibel. Er ist seit vierzehn Tagen

hier. Und er wäre nicht in Swindon, wenn es hier nicht etwas gäbe,

das für Goliath von besonderem Interesse ist; wir glauben, daß

Crometty sich das Originalmanuskript von Chuzzlewit ansehen wollte,

und wenn das stimmt …«

»… ist Schitt nur hier, weil ich hier bin«, beendete ich den Satz. »Er

fand es merkwürdig, daß ich mich um einen Posten bei SO-27

beworben hatte, und das ausgerechnet in Swindon – ich bitte um

Entschuldigung.«

»Schon gut«, meinte Analogy. »Aber daß Schitt sich hier

herumtreibt, sagt mir, daß Hades noch am Leben ist – oder doch

wenigstens, daß Goliath das glaubt

»Ich weiß«, sagte ich. »Beängstigend, nicht wahr?«

Analogy und Cable sahen sich an. Sie hatten alles Nötige gesagt:

daß ich hier willkommen sei, daß sie Crometty rächen wollten und

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Jack Schitt nicht riechen konnten. Sie wünschten mir einen

angenehmen Abend, zogen Hut und Mantel an und waren im Nu

verschwunden.

Die Jazznummer war zu Ende. Auch ich klatschte Beifall, während

Holroyd sich wacklig erhob, dem Publikum zuwinkte und von der

Bühne ging. Nachdem die Musik verstummt war, leerte sich die Bar

rapide, und ich blieb mehr oder weniger allein zurück. Ich blickte

nach rechts, wo zwei Miltons einander schöne Augen machten, und

dann zum Tresen, wo sich ein paar Vertreter im Anzug auf

Spesenrechnung vollaufen ließen. Ich ging zum Klavier und setzte

mich. Ich griff ein paar Akkorde und testete erst meinen Arm, bevor

ich übermütig wurde und mich an der unteren Hälfte eines Duetts

versuchte, das ich im Kopf behalten hatte. Ich sah zum Barkeeper

hinüber, um mir noch etwas zu trinken zu bestellen, doch der

trocknete gerade Gläser ab.

Als ich zum dritten Mal zur Einleitung der oberen Hälfte des Duetts

kam, erschien jäh eine Männerhand und spielte die erste Note des

Diskantparts genau im Takt. Ich schloß die Augen; ich wußte sofort,

wer es war, nahm mir jedoch vor, nicht aufzublicken. Ich roch sein

Aftershave und bemerkte die Narbe an seiner linken Hand. Mir

sträubten sich die Nackenhaare, und ich spürte, wie ein Schauder mich

durchlief. Ich rückte instinktiv ein Stück nach links, damit er sich

setzen konnte. Seine Finger huschten wie meine über die Tasten, und

wir spielten nahezu fehlerlos. Der Barkeeper warf uns einen

anerkennenden Blick zu, und selbst die Anzugträger holten auf zu

reden und wandten den Kopf, um zu sehen, wer da spielte. Ich schaute

immer noch nicht auf. Als sich meine Hände an die halbvergessene

Melodie gewöhnt hatten, wurde ich selbstbewußter und steigerte das

Tempo. Mein unsichtbarer Partner hielt tapfer mit.

So spielten wir fast zehn Minuten, und ich hatte ihn immer noch

nicht angesehen, weil ich wußte, daß ich dann lächeln würde, und das

wollte ich auf keinen Fall. Er sollte merken, daß ich nach wie vor

sauer war. Dann konnte er mich becircen. Als das Stück schließlich zu

Ende war, starrte ich weiter vor mich hin. Der Mann neben mir rührte

sich nicht von der Stelle.

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»Hallo, Landen«, sagte ich nach einer Weile.

»Hallo, Thursday.«

Ich spielte traumverloren ein paar Töne, ohne aufzublicken. »Lange

nicht gesehen«, sagte ich.

»Zehn Jahre«, antwortete er. »Um genau zu sein.«

Seine Stimme klang genau wie früher. Die vertraute Wärme und

Sensibilität waren immer noch da. Ich hob den Kopf, sah ihn an und

blickte schnell in die andere Richtung. Ich hatte feuchte Augen. Meine

Gefühle waren mir peinlich, und ich kratzte mich nervös an der Nase.

Er war ein wenig grau geworden, trug sein Haar aber mehr oder

weniger genauso wie früher. Er hatte zarte Falten rings um die Augen,

aber die konnten vom Lachen herrühren.

Als ich ihn verlassen hatte, war er dreißig und ich sechsundzwanzig

gewesen. Ich fragte mich, ob ich genauso gut gealtert war wie er. War

ich nicht längst zu alt, um ihm noch böse zu sein? Wenn ich auf

Landen sauer war, machte das Anton schließlich auch nicht wieder

lebendig. Ich wollte ihn schon fragen, ob wir es nicht noch mal

miteinander probieren sollten, aber als ich den Mund aufmachte, kam

die Welt scheppernd zum Stillstand. Das Dis, das ich eben

angeschlagen hatte, hallte nach, und Landen starrte mich an, sein

Blick ein gefrorener Lidschlag. Dads Timing hätte gar nicht schlechter

sein können.

»Hallo, Schätzchen!« rief er, löste sich aus dem Schatten und kam

auf mich zu. »Störe ich?«

»Allerdings – ja.«

»Es dauert auch nicht lange. Was hältst du davon?« Er reichte mir

einen krummen, gelben Gegenstand, etwas größer als eine Möhre.

»Was ist das?« fragte ich und roch vorsichtig daran.

»Die Frucht einer neuen Designer-Pflanze, die erst in siebzig Jahren

auf den Markt kommen soll. Guck mal …«

Er schälte sie und ließ mich kosten.

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»Lecker, was? Man kann sie pflücken, lange bevor sie reif ist, und

sie notfalls über Tausende von Meilen transportieren; in ihrer

hermetisch versiegelten, biologisch abbaubaren Verpackung hält sie

sich hundertprozentig frisch. Nahrhaft und lecker ist sie auch. Sie

wurde von einer genialen Gentechnikerin namens Anna Bannon

sequenziert. Wir wissen nicht so recht, wie wir sie nennen sollen. Hast

du vielleicht eine Idee?«

»Dir wird schon was einfallen. Was hast du damit vor?«

»Ich dachte, ich führe sie vor zehntausend Jahren ein und schaue,

was passiert – Brot für die Welt, so in der Art. Na gut, die Zeit wartet

auf niemand, wie es bei uns heißt. Dann will ich dich mal wieder

Landen überlassen.«

Die Welt lief flackernd wieder an. Landen schlug die Augen auf und

sah mich an.

»Banane«, sagte ich, als mir mit einem Mal klar wurde, was mir

mein Vater gezeigt hatte.

»Wie bitte?«

»Banane. Sie haben sie nach der Designerin benannt.«

»Thursday, du redest wirr«, sagte Landen mit amüsiertem Grinsen.

»Mein Vater war gerade da.«

»Aha. Ist er immer noch ein Mann aller Zeiten?«

»Alles wie gehabt. Paß auf, das von damals tut mir leid.«

»Mir auch«, antwortete Landen und verstummte. Ich Wollte sein

Gesicht berühren, sagte jedoch statt dessen: »Du hast mir gefehlt.«

Das hätte ich nicht sagen dürfen, und ich verfluchte mich dafür; daß

ich aber auch immer mit der Tür ins Haus fallen mußte. Landen

rutschte verlegen hin und her.

»In deiner Raupensammlung? Du hast mir auch sehr gefehlt. Im

ersten Jahr war es am schlimmsten.«

Landen schwieg einen Augenblick. Er klimperte ein wenig auf dem

Klavier herum und sagte dann: »Ich bin hier zu Hause und lebe gern

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hier. Manchmal denke ich, Thursday Next war nur eine Figur aus

einem meiner Romane, die ich nach dem Vorbild der Frau gestaltet

habe, die ich lieben wollte. Insofern … na ja, ich bin drüber hinweg.«

Das war zwar nicht ganz die Antwort, die ich hatte hören wollen,

aber nach allem, was geschehen war, konnte ich ihm das nicht

verübeln.

»Trotzdem bist du gekommen.«

Landen lächelte. »Du bist in meiner Stadt, Thurs. Und wenn alte

Freunde in der Gegend sind, dann geht man sie besuchen. Oder

nicht?«

»Und bringt ihnen Blumen mit? Hast du Colonel Phelps etwa auch

Rosen geschickt?«

»Nein, Lilien. Der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier.«

»Verstehe. Du hast dich gemacht.«

»Danke«, antwortete er. »Du hast meine Briefe nicht beantwortet.«

»Ich habe deine Briefe nicht gelesen

»Bist du verheiratet?«

»Ich wüßte nicht, was dich das angeht.«

»Also nein.«

Das Gespräch hatte eine unerfreuliche Endung genommen.

Höchste Zeit, abzuhauen. »Also, ich bin total erledigt, Landen. Und

morgen ist ein wichtiger Tag.«

Ich stand auf. Landen hinkte mir hinterdrein. Im Krimkrieg hatte er

ein Bein verloren, kam mit seiner Behinderung inzwischen aber sehr

gut zurecht. Am Tresen holte er mich ein.

»Wollen wir mal zusammen zu Abend essen?«

Ich drehte mich zu ihm um. »Klar.«

»Dienstag?«

»Warum nicht?«

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»Gut«, sagte Landen und rieb sich die Hände. »Wir könnten die alte

Truppe zusammentrommeln …«

So hatte ich mir das eigentlich nicht vorgestellt. »Warte mal.

Dienstag paßt vielleicht doch nicht so gut.«

»Warum? Bis vor drei Sekunden hattest du damit kein Problem.

War dein Vater schon wieder da?«

»Nein, ich habe einfach unheimlich viel zu tun, ich muß mich um

Pickwick kümmern. Er kommt mit der Bahn, denn im Luftschiff wird

ihm immer schlecht. Weißt du noch, wie wir ihn mit nach Mull

genommen haben und er den Steward vollgekotzt hat?«

Ich mußte mich zusammenreißen. Ich redete dummes Zeug.

»Erzähl mir bloß nicht«, sagte Landen, »daß du dir auch noch die

Haare waschen mußt.«

»Sehr witzig.«

»Als was arbeitest du eigentlich in Swindon?« fragte Landen.

»Tellerwäscherin bei SmileyBurger.«

»Daß ich nicht lache. SpecOps?«

Ich nickte. »Ich habe mich zu den Swindoner LitAgs versetzen

lassen.«

»Vorübergehend?« fragte er. »Oder willst du wieder ganz nach

Swindon ziehen?«

»Weiß ich noch nicht.«

Ich legte meine Hand auf seine. Ich wollte ihn umarmen, in Tränen

ausbrechen und ihm sagen, daß ich ihn liebte und ewig lieben würde,

wie ein zu sentimentales großes kleines Mädchen, aber das wäre

ziemlich deplaciert gewesen, wie mein Vater sagen würde.

Statt dessen beschloß ich, in die Offensive zu gehen, und fragte:

»Bist du verheiratet?«

»Nein.«

»Hast du nie daran gedacht?«

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»Doch. Sehr oft sogar.«

Wir schwiegen eine Weile. Es gab so viel zu sagen, daß wir nicht

wußten, wie und wo wir anfangen sollten. Landen eröffnete eine

zweite Front: »Magst du dir Richard III. ansehen?«

»Läuft das etwa immer noch?«

»Natürlich.«

»Ich hätte schon Lust, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß

ich noch nicht weiß, wann ich Zeit habe. Im Moment geht bei mir

irgendwie alles drunter und drüber.«

Ich sah ihm an, daß er mir nicht glaubte. Ich konnte ihm unmöglich

verraten, daß ich hinter einem Meisterverbrecher her war, der nach

Lust und Laune Gedanken stehlen und Bilder projizieren konnte; der

auf Film unsichtbar blieb und lachend morden konnte. Landen kramte

seufzend eine Visitenkarte hervor und legte sie auf den Tresen.

»Ruf mich an. Wenn du Zeit hast. Versprochen?«

»Versprochen.«

Er gab mir einen Kuß auf die Wange, leerte sein Glas, sah mich

noch einmal an und hinkte dann zur Tür hinaus. Ich blieb mit seiner

Visitenkarte zurück. Ich steckte sie nicht ein. Das brauchte ich auch

nicht. Ich hatte die Nummer im Kopf.

Mein Zimmer sah genauso aus wie alle anderen Zimmer im Hotel. Die

Bilder waren an den Wänden festgeschraubt, und die Flaschen in der

Minibar waren geöffnet, ausgetrunken und mit Wasser oder kaltem

Tee aufgefüllt worden, vermutlich von Vertretern, die zu geizig

waren, sie zu bezahlen. Das Zimmer ging nach Norden; ich sah nur

den Flugplatz. Ein großer Vierzigsitzer lag am Mast vertäut, sein

Rumpf schimmerte silbrig in der dunklen Nacht. Das kleine

Luftschiff, das mich hergebracht hatte, war nach Salisbury

weitergeflogen; ich spielte kurz mit dem Gedanken, übermorgen

damit zurückzufahren. Ich machte den Fernseher an und erwischte

gerade noch den Anfang von Heute im Parlament. Die Krimdebatte

hatte den ganzen Tag getobt und war noch immer nicht vorbei. Ich

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räumte das Kleingeld aus meinen Taschen, nahm meine Automatik

aus dem Schulterholster und zog die Nachttischschublade auf. Sie war

voll. Neben der Gideonsbibel enthielt sie die Lehren des Buddha und

eine englische Ausgabe des Korans. Sowie ein GSG-Gebetbuch und

ein Wesleyanisches Pamphlet, zwei Amulette der Gesellschaft für

Christliches Bewußtsein, die Bekenntnisse des Hl. Zvlkx und William

Shakespeares inzwischen obligatorische Gesammelte Werke. Ich

stopfte die Bücher in den Kleiderschrank und legte statt dessen meine

Automatik in das Schubfach. Ich öffnete den Reißverschluß meiner

Reisetasche und richtete mich häuslich ein. Ich hatte meine Londoner

Wohnung vorerst behalten; ich wußte ja nicht, wie lange ich

hierbleiben würde. Komischerweise fühlte ich mich in der Stadt sehr

wohl, und ich war mir noch nicht ganz im klaren darüber, ob mir das

gefiel oder nicht. Ich packte alles aufs Bett und verstaute es dann

sorgfältig im Schrank. Ich deponierte ein paar Bücher, darunter das

Exemplar von Jane Eyre, dem ich mein Leben verdankte, auf dem

Nachttisch. Ich trug Landens Foto zur Kommode und legte es nach

kurzem Nachdenken verkehrt herum in die Schublade mit meiner

Unterwäsche. Solange mir das Original zur Verfügung stand, konnte

ich auf die Kopie verzichten. Der Fernseher plärrte:

»… trotz Intervention durch die Franzosen und einer russischen

Sicherheitsgarantie für englische Siedler spricht alles dafür, daß

England nicht auf seinen Platz am Runden Tisch in Budapest

zurückkehren wird. Solange England auf das neue, Stonk genannte

Plasmagewehr setzen kann, wird auf der Schwarzmeerhalbinsel wohl

kein Frieden einkehren …«

Der Nachrichtensprecher wühlte in Papieren.

»Und jetzt zurück ins Inland. In Chichester kam es am gestrigen

Abend zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, als sich eine Gruppe

von Neosurrealisten versammelte, um den vierten Jahrestag der

Legalisierung des Surrealismus zu begehen. Henry Grubb ist für das

Toad News Network vor Ort. Henry, wie ist die Lage?«

Ein wackliges Livebild erschien auf dem Schirm, und ich hielt einen

Moment inne und schaute zu. Hinter Grubb sah man ein umgestürztes,

brennendes Auto und mehrere Polizeibeamte im Einsatzanzug. Henry

Grubb, ein angehender Krimkorrespondent, der insgeheim hoffte, daß

- 130 -

der Krieg so lange andauern würde, bis man ihn an die Front ließ, trug

eine marineblaue Bomberjacke und sprach im stockenden, gehetzten

Tonfall eines Kriegskorrespondenten.

»Die Lage ist brenzlig, Brian, um nicht zu sagen: explosiv. Ich

befinde mich etwa hundert Meter vom Ort der Ausschreitungen

entfernt und kann von hier aus brennende, umgestürzte Autos sehen.

Die Flammen sind meterhoch. Die Polizei hat den ganzen Tag

versucht, die verfeindeten Parteien auseinanderzuhalten, war gegen

ihre schiere Überzahl am Ende jedoch machtlos. In den frühen

Abendstunden haben mehrere hundert Raffaeliten ein Lokal namens

Ceci n’est pas un pipe umstellt, in dem sich hundert Neosurrealisten

verschanzt hatten. Die Demonstranten auf der Straße riefen Parolen

der italienischen Renaissance, dann flogen Steine. Worauf die

Neosurrealisten geschützt durch große weiche Uhren aus Schaumstoff

die gegnerischen Linien stürmten. Sie hätten ihre Widersacher

wahrscheinlich auch überrannt, wenn die Polizei nicht eingeschritten

wäre. Moment, ich sehe gerade, daß die Beamten einen Mann

festgenommen haben. Ich will versuchen, ein Interview zu

bekommen.«

Ich schüttelte den Kopf und stellte meine Schuhe in die Garderobe.

Es hatte Krawalle gegeben, als der Surrealismus verboten worden war,

und jetzt, bei Aufhebung dieses Verbotes, gab es wieder Krawalle.

Grubb stellte sich einem Polizisten in den Weg, der einen

Jugendlichen abführte; der junge Mann trug ein Kostüm aus dem

sechzehnten Jahrhundert und hatte sich eine originalgetreue Kopie der

»Hand Gottes« aus der Sixtinischen Kapelle ins Gesicht tätowieren

lassen.

»Entschuldigen Sie, Sir, aber was sagen Sie zu dem Vorwurf, daß

Sie ein intoleranter Haufen sind, dem es schlicht an Respekt und

Verständnis für das Neue und Experimentelle in der Kunst mangelt?«

Der Renaissancist starrte wütend in die Kamera.

»Angeblich machen ja immer nur wir Ärger, dabei hab ich hier

heute mindestens genauso viele Barock-Kids, Raffaeliten, Romantiker

und Manieristen gesehen. Das hier ist eine überwältigende

Demonstration für die Einheit der klassischen Kunst, gegen diese

- 131 -

oberflächlichen Arschlöcher, die sich unter dem Deckmäntelchen des

sogenannten ›Fortschritts‹ verkriechen. Es sind nicht nur …«

Der Polizeibeamte ging dazwischen und zerrte ihn mit sich davon.

Grubb wich einem fliegenden Pflasterstein aus und beendete seinen

Bericht.

»Henry Grubb für das Toad News Network, live aus Chiswick.«

Ich schaltete die Glotze ab; die Fernbedienung war am Nachttisch

festgekettet. Ich setzte mich aufs Bett, zog den Gummi aus meinem

Haar und massierte mir die Kopfhaut. Ich schnupperte unschlüssig an

meinen Haaren und entschied mich gegen eine Dusche. Ich hatte

Landen vor den Kopf gestoßen, ohne es zu wollen. Trotz aller

Differenzen hatten wir immer noch genug Gemeinsamkeiten, um gute

Freunde zu bleiben.

- 132 -

11.

Polly, Wordsworth und Narzissen

Ich glaube, Wordsworth war genauso erstaunt, mich zu

sehen, wie ich ihn. Es passiert schließlich nicht alle Tage,

daß man zu seiner liebsten Erinnerung zurückkehrt, und

es ist schon jemand da und bewundert die Aussicht.

POLLY NEXT

- aus einem Exklusivinterview mit der Owl on Sunday

Während ich mich wegen Landen plagte, arbeiteten mein Onkel und

meine Tante fieberhaft in Mycrofts Werkstatt. Wie ich später erfuhr,

lief es prächtig. Zu Anfang jedenfalls.

Mycroft fütterte seine Bücherwürmer, als Polly die Werkstatt betrat;

sie hatte eben einige unglaublich komplizierte mathematische

Berechnungen für ihn angestellt.

»Schatz, ich habe die Lösung, die du gesucht hast«, sagte sie und

saugte an einem abgenagten Bleistiftstummel.

»Und die lautet?« fragte Crofty und kippte seinen Bücherwürmern

Präpositionen in den gierigen Rachen.

»Neun.«

Mycroft murmelte etwas Unverständliches und schrieb die Zahl auf

einen Notizblock. Er öffnete den Deckel des großen,

messingbeschlagenen Buches, auf das ich am Abend zuvor nur einen

flüchtigen Blick hatte werfen dürfen, und legte ein

Großdruckexemplar von Wordsworths Gedicht ›Die Narzissen‹ in die

Vertiefung in der Mitte. Dann gab er eine Handvoll Bücherwürmer

hinzu, die sich eifrig ans Werk machten. Sie glitten über den Text,

wobei ihr kollektives Unbewußtes jeden Satz, jedes Wort, jeden Vokal

und jede Silbe in sich aufnahm. Sie gingen den historischen,

biographischen und geographischen Anspielungen auf den Grund,

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erforschten die in Metrum und Rhythmus verborgenen Bedeutungen

und jonglierten geschickt mit Subtext, Inhalt und Metaphern. Danach

dichteten sie selbst einige Verse und übersetzten sie in Binärcode.

See! Narzissen! Einsamkeit! Erinnerung! wisperten die Würmer

aufgeregt, als Mycroft das Buch vorsichtig zuklappte und verschloß.

Er steckte das Starkstromkabel in die Buchse an der Rückseite des

Buches und legte den Netzschalter um; dann machte er sich an den

unzähligen Knöpfen und Reglern auf dem Deckel des Buches zu

schaffen. Obwohl es sich bei dem ProsaPortal im wesentlichen um

einen Biomechanismus handelte, mußten vor Inbetriebnahme des

Gerätes zahlreiche Regler eingestellt werden; und da das Portal noch

sehr kompliziert war, blieb Mycroft nichts anderes übrig, als die

genaue Abfolge der einzelnen Schritte in einem Vokabelheft

festzuhalten, von dem es – zum Schutz gegen ausländische Spione –

nur dieses eine Exemplar gab. Er starrte eine Weile angestrengt in das

kleine Heft, bevor er an Reglern drehte, Knöpfe drückte und langsam

die Stromzufuhr erhöhte, wobei er in einem fort vor sich hin

murmelte: »Binometrik, Spherik, Numerik. Ich bin …«

»Drin?«

»Nein«, antwortete Mycroft traurig. »Doch, warte … jetzt! «

Er lächelte zufrieden, als auch die letzte Warnleuchte erlosch. Er

nahm die Hand seiner Frau und drückte sie zärtlich.

»Möchtest du mir die Ehre erweisen«, fragte er, »und als erster

Mensch ein Wordsworth-Gedicht betreten?«

Polly sah ihn ängstlich an. »Und es kann mir auch sicher nichts

passieren?«

»So sicher, wie zweimal zwei vier ist«, beruhigte er sie. »Ich war

vor einer Stunde im ›Wrack der Hesperus‹.«

»Wirklich? Und? Wie war’s?«

»Naß – und ich glaube, ich habe meine Jacke dort vergessen.«

»Die, die ich dir zu Weihnachten geschenkt habe?«

»Nein, die andere. Die blaue mit den großen Karos.«

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»Das ist die, die ich dir zu Weihnachten geschenkt habe«, schimpfte

Polly. »Wo hast du nur immer deine Gedanken? Was wolltest du noch

gleich von mir?«

»Rühr dich nicht von der Stelle. Wenn alles gutgeht, brauche ich

jetzt bloß noch auf den großen grünen Knopf zu drücken, und die

Würmer öffnen dir die Tür zu William Wordsworths geliebten

Narzissen.«

»Und wenn nicht alles gutgeht?« fragte Polly leicht nervös. Sie

mußte jedesmal an Owens’ Ableben als riesiges Baiser denken, wenn

sie sich ihrem Mann als Versuchskaninchen zur Verfügung stellte,

doch abgesehen von leichten Versengungen beim Test eines

butanbetriebenen Ein-Mann-Theaterpferdes hatten Mycrofts

Maschinen ihr noch nie etwas zuleide getan.

»Hmm«, machte Mycroft nachdenklich, »es ist möglich, wenn auch

höchst unwahrscheinlich, daß ich eine Kettenreaktion auslösen

könnte, die zur Verschmelzung aller Materie und damit zur

Auslöschung des gesamten Universums führt.«

»Im Ernst?«

»Ach, Unsinn. Kleiner Scherz am Rande. Alles klar?«

Polly lächelte. »Alles klar.«

Mycroft drückte den großen grünen Knopf, und das Buch fing an zu

summen. Die Straßenlaternen vor dem Haus flackerten und drohten zu

verlöschen, weil der Apparat eine unglaubliche Menge Strom

brauchte, um die binometrischen Informationen der Bücherwürmer zu

konvertieren. Plötzlich erhellte ein grelles Licht die Werkstatt, als

habe sich eine Tür geöffnet, die aus tiefstem Winter in den Sommer

führt. Staub glitzerte in dem dünnen Lichtstrahl, der allmählich immer

breiter wurde.

»Du brauchst bloß hindurchzugehen!« Die Maschine machte einen

solchen Lärm, daß Mycroft schreien mußte, um sich Gehör zu

verschaffen. »Die Tür offenzuhalten kostet viel Strom; du mußt dich

beeilen!«

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Die ganze Atmosphäre stand unter Spannung; kleinere Gegenstände

fingen an zu tanzen und knisterten vor Elektrizität.

Nervös lächelnd machte Polly einen Schritt auf die Tür zu. Die

schimmernde Lichtfläche kräuselte sich, als sie die Hand hob und sie

berührte. Polly holte tief Luft und trat durch das Portal. Ein greller

Blitz, gefolgt von einer schweren Entladung; in der Nähe der

Maschinen bildeten sich spontan zwei Blasen aus stark geladenem

Gasplasma und stoben in entgegengesetzte Richtungen davon.

Mycroft mußte den Kopf einziehen, als die eine an ihm vorbeisegelte

und am Rolls-Royce zerplatzte, ohne größeren Schaden anzurichten;

die andere explodierte am Olfaktographen und verursachte ein kleines

Feuer. Mit einem Mal erstarben Lärm und Licht, der Durchgang

schloß sich, und die Straßenlaternen wurden flackernd wieder hell.

Wolken! Fröhlich sein! Lichter Tanz! zischelten die Würmer

überglücklich, während die Nadeln auf dem Deckel des Buches

zitterten und zuckten und der zweiminütige Countdown bis zur

neuerlichen Öffnung des Portals begann. Mycroft lächelte zufrieden

und suchte in sämtlichen Taschen nach seiner Pfeife, bis er bestürzt

erkennen mußte, daß er auch sie an Bord der Hesperus zurückgelassen

hatte, und so setzte er sich auf den Prototyp eines SarkasmusFrühwarnmelders und wartete. Bis jetzt lief alles bestens.

Auf der anderen Seite des ProsaPortals stand Polly am Ufer eines

großen Sees und lauschte dem sanften Plätschern der Wellen. Die

Sonne strahlte, und kleine weiße Wattewölkchen trieben träge über

den azurblauen Himmel. Entlang der grasbewachsenen Bucht blühten

Tausende und Abertausende gelber Narzissen im gesprenkelten

Schatten eines Birkenhains. Ein leiser Windhauch, der den frischen

Duft des Frühlings herüberwehte, ließ die Blüten flattern und tanzen.

Ein Gefühl des Friedens und der Ruhe durchströmte sie. Die Welt, die

sie betreten hatte, war ein von des Menschen Tücke unbeflecktes

Paradies.

»Wie schön!« seufzte sie, da ihre Gedanken endlich Worte gebaren.

»Diese Blumen, diese Farben, dieser Duft – es ist, als würde man

Champagner atmen!«

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»Gefällt es Ihnen, Madam?«

Vor ihr stand ein Mann um die achtzig. Er trug einen schwarzen

Umhang, und ein schwaches Lächeln erhellte seine wettergegerbten

Züge. Er blickte zu den Blumen hinüber.

»Ich komme oft hierher«, sprach er. »Immer wenn mir Trübsal auf

der Seele lastet.«

»Sie Glückspilz«, sagte Polly. »Wir müssen uns mit Name that

Fruit! begnügen.«

» Name that Fruit

»Das ist eine Quizshow. Na, Sie wissen schon. Im Fernsehen.«

»Fernsehen?«

»Ja, das ist wie Kino, nur mit Werbung.«

Der Alte runzelte verständnislos die Stirn und blickte wieder auf den

See hinaus. »Ich komme oft hierher«, wiederholte er. »Immer wenn

mir Trübsal auf der Seele lastet.«

»Das sagten Sie schon.«

Der alte Mann sah aus, als würde er aus tiefem Schlaf erwachen.

»Wie kommen Sie hierher?«

»Mein Mann hat mich geschickt. Ich heiße Polly Next.«

»Ich komme hierher, wenn ich melancholischen Gemüts bin und

meine Seele schweifen will, wissen Sie.«

Er zeigte auf die Blumen.

»Die Narzissen, verstehen Sie?«

Polly blickte zu den leuchtendgelben Blumen hinüber, die sich im

warmen Hauch des Windes wiegten.

»Hätte ich doch nur ein besseres Gedächtnis«, murmelte sie.

Die Gestalt in Schwarz bedachte sie mit einem Lächeln. »Das inn’re

Aug’ ist alles, was mir noch geblieben ist«, sagte er wehmütig, und

das Lächeln wich von seinen Zügen. »Alles, was ich einst gewesen,

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befindet sich nun hier; mein Leben ist in meinen Werken aufgehoben.

Ein Leben in Büchern voller Wörter; es ist sehr poetisch.«

Er seufzte tief und setzte hinzu:

»Aber die Einsamkeit ist keineswegs immer ein Segen, wissen Sie.«

Er starrte auf den See hinaus, wo die Sonne auf den Wellen funkelte

und blitzte.

»Wie lange bin ich schon tot?« fragte er plötzlich.

»Über hundertfünfzig Jahre.«

»Tatsächlich? Sagen Sie, wie ist die Revolution in Frankreich

ausgegangen?«

»Das läßt sich noch nicht mit Bestimmtheit sagen.«

Wordsworth runzelte die Stirn, und die Sonne verschwand.

»Hoppla«, stieß er hervor. »Ich kann mich nicht entsinnen, das

geschrieben zu haben …«

Polly hob den Blick. Eine dicke, fast schwarze Regenwolke

verfinsterte die Sonne.

»Wie meinen Sie …?« begann sie, doch als sie sich umdrehte, war

Wordsworth nicht mehr da. Der Himmel wurde zusehends dunkler,

und Donner grollte unheildrohend in der Ferne. Ein kalter Wind kam

auf, und der See schien jegliche Tiefe zu verlieren, während die

Narzissen erstarrten und zu einem massiven, gelbgrünen Block

wurden. Polly schrie vor Schreck, als See und Himmel sich berührten.

Die Narzissen, Bäume und Wolken kehrten an ihren Platz im Gedicht

zurück, nichts als Wörter, Schnörkel auf Papier, ohne jegliche

Bedeutung außer der, die unsere Vorstellungskraft ihnen verleiht. Ein

letzter Schrei entrang sich Pollys Kehle, als alles in Finsternis versank

und das Gedicht sich über ihr schloß.

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12.

SpecOps-27: Die LitAgs

… Heute morgen hat Thursday Next Cromettys

Nachfolge als LitAg angetreten. Ich kann mich des

Eindrucks nicht erwehren, daß sie für diese Arbeit wenig

taugt, und ich bezweifle, daß sie geistig auch nur halb so

stabil ist, wie sie glaubt. Sie leidet unter allerlei

Dämonen, alten wie neuen, und ich frage mich, ob

Swindon der geeignete Ort ist, sie zu exorzieren …

BOWDEN CABLES

- Tagebuch eines LitAg

Das Hauptquartier der Swindoner SpecOps und die Zentrale der

örtlichen Polizei teilten sich einen typisch deutschen, schmucklosen,

aber zum Glück recht geräumigen Bau, der während der Besatzung

das Amtsgericht beherbergt hatte. Der Eingang war mit

Metalldetektoren gesichert, und nachdem ich meine Dienstmarke

gezeigt hatte, betrat ich die weitläufige Halle. Beamte und Zivilisten

mit Besucherausweisen an der Brust eilten zielstrebig durch das von

reger Betriebsamkeit erfüllte Gebäude. Im Gewühl wurde ich ein oder

zwei Mal angerempelt und grüßte ein paar altbekannte Gesichter,

bevor es mir gelang, mich zum Diensthabenden durchzuschlagen. Als

ich dort ankam, stieß ich auf einen Mann in Kniebundhosen und

weitem weißen Hemd. Der Beamte starrte ihn teilnahmslos an. Er

kannte seine Geschichte schon.

»Name?« fragte der Sergeant gelangweilt.

»John Milton.«

» Welcher John Milton?«

»Vierhundertsechsundneunzig.«

Der Sergeant machte sich eine Notiz.

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»Wieviel hat man Ihnen gestohlen?«

»Zweihundert in bar und sämtliche Kreditkarten.«

»Haben Sie Ihre Bank verständigt?«

»Selbstverständlich.«

»Und Sie glauben, der Räuber war ein Percy Shelley?«

»Ja«, erwiderte der Milton. »Bevor er abgehauen ist, hat er mir noch

ein Pamphlet über die Ablehnung religiöser Dogmen in die Hand

gedrückt.«

»Hallo, Ross«, sagte ich.

Der Sergeant sah mich einen Augenblick stirnrunzelnd an, bevor

sich ein Grinsen auf seinem Gesicht breitmachte.

»Thursday! Ich habe schon gehört, daß du zurückkommst! Und daß

du es zu SO-5 geschafft hast.«

Ich erwiderte sein Lächeln. Ross hatte schon Anzeigen

aufgenommen, als ich vor Jahren zur Swindoner Polizei kam.

»Was machst du hier?« wollte er wissen. »Eine Außenstelle

eröffnen? SO-9 oder so? Ein bißchen Schwung in die Behörde

bringen?«

»Nicht direkt. Ich bin zu den LitAgs versetzt worden.«

Ein Schatten des Zweifels huschte über Ross’ Gesicht, war jedoch

im Nu wieder verschwunden.

»Na prima!« rief er mit gespielter Begeisterung. »Nach

Dienstschluß Kneipe?«

Ich nickte, und nachdem Ross mir den Weg zur LitAg-Dienststelle

beschrieben hatte, ließ ich ihn mit Milton 496 allein.

Ich stieg die geschwungene Treppe hinauf in den ersten Stock und

ging einmal quer durch das Gebäude. Der gesamte Westflügel war

SpecOps beziehungsweise deren Außenstellen vorbehalten. Die

Umwelt-Agenten hatten hier ihre Büros, ebenso Kunstdiebstahl und

ChronoGarde. Selbst Spike, der Typ, der mich abgeholt hatte, hatte

hier ein Büro, in dem er allerdings kaum je anzutreffen war, wie mir

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mitgeteilt wurde. Er bevorzugte einen dunklen und ziemlich

übelriechenden Verschlag in der Tiefgarage, sagten seine Kollegen.

Auf dem Flur drängten sich Aktenschränke und Bücherregale; in der

Mitte war der alte Teppichboden fast durchgelaufen. Kein Vergleich

mit London, wo die LitAgs über modernste Recherchesysteme

verfügten. Schließlich hatte ich die richtige Tür gefunden und klopfte.

Da ich keine Antwort erhielt, trat ich ein.

Der Raum sah aus wie die Bibliothek eines verarmten Landadeligen.

Er war zwei Stockwerke hoch, mit Regalen voller Bücher, die jeden

Quadratzentimeter Wand bedeckten. Eine Wendeltreppe führte auf

eine schmale Galerie, die sich an den Wänden entlangzog und den

Zugang zu den oberen Regalreihen ermöglichte. In der Raummitte

standen mehrere Pulte, wie im Lesesaal einer Bibliothek. Überall auf

den Tischen und dem Fußboden türmten sich noch mehr Bücher und

Papiere, und ich fragte mich, wie man hier überhaupt arbeiten konnte.

Die Handvoll Beamte, die hier beschäftigt waren, hatten mein

Eintreten bislang nicht bemerkt. Ein Telefon klingelte, und ein junger

Mann nahm ab.

»LiteraturAgentur«, sagte er höflich. Er zuckte sichtlich zusammen,

als eine Schimpfkanonade aus dem Hörer quoll.

»Es tut mir wirklich sehr leid, daß Ihnen Titus Andronicus nicht

gefallen hat, Ma’am«, sagte er schließlich, »aber das fällt leider nicht

in unseren Zuständigkeitsbereich – vielleicht sollten Sie sich in

Zukunft an Komödien halten.«

Ich entdeckte Victor Analogy, der sich mit einem Kollegen über

eine Akte beugte. Ich postierte mich so, daß er mich sehen konnte,

und wartete, bis er fertig war. Es schien mir nicht angemessen, den

alten Herrn bei einer Besprechung zu stören.

»Ah, Next! Willkommen in unserer bescheidenen Behausung.

Augenblick noch, ja?«

Ich nickte, und Victor machte weiter.

»… ich glaube, Keats hätte das nicht so blumig formuliert, und die

dritte Strophe ist von der Konstruktion her etwas wacklig geraten.

Wenn Sie mich fragen, handelt es sich um eine raffinierte Fälschung,

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aber lassen Sie es ruhig noch mal durch den Versmaßanalysator

laufen.«

Der Beamte nickte und ging davon. Victor schüttelte mir lächelnd

die Hand.

»Das war Finisterre. Er kümmert sich um Lyrikfälschungen des

neunzehnten Jahrhunderts. Kommen Sie, ich zeige Ihnen alles.«

Er deutete auf die Bücherregale.

»Wörter sind wie Blätter, Thursday. Genaugenommen sogar wie

Menschen, sie fühlen sich unter ihresgleichen am wohlsten.«

Er lächelte.

»Wir haben hier über eine Milliarde Wörter. Hauptsächlich

Nachschlagewerke. Eine umfangreiche Sammlung, die neben vielen

bekannten auch eine Reihe weniger bekannter Werke umfaßt. Die

finden Sie noch nicht einmal in der Bodleiana. Wir haben noch einen

Lagerraum im Keller. Auch der ist voll. Eigentlich müßten wir

dringend umziehen, aber die LitAgs sind, gelinde gesagt, leicht

unterfinanziert.«

Er führte mich zu Bowden, der kerzengerade an seinem Pult saß.

Sein Jackett hing gefaltet über der Stuhllehne, und auf seinem

Schreibtisch herrschte eine geradezu obszöne Ordnung.

»Bowden kennen Sie ja schon. Netter Bursche. Er ist seit zwölf

Jahren bei uns und auf die Prosa des neunzehnten Jahrhunderts

spezialisiert. Er wird Sie einarbeiten. Das da drüben ist Ihr

Schreibtisch.«

Er starrte einen Moment lang auf den leergeräumten Tisch. Man

hatte für mich keineswegs eine neue Stelle geschaffen. Vor kurzem

war einer von ihnen gestorben, und ich trat seine Nachfolge an. Ich

saß auf dem Stuhl eines Toten, am Schreibtisch eines Toten. Der

Beamte am Nebentisch sah mich neugierig an.

»Das ist Fisher. Er ist unser Fachmann für Urheberrecht und

zeitgenössische Literatur.«

Fisher war ein stämmiger Bursche mit leichtem Silberblick; er war

anscheinend genauso breit wie lang. Er blickte zu mir hoch und

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grinste: Zwischen seinen Zähnen hing noch etwas Schnittlauch vom

Frühstück.

Victor ging weiter zum nächsten Tisch.

»Um die Prosa des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts

kümmert sich Helmut Beicht, eine freundliche Leihgabe unserer

Kollegen vom Kontinent. Er sollte uns helfen, eine miserable GoetheÜbersetzung wieder auszubügeln, und kam dabei einer NeonaziVerschwörung auf die Schliche, die Friedrich Nietzsche zum

faschistischen Heiligen aufbauen wollte.«

Herr Beicht war um die fünfzig und beäugte mich mißtrauisch. Er

trug zwar einen Anzug, hatte wegen der Hitze jedoch die Krawatte

ausgezogen.

»SO-5, hä?« sagte Herr Beicht, als handele es sich dabei um eine

Geschlechtskrankheit.

»Nein, SO-27, genau wie Sie«, verbesserte ich ihn. »Acht Jahre

unter Boswell in der Londoner Zentrale.«

Beicht griff zu einem scheinbar alten, in Schweinsleder gebundenen

Buch und reichte es mir. »Was halten Sie davon?«

Ich wog den staubigen Band in der Hand und betrachtete den

Rücken.

»Die Eitelkeit der menschlichen Wünsche«, las ich. »Verfaßt von

Samuel Johnson und erschienen im Jahre 1749, das erste Werk, das er

unter eigenem Namen veröffentlicht hat.« Ich schlug das Buch auf

und blätterte in den vergilbten Seiten. »Erstausgabe. Es wäre äußerst

wertvoll, wenn …«

»Wenn …?« wiederholte Beicht.

Ich schnupperte am Papier, fuhr mit dem Zeigefinger die

Schnittkante entlang und prüfte den Geschmack. Ich betastete den

Rücken, klopfte auf den Deckel und ließ den schweren Band

schließlich mit einem dumpfen Schlag auf den Schreibtisch fallen.

»… wenn es denn echt wäre.«

- 143 -

»Ich bin beeindruckt, Miss Next«, gestand Beicht. »Wir müssen uns

bei Gelegenheit mal über Johnson unterhalten.«

»Das war nicht halb so schwierig, wie es aussah«, gestand ich. »In

London haben wir zwei Paletten voller Johnson-Fälschungen wie

dieser, mit einem Straßenverkaufswert von über dreihunderttausend

Pfund.«

»London auch?« rief Beicht erstaunt. »Wir sind seit einem halben

Jahr hinter dieser Bande her; wir dachten, ihre Aktivitäten

beschränken sich auf diese Gegend.«

»Sprechen Sie mit Boswell in der Londoner Zentrale; er kann Ihnen

bestimmt weiterhelfen. Bestellen Sie ihm einfach einen schönen Gruß

von mir.«

Herr Beicht griff zum Telefonhörer und bat die Telefonistin um die

entsprechende Nummer. Victor winkte mich zu einer der vielen

Mattglastüren, die vom Hauptbüro in Nebenräume führten. Er öffnete

sie einen Spalt, und ich erblickte zwei Beamte in Hemdsärmeln, die

einen Mann in Strumpfhosen vernahmen, der ein besticktes Wams und

eine Halskrause trug.

»Malin und Sole sind ausschließlich für Shakespeare zuständig.« Er

machte die Tür wieder zu. »Sie befassen sich mit Fälschungen,

illegalem Handel und extrem freien Bühneninszenierungen. Der

Schauspieler dort drinnen heißt Graham Huxtable. Er hat eine

strafbare Einpersonenfassung von Was ihr wollt zur Aufführung

gebracht. Ein hartnäckiger Kunde. Er muß wie immer ein Bußgeld

bezahlen und bekommt eine Verwarnung. Sein Malvolio ist

unsäglich

Er öffnete die Tür zu einem anderen Büro. Eineiige Zwillinge saßen

an einer riesigen Rechenmaschine. Dank der vielen tausend Röhren

war es in dem kleinen Zimmer höllisch heiß, und das Klicken der

Relais war ohrenbetäubend. Die Maschine war das einzige Hi-TechGerät, das ich hier bislang zu Gesicht bekommen hatte.

»Das sind die Brüder Forty, Jeff und Geoff. Die Fortys bedienen den

Versmaßanalysator. Er zerlegt jedes Gedicht oder Prosastück in seine

Komponenten – Wortwahl, Interpunktion, Grammatik und so weiter –

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und vergleicht den Stil dann mit einem Muster des Zielautors, das er

in seiner Datenbank gespeichert hat. Achtundneunzig Prozent

Trefferquote. Sehr nützlich, um Fälschungen auf die Schliche zu

kommen. Neulich hatten wir hier eine Seite, die angeblich aus einem

frühen Entwurf zu Antonius und Kleopatra stammte. Sie wurde

abgelehnt mit der Begründung, sie enthalte zu viele Verben pro

Absatz.«

Er schloß die Tür. »Das war’s. Die Leitung der Swindoner SpecOps

liegt übrigens bei Commander Hicks. Der wiederum ist dem Regional

Commander in Salisbury unterstellt. Er läßt uns zumeist in Ruhe, was

uns durchaus entgegenkommt. Außerdem lernt er neue Agenten gern

schon an ihrem ersten Arbeitstag persönlich kennen, weshalb ich

vorschlagen würde, daß Sie sich jetzt bei ihm melden. Er sitzt in

Zimmer achtundzwanzig, hier den Flur entlang.«

Wir gingen zurück zu meinem Schreibtisch. Victor wünschte mir

noch einmal alles Gute und sprach dann mit Helmut über einige

Raubdruckexemplare des Doktor Faustus, die – mit einem Happy-End

versehen – auf dem Markt aufgetaucht waren.

Ich setzte mich und zog meine Schreibtischschublade auf. Es lag

nichts darin, nicht einmal eine Büroklammer.

Bowden beobachtete mich. »Victor hat den Schreibtisch gleich nach

dem Mord an Crometty ausgeräumt«, sagte er.

»James Crometty«, murmelte ich. »Erzählen Sie mir etwas über ihn,

bitte.«

Bowden nahm einen Bleistift und versuchte, ihn auf der Spitze zu

balancieren. Ein etwas naiver Versuch, mich zu beeindrucken, schien

mir.

»Crometty befaßte sich hauptsächlich mit der Prosa des neunzehnten

Jahrhunderts. Er war ein exzellenter, aber auch recht aufbrausender

Kollege, der von Dienst nach Vorschrift wenig hielt. Eines Abends,

nachdem er einen Hinweis auf ein seltenes Manuskript erhalten hatte,

verschwand er. Wir fanden ihn eine Woche später in einem

aufgegebenen Lokal namens The Raven in der Morgue Road. Der

Täter hatte ihm sechsmal ins Gesicht geschossen.«

- 145 -

»Das tut mir leid.«

»Ich habe schon manchen Kollegen verloren«, sagte Bowden in

nahezu ausdruckslosem Ton, »aber er war ein enger Freund und

Kollege, und ich hätte gern mit ihm getauscht.«

Er rieb sich flüchtig die Nase, die einzige Regung, die er sich

anmerken ließ.

»Ich halte mich für einen spirituellen Menschen, Miss Next, auch

wenn ich nicht religiös bin. Ich will damit sagen, daß ich mir des

Guten bewußt bin, das in mir steckt, und daß ich mich im Zweifelsfall

bemühen würde, das Rechte zu tun. Verstehen Sie?«

Ich nickte.

»Und trotzdem würde ich alles dafür geben, das Leben desjenigen

beenden zu dürfen, der diesen Mord begangen hat. Ich habe auf dem

Schießstand trainiert und trage jetzt immer eine Waffe; sehen Sie hier

…«

»Später, Mr. Cable. Haben Sie irgendwelche Anhaltspunkte und

Spuren?«

»Nein. Nichts. Wir wissen weder, mit wem er sich getroffen hat,

noch wo. Ich habe gute Kontakte zur Mordkommission; die tappt

ebenfalls im Dunkeln.«

»Sechs Schüsse ins Gesicht deuten darauf hin, daß der Täter mit

Leidenschaft und Hingabe zu Werke geht«, erklärte ich ihm. »Selbst

wenn Crometty bewaffnet gewesen wäre, hätte ihm das vermutlich

wenig genützt.«

»Gut möglich«, seufzte Bowden. »Ich kann mich jedenfalls nicht

entsinnen, daß im Laufe einer LitAg-Untersuchung auch nur einmal

eine Pistole gezogen worden wäre.«

Er hatte recht. Noch vor zehn Jahren galt das auch für London. Doch

das große Geld und der nahezu unermeßliche Reichtum, der sich mit

dem Verkauf und Vertrieb literarischer Werke anhäufen ließ, hatte

scharenweise kriminelle Elemente angezogen. Ich wußte von

mindestens vier Londoner LitAgs, die in Ausübung ihres Dienstes

ums Leben gekommen waren.

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»Die Gewalt auf den Straßen nimmt zu. Und das ist ganz und gar

nicht wie im Kino. Haben Sie von den Surrealistenunruhen gestern

abend in Chichester gehört?«

»Allerdings«, antwortete er. »Nicht mehr lange, dann haben wir in

Swindon ähnliche Zustände. An der Kunstakademie kam es letztes

Jahr zu einem regelrechten Aufstand, als die Schulleitung einen

Dozenten entließ, der seinen Studenten heimlich den abstrakten

Expressionismus schmackhaft gemacht hatte. Er sollte wegen

Fehlinterpretation visueller Medien vor Gericht gestellt werden. Wenn

mich nicht alles täuscht, hat er sich nach Rußland abgesetzt.«

Ich sah auf meine Uhr.

»Ich muß zum Commander.«

Ein zartes Lächeln huschte über Bowdens ernstes Gesicht.

»Na, dann viel Glück. Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf,

lassen Sie Ihre Automatik verschwinden. Trotz des Todes von James

hat Commander Hicks etwas gegen die permanente Bewaffnung von

LitAgs. Er ist der Ansicht, daß unser Platz am Schreibtisch ist und

nirgends sonst.«

Ich dankte ihm, verstaute meine Automatik in der

Schreibtischschublade und ging den Flur hinunter. Ich klopfte

zweimal an und wurde von einem jungen Mann ins Vorzimmer

gerufen. Ich sagte ihm meinen Namen, und er bat mich, zu warten.

»Der Commander empfängt Sie gleich. Möchten Sie eine Tasse

Kaffee?«

»Nein, danke.«

Der junge Mann sah mich neugierig an. »Es heißt, Sie sind extra aus

London gekommen, um Jim Cromettys Tod zu rächen. Es heißt, Sie

haben zwei Männer erschossen. Es heißt, das Gesicht Ihres Vaters

kann eine Uhr stoppen. Ist das wahr?«

»Ansichtssache. Gerüchte gibt’s wie Sand am Meer.«

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Braxton Hicks öffnete seine Bürotür und winkte mich freundlich

lächelnd herein. Er war ein großer, schlanker Mann mit mächtigem

Schnurrbart und grauem Teint. Er hatte dunkle Ringe unter den

Augen, was auf Schlafmangel schließen ließ. Der Raum war

spartanischer eingerichtet als alle anderen mir bekannten

Kommandeursbüros. An der Wand lehnten mehrere Golftaschen, und

ein Putting-Hole war hastig beiseite geschoben worden.

Er bot mir einen Platz an und setzte sich dann selbst. »Zigarette?«

»Danke, ich rauche nicht.«

»Ich auch nicht.« Er starrte mich einen Augenblick an und

trommelte mit den Fingern auf den blitzsauberen Schreibtisch. Dann

öffnete er die Mappe, die er vor sich liegen hatte, und las schweigend.

Es war meine SO-5-Akte; Analogy und er waren sich offenbar nicht

grün genug, um sich auf dem kleinen Dienstweg zu informieren.

»Agentin Thursday Next, ja?« Mit geübtem Blick überflog er die

wichtigsten Stationen meiner Karriere. »Beeindruckend. Polizei,

Krimkrieg, zurück zur Polizei, ’75 dann nach London. Warum?«

»Weil ich mich verbessern wollte, Sir.«

Hicks grunzte und las weiter. »Acht Jahre SpecOps, zwei

Belobigungen. Vor kurzem ausgeliehen an die Abteilung SO-5. Die

Angaben über Ihre Tätigkeit für letztere sind stark zensiert, hier steht

nur, Sie seien angeschossen worden im Dienst.«

Er blickte über seinen Brillenrand hinweg. »Haben Sie das Feuer

erwidert?«

»Nein.«

»Out.«

»Ich habe zuerst geschossen.«

»Nicht so gut.« Er strich sich nachdenklich den Schnurrbart. »Als

A1-Agentin waren Sie in der Londoner Zentrale mit niemand

Geringerem als Shakespeare befaßt. Sehr prestigeträchtig. Und dann

entscheiden Sie sich für einen drittklassigen Job in einem stillen

Städtchen wie diesem. Warum?«

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»Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen, Sir.«

Hicks grunzte und klappte die Akte zu.

»Hier bei SpecOps bin ich nicht nur für die LitAgs verantwortlich,

sondern auch für die Sektionen KunstVerbrechen, Vampirismus &

Lykanthropie, TerrorBekämpfung, ÖffentlicheOrdnung, ChronoGarde

und nicht zuletzt den Hundezwinger. Spielen Sie Golf?«

»Nein, Sir.«

»Schade, schade. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja. Wissen Sie,

welche dieser Abteilungen mir am meisten angst macht?«

»Ich habe keine Ahnung, Sir.«

»Ich will es Ihnen verraten. Keine von ihnen. Am meisten angst

machen mir die SpecOps-Budgetverhandlungen. Ist Ihnen klar, was

das bedeutet, Next?«

»Nein, Sir.«

»Es bedeutet, daß ich jedesmal, wenn einer von Ihnen Überstunden

schiebt oder Sonderwünsche anmeldet, mein Budget überziehe und

Kopfschmerzen bekomme, und zwar genau hier.«

Er deutete auf seine linke Schläfe.

»Und das gefällt mir nicht. Verstehen Sie?«

»Ja, Sir.«

Er griff erneut zu meiner Akte und fuchtelte mir damit vor dem

Gesicht herum. »Wie ich höre, hatten Sie in der Hauptstadt diverse

Schwierigkeiten, die mehrere Agenten das Leben gekostet haben. Hier

bei uns geht es wesentlich gemächlicher zu. Wir verarbeiten Daten

weiter nichts. Wenn Sie unbedingt jemanden verhaften wollen, lassen

Sie das die Uniformierten erledigen. Keine wilden Verbrecherjagden,

keine Schießereien, keine Überstunden und schon gar keine 24Stunden-Überwachung. Verstanden?«

»Ja, Sir.«

»Und nun zu Hades.«

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Mein Herz machte einen Satz; wenn überhaupt, dann hatte das

zensiert sein müssen.

»Wenn ich recht verstehe, glauben Sie, daß er noch am Leben ist.«

Ich dachte kurz nach. Mein Blick wanderte zu der Akte, die Hicks in

Händen hielt. Er erriet meine Gedanken.

»Nein das steht nicht hier drin, mein liebes Kind. Ich bin vielleicht

nur ein kleiner Provinzkommandeur, aber auch ich habe meine

Quellen. Glauben Sie, daß er noch lebt?«

Daß ich Victor und Bowden trauen konnte, wußte ich. Die beiden

waren wie Vater und Sohn. Bei Hicks war ich mir da nicht so sicher.

Ich beschloß, es lieber nicht drauf ankommen zu lassen.

»Das war nur der Streß, Sir. Hades ist tot.«

Er knallte meine Akte ins Ausgangskörbchen, lehnte sich zurück

und strich sich den Schnurrbart, was ihm offenbar großen Spaß

machte.

»Dann sind Sie also nicht etwa hierhergekommen, um ihn zu

suchen?«

»Was sollte Hades in Swindon wollen, wenn er noch, am Leben

wäre, Sir?«

Hicks machte einen besorgten Eindruck.

»Richtig, richtig.«

Er stand lächelnd auf, das Gespräch war beendet.

»Gut, das war’s, Sie können gehen. Ein guter Rat noch. Lernen Sie

Golf spielen; Sie werden sehen, es lohnt sich, man kann sich dabei

hervorragend entspannen. Hier haben Sie den Haushaltsbericht

unserer Abteilung, und das ist eine Liste sämtlicher Golfplätze in der

Umgebung. Machen Sie sich damit vertraut. Viel Glück.«

Ich ging hinaus und machte die Tür hinter mir zu.

Der junge Mann im Vorzimmer blickte auf. »Hat er das Budget

erwähnt?«

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»Ich glaube, er hat über nichts anderes geredet. Haben Sie einen

Papierkorb?«

Lächelnd streckte der junge Mann den Fuß aus und schob mir den

Papierkorb hin. Ich ließ den dicken Stoß Papier ohne Umschweife

hineinfallen.

»Bravo«, sagte er.

Ich wollte gerade die Tür aufmachen, als ein kleiner Mann im

blauen Anzug ins Zimmer gestürmt kam. Er las ein Fax, rempelte

mich im Vorbeigehen an und verschwand wortlos im Büro des

Commanders. Der junge Mann wartete auf meine Reaktion.

»Nanu«, murmelte ich. »Jack Schitt.«

»Sie kennen ihn?«

»Wir sind nicht direkt befreundet.«

»So charmant wie ein offenes Grab«, sagte der junge Mann. Mit

meiner geordneten Entsorgung des Haushaltsplans hatte ich

anscheinend sein Herz erobert. »Gehen Sie ihm aus dem Weg. Sie

wissen schon: Goliath!«

Ich warf einen Blick auf die geschlossene Tür des Commanders.

»Was will denn Schitt hier?«

Der Sekretär zuckte die Achseln, zwinkerte mir verschwörerisch zu

und sagte laut und deutlich: »Ich hole Ihnen rasch Ihren Kaffee, Sie

nehmen doch zwei Stück Zucker, oder?«

»Nein, danke, für mich nicht.«

»Nein, nein«, widersprach er. »Zwei Stück Zucker, ZWEI Stück

Zucker.«

Er zeigte auf die Sprechanlage auf seinem Schreibtisch.

»Heiliger Himmel!« sagte er. »Muß man Ihnen eigentlich alles

erklären?«

Der Groschen fiel. Der junge Mann huschte matt lächelnd zur Tür

hinaus. Ich setzte mich an seinen Schreibtisch, legte den mit einer »2«

- 151 -

markierten Schalter der Wechselsprechanlage um und beugte mich

vor, damit ich besser hören konnte.

»Ich kann es nicht leiden, wenn Sie ohne anzuklopfen in mein Büro

platzen, Mr. Schitt.«

»Ich bin untröstlich, Braxton. Weiß sie über Hades Bescheid?«

»Nein. Behauptet sie.«

»Sie lügt. Sie ist nicht ohne Grund hier. Wenn ich Hades zuerst

finde, können wir sie uns vom Hals schaffen.«

»Ich höre immer wir, Jack«, sagte der Commander gereizt.

»Vergessen Sie bitte nicht, daß ich Goliath zwar meine volle

Unterstützung zugesichert habe, Sie aber dennoch in meinem

Zuständigkeitsbereich tätig sind und folglich nur die Vollmacht

genießen, die ich Ihnen gebe. Eine Vollmacht, die ich jederzeit wieder

zurückziehen kann. Entweder wir machen es auf meine Art oder gar

nicht. Verstanden?«

Schitt ließ sich davon nicht beirren. Er erwiderte in herablassendem

Ton: »Aber selbstverständlich, Braxton, solange Sie begreifen, daß die

Goliath Corporation Sie persönlich zur Rechenschaft ziehen wird,

wenn die Sache in die Hose geht.«

Ich setzte mich wieder an meinen leeren Schreibtisch. Im Büro

schien allerhand vor sich zu gehen, von dem ich keine Ahnung hatte.

Als Bowden mir die Hand auf die Schulter legte, fuhr ich zusammen.

»Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken. Wie war’s beim

Commander? Sind Sie in den Genuß seiner berühmten Haushaltsrede

gekommen?«

»Plus Zugabe. Jack Schitt ist in sein Büro marschiert, als ob ihm der

Laden gehörte.«

Bowden zuckte die Achseln.

»Da er von Goliath kommt, ist das sogar leider ziemlich

wahrscheinlich.«

Bowden nahm sein Jackett von seiner Stuhllehne und legte es sich

ordentlich über den Arm.

- 152 -

»Wo wollen Sie hin?« fragte ich.

»Erst mal zum Lunch, danach überprüfen wir einen Hinweis im Fall

Chuzzlewit. Ich erkläre es Ihnen unterwegs. Haben Sie einen Wagen?«

Bowden war nicht allzu begeistert, als er meinen grünen Porsche

sah.

»Unauffällig kann man das ja nicht gerade nennen.« »Im

Gegenteil«, widersprach ich, »wer würde in einem solchen Wagen

schon eine LitAg vermuten? Außerdem muß ich ihn fahren.«

Bowden nahm auf dem Beifahrersitz Platz und bedachte die

spartanische Ausstattung mit geringschätzigen Blicken.

»Stimmt was nicht, Miss Next? Warum starren Sie mich so an.«

Jetzt, da Bowden neben mir saß, fiel mir ein, wo ich ihn schon mal

gesehen hatte. Er war mein Beifahrer gewesen, als mir der Wagen im

Krankenhaus erschienen war. Langsam, aber sicher fügte sich eins

zum anderen.

- 153 -

13.

Die Kirche in Capel-y-ffin

- 154 -

14.

Lunch mit Bowden

Ehrliche und verläßliche Agenten wie Bowden Cable

bilden das Rückgrat von SpecOps. Sie erhalten weder

Ehrungen noch Orden, und die Öffentlichkeit weiß nichts

von ihrer Existenz. Sie sind soviel wert wie zehn von

meiner Sorte.

THURSDAY NEXT

- Ein Leben für SpecOps

Bowden dirigierte mich zu einem Fernfahrerlokal an der alten

Straße nach Oxford. Eine merkwürdige Wahl – die Stühle waren aus

orangefarbenem Plastik, und die vergilbten Resopaltische wellten sich

an den Kanten. Die Fenster waren fast blind, und die Nylongardinen

trieften vor Fett. Von der Decke hingen mehrere längst wirkungslos

gewordene Fliegenfänger; die Fliegen, die daran klebten, waren schon

vor vielen Jahren vertrocknet. Irgendwer hatte versucht, das Interieur

mittels einer Handvoll hastig aus alten Kalendern ausgeschnittener

Fotos etwas wohnlicher zu gestalten, und über dem zugemauerten

Kamin hing ein signiertes Foto der englischen WM-Elf von 1978 über

einer Vase mit Plastik-Kamelien.

»Sind Sie sicher?« fragte ich und setzte mich vorsichtig an einen

Fenstertisch.

»Das Essen ist gut«, antwortete Bowden, als wäre alles andere egal.

Eine kaugummikauende Kellnerin kam an den Tisch und legte uns

verbogenes Besteck hin. Sie war um die fünfzig und trug eine

Uniform, die sie allem Anschein nach von ihrer Mutter geerbt hatte.

»Hallo, Mr. Cable«, sagte sie mit müder Stimme, »wie geht’s?«

»Bestens, danke der Nachfrage. Lottie, ich möchte Ihnen meine

neue Partnerin vorstellen, Thursday Next.«

Lottie sah mich zweifelnd an. »Verwandt oder verschwägert?«

- 155 -

»Captain Next war mein Bruder«, sagte ich laut, wie um Lottie zu

versichern, daß ich mich deswegen durchaus nicht schämte, »und was

man ihm nachsagt, ist nicht wahr.«

Die Kellnerin starrte mich an, als liege ihr eine passende Antwort

auf der Zunge, doch sie schien sich nicht zu trauen.

»Und? Was darf’s sein?« fragte sie statt dessen mit aufgesetzter

Fröhlichkeit. Sie hatte bei dem Angriff jemanden verloren; das spürte

ich.

»Was können Sie uns denn empfehlen?« fragte Bowden.

» Soupe d’Auvergne au fromage«, antwortete Lottie, »und als

Hauptgang rojoes cominho

»Und was ist das?« erkundigte ich mich.

»Geschmortes Schwein mit Kreuzkümmel, Koriander und Zitrone«,

antwortete Bowden.

»Klingt gut.«

»Zweimal bitte und dazu eine Karaffe Mineralwasser.«

Sie nickte, kritzelte etwas auf ihren Block und warf mir ein weiteres

müdes Lächeln zu, bevor sie in die Küche ging.

Bowden betrachtete mich aufmerksam. Er hätte früher oder später

ohnehin herausbekommen, daß ich beim Militär gewesen war. Das

ließ sich schließlich nur schwer verbergen. »Sie waren auf der Krim,

was? Wußten Sie, daß Colonel Phelps in der Stadt ist?«

»Ich habe ihn gestern im Luftschiff getroffen. Er wollte mich dazu

überreden, bei einer seiner Kundgebungen aufzutreten.«

»Und?«

»Machen Sie Witze? Wenn es nach ihm ginge, wäre der Krimkrieg

dann zu Ende, wenn wir auch den letzten Mann verloren haben und

die Halbinsel verseucht, vermint und zu nichts mehr zu gebrauchen

ist. Hoffentlich gelingt es der UNO, die beiden Staaten zur Vernunft

zu bringen.«

- 156 -

»Ich wurde ’78 einberufen«, sagte Bowden. »Ich habe sogar die

Grundausbildung hinter mich gebracht. Zum Glück war damals gerade

der Zar gestorben, und der Kronprinz bestieg den Thron. Und da der

junge Kaiser dringendere Sorgen hatte, zogen die Russen sich zurück.

Ich wurde nicht mehr gebraucht.«

»Ich habe irgendwo gelesen, daß in den einhunderteinunddreißig

Jahren seit Kriegsbeginn nur sieben Jahre lang wirklich gekämpft

wurde.«

»Dafür«, setzte Bowden hinzu, »fallen die Kämpfe dann um so

heftiger aus.«

Ich sah ihn an. Er trank einen Schluck Wasser, nachdem er zuerst

mir eingeschenkt hatte.

»Verheiratet? Kinder?«

»Nein«, antwortete Bowden. »Ich habe eigentlich nie Zeit gehabt,

mir eine Frau zu suchen, obwohl ich nichts Prinzipielles dagegen

habe. Aber bei SpecOps lernt man so leicht niemanden kennen, und

ich muß gestehen, daß ich nicht gern unter Leute gehe. Ich habe mich

um einen Posten bei unseren amerikanischen Kollegen in Ohio

beworben; vielleicht finde ich ja dort eine Frau.«

»Erstens verdient man drüben sehr gut, und zweitens sind die

Kollegen finanziell und auch sonst exzellent ausgestattet. Also, ich an

Ihrer Stelle würde mich nicht zweimal bitten lassen«, sagte ich. Es

war mein voller Ernst.

»Ach ja? Wirklich?« fragte Bowden mit einer jähen Begeisterung,

die so gar nicht zu seiner ansonsten sehr kühlen Art passen wollte.

»Na klar. Tapetenwechsel«, stammelte ich und suchte nach einem

neuen Gesprächsthema, damit Bowden sich keine falschen

Hoffnungen machte. »Sind Sie … äh … schon lange bei den LitAgs?«

Bowden dachte einen Augenblick nach. »Seit zehn Jahren. Ich bin,

gleich nachdem ich in Cambridge meinen Abschluß in Literatur des

neunzehnten Jahrhunderts gemacht hatte, zu den SpecOps gegangen.

Jim Crometty hat mich vom ersten Tag an unter seine Fittiche

- 157 -

genommen.« Er starrte wehmütig aus dem Fenster. »Wenn ich

dabeigewesen wäre …«

»… wären Sie jetzt beide tot. Wer einem Menschen sechsmal ins

Gesicht schießt, ist kein Sonntagsschüler. Er hätte Sie auch

erschossen, ohne mit der Wimper zu zucken. Dieses ewige Was-wärewenn führt doch zu nichts; glauben Sie mir, ich spreche aus

Erfahrung. Hades hat zwei meiner Kollegen auf dem Gewissen. Ich

habe mir das hundertmal durch den Kopf gehen lassen, trotzdem

würde ich es wahrscheinlich noch einmal ganz genauso machen, wenn

ich könnte.«

Lottie stellte einen Korb frischgebackenes Brot und zwei Teller

Suppe vor uns hin.

»Lassen Sie sich’s schmecken«, sagte sie. »Das geht auf Kosten des

Hauses.«

»Aber …!« protestierte ich.

Lottie brachte mich zum Schweigen. »Keine Widerrede«, sagte sie

tonlos. »Nach dem Angriff. Nach dem Granatüberfall, als die Leichte

Brigade zerschossen am Boden lag – sind Sie noch mal rein und haben

getan, was Sie konnten. Sie sind zurückgegangen und haben versucht,

die Verletzten zu retten. Ich weiß das zu schätzen.« Sie drehte sich um

und verschwand.

Die Suppe war gut, die rojoes cominho sogar noch besser.

»Victor meinte, Sie seien in London für Shakespeare zuständig

gewesen«, sagte Bowden.

Das war das bei weitem renommierteste LitAg-Ressort. Dicht

gefolgt von den Lake Poets und der Restaurationskomödie. In jeder

Behörde, so gleichberechtigt die Mitarbeiter pro forma auch sein

mochten, etablierte sich früher oder später eine Hackordnung.

»Da es in London kaum Aufstiegsmöglichkeiten gab, wurden mir

nach zwei Jahren die Shakespeare-Fälle zugeteilt«, erklärte ich und

zupfte an einem Stück Brot. »In London hatten wir vor allem mit den

Baconiern große Probleme.«

Bowden blickte auf. »Was halten Sie von der Bacon-Theorie?«

- 158 -

»Nicht viel. Wie die meisten anderen Menschen bin ich ziemlich

sicher, daß an Shakespeare mehr dran ist als nur Shakespeare. Aber

daß Sir Francis Bacon einen so gut wie unbekannten Schauspieler als

Strohmann benutzt haben soll? Ich bitte Sie. Das kann ich nicht

glauben.«

»Er war praktizierender Rechtsanwalt«, widersprach Bowden. »Und

in vielen seiner Stücke kommen juristische Begriffe vor.«

»Das beweist gar nichts«, entgegnete ich. »Auch Greene, Nashe und

vor allem Ben Jonson verwenden juristische Fachausdrücke; keiner

von ihnen war studierter Jurist. Und mit den sogenannten

Schlüsselwörtern brauchen Sie mir gar nicht zu kommen.«

»Die können wir komplett vergessen«, meinte Bowden. »Wenn Sie

mich fragen. Ich bin auch kein Baconier. Die Stücke sind nicht von

ihm.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Wenn Sie De Augmentes Scientarium lesen, werden Sie feststellen,

daß Bacon das populäre Theater ablehnt. Außerdem wurde

Shakespeares Truppe, als sie beim König um die Genehmigung

ersuchte, ein Theater zu gründen, an den Petitionsausschuß verwiesen.

Dreimal dürfen Sie raten, wer dieser Kommission angehörte und sich

am vehementesten gegen den Antrag aussprach.«

»Francis Bacon?« fragte ich.

»Genau. Wer auch immer die Stücke geschrieben hat, Bacon war es

auf keinen Fall. Ich habe im Lauf der Jahre ein paar eigene Theorien

entwickelt. Haben Sie schon mal von Edward De Vere, dem

siebzehnten Earl of Oxford, gehört?«

»Kann sein.«

»Vieles deutet darauf hin, daß er, im Gegensatz zu Bacon, wirklich

schreiben konnte, und zwar sehr gut – Moment.«

Lottie hatte ein Telefon an den Tisch gebracht. Es war für Bowden.

Er wischte sich mit einer Serviette den Mund ab. »Ja?« Er hob den

Kopf und sah mich an. »Ja, ist sie. Wir sind gleich da. Danke.«

»Ist was passiert?«

- 159 -

»Es geht um Ihren Onkel und Ihre Tante. Ich weiß gar nicht, wie ich

das sagen soll, aber … sie sind entführt worden!«

Als wir ankamen, standen mehrere Einsatzfahrzeuge von Polizei und

SpecOps vor dem Haus meiner Mutter. Eine kleine Menschenmenge

hatte sich versammelt und spähte über den Zaun. Die Dodos standen

auf der anderen Seite, starrten zurück und fragten sich vermutlich, was

das Theater zu bedeuten hatte. Ich zeigte dem diensthabenden

Beamten meine Marke.

»LitAg?« sagte er verächtlich. »Da kann ich Sie leider nicht

reinlassen, Ma’am. Nur Polizei und SpecOps-9.«

»Er ist mein Onkel …!« protestierte ich wütend, und der Beamte

ließ mich widerstrebend durch. Das war in Swindon nicht anders als in

London: Ein LitAg-Ausweis war in etwa soviel wert wie eine

Busfahrkarte. Meine Mutter saß im Wohnzimmer inmitten einer

Unmenge feuchter Papiertaschentücher. Ich hockte mich neben sie

und fragte sie, was passiert sei.

Sie schneuzte sich geräuschvoll. »Um eins habe ich sie zum Essen

gerufen. Es gab Würstchen, Mycrofts Leibgericht. Als sich nichts

rührte, bin ich in die Werkstatt gegangen. Beide waren verschwunden,

und das Tor stand sperrangelweit offen. Mycroft wäre niemals

weggegangen, ohne mir etwas zu sagen.«

Sie hatte recht. Mycroft ging nur im äußersten Notfall aus dem

Haus; seit er Owens in ein Baiser verwandelt hatte, erledigte Polly

sämtliche Gänge für ihn.

»Ist was gestohlen worden?« erkundigte ich mich bei einem

SpecOps-9-Agenten, der mich gleichgültig anstarrte. Er empfand es

anscheinend als unter seiner Würde, die Fragen einer LitAg

beantworten zu müssen.

»Wer weiß?« erwiderte er kühl. »Wenn ich recht verstehe, waren

Sie noch vor kurzem in seiner Werkstatt?«

»Ja, gestern abend.«

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»Dann können Sie sich ja vielleicht mal umsehen und uns sagen, ob

etwas fehlt?«

Ich wurde in Mycrofts Werkstatt eskortiert. Die Tür war

aufgebrochen worden, und der Tisch, auf dem die Bücherwürmer

gestanden hatten, war leer; nur das dicke Starkstromkabel des

ProsaPortals war noch da. Das hatten die Täter zurücklassen müssen.

»Genau hier standen ein paar Gläser mit Würmern und ein großes

Buch, das wie eine mittelalterliche Kirchenbibel aussah …«

»Können Sie’s uns vielleicht aufmalen?« fragte eine vertraute

Stimme. Ich drehte mich um und entdeckte Jack Schitt, der im

Schatten lauerte, eine dünne Zigarette rauchte und einem GoliathTechniker zusah, der mit einem summenden Detektor den Fußboden

absuchte.

»Nanu«, sagte ich, »wenn das mal nicht Jack Schitt ist. Seit wann

interessiert Goliath sich für meinen Onkel?«

»Können Sie’s aufmalen?« wiederholte er.

Ich nickte, und einer der Goliath-Leute gab mir Bleistift und Papier.

Ich skizzierte grob, was ich gesehen hatte, die komplizierte

Ansammlung von Reglern und Knöpfen auf dem Deckel des Buches

und die schweren Messingbeschläge. Jack Schitt riß mir die

Zeichnung aus der Hand und studierte sie eingehend, als ein zweiter

Goliath-Techniker hereinkam. »Und?« fragte Schitt.

Der Agent grüßte zackig und zeigte Schitt zwei riesige,

halbgeschmolzene Krokodilklemmen.

»Wie es scheint, hatte Professor Next seine Kabel persönlich an den

Transformator hinter dem Nachbarhaus angeschlossen. Ich habe mit

dem E-Werk gesprochen. Gestern am späten Abend gab es dreimal

einen ungeklärten Spannungsabbau und Leistungsverluste von je eins

Komma acht Megawatt.«

Jack Schitt wandte sich an mich. Ȇberlassen Sie das lieber uns,

Miss Next«, sagte er. »Entführung und Diebstahl fallen wohl kaum in

den Zuständigkeitsbereich der LitAgs.«

- 161 -

»Wer war das?« fragte ich, doch Schitt ließ sich nicht weiter

beeindrucken – schon gar nicht von mir. Drohend hob er den

Zeigefinger.

»Das ist unser Fall; wir halten Sie auf dem laufenden. Oder auch

nicht. Je nachdem.«

Er machte auf dem Absatz kehrt und ging aus der Tür.

»Es war Acheron, nicht wahr?« sagte ich langsam und bedächtig.

Schitt blieb schlagartig stehen und wirbelte zu mir herum.

»Acheron ist tot, Next. Auf der M4 in Ihrem Auto verbrannt.

Behalten Sie Ihre Theorien für sich, Mädchen. Sonst halten Sie die

Leute am Ende noch für psychisch gestört.«

Mit einem kalten Lächeln auf den Lippen verließ er die Werkstatt

und ging zu seinem Wagen.

- 162 -

15.

Guten Tag & auf Wiedersehen, Mr.

Quaverley

Nur wenige Menschen erinnern sich überhaupt an Mr.

Quaverley. Hätten Sie Martin Chuzzlewit vor 1985

gelesen, wären Sie darin einer Nebenfigur dieses Namens

begegnet, einem Bewohner von Mrs. Todgers Pension. Er

unterhielt sich mit den Pecksniffs ausführlich über

Schmetterlinge, obwohl er davon so gut wie keine

Ahnung hatte. Leider gibt es ihn nicht mehr. Sein Hut,

der an dem Garderobenhaken auf S. 235 unten hängt, ist

alles, was von ihm geblieben ist …