Jasper Fforde

Der Fall Jane Eyre

Roman

Aus dem Englischen von

Lorenz Stern

Deutscher Taschenbuch Verlag

Deutsche Erstausgabe

Januar 2004

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

München

www.dtv.de

© 2001 Jasper Fforde

Titel der englischen Originalausgabe:

›The Eyre Affair‹ (Hodder and Stoughton, London)

© 2004 der deutschsprachigen Ausgabe: Deutscher Taschenbuch

Verlag GmbH & Co. KG, München

Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Illustration auf der Umschlagruckseite:

© Larry Rostant, Hodder & Stoughton Publishers

Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten Gesetzt aus der Goudy

Old Style 10,5/12,75 (QuarkXPress)

Druck und Bindung: Kosel, Kempten

Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany • ISBN 3-423-24379-1

Dieses eBook ist nicht zum Verkauf

bestimmt.

Für meinen Vater

John Standish Fforde

1921-2000

der die Veröffentlichung dieses Romans zwar nicht mehr miterlebt

hat, aber dennoch mächtig stolz – und nicht zuletzt ziemlich

erstaunt – gewesen wäre.

Inhaltsverzeichnis

1. Thursday Next .............................................................................7

2. Gad’s Hill ..................................................................................18

3. Wieder am Schreibtisch.............................................................26

4. Acheron Hades ..........................................................................38

5. … die Großen läßt man laufen ..................................................54

6. Jane Eyre: Ein kleiner Ausflug in den Roman ..........................74

7. Schitt von der Goliath Corporation ...........................................81

8. Luftschiff nach Swindon ...........................................................87

9. Familie Next ............................................................................100

10. Hotel Finis, Swindon .............................................................116

11. Polly, Wordsworth und Narzissen .........................................133

12. SpecOps-27: Die LitAgs........................................................139

13. Die Kirche in Capel-y-ffin.....................................................154

14. Lunch mit Bowden ................................................................155

15. Guten Tag & auf Wiedersehen, Mr. Quaverley.....................163

16. Sturmey Archer & Felix7 ......................................................175

17. SpecOps-17: Sauger & Beißer...............................................186

18. Noch mal Landen ..................................................................193

19. Irrwürden Joffy Next .............................................................206

20. Dr. Runcible Spoon ...............................................................215

21. Hades & Goliath ....................................................................224

22. Däumchen drehen ..................................................................231

23. Die Übergabe.........................................................................235

24. Glück für Martin Chuzzlewit.................................................247

25. Zeit zum Nachdenken............................................................253

26. Die Erdkreuzer.......................................................................258

27. Hades findet ein neues Manuskript .......................................280

28. Haworth House......................................................................302

29. JaneEyre ................................................................................311

30. Eine Welle der Betroffenheit.................................................316

31. In der Volksrepublik Wales...................................................319

32. Heimkehr nach Thornfield Hall.............................................335

33. Das Buch wird geschrieben ...................................................347

34. Ihr Buch geht zu Ende ...........................................................362

35. Unser Buch geht zu Ende ......................................................369

36. Im Hafen der Ehe...................................................................384

1.

Thursday Next

… Das Special Operations Network wurde zur

Durchführung polizeilicher Maßnahmen ins Leben

gerufen, die entweder als zu ungewöhnlich oder aber zu

speziell erachtet wurden, um von den regulären

Einsatzkräften bewältigt zu werden. Es gliedert sich in

insgesamt dreißig Teilbereiche, von der eher profanen

Sektion Nachbarschaftskonflikte (SO-30) über die

sogenannten LiteraturAgenten (SO-27) bis zur Abteilung

KunstVerbrechen (SO-24). Die Wirkungsbereiche der

Sektionen SO-1 bis SO-20 unterliegen strengster

Geheimhaltung, obgleich allgemein bekannt ist, daß die

ChronoGarde als SO-12 und die Einheit

TerrorBekämpfung als SO-9 firmieren. Gerüchten

zufolge überwacht die Abteilung SO-1 ihrerseits die

SpecOps. Über die Aufgaben der übrigen Sektionen ist so

gut wie nichts bekannt. Fest steht nur, daß sich das

Personal zumeist aus ehemaligen Soldaten oder

Polizeibeamten mit leichten psychischen Defekten

rekrutiert. »Wer zu den SpecOps will«, so eine

Redensart, »muß schon ein paar Schrauben locker haben

…«

MILLON DE FLOSS

- Eine kurze Geschichte des Special Operations Network

Mein Vater hat ein Gesicht, das eine Uhr stoppen kann. Nicht daß er

häßlich gewesen wäre; nein, mit diesem Ausdruck bezeichnet die

ChronoGarde Personen, die in der Lage sind, den reißenden Zeitstrom

sozusagen in ein zäh dahintröpfelndes Rinnsal zu verwandeln. Dad

hatte als Colonel in der ChronoGarde gedient und seine Arbeit stets

- 7 -

geheimgehalten. So geheim, daß wir von seinem Abgang erst

erfuhren, als seine Chrono-Kollegen eines Morgens mit einem

unbefristeten, allzeit gültigen Haft-& Eliminationsbefehl in unsere

Behausung einfielen und wissen wollten, wo und wann er steckte.

Seither ist mein Vater auf der Flucht; bei seinen späteren Besuchen

teilte er uns lediglich mit, daß er den gesamten ChronoDienst für

»moralisch und historisch korrupt« halte und einen Kampf als EinMann-Guerrilla gegen die Bürokraten im Ministerium für

Zeitstabilität zu führen gedenke. Ich habe bis heute nicht begriffen,

was er damit meinte; ich konnte nur hoffen, daß er wußte, was er tat,

und dabei nicht zu Schaden kam. Dafür, daß er die Uhr anhalten kann,

hat er ein großes Opfer gebracht: Er ist jetzt ein einsamer Wanderer

zwischen den Zeiten, der nicht nur einer, sondern allen Epochen

gehört und dessen einziges Zuhause der chronoklastische Raum ist.

Ich war nicht bei den ChronoGarden und hatte diesbezüglich auch

keinerlei Ambitionen. Nach allem, was man hört, gibt es dort nicht

viel zu lachen, obwohl man angeblich sehr gut verdient und das Amt

seinen Mitarbeitern eine traumhafte Pension in Aussicht stellt: eine

Fahrt an jeden Ort der Welt in jeder gewünschten Zeit (nur Hinfahrt).

Nein, das war nichts für mich.

Ich war eine sogenannte »A1-Agentin« in den Diensten von SO-27,

der Sektion LiteraturAgenten (LitAgs) des Special Operations

Network mit Hauptsitz in London. Das ist nicht halb so aufregend, wie

es sich anhört. Seit 1980 drängten die großen Verbrecherbanden auf

den lukrativen Literaturmarkt, und wir waren notorisch überarbeitet

und unterfinanziert. Ich war Bereichsleiter Boswell zugeteilt, einem

aufgeblasenen Zwerg, der wie ein Mehlsack mit Armen und Beinen

aussah. Er lebte einzig und allein für seine Arbeit; Wörter waren seine

große Leidenschaft – für ihn gab es nichts Schöneres, als einem

kopierten Coleridge oder falschen Fielding nachzuspüren. Unter

Boswells Leitung machten wir die Bande dingfest, die mit gestohlenen

Samuel-Johnson-Erstausgaben handelte; ein andermal vereitelten wir

den Versuch, eine groteske Fälschung von Shakespeares

verschollenem Cardenio zu authentifizieren. Was streckenweise zwar

recht amüsant war, letztlich aber doch nichts weiter als Oasen im

- 8 -

öden, tagtäglichen Einerlei von SO-27: Meistens schlugen wir uns mit

Hehlern, Betrügern und Raubdruckern herum.

Ich arbeitete seit acht Jahren für SO-27 und teilte mir in Maida Vale

eine Wohnung mit Pickwick, einem zahmen, zurückgezüchteten

Dodo, der noch aus Zeiten stammte, als Evolutionsumkehr der letzte

Schrei war und man Do-It-Yourself-Klon-Kits an jeder Ecke kaufen

konnte. Ich wollte – nein, ich mußte – unbedingt weg von den LitAgs,

doch Versetzung war ein Fremdwort, und eine Beförderung kam nicht

in Frage. In den Rang eines Inspektors konnte ich nur dann aufsteigen,

wenn mein direkter Vorgesetzter Karriere machte oder sich zur Ruhe

setzte. Aber dazu kam es nicht; Inspektor Turners Hoffnung, ihrem

Traummann zu begegnen, der sie ehelichte und von dessen Geld sie

leben konnte, zerschlug sich immer wieder, weil ihr Traummann

entweder trank, log oder schon vergeben war.

Wie gesagt, hatte mein Vater ein Gesicht, das eine Uhr stoppen

konnte; und genau das tat es denn auch, als ich eines schönen

Frühlingsmorgens in einem kleinen Café unweit meiner Arbeitsstelle

saß und ein Sandwich vertilgte. Die Welt flackerte, bebte kurz und

blieb stehen. Der Besitzer des Cafés erstarrte mitten im Satz, und das

Bild auf dem Fernsehschirm gefror. Vögel hingen bewegungslos am

Himmel. Autos und Straßenbahnen hielten schlagartig an, und ein in

einen Unfall verwickelter Radfahrer hing mit angstverzerrter Miene

einen guten halben Meter über dem Asphalt in der Luft. Auch die

Geräusche brachen ab; an ihre Stelle trat die matte Momentaufnahme

eines anhaltenden Summtons, der mit gleichbleibender Lautstärke die

Welt füllte.

»Na, wie geht es meiner hinreißenden Tochter?«

Ich drehte mich um. Mein Vater saß an einem Tisch und stand auf,

um mich liebevoll zu umarmen.

»Gut«, antwortete ich und drückte ihn. »Wie geht es meinem

Lieblingsvater?«

»Ich kann nicht klagen. Die Zeit ist eine hervorragende Ärztin.«

Ich starrte ihn einen Moment lang an.

- 9 -

»Weißt du, was?« murmelte ich. »Ich habe den Eindruck, du wirst

von Mal zu Mal jünger.«

»Werde ich auch. Irgendwelche Enkelkinder in Aussicht?«

»Bei meinem Lebenswandel? Nie und nimmer.«

Mein Vater zog lächelnd eine Augenbraue hoch. »Da wäre ich mir

an deiner Stelle nicht so sicher.« Er reichte mir eine WoolworthPlastiktüte.

»Ich war neulich in ’78«, verkündete er, »und habe dir was

mitgebracht.«

Die Tüte enthielt eine Beatles-Single. Der Titel sagte mir nichts.

»Haben die sich nicht schon 1970 aufgelöst?«

»Nicht immer. Was macht die Kunst?«

»Nichts Besonderes. Echtheitszertifikate, Urheberrechtsverstöße,

Diebstahl …«

»… immer derselbe Mist, ja?«

»Ja.« Ich nickte. »Immer derselbe Mist. Was führt dich her?«

»Ich habe deine Mutter in drei Wochen besucht«, antwortete er mit

einem Blick auf den großen Chronographen an seinem Handgelenk.

»Aus den – ähem – üblichen Gründen. Nächste Woche will sie das

Schlafzimmer mauve streichen – würdest du bitte mit ihr sprechen und

ihr das ausreden? Die Farbe paßt nicht zu den Vorhängen.«

»Wie geht’s ihr?«

Er seufzte schwer.

»Bestens, wie immer. Mycroft und Polly lassen auch schön grüßen.«

Polly und Mycroft waren meine Tante und mein Onkel; ich liebte

sie sehr, obwohl sie den einen oder anderen Sprung in der Schüssel

hatten. Besonders Mycroft fehlte mir. Ich war schon seit Jahren nicht

mehr zu Hause gewesen.

»Deine Mutter und ich würden uns freuen, wenn du mal wieder

vorbeikämst. Sie findet, du nimmst deine Arbeit zu ernst.«

- 10 -

»Das mußt du gerade sagen, Dad.«

»Autsch, das hat gesessen. Wie steht’s mit deinen

Geschichtskenntnissen?«

»Es geht.«

»Weißt du, wie der Herzog von Wellington starb?«

»Logisch«, antwortete ich. »Er wurde gleich zu Beginn der Schlacht

von Waterloo erschossen. Von einem französischen Scharfschützen.

Warum fragst du?«

»Ach, nur so«, brummte mein Vater mit Unschuldsmiene und

kritzelte etwas in sein Notizbuch. Er zögerte einen Moment.

»Dann hat Napoleon die Schlacht also gewonnen?« fragte er

zweifelnd.

»Unsinn«, widersprach ich. »Feldmarschall Blücher hat rechtzeitig

eingegriffen und den Karren aus dem Dreck gezogen.« Ich kniff die

Augen zusammen. »Das ist Stoff der achten Klasse, Dad. Worauf

willst du hinaus?«

»Also, das ist doch ein merkwürdiger Zufall, findest du nicht?«

»Was?«

»Daß sowohl Nelson als auch Wellington, zwei große englische

Nationalhelden, gleich zu Anfang ihrer bedeutendsten und

entscheidendsten Schlachten erschossen worden sein sollen.«

»Was willst du damit sagen?«

»Daß wieder mal französische Revisionisten dahinterstecken

könnten.«

»Aber es hat am Ausgang der beiden Schlachten doch gar nichts

geändert«, beteuerte ich. »Wir haben beide Male gewonnen!«

»Davon, daß sie ihr Handwerk tatsächlich verstehen, habe ich nichts

gesagt.«

»Das ist doch lächerlich!« sagte ich. »Am Ende willst du mir noch

weismachen, daß dieselben Revisionisten 1066 König Harold

- 11 -

ermorden ließen, um die Invasion durch die Normannen zu

unterstützen?«

Aber Dad lachte nicht. Statt dessen fragte er erstaunt: »Harold?

Ermordet? Wieso?«

»Ein Pfeil, Dad. Ins Auge.«

»Ein englischer oder ein französischer?«

»Das ist nicht überliefert«, erwiderte ich, genervt von seinen

absurden Fragen.

»Ins Auge, sagst du? – Die Zeit ist aus den Fugen«, murmelte er und

machte sich noch eine Notiz.

» Was ist aus den Fugen?« fragte ich, weil ich ihn nicht verstanden

hatte.

»Nichts, nichts. Wie gut, daß ich zur Welt, sie einzurichten, kam

…«

»Hamlet?« fragte ich, als ich das Zitat erkannte.

Statt einer Antwort hörte er auf zu schreiben, klappte das Notizbuch

zu und massierte sich geistesabwesend mit den Fingerspitzen die

Schläfen. Die Welt ruckelte eine Sekunde weiter und blieb dann

wieder stehen. Nervös sah mein Vater sich um.

»Sie sind mir auf den Fersen. Danke für deine Hilfe, Schatz. Wenn

du deine Mutter siehst, sag ihr, daß sie das Schlafzimmer nicht mauve

streichen soll.«

»Alles außer mauve, stimmt’s?«

»Stimmt.«

Lächelnd berührte er meine Wange. Ich bekam feuchte Augen; diese

Besuche waren viel zu kurz. Er spürte, daß ich traurig war, und

schenkte mir ein Lächeln, wie es sich wohl jedes Kind von seinem

Vater wünscht. Dann sagte er: »Denn ich schaute das Vergangene, so

weit das SpecOp-Auge reicht …«

Er hielt inne, und ich beendete die Strophe des alten ChronoGarden-Liedes, das mir mein Vater als kleines Mädchen immer

- 12 -

vorgesungen hatte: »… und die Welt lag mir zu Füßen, einem Meer

von Möglichkeiten gleich!«

Und dann war er weg. Ein Ruck ging durch die Welt, als die Uhr

wieder in Gang kam. Der Barmann beendete seinen Satz, die Vögel

flogen in ihre Nester, der Fernseher meldete sich mit einem

ekelerregenden SmileyBurger-Spot zurück, und der Radfahrer auf der

anderen Straßenseite landete mit einem dumpfen Schlag auf dem

Asphalt.

Alles ging weiter, als sei nichts gewesen. Niemand außer mir hatte

Dad kommen und gehen sehen.

Ich knabberte abwesend an meinem Krabbensandwich und nippte

von Zeit zu Zeit an einer Tasse Mokka, die eine Ewigkeit zu brauchen

schien, um auf Trinktemperatur abzukühlen. Es war nicht viel Betrieb,

und Stanford, der Wirt, spülte Geschirr. Ich legte meine Zeitung weg,

um ein wenig fernzusehen, als das Logo des Toad News Network auf

dem Bildschirm erschien.

Toad News, ein Tochterunternehmen der Goliath Corporation, war

der größte Nachrichtensender Europas. Er versorgte sein Publikum

rund um die Uhr mit aktuellen Meldungen; da konnten die nationalen

Sender beim besten Willen nicht mithalten. Goliath verlieh Toad

jedoch nicht nur Stabilität und finanzielle Sicherheit, sondern auch

eine leicht anrüchige Note. Vielen mißfiel der Monopolcharakter des

Konzerns, und das Toad News Network mußte ein gerüttelt Maß an

Kritik einstecken, obwohl der Sender wiederholt bestritt, daß die

Muttergesellschaft das Sagen hatte.

»Hier«, dröhnte die Stimme des Ansagers, begleitet von

dramatischer Musik, »ist das Toad News Network. Ihr

Nachrichtensender mit Meldungen aus aller Welt, aktuell, informativ

und kompetent, JETZT!«

Die Nachrichtensprecherin kam ins Bild und lächelte freundlich in

die Kamera.

»Hier sind die 12-Uhr-Nachrichten vom Montag, den 6. Mai 1985,

mein Name ist Alexandria Belfridge. Die Krim«, verkündete sie,

»geriet diese Woche einmal mehr ins Blickfeld internationaler

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Aufmerksamkeit, als die Vereinten Nationen die UN-Resolution

PN17296 verabschiedeten, die England und die Russische

Reichsregierung zu neuerlichen Verhandlungen über die Zukunft der

Halbinsel bewegen soll. Während der Krimkrieg in sein 131. Jahr

geht, drängen politische Interessengruppen im Inland und Ausland auf

ein friedliches Ende der Feindseligkeiten.«

Ich schloß die Lider und stöhnte leise vor mich hin. Ich hatte meine

patriotische Pflicht anno ’73 erfüllt und die traurige Wahrheit des

Krieges jenseits von Glanz und Gloria mit eigenen Augen gesehen.

Die Hitze, die Kälte, die Angst und den Tod. Die Sprecherin fuhr mit

einem unverkennbar chauvinistischen Unterton fort: »Als es den

englischen Streitkräften 1975 gelang, die Russen aus ihren letzten

Stellungen auf der Krim zu vertreiben, galt dies als beispielloser

Triumph über einen übermächtigen Feind. Seit damals sind die

Fronten jedoch verhärtet, und Sir Gordon Duff-Rolecks faßte die

Stimmung im Lande anläßlich einer Friedenskundgebung am

Trafalgar Square folgendermaßen zusammen …«

Aufnahmen von einer großen und überwiegend friedlichen

Demonstration im Zentrum Londons wurden eingespielt. DuffRolecks stand auf einem Podium und sprach in einen dichten,

wildwuchernden Wald von Mikrofonen. »Was im Jahre 1854 als

halbherziger Versuch seinen Anfang nahm, die russische

Expansionspolitik einzudämmen«, proklamierte der Abgeordnete, »ist

im Lauf der Jahre zu einem durchsichtigen Manöver verkommen, das

keinem anderen Zweck dient als der Aufrechterhaltung des

Nationalstolzes …«

Ich schaltete auf Durchzug. Ich hatte all das schon tausendmal

gehört. Ich trank noch einen Schluck Kaffee; der Schweiß auf meiner

Kopfhaut juckte. Duff-Rolecks’ Rede wurde mit Archivaufnahmen

von der Krim unterlegt: Sebastopol, eine schwerbefestigte englische

Garnisonsstadt, von deren architektonischem und historischem Erbe

wenig übriggeblieben war. Immer wenn ich diese Bilder sah, roch ich

den beißenden Gestank von Kordit und hörte das Krachen

explodierender Granaten. Automatisch strich ich mir mit dem Finger

über das einzige äußerliche Andenken, das ich von meinem

Kriegseinsatz zurückbehalten hatte – eine kleine, leicht erhabene

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Narbe am Kinn. Andere hatten weniger Glück gehabt. Es hatte sich

nichts geändert. Der Krieg schleppte sich weiter dahin.

»Das ist doch alles dummes Zeug«, sagte eine heisere Stimme dicht

neben mir.

Es war Stanford, der Besitzer des Cafés. Wie ich war er

Krimveteran, wenn auch aus einem früheren Feldzug. Anders als ich

hatte er dort mehr verloren als nur seine Unschuld und ein paar gute

Freunde; er humpelte auf zwei Blechbeinen durchs Leben und hatte

genug Granatsplitter für ein halbes Dutzend Konservendosen im Leib.

»Die Krim geht die Vereinten Nationen einen Dreck an.«

Obwohl wir ziemlich unterschiedliche Auffassungen hatten,

unterhielt er sich gern mit mir über die Krim. Was sonst eigentlich

niemand tat. Die Soldaten, die in den anhaltenden Konflikt mit Wales

verwickelt waren, genossen weitaus größeres Prestige; Krimkämpfer

auf Urlaub ließen ihre Uniform zumeist im Schrank.

»Das glaube ich nicht«, erwiderte ich unverbindlich und starrte aus

dem Fenster; an der nächsten Ecke stand ein bettelnder Krimveteran

und rezitierte für ein paar Pennies Longfellow-Gedichte.

»Wenn wir sie jetzt zurückgeben, sind Millionen umsonst

gestorben«, setzte Stanford schroff hinzu. »Wir sind seit 1854 auf der

Krim. Sie gehört uns. Genausogut könnten wir den Franzosen die Isle

of Wight zurückgeben.«

»Wir haben den Franzosen die Isle of Wight zurückgegeben«, sagte

ich nachsichtig; Stanfords Interesse am Tagesgeschehen beschränkte

sich im allgemeinen auf die Ergebnisse der Ersten Krocketliga und das

Liebesleben der Schauspielerin Lola Vavoom.

»Ach ja«, murmelte er stirnrunzelnd. »Stimmt. Auch so eine

Schnapsidee. Wofür hält diese UNO sich eigentlich?«

»Ich weiß nicht, aber wenn sie dem Morden ein Ende macht, ist ihr

meine Stimme sicher, Stan.«

Der Barkeeper schüttelte resigniert den Kopf, während DuffRolecks seine Rede zu Ende brachte: »… es besteht nicht der

geringste Zweifel, daß Zar Alexej Romanow IV. ein verbrieftes

- 15 -

Anrecht auf die Hoheitsrechte über die Halbinsel hat, und ich für

meinen Teil sehe dem Tag, da wir unsere Truppen abziehen und dieser

unermeßlichen Vergeudung von Menschenleben und Ressourcen ein

verdientes Ende bereiten, mit Freude und Zuversicht entgegen.«

Die Nachrichtensprecherin ging zum nächsten Thema über – die

Regierung wolle den Käsezoll auf 83 Prozent erhöhen, ein

unpopulärer Schachzug, der die militanteren unter unseren Mitbürgern

zweifellos dazu veranlassen würde, vor den Lebensmittelgeschäften

zu demonstrieren.

»Wenn sich die Russkis zurückziehen würden, wäre der Spuk

morgen vorbei«, sagte Stanford grimmig.

Das war kein Argument, und das wußte er genauso gut wie ich. Auf

der gesamten Krim gab es nichts mehr, was zu besitzen sich lohnte,

ganz gleich wer den Krieg gewann. Der einzige Landstrich, den die

Artillerieduelle nicht in Schutt und Asche gelegt hatten, war stark

vermint. Historisch und moralisch gehörte die Krim zum Russischen

Reich, und damit basta.

Die nächste Meldung befaßte sich mit einem Scharmützel an der

Grenze zur Volksrepublik Wales; keine Verletzten, nur ein paar

Schüsse über den Wye in der Nähe von Hay. Wie üblich hatte der

walisische Präsident-auf-Lebenszeit Owain Glyndwr VII. in seinem

jugendlichen Übermut Englands imperialistischen Anspruch auf ein

vereintes Großbritannien dafür verantwortlich gemacht; wie üblich

hatte das Parlament nicht einmal eine Erklärung zu dem Zwischenfall

abgegeben.

Die Nachrichten waren noch nicht zu Ende, aber mein Interesse war

erschöpft. Der Präsident hatte in Dungeness eine neue

Kernfusionsanlage eröffnet. Als das Blitzlichtgewitter losbrach, setzte

er ein professionelles Grinsen auf. Ich widmete mich wieder meiner

Zeitung und las einen Artikel über einen Gesetzesentwurf, der vorsah,

den Dodo angesichts der beängstigend angewachsenen Population von

der Liste der geschützten Arten zu streichen, konnte mich jedoch nicht

konzentrieren. Die quälenden Erinnerungen an den Krimkrieg gingen

mir nicht aus dem Kopf. Zum Glück holte mich das Signal meines

Piepsers schlagartig in die Wirklichkeit zurück. Ich warf ein paar

- 16 -

Scheine auf den Tresen und rannte zur Tür hinaus, während die ToadNews-Sprecherin mit düsterer Stimme den Mord an einem jungen

Surrealisten verkündete – erstochen von radikalen Anhängern der

französischen Impressionisten.

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2.

Gad’s Hill

… Was die Elastizität der Zeit betrifft, streiten sich die

Wissenschaftler. Die einen sind der Auffassung, die Zeit

sei äußerst unbeständig, so daß noch das scheinbar

belangloseste Ereignis den möglichen Ausgang der

Zukunft nachhaltig verändern könne. Die anderen

betrachten die Zeit als starres Gebilde, das allen

Versuchen zum Trotz immer wieder auf eine

determinierte Gegenwart zurückspringt. Ich kümmere

mich nicht um derartige Banalitäten. Ich verkaufe

lediglich Krawatten …

Krawattenverkäufer, Victoria Station, Juni 1983

Mein Piepser hatte mir eine beunruhigende Nachricht übermittelt:

Das Unstehlbare war gestohlen worden. Das Manuskript von Martin

Chuzzlewit war nicht zum ersten Mal verschwunden. Zwei Jahre zuvor

hatte ein Museumswächter es aus seiner Vitrine entwendet, einfach

weil er das Buch in seiner reinen, unverfälschten Form genießen

wollte. Da ihn jedoch Gewissensbisse quälten und er schon nach drei

Seiten die Segel streichen mußte, weil er Dickens’ Handschrift nicht

lesen konnte, gab er das Manuskript schließlich zurück und legte ein

umfassendes Geständnis ab. Zur Strafe mußte er fünf Jahre über den

Kalköfen am Rande von Dartmoor schwitzen.

Zwar hatte Charles Dickens seine letzten Lebensjahre in Gad’s Hill

Place verbracht, Martin Chuzzlewit jedoch in Devonshire Terrace

geschrieben, wo er und seine erste Frau bis 1843 wohnten. Gad’s Hill

ist ein großer viktorianischer Bau bei Rochester, der sich, als Dickens

ihn kaufte, eines herrlichen Ausblicks auf den Medway erfreute.

Wenn man die Augen zusammenkneift und sich die Ölraffinerie, das

Schwerwasserwerk und die ExcoMat-Labors wegdenkt, kann man

leicht nachvollziehen, was ihn an diesem Teil Englands gereizt hat.

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Täglich drängen sich mehrere tausend Besucher auf den Gängen von

Gad’s Hill, womit es – nach Anne Hathaways Hütte und dem

berühmten Haworth House der Brontë-Schwestern – den dritten Platz

unter den beliebtesten literarischen Pilgerstätten Englands einnimmt.

Der Ansturm dieser Menschenmassen hatte zu erheblichen

Sicherheitsproblemen geführt; seit ein Geistesgestörter in Chawton

eingebrochen war und damit gedroht hatte, sämtliche Briefe Jane

Austens zu vernichten, wenn seine mäßig spannende und reichlich

durchwachsene Austen-Biographie nicht unverzüglich einen Verleger

fände, wollte niemand mehr ein unnötiges Risiko eingehen. Damals

war alles glimpflich abgegangen, und doch ließ dieser Zwischenfall

nichts Gutes ahnen.

Ein Jahr später hatte in Dublin eine organisierte Bande Jonathan

Swifts Nachlaß als Geisel genommen. Es war zu einer längeren

Belagerung gekommen, in deren Verlauf zwei der Täter erschossen

und diverse politische Originalpamphlete sowie eine frühe Fassung

von Gullivers Reisen vernichtet worden waren.

Das Unvermeidliche geschah. Alle literarischen Reliquien wurden

unter Panzerglas gelegt und mittels modernster Elektronik von

bewaffneten Beamten bewacht. Das wollte zwar niemand, aber eine

andere Lösung gab es nicht. Seitdem war es zu keinen größeren

Problemen mehr gekommen, was den Raub von Martin Chuzzlewit

um so erschreckender erscheinen ließ.

Ich stellte den Wagen ab, klemmte mir meine SO-27-Marke an die

Brusttasche und zwängte mich durch die Massen von Presseleuten und

Gaffern. Als ich Boswell entdeckte, schlüpfte ich unter der

Polizeiabsperrung hindurch und ging zu ihm.

»Guten Morgen, Sir«, murmelte ich. »Ich bin gekommen, so schnell

ich konnte.«

Er hob einen Finger an die Lippen und flüsterte mir ins Ohr:

»Parterrefenster. Keine zehn Minuten. Sonst wurde nichts gestohlen.«

»Was ist los?«

Da sah ich, was los war. Lydia Startright, die Starreporterin des

Toad News Network, wollte ihn interviewen. Die makellos frisierte

- 19 -

Journalistin beendete gerade ihre Anmoderation und wandte sich zu

uns um. Boswell trat elegant beiseite, knuffte mich neckisch in die

Rippen und ließ mich allein im grellen Scheinwerferlicht der

Fernsehkameras zurück.

»… von Martin Chuzzlewit, das heute aus dem Dickens-Museum in

Gad’s Hill gestohlen wurde. Bei mir ist Spezialagentin Thursday

Next. Sagen Sie, Officer, wie konnte es den Dieben gelingen, in das

Haus einzudringen und einen der größten Schätze der Weltliteratur zu

entwenden?«

Ich raunte Boswell, der grinsend davonschlich, ein halblautes

»Arschloch!« hinterher und trat verlegen von einem Bein aufs andere.

Die anhaltende Begeisterung der Bevölkerung für Kunst und Literatur

erschwerte unsere Arbeit, von unserem äußerst begrenzten Budget gar

nicht zu reden. »Die Diebe verschafften sich durch ein Parterrefenster

Einlaß und interessierten sich offenbar ausschließlich für das

Chuzzlewit-Manuskript«, sagte ich mit meiner besten Fernsehstimme.

»Sie waren nach kaum zehn Minuten wieder draußen.«

»Wenn mich nicht alles täuscht, wird das Museum

videoüberwacht«, fuhr Lydia fort. »Konnten Sie den Raub auf Band

festhalten?«

»Die Untersuchung läuft noch«, antwortete ich. »Sie werden sicher

Verständnis dafür haben, daß wir bestimmte Einzelheiten aus

ermittlungstaktischen Gründen vorerst geheimhalten müssen.«

Lydia ließ ihr Mikrofon sinken und gab dem Kameramann ein

Zeichen. »Haben Sie überhaupt etwas für mich, Thursday?« fragte sie.

»Auf dieses Blabla kann ich verzichten.«

Ich lächelte. »Ich bin erst seit ein paar Minuten hier, Lydia.

Versuchen Sie’s in einer Woche noch mal.«

»Thursday, in einer Woche ist das Schnee von gestern. Okay,

Kamera.« Brav schulterte der Kameramann die Kamera, und Lydia

setzte ihren Bericht fort. »Gibt es schon erste Hinweise?«

»Wir ermitteln in verschiedene Richtungen. Wir gehen jedoch

davon aus, daß wir die beteiligten Personen in Kürze dingfest machen

und dem Museum das Manuskript zurückgeben werden.«

- 20 -

Ich wollte, ich hätte meinen Optimismus teilen können. Da ich eine

Zeitlang den Objektschutz hier geleitet hatte, wußte ich, daß Gad’s

Hill der Bank von England in puncto Sicherheit nicht nachstand. Die

Täter hatten gute Arbeit geleistet. Sehr gute Arbeit. Aber nicht nur

deshalb hatte ich das Gefühl, daß die Sache eine persönliche

Herausforderung war.

Das Interview war zu Ende, und ich schlüpfte unter der SpecOpsAbsperrung hindurch, wo Boswell auf mich wartete. »Wir stecken bis

zum Hals in der Scheiße«, sagte er. »Turner, bringen Sie Thursday auf

den neuesten Stand.«

Boswell ließ uns stehen und machte sich auf die Suche nach etwas

Eßbarem.

»Wenn du dahinterkommst, wie die Jungs das Ding gedreht haben«,

murmelte Paige, die aussah wie eine etwas ältere und natürlich

weibliche Ausgabe Boswells, »fresse ich meine Stiefel, samt

Schnallen und allem Drum und Dran.«

Paige Turner und Boswell hatten den LitAgs schon angehört, als ich

– nach Abschluß meiner Militärausbildung und einem kurzen

Intermezzo bei der Polizei Swindon – dazugestoßen war. Kaum

jemand verließ die LitAgs je wieder, es sei denn er ging in Rente oder

starb; wer nach London versetzt wurde, hatte das Ende der

Karriereleiter erreicht. Einer Redensart zufolge war ein Posten als

Literatur-Agent lebenslänglich und nicht auf Bewährung.

»Boswell steht auf dich, Thursday.«

»Inwiefern?« fragte ich argwöhnisch.

»Insofern als er dich an meinem Schreibtisch sehen will, wenn ich

ausscheide – ich habe mich am Wochenende nämlich mit einem sehr

netten Herrn von SO-3 verlobt.«

Ich hätte wahrscheinlich größere Begeisterung an den Tag legen

sollen, aber Paige hatte sich schon so oft verlobt, daß sie sich an jeden

Finger und jeden Zeh zwei Ringe hätte stecken können.

»SO-3?« fragte ich neugierig. Obwohl ich selbst bei SpecOps

arbeitete, hatte ich keinen Schimmer, welche Abteilung wofür

- 21 -

zuständig war – Otto Normalverbraucher war da vermutlich besser

informiert. Die einzigen SpecOps-Abteilungen unterhalb von SO-12,

über die ich hundertprozentig Bescheid wußte, waren SO-9, die

Sektion TerrorBekämpfung, und SO-1, die Dienstaufsicht – die SpecOps-Polizei, die dafür sorgte, daß wir nicht aus der Reihe tanzten.

»SO-3?« wiederholte ich. »Wofür sind die denn zuständig?«

»Für die bizarren Fälle.«

»Ich dachte, das macht SO-2?«

»Die erledigen die noch bizarreren Fälle. Ich habe meinen Verlobten

gefragt, aber er ist leider nicht dazu gekommen, mir eine Antwort zu

geben – wir waren sozusagen beschäftigt. Schau dir das an.« Paige

hatte mich in den Saal mit den Manuskripten geführt. Die Glasvitrine,

in der Martin Chuzzlewit gelegen hatte, war leer.

»Gibt’s was Neues?« fragte sie eine Beamtin der Spurensicherung.

»Nein.«

»Handschuhe?« erkundigte ich mich.

Die SpuSi stand auf und streckte sich; sie hatte keinerlei Abdrücke

gefunden.

»Nein; und genau das ist das Komische daran. Es sieht aus, als ob

sie den Kasten gar nicht angefaßt hätten; keine Handschuhe, kein

Tuch – nichts. Wenn ich’s nicht besser wüßte, würde ich sagen, der

Kasten ist gar nicht geöffnet worden und das Manuskript liegt noch

darin!«

Ich inspizierte die Vitrine. Sie war fest verschlossen, und keines der

anderen Exponate hatten die Diebe auch nur angerührt. Die Schlüssel

wurden getrennt aufbewahrt und sollten jeden Augenblick aus London

eintreffen.

»Hoppla, das ist ja merkwürdig …«, murmelte ich und beugte mich

vor.

»Hast du was entdeckt?« fragte Paige erwartungsvoll.

- 22 -

Ich deutete auf eine Stelle an einer der Seitenscheiben, die kaum

merklich pulsierte. Der Bereich hatte in etwa die Ausmaße des

Manuskripts.

»Das ist mir auch schon aufgefallen«, sagte Paige. »Ich dachte, das

Glas hat einen Fehler.«

»Gehärtetes Panzerglas?« sagte ich. »Auf keinen Fall. Und bei der

Montage war das noch nicht da; das kannst du mir glauben, ich war

dabei.«

»Was dann?«

Als ich über das harte Glas strich, kräuselte die blanke Oberfläche

sich leicht. Mir lief ein Schauer über den Rücken, und mich beschlich

ein unangenehmes Gefühl der Vertrautheit, als hätte mich ein ehemals

verhaßter Mitschüler nach Jahren wie ein alter Freund begrüßt. »Diese

Handschrift kommt mir irgendwie bekannt vor, Paige. Ich habe das

dumpfe Gefühl, daß ich den Täter kenne.«

»Du bist seit sieben Jahren LiteraturAgentin, Thursday.«

Ich wußte, was sie damit sagen wollte. »Seit acht, und du hast ganz

recht – du kennst ihn vermutlich auch. Könnte Lamber Thwalts

dahinterstecken?«

»Er könnte durchaus, wenn er nicht noch hinter Gittern säße – für

die Fälschung von Gewonnene Liebesmüh muß er noch vier Jahre

schmoren.«

»Was ist mit Keens? Das ist genau seine Kragenweite.«

»Milton weilt leider nicht mehr unter uns. Er hat sich in der

Bibliothek von Parkhurst eine Analepsie geholt. Und war nach

vierzehn Tagen mausetot.«

»Hmm.«

Ich zeigte auf die beiden Videokameras. »Wen haben die gesehen?«

»Nichts und niemanden«, antwortete Paige. »Ich kann dir die

Bänder gern vorspielen, aber danach bist du genauso schlau wie

zuvor.«

- 23 -

Sie zeigte mir das vorhandene Material. Der diensthabende

Wachmann wurde auf dem Revier vernommen. Die Kollegen hofften,

daß die Sache auf das Konto eines Angestellten ging, doch danach sah

es nicht aus; der Wachmann war ebenso fassungslos wie alle anderen.

Paige spulte das Video zurück und drückte auf PLAY. »Paß genau

auf. Der Recorder geht die fünf Kameras nacheinander durch und

nimmt jeweils fünf Sekunden auf.«

»Das heißt, niemand bleibt länger als zwanzig Sekunden

unbeobachtet.«

»Du hast’s erfaßt. Siehst du? Da haben wir das Manuskript …« Sie

zeigte auf das Buch, das gut sichtbar in der Bildmitte lag, als der

Videorecorder auf die Kamera über dem Eingang schaltete. Es war

alles ruhig. Dann weiter zur Innentür, durch die jeder Einbrecher hätte

kommen müssen; die anderen Eingänge waren vergittert. Dann kam

der Korridor, danach das Foyer; schließlich wechselte der Apparat in

den Manuskriptsaal zurück. Paige drückte die PAUSE-Taste, und ich

beugte mich vor. Das Manuskript war verschwunden.

»Zwanzig Sekunden Zeit, um einzusteigen, den Kasten zu knacken,

Chuzzlewit abzugreifen und die Fliege zu machen? Ausgeschlossen.«

»Glauben Sie mir, Thursday, genau so ist es gewesen.« Letztere

Bemerkung stammte von Boswell, der mir über die Schulter geblickt

hatte. »Ich habe keine Ahnung, wie es die Kerle geschafft haben, aber

sie haben es geschafft. Gerade hat Supreme Commander Call

angerufen, der Premierminister macht ihm die Hölle heiß. Im

Parlament wird heftig debattiert, und der eine oder andere Kopf wird

rollen. Und meiner wird das nicht sein, darauf können Sie wetten.«

Er sah uns betont eindringlich an, und mir wurde ein wenig mulmig

zumute – schließlich war ich diejenige, die das Museum in

Sicherheitsfragen beraten hatte.

»Wir arbeiten auf Hochtouren, Sir«, sagte ich und ließ das Video

weiterlaufen. Die Perspektive wechselte im Fünfsekundentakt, ohne

jedoch neue Erkenntnisse ans Licht zu bringen. Ich nahm mir einen

Stuhl, spulte das Band zurück und sah es mir noch einmal an.

»Wozu soll das gut sein?« fragte Paige.

- 24 -

»Wer sucht, der findet.«

Aber ich fand nichts.

- 25 -

3.

Wieder am Schreibtisch

Das Special Operations Network wird direkt von der

Regierung finanziert. Obwohl die Arbeit der Behörde im

wesentlichen zentral gesteuert wird, verfügen sämtliche

SpecOps-Abteilungen über örtliche Repräsentanten, die

auf die Vorgänge in der Provinz ein wachsames Auge

haben. Diese unterstehen wiederum örtlichen

Kommandanten, die mit den staatlichen Behörden für

Informationsaustausch,

geistige Führung und

Grundsatzentscheidungen in ständigem Kontakt stehen.

Wie bei den meisten großen Behörden ist das alles bloß

Theorie, und in der Praxis herrscht heilloses Chaos.

Interne Querelen, Intrigen, politische Interessenkonflikte,

Arroganz und schlichte Sturheit führen nachgerade

zwangsläufig dazu, daß die linke Hand nicht weiß, was

die rechte tut.

MILLON DE FLOSS

- Eine kurze Geschichte des Special Operations Network

Nach achtundvierzig Stunden ergebnisloser Jagd auf Martin

Chuzzlewit hatten wir nicht den geringsten Hinweis auf seinen

Verbleib. Von Konsequenzen war die Rede, doch dazu mußten wir

erst einmal herausbekommen, wie das Manuskript entwendet worden

war. Es hatte schließlich wenig Sinn, jemanden dafür zur

Rechenschaft zu ziehen, daß im Sicherheitssystem eine Lücke klaffte,

wenn man gar nicht wußte, worin sie bestand.

Mich langsam, aber sicher der Verzweiflung nähernd, saß ich an

meinem Schreibtisch auf dem Revier, als mir mein Gespräch mit Dad

einfiel. Ich rief meine Mutter an und bat sie, das Schlafzimmer

keinesfalls mauve zu streichen. Der Schuß ging insofern nach hinten

los, als sie diese Idee für grandios hielt und auflegte, bevor ich

- 26 -

widersprechen konnte. Seufzend blätterte ich in den

Telefonprotokollen, die sich im Lauf der letzten beiden Tage

angesammelt hatten. Die meisten Anrufe kamen von Informanten oder

besorgten Bürgern, die überfallen oder betrogen worden waren und

nun wissen wollten, wie wir mit den Ermittlungen vorankamen.

Aber all das waren Kleinigkeiten im Vergleich zu Chuzzlewit –es

gab schließlich jede Menge gutgläubiger Menschen, die zu

Schleuderpreisen Byron-Erstausgaben kauften und sich bitter

beklagten, wenn sie im nachhinein feststellten, daß sie einer

Fälschung aufgesessen waren. Wie die meisten meiner Kollegen hatte

ich eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wer hinter alldem

steckte, aber die großen Fische fingen wir nie – nur die »Veräußerer«,

die Händler, welche die Ware weiterverkauften. Das Ganze roch nach

Korruption an höchster Stelle, aber das konnten wir nicht beweisen.

Normalerweise las ich die Protokolle mit Interesse, doch heute schien

mir nichts furchtbar Wichtiges dabei zu sein. Die Gedichte von Byron,

Poe und Keats sind und bleiben schließlich Originale, Raubdruck hin

oder her. Dem Lesevergnügen tut das keinen Abbruch.

Ich zog meine Schreibtischschublade auf, holte einen kleinen

Spiegel daraus hervor und sah hinein. Eine junge Frau mit reichlich

unscheinbaren Zügen starrte mich an. Ihr halblanges, mattbraunes

Haar war im Nacken achtlos zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihre

Wangenknochen ließen sich bestenfalls erahnen, und in ihrem Gesicht

zeichneten sich unverkennbar erste Falten ab. Ich dachte an meine

Mutter, die schon mit fünfundvierzig runzlig wie eine Walnuß

gewesen war. Schaudernd legte ich den Spiegel in die Schublade

zurück und holte ein verblichenes, leicht zerknittertes Foto heraus. Es

zeigte mich im Kreise einer Handvoll Kameraden auf der Krim:

Corporal T. E. Next, 33550336, Fahrer (TTP), Leichte Panzerbrigade.

Ich hatte meinem Vaterland gewissenhaft gedient, ein militärisches

Desaster überlebt und war dafür ehrenhaft entlassen worden, mit

einem Orden als Beweis. Sie hatten von mir erwartet, bei

Rekrutierungsveranstaltungen Vorträge über Tapferkeit und Effizienz

zu halten, doch ich hatte sie enttäuscht. Ich ging zu einem

Bataillonstreffen, weiter nichts; ich hatte unwillkürlich nach

Gesichtern gesucht, die gar nicht da sein konnten.

- 27 -

Auf dem Foto stand Landen links von mir und umarmte mich und

einen zweiten Soldaten, meinen Bruder, seinen besten Freund. Landen

hatte zwar ein Bein verloren, war aber glücklich heimgekehrt. Mein

Bruder war immer noch da draußen.

»Wer ist das?« fragte Paige, die mir über die Schulter geblickt hatte.

»Boah!« kreischte ich. »Mußt du mich unbedingt so erschrecken?«

»Tut mir leid. Die Krim?«

Ich reichte ihr das Foto, und sie betrachtete es eingehend. »Das muß

dein Bruder sein – ihr habt dieselbe Nase.«

»Ich weiß, wir haben sie immer abwechselnd getragen. Ich war

montags, mittw…«

»… dann muß der andere Landen sein.«

Ich drehte mich um und sah sie stirnrunzelnd an. Ich redete nie mit

Fremden über Landen. Das war Privatsache. Ich haßte das Gefühl,

daß sie mir nachspionierte.

»Woher weißt du von Landen?«

Als sie den Zorn in meiner Stimme bemerkte, zog sie lächelnd eine

Augenbraue hoch. »Du hast mir selbst von ihm erzählt.«

»Ach ja?«

»Allerdings. Du hast zwar gelallt und fast nur dummes Zeug

geredet, aber es ging eindeutig um ihn.«

Ich zuckte zusammen. »Bei der Weihnachtsfeier letztes Jahr?«

»Oder vorletztes. Du warst aber beileibe nicht die einzige, die gelallt

und dummes Zeug geredet hat.«

Ich warf noch einen Blick auf das Foto. »Wir waren verlobt.«

Mit einem Mal wirkte Paige verlegen. Verlobte von der Krim waren

ein äußerst heikles Thema. »Ist er … äh … heimgekehrt?«

»Größtenteils. Er hat ein Bein zurückgelassen. Wir haben uns aus

den Augen verloren.«

- 28 -

»Wie heißt er mit Nachnamen?« erkundigte sich Paige; endlich

erfuhr sie etwas über meine Vergangenheit.

»Parke-Laine. Landen Parke-Laine.« Ich konnte mich nicht

entsinnen, wann ich seinen Namen das letzte Mal laut ausgesprochen

hatte.

»Parke-Laine? Der Schriftsteller?«

Ich nickte.

»Gutaussehender Typ.«

»Danke«, sagte ich artig, ohne recht zu wissen, weshalb. Ich legte

das Foto in die Schreibtischschublade zurück. Paige schnippte mit den

Fingern, als ihr wieder einfiel, was sie eigentlich von mir wollte.

»Du sollst zu Boswell kommen«, verkündete sie.

Boswell war nicht allein. Ein Mann um die vierzig erwartete mich

und stand auf, als ich hereinkam. Er hatte eine lange Narbe im

Gesicht. Boswell druckste einen Augenblick herum, warf hüstelnd

einen Blick auf seine Armbanduhr, schob wichtige Termine vor und

ging hinaus.

»Polizei?« fragte ich, als wir allein waren. »Ist ein Verwandter

gestorben oder so?«

Der Mann schloß die Jalousien, damit wir gänzlich ungestört waren.

»Nicht daß ich wüßte.«

»SO-1?« Ich rechnete fest mit einem Rüffel.

»Ich?« erwiderte der Mann. Seine Verwunderung war nicht gespielt.

»Nein.«

»LitAg?«

»Warum setzen Sie sich nicht?«

Er bot mir einen Platz an und ließ sich dann auf Boswells großem

Eichendrehstuhl nieder. Er klatschte einen gelbbraunen Ordner mit

meinem Namen auf den Schreibtisch. Die Akte war erstaunlich dick.

»Geht es darin nur um mich?«

- 29 -

Er ignorierte meine Frage. Statt den Ordner aufzuschlagen, beugte er

sich vor und fixierte mich, ohne zu blinzeln. »Wie beurteilen Sie den

Fall Chuzzlewit

Ich starrte unwillkürlich auf seine Narbe. Sie zog sich von der Stirn

bis zum Kinn und war ähnlich klein und unauffällig wie die

Schweißnaht eines Schiffsbauers. Sie zerrte an seiner Oberlippe, doch

davon abgesehen war sein Gesicht eigentlich recht hübsch; ohne die

Narbe wäre es vielleicht sogar schön gewesen. Mein Benehmen war

taktlos. Instinktiv hob er die Hand, um die Narbe zu verdecken.

»Kosake vom feinsten«, scherzte er gequält.

»Das tut mir leid.«

»Nicht nötig. Sie ist schließlich kaum zu übersehen.«

Er schwieg einen Augenblick.

»Ich arbeite für SpecOps-5«, verkündete er zögernd und zeigte mir

eine polierte Marke.

»SO-5?« stieß ich hervor, außerstande, mein Erstaunen zu

verbergen. »Was treibt ihr da eigentlich genau?«

»Das ist geheim, Miss Next. Ich habe Ihnen die Marke nur gezeigt,

um Ihnen klarzumachen, daß Sie offen mit mir reden können und sich

über die Geheimhaltungsvorschriften keine Gedanken zu machen

brauchen. Ich kann das aber auch von Boswell bestätigen lassen, wenn

Ihnen das lieber ist …«

Mein Herz schlug schneller. Gespräche mit ranghöheren SpecOpsBeamten führten mitunter dazu, daß man versetzt wurde …

»Also, Miss Next, wie denken Sie über Chuzzlewit

»Wollen Sie meine persönliche Meinung hören oder die offizielle

Version?«

»Ihre Meinung. Für die offiziellen Versionen ist Boswell

zuständig.«

»Ich glaube, es ist noch zu früh, um etwas Genaues zu sagen. Wenn

Erpressung das Motiv ist, können wir mit ziemlicher Sicherheit davon

ausgehen, daß das Manuskript noch vollständig und unversehrt ist.

- 30 -

Gleiches gilt, wenn es gestohlen wurde, um es zu tauschen oder zu

verkaufen. Wenn allerdings Terroristen dahinterstecken, sollten wir

uns Sorgen machen. In den Fällen eins und drei haben die LitAgs

nichts mit der Sache zu tun. Dann übernimmt SO-9, und wir sind aus

dem Spiel.«

Der Mann sah mich eindringlich an und nickte.

»Sie fühlen sich hier nicht besonders wohl, nicht wahr?«

»Ehrlich gesagt, ich habe die Nase gestrichen voll«, sagte ich,

vielleicht eine Idee zu ehrlich. »Wer sind Sie überhaupt?«

»Entschuldigen Sie. Schlechte Kinderstube; die Mantel-und-DegenGeschichten sollten Sie nicht allzu ernst nehmen. Meine Name ist

Tamworth, Einsatzleiter SO-5. Aber«, setzte er hinzu, »das hört sich

dramatischer an, als es ist. Noch sind wir nur zu dritt.«

Ich schüttelte seine ausgestreckte Hand. »Zu dritt?« fragte ich

neugierig. »Ist das für eine SpecOps-Abteilung nicht ein bißchen

dürftig?«

»Ich habe gestern mehrere Mitarbeiter verloren.«

»Das tut mir leid.«

»Nein, nein. Wir haben lediglich gute Fortschritte gemacht, und das

ist nicht immer von Vorteil. Einige Mitarbeiter der Abteilung sind

zwar erstklassige Ermittler, drücken sich aber vor jedem Einsatz. Sie

haben Kinder. Ich nicht. Insofern kann ich das verstehen.«

Ich nickte. Das ging mir ähnlich. »Was wollen Sie eigentlich von

mir?« fragte ich so beiläufig wie möglich. »Ich bin nur eine kleine

LiteraturAgentin. Wie mir der SpecOps-Versetzungsausschuß quasi

durch die Blume zu verstehen gegeben hat, reicht mein Talent

allenfalls für einen Job am Schreibtisch oder Küchenherd.«

Tamworth lächelte. Er klopfte auf den Aktenordner, den er vor sich

liegen hatte. »Ich weiß. Da die SpecOps-Personalabteilung nicht weiß,

wie man anständig Nein sagt, speist man die Antragsteller immer mit

Ausflüchten ab. Darin sind diese Leute ganz groß. Dabei ist man sich

Ihrer Fähigkeiten dort vollauf bewußt. Ich habe eben mit Boswell

- 31 -

gesprochen, und er ist durchaus bereit, Sie gehen zu lassen,

vorausgesetzt, Sie möchten überhaupt in unsere Abteilung wechseln.«

»Sie kommen von SO-5, da hat er wohl keine andere Wahl, oder?«

Tamworth lachte. »Nein. Aber Sie. Ich würde nie jemanden

einstellen, der nicht mit mir zusammenarbeiten will.«

Ich sah ihn an. Er meinte es ernst.

»Ist das eine Versetzung?«

»Nein«, antwortete Tamworth. »Ich brauche Sie nur, weil Sie über

Informationen verfügen, die wir dringend benötigen. Sie werden als

Beobachterin fungieren, weiter nichts. Wenn Sie erst mal wissen,

womit wir es zu tun haben, werden Sie dafür noch dankbar sein.«

»Mit anderen Worten, wenn der Fall abgeschlossen ist, werde ich

wieder hierher zurückversetzt?«

Er sah mich eine Zeitlang schweigend an und überlegte, wieviel er

mir versprechen konnte, ohne mich anzulügen. Das machte ihn mir

sympathisch.

»Ich kann für nichts garantieren, Miss Next, aber wer einmal für

SO-5 gearbeitet hat, darf getrost davon ausgehen, nicht bis in alle

Ewigkeit bei SO-27 versauern zu müssen.«

»Was soll ich tun?«

Tamworth holte ein Formular aus seinem Aktenkoffer und schob es

mir über den Tisch. Mit meiner Unterschrift verpflichtete ich mich zu

strengstem Stillschweigen und trat nahezu sämtliche Menschenrechte

an SpecOps ab – und noch viel mehr, falls ich einem Kollegen mit

geringerem Sicherheitsstatus auch nur ein Sterbenswörtchen über

meine Tätigkeit verriet. Ich setzte pflichtschuldig meine Signatur

darunter und gab ihm das Formular zurück. Dafür bekam ich eine

polierte SO-5-Marke mit meinem Namen. Tamworth kannte mich

besser, als ich dachte. Als das erledigt war, senkte er die Stimme und

begann: »SO-5 ist in erster Linie für die Verhaftung und Eliminierung

von Straftätern zuständig. Wir verfolgen einen Verdächtigen so lange,

bis wir ihn gefunden und außer Gefecht gesetzt haben, und widmen

uns dann dem nächsten. SO-4 macht mehr oder weniger dasselbe; nur

- 32 -

daß sie hinter anderen Dingen, äh, Personen her sind. Sie wissen

schon. Jedenfalls war ich heute morgen in Gad’s Hill, Thursday – ich

darf Sie doch Thursday nennen? – und habe den Tatort persönlich in

Augenschein genommen. Der Dieb des Chuzzlewit-Manuskripts hat

keinerlei Fingerabdrücke hinterlassen, es gibt keine Hinweise auf

einen Einbruch, und auf den Überwachungsvideos ist auch nichts zu

sehen.«

»Das ist nicht viel.«

»Im Gegenteil. Das hat meinen ursprünglichen Verdacht bestätigt.«

»Haben Sie Boswell davon erzählt?« fragte ich.

»Warum sollte ich? Uns geht es nicht um das Manuskript, uns geht

es um den Mann, der es gestohlen hat.«

»Nämlich?«

»Ich kann Ihnen den Namen nicht sagen, aber ich kann ihn für Sie

aufschreiben.« Er zückte einen Filzstift, schrieb »Acheron Hades« auf

einen Notizblock und hielt ihn mir hin.

»Kommt Ihnen der bekannt vor?«

» Sehr bekannt sogar. Aber es dürfte kaum jemanden geben, der

noch nicht von ihm gehört hat.«

»Ich weiß. Aber Sie kennen ihn persönlich, nicht?«

»Und ob«, antwortete ich. »Er war ’68 einer meiner

Anglistikdozenten an der Swindoner Universität. Keiner von uns war

sonderlich verwundert, als er zum Kriminellen wurde. Er war ein

ziemlicher Frauenheld. Er hat sogar eine meiner Mit-Studentinnen

geschwängert.«

»Miss Braeburn, ja; das wissen wir. Wie steht es mit Ihnen?«

»Er hat es versucht, aber es hat nicht geklappt.«

»Haben Sie mit ihm geschlafen?«

»Nein; ich hatte andere Pläne, als mit meinen Dozenten ins Bett zu

gehen. Ich fühlte mich zwar geschmeichelt, wenn er mich zum Essen

einlud oder so. Er war schließlich ein Genie – aber moralisch war er

- 33 -

ein Vakuum. Ich weiß noch, wie er mitten in einem geistreichen

Vortrag über John Websters Weißen Teufel aus dem Hörsaal weg

verhaftet wurde, wegen bewaffneten Raubüberfalls. Sie konnten ihm

zwar nichts nachweisen, aber die Braeburn-Sache kostete ihn dann

doch seine Dozentur.«

»Und als er Sie bat, mit ihm zu kommen, haben Sie abgelehnt.«

»Sie scheinen ja bestens informiert zu sein, Mr. Tamworth.«

Tamworth machte sich eine Notiz. Dann hob er den Kopf und sah

mich an. »Aber die wichtigste Frage ist: Sie wissen genau, wie er

aussieht?«

»Logisch«, antwortete ich, »aber Sie vergeuden Ihre Zeit. Er ist ’82

in Venezuela ums Leben gekommen.«

»Nein; er hat seinen Tod vorgetäuscht. Ein Jahr später haben wir das

Grab geöffnet. Von einer Leiche keine Spur. Er hatte die Sache so gut

vorbereitet, daß er selbst die Arzte täuschen konnte; sie beerdigten

einen leeren Sarg. Er verfügt über bemerkenswerte Fähigkeiten.

Deshalb dürfen wir auch seinen Namen nicht laut aussprechen. Ich

nenne das die Regel Nummer Eins.«

»Seinen Namen? Warum nicht?«

»Weil er seinen Namen – selbst wenn man ihn nur flüstert – im

Umkreis von mindestens tausend Meilen hören kann. Mit seiner Hilfe

nimmt er sozusagen unsere Witterung auf.«

»Und wie kommen Sie darauf, daß er Chuzzlewit gestohlen hat?«

Tamworth holte eine Akte aus seinem Koffer. Sie trug die

Aufschrift »Streng geheim – nur für Angehörige von SpecOps-5«. Das

Passepartout auf dem Deckel, in dem normalerweise ein

Verbrecherfoto steckte, war leer.

»Wir haben kein Bild von ihm«, sagte Tamworth, als ich den Ordner

aufschlug. »Auf Film oder Video bleibt er unsichtbar und war nie

lange genug in Gewahrsam, als daß ein Zeichner ein Porträt von ihm

hätte anfertigen können. Erinnern Sie sich an die Kameras in Gad’s

Hill?«

»Ja. Und?«

- 34 -

»Sie haben nichts aufgezeichnet. Ich habe mir die Bänder genau

angesehen. Auch wenn alle fünf Sekunden der Kamerablickwinkel

wechselt, konnte ihnen der Eindringling unmöglich entgehen.

Verstehen Sie, worauf ich hinauswill?«

Ich nickte langsam und blätterte in Acherons Akte.

Tamworth fuhr fort: »Ich bin ihm seit fünf Jahren auf den Fersen. In

Großbritannien wird er wegen siebenfachem, in Amerika wegen

achtzehnfachem Mord gesucht. Diebstahl, Erpressung, Menschenraub.

Er ist eiskalt, berechnend und kennt keine Skrupel. Sechsunddreißig

seiner achtundvierzig bekannten Opfer waren entweder SpecOpsAgenten oder Polizeibeamte.«

»Hartlepool ’75?« fragte ich.

»Ja«, antwortete Tamworth zögernd. »Sie haben davon gehört?«

Natürlich. Wer hatte das nicht? Nach einem fehlgeschlagenen

Raubüberfall saß Hades im Keller eines mehrstöckigen Parkhauses in

der Falle. Ein von der Polizei angeschossener Komplize lag tot in

einer nahe gelegenen Bank; Acheron hatte ihn selbst umgebracht,

damit er nicht gegen ihn aussagen konnte. Im Keller überredete er

einen Polizisten, ihm seine Dienstwaffe auszuhändigen, und erschoß

bei seiner Flucht sechs weitere Beamte. Der einzige Überlebende war

der Polizist, dessen Waffe er sich angeeignet hatte. Acheron fand das

vermutlich witzig. Der fragliche Beamte wußte keine hinreichende

Erklärung dafür, warum er Hades seine Schußwaffe gegeben hatte. Er

ging vorzeitig in Pension und beging nach einer kurzen Karriere als

Alkoholiker und Ladendieb Selbstmord, indem er sich in seinem

Wagen mit Kohlenmonoxyd vergiftete. Als »das siebte Opfer«

erlangte er eine gewisse Berühmtheit.

»Ich habe den Überlebenden von Hartlepool kurz vor seinem

Selbstmord noch vernommen«, fuhr Tamworth fort, »nachdem ich den

Auftrag erhalten hatte, ihn um jeden Preis zu finden. Das Ergebnis

meiner Ermittlungen führte geradewegs zu Regel Nummer Zwei:

Sollten Sie je das Pech haben, ihm persönlich zu begegnen, trauen Sie

ihm nicht über den Weg. Er hat noch jeden hinters Licht geführt, sei es

mit Worten, Taten, Gedanken oder seinem Äußeren. Ein

willensschwacher Mensch ist machtlos gegen seine ungeheure

- 35 -

Überzeugungskraft. Habe ich Ihnen schon gesagt, daß wir befugt sind,

im Rahmen unserer dienstlichen Tätigkeit alle zur Verfügung

stehenden Mittel anzuwenden?«

»Nein, aber das habe ich mir gedacht.«

»Bei unserem Freund schießt SO-5 grundsätzlich scharf …«

»He, he, Moment mal. Sie dürfen ihn ausschalten ohne Prozeß?«

»Willkommen bei SpecOps-5, Thursday – was haben Sie sich denn

vorgestellt unter Eliminierung? «

Sein Lachen hatte etwas Beunruhigendes.

»Wie heißt es noch so schön? Wer zu den SpecOps will, muß ein

bißchen verrückt sein. Wir fackeln nicht lange.«

»Ist das denn legal?«

»Ganz und gar nicht. Aber was SpecOps-1 bis 7 angeht, drückt der

Große Bruder beide Augen zu. Bei uns gibt es eine Redensart: Alles

unter acht steht über dem Gesetz. Schon mal gehört?«

»Nein.«

»Keine Angst, Sie werden das noch oft genug zu hören bekommen.

Regel Nummer Drei lautet jedenfalls: Verhaftung ist Nebensache.

Was für eine Waffe tragen Sie?«

Er notierte meine Antwort.

»Ich besorge Ihnen Deformations-Geschosse dafür.«

»Wenn wir damit erwischt werden, ist der Teufel los.«

»Alles nur Selbstverteidigung«, beeilte Tamworth sich zu

versichern. » Sie werden ohnehin nichts mit dem Mann zu tun haben;

Sie sollen ihn lediglich identifizieren, wenn er sich blicken läßt. Aber

eins kann ich Ihnen sagen: Wenn es hart auf hart kommt, sollen meine

Leute nicht mit Pfeil und Bogen kämpfen müssen. Gewöhnliche

Munition wäre da genauso hilfreich wie eine kugelsichere Weste aus

nasser Pappe. Uns liegen keinerlei gesicherte Informationen vor, nicht

mal eine Geburtsurkunde. Wir wissen weder, wie alt er ist, noch, wer

seine Eltern waren. Nur daß er 1954 als Kleinkrimineller mit

- 36 -

literarischen Ambitionen urplötzlich auf der Bildfläche erschien und

sich konsequent auf Platz drei der Liste der weltweit meistgesuchten

Verbrecher hochgearbeitet hat.«

»Wer belegt die Plätze eins und zwei?«

»Das weiß ich nicht, und man hat mir unmißverständlich zu

verstehen gegeben, daß es durchaus von Vorteil sei, es nicht zu

wissen.«

»Und wie geht es jetzt weiter?«

»Ich melde mich. Lassen Sie Ihren Piepser Tag und Nacht

eingeschaltet, damit ich Sie jederzeit erreichen kann. Sie sind ab sofort

vom Dienst bei SO-27 beurlaubt, also machen Sie sich ein paar schöne

Tage. Bis bald!«

Er war im Nu verschwunden und ließ mich mit pochendem Herzen

und der SO-5-Marke zurück. Boswell kam wieder herein, gefolgt von

einer neugierigen Paige. Ich zeigte ihnen meine neue Marke.

»Gratuliere!« sagte Paige und umarmte mich; Boswell wirkte nicht

sonderlich erfreut. Er mußte schließlich an seine Abteilung denken.

»Bei SO-5 geht es nicht so gemächlich zu wie hier, Next«, meinte er

väterlich. »Gehen Sie an Ihren Schreibtisch, und lassen Sie sich die

ganze Sache noch mal durch den Kopf gehen. Trinken Sie ein

Täßchen Kaffee und essen Sie ein Rosinenbrötchen. Nein, lieber

gleich zwei. Überstürzen Sie nichts, und wägen Sie das Für und Wider

sorgfältig ab. Wenn Sie sich entschieden haben, stehe ich Ihnen gern

mit Rat und Tat zur Seite. Verstanden?«

Und ob ich verstanden hatte. Ich stürzte Hals über Kopf aus dem

Büro. Fast hätte ich sogar Landens Bild vergessen.

- 37 -

4.

Acheron Hades

… Da ich auf diesem Gebiet nicht umsonst als eine Art

Koryphäe gelte, darf ich wohl behaupten, daß man

abscheuliche Verbrechen am besten um ihrer selbst

willen begeht. Zwar ist gegen einen kleinen

Kapitalzuwachs durchaus nichts einzuwenden, doch

verwässert er den unvergleichlichen Geschmack der

Niedertracht derart, daß jeder hergelaufene Dieb sie zu

goutieren vermag. Das wahre, grundlos Böse ist genauso

selten wie das Gute per se – und wir wissen ja alle, wie

selten das ist …

ACHERON HADES

-Die Lust am Laster

Tamworth meldete sich weder in der ersten noch in der zweiten

Woche. In der dritten Woche versuchte ich ihn anzurufen, geriet

jedoch an einen professionellen Leugner, der rundweg bestritt, daß es

Tamworth oder SO-5 überhaupt gab. Ich nutzte die freie Zeit dazu,

Akten zu lesen und zu archivieren, den Wagen in die Werkstatt zu

bringen und Pickwick – dem neuen Gesetz entsprechend – als

Haustier statt wie bisher als wilden Dodo registrieren zu lassen. Ich

fuhr mit ihm ins Rathaus, wo ein Veterinärinspektor den ehemals

ausgestorbenen Vogel eingehend in Augenschein nahm. Da Pickwick,

wie die meisten Haustiere, für Ärzte nur wenig übrig hatte, starrte er

feindselig zurück.

»Plock-plock«, machte Pickwick nervös, als der Inspektor ihm

fachmännisch den großen Messingfußring anlegte.

»Keine Flügel?« fragte der Beamte mit einem neugierigen Blick auf

Pickwicks etwas merkwürdiges Äußeres.

- 38 -

»Das ist die Version 1.2«, erklärte ich. »Eins der ersten Modelle.

Die komplette Sequenz lag erst ab der 1.7 vor.«

»Dann ist er wohl schon ziemlich alt?«

»Er wird im Oktober zwölf.«

»Ich hatte mal einen Beutelwolf«, sagte der Beamte betrübt.

»Version 2.1. Bei der Dekantierung stellte sich heraus, daß er keine

Ohren hatte. Stocktaub, das Tier. Keine Garantie, kein Garnichts. Die

hauen einen nach Strich und Faden übers Ohr. Lesen Sie den New

Splicer

Diese Frage mußte ich leider verneinen.

»Letzte Woche haben sie eine Stellersche Seekuh geklont. Wie soll

man so ein Vieh bloß durch die Tür kriegen?«

»Einfetten?« schlug ich vor. »Und ihm einen Teller Seetang unter

die Nase halten?«

Aber der Beamte hörte mir gar nicht zu; er hatte sich dem nächsten

Dodo zugewandt, einem rosaroten Ungetüm mit langem Hals. Sein

Besitzer lächelte verlegen. »Wir haben die fehlenden Stränge mit

Flamingo aufgefüllt«, erklärte er. »Ich hätte vielleicht lieber Storch

nehmen sollen.«

»Version 2.9?«

»2.9.1, um genau zu sein. Eine ziemlich bunte Mischung, aber für

uns ist er schlicht und einfach Chester. Wir würden ihn um nichts in

der Welt hergeben.«

Der Inspektor hatte Chesters Meldeunterlagen überprüft. »Es tut mir

leid«, sagte er schließlich, »aber die 2.9.1-er fallen unter die neue

Chimären-Regelung.«

»Was soll das heißen?«

»Wo Dodo draufsteht, ist nicht unbedingt auch Dodo drin. Zimmer

sieben, schräg gegenüber. Immer der Dame mit dem Göbler nach;

aber nehmen Sie sich in acht, ich habe den Kollegen heute vormittag

einen Elektrolurch rübergeschickt.«

- 39 -

Während Chesters Besitzer und der Beamte sich noch stritten, ging

ich in den Park hinunter und führte Pickwick ein bißchen Gassi. Ich

ließ ihn von der Leine, und er jagte erst einen Schwarm Tauben hoch

und verbrüderte sich dann mit ein paar wilden Dodos, die sich im

Teich die Füße kühlten. Sie planschten ausgelassen im Wasser und

plockten sich leise etwas zu, bis es Zeit wurde, den Heimweg

anzutreten.

Gerade als ich endgültig festgestellt hatte, daß ich die Möbel beim

besten Willen nicht noch einmal umstellen konnte, rief Tamworth an.

Er führe eine Observierung durch, und ich solle ihm dabei helfen. Ich

notierte mir die Adresse und war nach kaum vierzig Minuten im East

End. Der Einsatzort lag in einer heruntergekommenen, von

umgebauten Lagerhäusern gesäumten Straße, die schon vor zwanzig

Jahren hatten abgerissen werden sollen. Ich machte die Scheinwerfer

aus, versteckte meine Wertsachen und schloß den Wagen ab. Der

Pontiac war alt und verbeult genug, um in dieser schäbigen Gegend

kein unnötiges Aufsehen zu erregen. Das Mauerwerk bröckelte, und

wo sich einst Fallrohre befunden hatten, wucherten jetzt grüne Algen.

Die blinden Fensterscheiben waren zerbrochen, und Graffiti und

Rußflecken verunzierten die Hauswände. Eine rostige Feuerleiter

rankte sich im Zickzack an dem dunklen Bau empor und warf ein

schartiges Schattenmuster auf die von Schlaglöchern durchsiebte

Straße und mehrere Autowracks.

Tamworths Anweisungen folgend, schlüpfte ich durch eine

versteckte Seitentür ins Treppenhaus. Im Verputz klafften Risse, und

der Gestank von Desinfektionsmitteln mischte sich mit den seltsamen

Gerüchen aus dem Curry-Imbiß im Erdgeschoß. In regelmäßigen

Abständen flackerte eine Neonröhre, und ich sah Frauen in engen

Miniröcken vor dunklen Zimmertüren stehen. Die Bewohner dieser

Gegend waren ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Wegen der

Wohnungsnot in der Hauptstadt tummelte sich hier praktisch alles

vom alteingesessenen Londoner über den Anwalt oder Werbeprofi bis

zu Nutten und Pennern. Was der Polizei ein Dorn im Auge war,

erlaubte es SpecOps-Agenten, sich unauffällig zu bewegen.

- 40 -

Ich kam in den siebten Stock, wo zwei junge Henry-Fielding-Fans

Kaugummikarten tauschten. »Ich gebe dir meine Amelia für deine

Sophia.«

»Spinnst du?« erwiderte sein Geschäftsfreund entrüstet. »Wenn du

eine Sophia haben willst, mußt du mir dafür einen Allworthy, einen

Tom Jones und deine Amelia geben!«

Als ihm klar wurde, wie selten die Sophias waren, willigte der

Partner widerstrebend ein. Der Tausch war besiegelt, und sie rannten

die Treppe hinunter, um nach Radkappen zu suchen. Ich verglich die

Wohnungsnummern mit der Adresse, die mir Tamworth genannt

hatte, und klopfte an eine pfirsichfarben gestrichene Tür, von der der

Lack abblätterte. Ein Mann um die achtzig öffnete zögernd. Er

verbarg eine Gesichtshälfte hinter einer runzligen Hand, und ich zeigte

ihm meine Marke.

»Sie müssen Next sein«, sagte er mit einer für sein Alter erstaunlich

jugendlichen Stimme. Ich ging hinein. Tamworth spähte durch ein

Fernglas in ein Zimmer im Haus gegenüber und winkte mir zum Gruß,

ohne aufzublicken. Ich sah den Alten lächelnd an.

»Nennen Sie mich Thursday.«

Er schüttelte mir erfreut die Hand.

»Mein Name ist Snood; Sie dürfen mich Junior nennen.«

»Snood?« wiederholte ich. »Sind Sie mit Filbert verwandt?«

Der Alte nickte.

»Ach ja, Filbert!« murmelte er. »Ein guter Junge und seinem alten

Vater stets ein guter Sohn.«

Filbert Snood war der einzige Mann, der mich in den zehn Jahren

seit meiner Trennung von Landen auch nur ansatzweise interessiert

hatte. Snood war bei den ChronoGarden gewesen; er war nach

Tewkesbury abberufen worden und nie wieder zurückgekehrt. Eines

Tages erhielt ich einen Anruf von seinem Vorgesetzten, der mir

mitteilte, Filbert sei »bis auf weiteres verhindert«. Da konnte

eigentlich nur eine andere Frau dahinterstecken. Es hatte wehgetan,

obwohl ich in Filbert nicht verliebt gewesen war. Das wußte ich

- 41 -

genau, in Landen war ich nämlich verliebt gewesen. Man spürt das,

wenn es soweit ist, so wie man ein Turner-Gemälde auf Anhieb

erkennt oder die Westküste Irlands.

»Dann sind Sie sein Vater?«

Snood ging in die Küche, aber so leicht kam er mir nicht davon.

»Wie geht es ihm? Wo wohnt er jetzt?«

Der Alte machte sich am Teekessel zu schaffen.

»Es fällt mir schwer, über Filbert zu sprechen«, gestand er

schließlich und tupfte sich den Mundwinkel mit einem Taschentuch.

»Es ist so lange her.«

»Ist er tot?« fragte ich.

»Nein, nein«, murmelte der Alte. »Er ist nicht tot; man hat Ihnen

wahrscheinlich gesagt, er sei bis auf weiteres verhindert, nicht?«

»Ja. Ich dachte, er hätte eine andere oder so.«

»Wir dachten, Sie würden das richtig deuten; Ihr Vater war oder ist

vermutlich noch immer bei der ChronoGarde, und wir bedienen uns

nun mal gewisser – wie soll ich sagen? – Euphemismen

Er starrte mich unschlüssig an, aus stahlblauen Augen unter

schweren Lidern. Mein Herz hämmerte wie wild.

»Wie meinen Sie das?« fragte ich.

Der Alte schien noch etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann

aber doch anders, hielt einen Moment inne und schlurfte ins

Wohnzimmer zurück, um Videobänder zu beschriften. Es steckte

offensichtlich weitaus mehr dahinter als eine andere Frau in

Tewkesbury, aber die Zeit arbeitete für mich. Ich ließ die

Angelegenheit vorerst auf sich beruhen.

Das gab mir Gelegenheit, mich ein wenig umzuschauen. An einer

feuchten Wand lehnte ein Tapeziertisch voller erstklassiger

Überwachungstechnik. Ein Revox-Tonbandgerät stand neben einem

kleinen Mischpult, das die Signale der sieben Abhörmikrofone in der

überwachten Wohnung und der dazugehörigen Telefonleitung auf die

acht Spuren des Tonbands verteilte. Am Fenster waren zwei

- 42 -

Ferngläser, ein Fotoapparat mit leistungsstarkem Teleobjektiv sowie

eine Videokamera aufgebaut, die zehn Stunden am Stück aufzeichnen

konnte.

Tamworth ließ das Fernglas sinken und hob den Blick.

»Willkommen an Bord, Thursday. Sehen Sie mal hier durch.«

Ich schaute durch das Fernglas. In der Wohnung gegenüber, kaum

dreißig Meter entfernt, erkannte ich einen gutgekleideten Mann um

die fünfzig mit verkniffenem Gesicht und besorgter Miene. Er schien

zu telefonieren.

»Das ist er nicht.«

Tamworth lächelte. »Ich weiß. Das ist sein Bruder Styx. Wir haben

heute morgen von ihm erfahren. SO-14 wollte ihn sich schnappen,

aber unser Mann ist ein viel größerer Fisch; ich habe SO-1

eingeschaltet, und jetzt sind wir für Styx zuständig. Hören Sie mal.«

Er gab mir einen Kopfhörer, und ich sah noch einmal durch das

Fernglas. Der Bruder von Hades saß an einem großen

Nußbaumschreibtisch und blätterte im London and District Car

Trader. Plötzlich legte er das Anzeigenblatt beiseite, griff zum

Telefon und wählte eine Nummer.

»Hallo?« sprach Styx in den Hörer.

»Hallo?« erwiderte eine Frau mittleren Alters am anderen Ende der

Leitung.

»Haben Sie einen Chevrolet Baujahr ’76 annonciert?«

»Er will ein Auto kaufen?« fragte ich Tamworth.

»Warten Sie’s ab. Jede Woche um dieselbe Zeit, wie es scheint.

Pünktlich wie die Maurer.«

»Er hat erst 82.000 Meilen drauf«, fuhr die Frau fort, »und läuft wie

eine Eins. TÜV und Steuer sind bis Jahresende bezahlt.«

»Das klingt perfekt«, erwiderte Styx. »Ich bezahle bar. Würden Sie

mir den Wagen reservieren? Ich bin in einer knappen Stunde bei

Ihnen. Sie wohnen in Clapham, nicht?«

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Die Frau bejahte und nannte eine Adresse, die Styx sich jedoch gar

nicht erst notierte. Er bekräftigte sein Interesse, legte auf und wählte

eine andere Nummer, diesmal wegen eines Wagens in Hounslow. Ich

setzte den Kopfhörer ab und zog den Stecker aus der Buchse, so daß

wir Styx’ nasale Reibeisenstimme über Lautsprecher hören konnten.

»Wie lange macht er das?«

»Bis ihm langweilig wird, wenn man den Unterlagen von SO-14

glauben darf. Und er ist beileibe nicht der einzige. Wer je versucht

hat, einen Wagen zu verkaufen, hatte es mindestens einmal mit

jemandem wie Styx zu tun. Hier, die sind für Sie.«

Er reichte mir eine Schachtel mit Spezialmunition, die im Körper

des Opfers aufpilzen und größtmöglichen Schaden anrichten würde.

»Dumdum-Geschosse? Seit wann ist er ein Büffel?«

Doch Tamworth fand das gar nicht komisch.

»Wir haben es hier mit einem ganz besonderen Fall zu tun,

Thursday. Beten Sie zur GSG, daß Sie die Dinger nie benutzen

müssen, und wenn doch, sollten Sie nicht lange zögern. Unser Mann

gibt Ihnen keine zweite Chance.«

Ich bestückte erst meine Automatik und dann mein Ersatzmagazin

mit der neuen Munition. Ganz oben ließ ich aber jeweils eine

Standardpatrone einrasten, falls SO-1 mich kontrollierte. Drüben in

der Wohnung hatte Styx inzwischen eine Nummer in Ruislip gewählt.

»Hallo?« meldete sich der bedauernswerte Autobesitzer.

»Ja, ich interessiere mich für den Ford Granada, den Sie inseriert

haben«, sagte Styx. »Ist der Wagen noch zu haben?«

Styx ließ sich die Adresse geben, versprach, in zehn Minuten dort zu

sein, legte auf und rieb sich triumphierend die Hände. Feixend wie ein

kleiner Junge strich er die Annonce durch und ging zur nächsten über.

»Dabei hat er noch nicht mal einen Führerschein«, rief Tamworth

durchs Zimmer. »Meistens klaut er Kugelschreiber, sorgt dafür, daß

Elektrogeräte kurz nach Ablauf der Garantiezeit kaputtgehen, oder

zerkratzt Schallplatten in Plattengeschäften.«

- 44 -

»Reichlich kindisch, oder?«

»Kann man wohl sagen«, antwortete Tamworth. »Er verfügt zwar

über ein gewisses Maß an Gemeinheit, aber gegen seinen Bruder ist er

der reinste Waisenknabe.«

»Und was hat Styx nun mit dem Chuzzlewit-Manuskript zu tun?«

»Wir vermuten, daß es sich in seinem Besitz befindet. Nach den

Überwachungsunterlagen von SO-14 ist er am Abend des Einbruchs

in Gad’s Hill mit einem verdächtigen Päckchen nach Hause

gekommen. Zugegeben, das ist reine Spekulation, aber seit drei Jahren

der erste Hinweis darauf, wo er sich verborgen halten könnte. Es wird

allmählich Zeit, daß er aus seinem Versteck kommt.«

»Hat er ein Lösegeld für Chuzzlewit verlangt?« fragte ich.

»Nein, aber was nicht ist, kann ja noch werden. Die Sache liegt

womöglich komplizierter, als wir denken. Unser Mann hat einen

geschätzten IQ von 180, da ist eine simple Erpressung vermutlich

unter seiner Würde.«

Snood kam herein, bezog ein wenig wacklig hinter dem Fernglas

Stellung, setzte die Kopfhörer auf und schob den Stecker in die

Buchse. Tamworth nahm seinen Schlüssel und reichte mir ein Buch.

»Ich muß mich mit einem Kollegen von SO-4 treffen. Ich bin in

einer guten Stunde wieder da. Wenn was passiert, piepen Sie mich

einfach an. Meine Nummer ist auf der Eins gespeichert. Wenn Sie die

Langeweile überkommt, werfen Sie mal da einen Blick rein.«

Ich betrachtete das Buch, das er mir in die Hand gedrückt hatte. Es

war eine in rotes Leder gebundene Ausgabe von Charlotte Brontës

Jane Eyre.

»Wer hat Ihnen das gesagt?« fragte ich spitz.

»Wer hat mir was gesagt?« fragte Tamworth sichtlich erstaunt

zurück.

»Na ja, ich dachte … ich habe dieses Buch oft gelesen. Als junges

Mädchen. Ich kenne es in-und auswendig.«

»Hat Ihnen der Schluß gefallen?«

- 45 -

Ich überlegte einen Augenblick. Das unbefriedigende Ende des

Romans sorgte in der Brontë-Gemeinde seit jeher für Kopfschütteln

und Unverständnis. Man war sich einig, daß das Buch wesentlich

besser gewesen wäre, wenn Jane nach Thornfield Hall

zurückgefunden und Rochester geheiratet hätte.

»Niemandem gefällt der Schluß, Tamworth. Aber davon abgesehen

hat es mehr als genug zu bieten.«

»Dann kann eine neuerliche Lektüre ja nicht schaden, oder?«

Es klopfte an der Tür. Tamworth öffnete, und ein Mann, der keinen

Hals, dafür aber um so kräftigere Schultern hatte, kam herein.

»Auf die Minute!« sagte Tamworth mit einem Blick auf seine Uhr.

»Thursday Next, das ist Buckett. Er wird uns vorläufig zur Seite

stehen, bis ich einen passenden Ersatz gefunden habe.«

Sprach’s und verschwand.

Buckett und ich gaben uns die Hand. Er lächelte gequält, als ob ihm

dieser Einsatz nicht behagte. Er sagte, er freue sich, mich

kennenzulernen, und plauderte dann mit Snood über den Ausgang

eines Pferderennens.

Ich trommelte mit den Fingerspitzen auf das Exemplar von Jane

Eyre, das Tamworth mir gegeben hatte, und verstaute es in meiner

Brusttasche. Ich sammelte die leeren Kaffeetassen ein und stellte sie

in das angeschlagene Emailbecken in der Küche. Plötzlich stand

Buckett in der Tür.

»Tamworth hat gesagt, Sie wär’n eine LitAg.«

»Wenn Tamworth das sagt, muß es wohl stimmen.«

»Ich wollte auch mal zu den LitAgs.«

»Ach ja?« machte ich und sah nach, ob es im Kühlschrank auch

etwas gab, das sein Haltbarkeitsdatum noch nicht um mindestens ein

Jahr überschritten hatte.

»Ja. Aber es hieß, man müßte das eine oder andere Buch gelesen

haben.«

- 46 -

»Das kann nicht schaden.«

Als es an der Tür klopfte, wanderte Bucketts Hand automatisch zu

seiner Waffe. Er war nervöser, als ich gedacht hatte.

»Nur keine Panik, Buckett. Ich mach das schon.«

Er ging mit mir zur Tür und entsicherte seine Pistole. Ich sah ihn

fragend an, und er nickte.

»Wer ist da?« fragte ich, ohne die Tür zu öffnen.

»Hallo!« ertönte eine Stimme. »Mein Name ist Edmund Capillary.

Haben Sie sich nicht auch schon einmal gefragt, ob Shakespeares

wunderbare Stücke auch tatsächlich von ihm stammen?«

Buckett und ich atmeten erleichtert auf. Er sicherte seine Automatik

wieder und brummte halblaut: »Scheiß Baconier!«

»Ganz ruhig«, erwiderte ich, »das ist schließlich nicht verboten.«

»Leider.«

»Pssst.«

Ich öffnete die Tür so weit, wie es die vorgelegte Kette zuließ und

sah mich einem kleinen Mann im ausgebeulten Cordanzug gegenüber.

Er hielt mir einen zerknitterten Ausweis unter die Nase und lüftete

nervös lächelnd den Hut. Die Baconier waren zwar reichlich bekloppt,

aber im großen und ganzen harmlos. Ihr Lebenszweck bestand darin,

den Beweis zu führen, daß nicht Will Shakespeare, sondern Francis

Bacon die bedeutendsten Dramen der englischen Sprache verfaßt

habe. Und weil sie glaubten, daß man Bacon die gebührende

Anerkennung versagte, kämpften sie unermüdlich für die

Wiedergutmachung dieses vermeintlichen Unrechts.

»Hallo!« sagte der Baconier freudestrahlend. »Haben Sie vielleicht

einen Moment für mich Zeit?«

Ich antwortete langsam: »Wenn Sie allen Ernstes glauben, mir

weismachen zu können, daß der Sommernachtstraum von einem

Juristen verfaßt wurde, muß ich wohl weitaus dümmer aussehen, als

ich dachte.«

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Doch so leicht ließ der Baconier sich nicht abwimmeln. Es machte

ihm offensichtlich Spaß, mein dürftiges Argument zu widerlegen; im

richtigen Leben war er vermutlich Anwalt, Spezialgebiet

Personenschäden.

»Nicht halb so dumm wie die These, daß ein ungebildeter

Schuljunge aus Warwickshire unsterbliche Werke verfaßt haben soll.«

»Woher wollen Sie wissen, daß er ungebildet war?« gab ich zurück;

langsam fand ich Gefallen an dem Spielchen. Buckett winkte mir, daß

ich den Kerl endlich loswerden sollte, doch ich ignorierte sein

Gefuchtel.

»Einverstanden«, fuhr der Baconier fort, »aber es spricht doch

einiges dafür, daß es sich bei dem Shakespeare aus Stratford und dem

Shakespeare aus London um zwei verschiedene Männer handelt.«

Ein interessanter Ansatz. Ich zögerte einen Moment, und Edmund

Capillary nutzte die Gelegenheit, sein Sprüchlein aufzusagen. Wie auf

Knopfdruck sprudelte es aus ihm heraus: »Der Shakespeare aus

Stratford war ein wohlhabender Getreidehändler und

Immobilienmakler, während der Londoner Shakespeare wegen

vergleichsweise lächerlicher Summen von Steuereintreibern gejagt

wurde. Einmal, im Jahre 1600, verfolgten ihn die Eintreiber sogar bis

nach Sussex; warum haben sie ihn sich dann nicht gleich in Stratford

geschnappt?«

»Da bin ich überfragt.«

Jetzt kam er richtig in Fahrt.

»In Stratford wußte niemand von seinen literarischen Erfolgen!

Nach heutigem Kenntnisstand hat er nie auch nur ein Buch gekauft

oder einen Brief geschrieben, sondern lediglich mit Getreide, Malz

und ähnlichem gehandelt.«

Das Männlein sah mich triumphierend an.

»Und was, bitte, hat Bacon mit alldem zu tun?« fragte ich.

»Francis Bacon war ein elisabethanischer Schriftsteller, den seine

Familie zu einer Laufbahn als Anwalt und Politiker gezwungen hatte.

Da es seinerzeit als unfein galt, in Theaterkreisen zu verkehren, sah

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Bacon sich genötigt, einen kaum bekannten Schauspieler namens

Shakespeare als Strohmann zu nehmen – die Historie hat

fälschlicherweise eine Verbindung zwischen den beiden Shakespeares

hergestellt, um einer ansonsten wenig glaubwürdigen Geschichte

größere Plausibilität zu verleihen.«

»Und der Beweis?«

»Hall und Marston – zwei elisabethanische Satiriker – hegten die

felsenfeste Überzeugung, daß Bacon der eigentliche Verfasser von

Venus und Adonis und Lucretia sei. Alles weitere steht in dieser

Broschüre. Nähere Informationen erhalten Sie bei unseren

monatlichen Versammlungen; bis vor kurzem haben wir uns im

Rathaus getroffen, aber vorige Woche hat der radikale Flügel der

Neuen Marlowianer einen Brandanschlag auf uns verübt. Wo wir das

nächste Mal zusammenkommen, steht noch nicht fest. Aber wenn ich

Ihren Namen und Ihre Telefonnummer notieren darf, melde ich mich

rechtzeitig bei Ihnen.«

Seine Miene war ernst und selbstgefällig; er dachte, ich sei ihm auf

den Leim gegangen. Ich beschloß, meinen stärksten Trumpf

auszuspielen. »Und was ist mit dem Testament?«

»Dem Testament?« echote er leicht nervös. Er hatte offenbar

gehofft, daß ich nichts davon wüßte.

»Ja«, fuhr ich fort. »Wenn es wirklich zwei verschiedene

Shakespeares gab, warum hat der Shakespeare aus Stratford dann

Condell, Henning und Burbage, drei Theaterkollegen des Londoner

Shakespeare, in seinem Testament bedacht?«

Dem Baconier klappte die Kinnlade runter. »Diese Frage hab ich

befürchtet.« Er seufzte. »Ich verschwende meine Zeit, nicht wahr?«

»Ja. So leid es mir tut.«

Er brummte etwas in seinen nicht vorhandenen Bart und zog von

dannen, aber schon als ich den Riegel vorschob, hörte ich, wie er an

die Tür der Nachbarwohnung klopfte. Vielleicht hatte er dort mehr

Glück.

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»Was hat eine LitAg hier überhaupt zu suchen, Next?« fragte

Buckett, als wir wieder in der Küche waren.

»Ich bin nur hier«, antwortete ich langsam, »weil ich weiß, wie er

aussieht; aber keine Angst: Sobald ich unseren Mann identifiziert

habe, schickt Tamworth mich zurück auf meinen alten Posten.« Ich

goß klumpige Milch ins Becken und spülte den Karton aus.

»Glück muß der Mensch haben.«

»Ansichtssache. Und Sie? Wie sind Sie an Tamworth geraten?«

»Ich bin eigentlich bei der TerrorBekämpfung. SO-9. Aber

Tamworth brauchte dringend Personal. Der Säbelhieb, dem er seine

Narbe zu verdanken hat, galt eigentlich mir. Deshalb war ich ihm was

schuldig.«

Er senkte den Blick und nestelte verlegen an seiner Krawatte. Auf

der Suche nach einem Geschirrtuch lugte ich vorsichtig in einen

Küchenschrank, machte eine unappetitliche Entdeckung und schlug

die Tür rasch wieder zu.

Buckett zog seine Brieftasche hervor und zeigte mir ein Foto von

einem sabbernden Säugling, der sich in nichts von anderen sabbernden

Säuglingen unterschied. »Ich bin verheiratet, und Tamworth weiß, daß

solche Einsätze für mich tabu sind; ich trage schließlich

Verantwortung, wissen Sie.«

»Hübsches Baby.«

»Danke.« Er steckte das Bild wieder ein. »Sind Sie verheiratet?«

»Es hat nicht sollen sein«, antwortete ich und füllte den Teekessel

mit Wasser. Buckett nickte und holte eine Rennzeitung hervor.

»Setzen Sie auch ab und zu ein paar Scheinchen auf die Hottehüs? Ich

habe einen heißen Tip für Malabar.«

»Nein. Tut mir leid.«

Buckett nickte. Anscheinend war ihm der Gesprächsstoff

ausgegangen.

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Kurz darauf servierte ich Kaffee. Snood und Buckett erörterten den

Ausgang des Cheltenham Gold Stakes Handicap.

»Sie wissen also, wie er aussieht, Miss Next?« fragte der alte Snood,

ohne von seinem Fernglas aufzublicken.

»Er war einer meiner Dozenten an der Uni. Er ist allerdings nicht

ganz einfach zu beschreiben.«

»Schlank?«

»Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, schon.«

»Groß?«

»Mindestens einsfünfundneunzig.«

»Zurückgekämmtes schwarzes Haar und graumelierte Schläfen?«

Buckett und ich sahen uns fragend an.

»Ja …?«

»Dann muß er das wohl sein, Thursday.«

Ich riß den Stecker aus der Kopfhörerbuchse.

»… Acheron!« drang Styx’ Stimme aus dem Lautsprecher.

»Bruderherz! Das ist aber eine schöne Überraschung!«

Ich schaute durch das Fernglas und sah Acheron drüben in Styx’

Wohnung. Er trug einen großen grauen Staubmantel und sah genau so

aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Er schien in all den Jahren nicht

einen Tag älter geworden zu sein. Mir lief ein Schauder über den

Rücken.

»Scheiße«, murmelte ich. Snood hatte Tamworths Piepsernummer

schon gewählt.

»Mücken haben die blaue Ziege gestochen«, raunte er in den Hörer.

»Danke. Könnten Sie das wiederholen und zweimal senden?«

Mein Herz schlug schneller. Acheron würde vermutlich nicht lange

bleiben, und ich hatte gute Chancen, die LitAgs ein für allemal hinter

mir zu lassen. Wenn ich Hades schnappte, war mir eine Beförderung

praktisch sicher.

- 51 -

»Ich gehe rüber«, sagte ich so beiläufig wie möglich.

»Was?!«

»Hören Sie schlecht? Sie bleiben hier und fordern bei SO-14

bewaffnete Verstärkung an, ohne Blaulicht und Sirene. Sagen Sie

denen, daß wir reingegangen sind und sie das Gebäude umstellen

sollen. Der Verdächtige ist mit ziemlicher Sicherheit bewaffnet und

gefährlich.«

Snood setzte dasselbe Lächeln auf, das mir an seinem Sohn so gut

gefallen hatte, und griff zum Telefon. Ich wandte mich an Buckett.

»Sind Sie dabei?«

Buckett wirkte etwas blaß um die Nase.

»Ich … äh … bin dabei«, antwortete er. Seine Stimme bebte leicht.

Ich stürzte zur Tür hinaus und die Treppe hinunter zum Ausgang.

»Next …!«

Buckett. Er war stehengeblieben und zitterte am ganzen Körper.

»Was ist?«

»Ich … ich … kann das nicht«, gestand er, lockerte seine Krawatte

und massierte sich den Nacken. »Ich habe Frau und Kind! – Sie ahnen

ja nicht, wozu er imstande ist. Ich bin ein Spieler, Next. Je höher das

Risiko, desto besser. Aber wenn wir versuchen, ihn festzunehmen,

sind wir beide tot. Ich flehe Sie an, warten Sie auf SO-14!«

»Dann ist er vielleicht längst weg. Wir brauchen ihn doch bloß

festzusetzen.«

Buckett knabberte an seiner Unterlippe; der Mann stand

Todesängste aus. Schließlich schüttelte er wortlos den Kopf und

machte sich eilig aus dem Staub. Es war, gelinde gesagt, frustrierend.

Ich spielte mit dem Gedanken, ihm hinterherzurufen, als mir das Foto

von dem sabbernden Säugling wieder einfiel. Ich zog meine

Automatik, stieß die Haustür auf und ging langsam über die Straße auf

das gegenüberliegende Gebäude zu. Da hielt Tamworths Wagen

neben mir. Tamworth machte keinen sonderlich erfreuten Eindruck.

- 52 -

»Verdammt, was machen Sie da?«

»Unsere Zielperson beschatten.«

»Kommt nicht in Frage. Wo ist Buckett?«

»Nach Hause gegangen.«

»Das kann ich ihm nicht verdenken. Sind die Kollegen von SO-14

unterwegs?«

Ich nickte. Er blickte an dem dunklen Haus empor, dann sah er mich

an. » Scheiße. Na gut, bleiben Sie hinter mir und halten Sie die Augen

auf. Erst schießen, dann fragen. Alles unter acht …«

»… steht über dem Gesetz. Ich weiß.«

»Gut.«

Tamworth zog seine Waffe, und vorsichtig betraten wir das

umgebaute Lagerhaus. Styx’ Wohnung lag im siebten Stock. Mit

etwas Glück konnten wir die beiden vielleicht überrumpeln.

- 53 -

5.

… die Großen läßt man laufen

… Insofern hatte es vielleicht sogar sein Gutes, daß sie

vier Wochen bewußtlos gewesen ist. Sie verpaßte

sämtliche Nachwirkungen, die SO-1-Untersuchung, die

Vorwürfe und Unterstellungen, die Beisetzung von

Snood und Tamworth. Alles war an ihr vorbeigegangen

… alles, nur die Schuld nicht. Die erwartete sie, als sie

die Augen aufschlug …