248

„Nein“, beeilte ich mich zu sagen, „aber Victor gehört einer anderen Generation an.“

„Es gibt auch viele Männer seiner Generation, die im Einklang mit Traditionen leben“, beschied er mich.

Zum Abschluß seiner privaten Museumsführung standen wir vor einem mannshohen Abbild Sunnys. Es war eine bunt-naive Darstellung des gedrungenen Chiefs, die den Betrachter aus starren Augen anglotzte.

„So arbeiten die Künstler von heute. Ihr Material ist der Zement.

Sehr haltbar“, grinste er, während er die Statue tätschelte.

Als wir uns zum Essen niedergesetzt hatten, sagte er: „Ich habe Sie um diesen Besuch nicht gebeten, um Ihnen meine Kunstschätze zu zeigen. Es geht nicht um die Vergangenheit, sondern um die Gegenwart.“ Während Sunny sprach, stopfte er sich mit den Händen garri-Brei, den er in rote Sauce getunkt hatte, und Hühnchen in den Mund. „Bruder William sprach voller Lob und Anerkennung von Ihrer Arbeit. Ich möchte, daß Sie weiterhin Geschäftsführerin bleiben. Um Ihnen einen Anreiz zu geben, verdopple ich Ihr Gehalt. Sind Sie einverstanden?“

Ich war sprachlos. Einverstanden? Als ob es darum gegangen wäre! Ich lebte mit der Hoffnung, daß Victor wiedergefunden wurde.

Und dieses Rauhbein trat bereits als Nachfolger von William und Victor auf. Meine Gefühle, meine Trauer interessierten diesen Mann nicht. Betreten starrte ich auf meinen Teller. Niemals war mir ein Mensch begegnet, der mich derart herablassend behandelt hatte.

Mein Gehalt verdoppeln! Was interessierte mich das jetzt, wo ich einen Mann vermißte, der mein Leben bedeutete, meine Liebe. Und Sunny wollte mich kaufen. Wie all die anderen, die er sich gefügig machte. Angst und Geld - das war die Welt eines Sunny.

„Na, wollen Sie oder nicht? Das ist doch eine ganz einfache Frage.

Ja oder nein?“ Er stippte sein garri in die rote, schleimige Suppe, die ich vorsichtshalber nicht anrührte. Es gab eine Menge Fragen zu klären. Und Sunny reduzierte alles auf Ja oder Nein! Es gab ja noch nicht mal eine Spur von den Vermißten. Während Sunny sich schon daranmachte, mich als seine Untergebene zu behandeln.

Er musterte mich über das Essen hinweg mit seinen unergründlichen, etwas schrägen schwarzen Augen. Was sollte ich antworten? Nein? Dann wäre ich sofort aus dem Spiel gewesen.

Sunny hätte einen Grund gehabt, mich aus dem Haus in Ikoyi zu schmeißen. Kurz: Ich hätte nichts mehr über Victors Verbleib erfahren. Zu diesem Zeitpunkt hielt ich es noch für möglich, daß er wieder auftauchte. Vielleicht, dachte ich, schafft er es, sich zu einem der kleinen Dörfer am Fluß durchzuschlagen. Gerade die Frechheit, mit der Sunny auftrat, ließ mich um so mehr an meiner Hoffnung festhalten.

Es konnte also nur eine Antwort geben, wenn ich nicht den Anschluß an die weiteren Entwicklungen verpassen wollte.

Unverblümt und dennoch so, als würde es für ihn eine große Belastung bedeuten, tat Sunny kund, daß er der Erbe von William und Victor sei. Aber Victor und William waren bislang nicht gefunden. Und solange würde der Leopard die Beute nicht wegschleppen können.

„Nun, was halten Sie von meinem Vorschlag? Sie wohnen weiterhin in Victors Haus. Alles bleibt, wie es ist. Und bei Gelegenheit werden Sie mir erklären, was Sie eigentlich tun.“

Es gab nie mehr als dieses Gespräch: keinen Vertrag, keinen Handschlag. Ich hatte nur genickt und mich damit an Sunny gebunden. Sunny erkannte schnell, daß die letzten Projekte seines Neffen durchaus zukunftsträchtig waren, und beauftragte mich später, den Aufbau der Fabriken für Toiletten- und Zeitungspapier voranzutreiben. Riesige Investitionssummen, vor denen Victor zurückgeschreckt war, schienen für Sunny kein Problem darzustellen. Meine mühsam mit Anwälten ausgehandelten Verträge reichte er ungelesen an seine Anwälte weiter und malte dann krakelig seinen Namenszug darunter. Das Umweltprojekt war mit Victors Verschwinden natürlich für alle Zeiten erledigt. Der Leopard hatte die Alleinherrschaft in seinem Revier zurückgewonnen.

EIN LEOPARD VERÄNDERT SEINE FLECKEN NIE

In Port Harcourt fanden Abiola und ich nach langer Suche eine kleine Chartermaschine, die uns über die Sümpfe flog. Nach einigen Stunden sah ich endlich ein, daß es sinnlos war: Wir suchten die Stecknadel im Heuhaufen. In dieser unendlichen Weite aus grünem Regenwald und verschlungenen braunen Wasserarmen hätte man für eine sinnvolle Suche Dutzende von Flugzeugen gebraucht. Doch ohne Unterstützung der Polizei ging gar nichts. Und die sagte mehr oder weniger deutlich, daß ich nicht die richtige Person war, nach Victor suchen zu lassen. Ich war ja nicht mal seine Frau! Und Sunny handhabte die Sache afrikanisch - er wartete. Die Zeit spielte für ihn und gegen meinen Prinzen. Enttäuscht und verbittert kehrte ich nach Lagos zurück.

In der ersten Nacht nach meiner Rückkehr träumte ich von Mila, der Beraterin. Sie schnalzte. „Sehe ich aus wie eine Hexe?“

Am nächsten Morgen fuhr ich zu Milas Haus nach Suru Lere. Mila und ihre sisters empfingen mich, als hätten sie mich erwartet. Die Fahrt von Ikoyi hatte mich seltsamerweise sehr angestrengt, ich schwitzte wie noch nie. Mila hatte mir meine Begegnung mit Victor vorausgesagt - und unser Unglück. Ob sie mir jetzt helfen konnte?

Sie warf ihre Kauris und schnalzte wieder mit der Zunge. „Es sieht nicht gut aus“, murmelte sie. Sie wollte mir trotzdem helfen, meinen Victor zu finden. Sie verlangte sehr viel Geld und versprach, zwei Tage später in mein Haus zu kommen.

Dort erschien sie mit einem älteren und einem jüngeren Mann, die mit Amuletten behängt und mit Symbolen bemalt waren. Beide sprachen nur Yoruba. Der ältere der beiden sah mich nie direkt an, er blickte irgendwie durch mich hindurch. Mila gab keine Erklärungen über das Tun der beiden. Sie verlangten, daß der teure Perserteppich zusammengerollt wurde, und breiteten mitten im großen Wohnraum Reisigmatten auf dem Boden aus. Dann bauten sie einen simplen Herd auf und verbrannten in einem rußschwarzen Topf Kräuter.

Ich sollte mich zu den beiden und Mila auf den Boden setzen. Das Feuer verbreitete einen herben Geruch, der entfernt an Weihrauch erinnerte. Dann begann der Ältere zu sprechen, der Jüngere schwieg. Der Ältere stellte belanglose Höflichkeitsfragen nach meinem Befinden und dem Wohlergehen meiner Ahnen und Familie. Um dann zu sagen, daß in meinem Schlafzimmer ein Frauenkopf stehe, der mir sehr viel bedeute. Ich solle ihn holen.

Also schleppte ich die schwere hölzerne Uroma Victors nach unten und hielt sie vor meinen Bauch, weil ich nicht wußte, wohin damit.

Mila legte ihren Kopf etwas schief, als sie mir die Yoruba-Worte des Älteren übersetzte: „Sie ist die Ahnin des Babys, das du unter deinem Herzen trägst.“

Ich hätte den kiloschweren Ebenholzkopf fast fallen gelassen. Der Nachmittag nach der Initiation mit Victor im quietschenden Bett!

Der Kuß auf meinen Bauch! Sein Wunsch nach einer Maria! Es war das letzte Mal, daß wir miteinander geschlafen hatten. Aber es war unmöglich, daß ich schwanger war, ich trug eine Spirale! Hatte das Leben trotzdem einen Weg gefunden? Mit der Uroma vorm Bauch stand ich schwankend im Raum, alles um mich herum schien sich zu drehen.

Mila half mir, Platz zu nehmen. Sie hatte verstanden, was in mir vorging. Die Büste stellte sie neben das Feuerchen in dem kleinen Herd.

Angestrengt versuchte ich, mich auf das zu konzentrieren, was in der Zwischenzeit im Wohnzimmer passierte. Der ältere der beiden Männer hatte sich mit geschlossenen Augen in sich selbst versenkt. Ich fragte Mila, was er und sein jüngerer Freund vorhatten.

„Owo ist ein Suchmann, Ilona. Er wird deinen Mann finden.“

Ich hatte mich auf den Besuch vorbereitet und legte dem Mann eine Karte von Nigeria hin. Mila faltete das Papier zusammen.

„Owo kann nicht lesen“, belehrte sie mich.

Die Hausangestellten preßten ihre Nasen neugierig gegen die Fenster. Owo hatte in der Zwischenzeit sieben Reihen kleiner Flußkiesel vor sich ausgebreitet, auf die er Blätter und Kräuter streute. Er wusch seine Augen mit einer dunklen Flüssigkeit aus einer mitgebrachten Flasche und kaute Blätter. Ein Zucken erfaßte zunächst seine Füße, dann seine Hände, bis sich sein ganzer Körper in Zuckungen und Krämpfen wand.

Als dieser „Anfall“ vorbei war, tastete er nach einem Bündel zusammengeschnürter Stäbchen, die er wie ein Fernrohr vor ein Auge hielt, das er dann auf die Steine und die Blätter warf. Nach einem Schluck aus einer anderen Flasche sprühte er seinen feuchten Atem über das Ganze und brachte den Kopf nahe an den Boden, um sich alles genau anzusehen. Sein Gesicht wirkte entrückt und gelöst, vielleicht etwas verwundert. Er nahm zwei von den Steinen, hielt sie mir hin. Mila forderte mich auf, die Steine in meine rechte Hand zu nehmen und mich auf Victor zu konzentrieren, um sie Owo dann zurückzugeben. Owo starrte auf die Steine und doch an ihnen vorbei. Er begann einen Singsang, öffnete die Augen und sah durch mich hindurch.

Jetzt erst begann Deinde, der Jüngere der beiden, zu sprechen, was Mila übersetzte: „Dein Mann und sein Vater sind tot. Sie wurden von einer bösen Macht getötet, die ein Feind gegen sie gerichtet hat.“

Tot! Wie endgültig das klang. Vielleicht hätte ich geschrien oder losgeheult, wenn mir der gebügelte Polizist oder sonstwer das gesagt hätte. Aber die Szene war so absurd, daß ich nur mit weit offenem Mund blöde vor mich hin glotzte. Zweifelnd, ungläubig noch, aber bereits mit den ersten Anzeichen einer inneren Panik kämpfend. „Du findest die beiden dort, wo ihr einen weisen Mann besucht habt und nicht die Geduld hattet, seinen Worten zu lauschen. Zwei Fußstunden von dort in Richtung Westen liegt sein Flugzeug im Sumpf. Nur noch das Ende ragt aus dem Wasser, also beeile dich, wenn du es finden willst.“

Woher konnte dieser Owo den Zwischenfall mit dem Regenmacher kennen? Meine Gedanken überschlugen sich: War das nicht der erste Beweis für seine Weissagung? Ich selbst hatte das Flugzeug wesentlich weiter im Westen suchen lassen, bei Port Harcourt.

Ich glaubte einer fremdartigen Vorstellung zuzusehen, als Owo sich auf seiner Matte zusammenrollte, als schliefe er. Mit geschlossenen Augen seufzte, summte, flüsterte er und bewegte ein wenig die Arme. Nach ein paar Minuten stand er auf, warf die Stäbchen in den Topf und verbrannte draußen im Hof alles unter den ehrfürchtigen Blicken der Hausangestellten. Mila erklärte mir, daß ein Suchmann seine Fähigkeit nicht erlernen könne. Sie sei angeboren.

So faszinierend ich auch Owos Talente fand, ich hatte nicht die Kraft, mich mit ihnen auseinanderzusetzen. Der Suchmann hatte mir eine wunderschöne und eine niederschmetternde Botschaft gebracht. Ich sah den Kopf von Victors Uroma und hörte Williams Satz, daß wir auf den Schultern unserer Ahnen stünden. Lag darin die ganze schlichte und doch schreckliche Wahrheit? Wenn ich bereits Victors Baby unter meinem Herzen trug, dann war die Kette des Lebens doch nicht zerrissen! Sollte Sunny tatsächlich dunkle Mächte gegen seinen Neffen aufgeboten haben, so hatte er doch nicht verhindern können, daß ein Teil von Victor weiterlebte - in mir.

Mila setzte sich neben mich und legte ihren Arm um mich. „Sister“,

sagte sie, „die orishas sind stärker als wir Menschen. Aber du mußt ihnen schon ein bißchen bei ihrer Arbeit helfen.“ Wie sollte ich diesen mir immer noch recht fremden Göttern helfen? Zunächst müsse ich Victor vor Sunnys Macht schützen, sagte sie. Und dann mich - und unser Baby. Obwohl noch immer in einer Ecke meines Herzens die Hoffnung brannte, daß Victor lebte, gab sich Mila nach Owos „Suche“ keinen Illusionen mehr hin. Sie akzeptierte Owos Vision als Realität und erklärte mir, daß ein Schwarzmagier danach trachten könne, die Seele des Verstorbenen, die nach so kurzer Zeit noch nicht in den Himmel zurückgekehrt ist, „einzufangen“, um sie für immer zu besitzen.

„Den orishas helfen“ bedeutete, alle persönlichen Dinge Victors an einen sicheren Ort zu schaffen. Vor allem die im ganzen Haus verteilten Fotos müßten sofort verschwinden, die Bürsten, die er benutzt hatte, seine Kleidung, einfach alles! Ich war geschockt. Das bedeutete, ich mußte mir eingestehen, daß Victor tot war! Ich lachte hysterisch und weinte gleichzeitig, nahm die gerahmten Fotos von den Tischen und Sideboards und stellte sie wieder hin.

Orientierungslos schwankte ich zwischen meiner Hoffnung, die auf meinem westlichen Pragmatismus gründete, der mir sagte, daß jemand erst tot war, wenn ich den Beweis dafür hatte, und dem afrikanischen Glauben, der auf mystischen Kräften fußte. Ich hatte mich vollkommen verheddert in den Fallstricken, die zwischen den zwei Welten gespannt waren. Wem sollte ich glauben? Mir, meinen Gefühlen, Hoffnungen und Ansichten? Oder Milas Mystizismus?

Mila schnalzte angesichts meiner Zerrissenheit mit der Zunge.

„Sister“, sagte sie, „dies ist Afrika, nicht dein saubergewischtes Europa.“ Bevor sie ging, sah sie sich im Wohnzimmer um. Sie zeigte mir eine Sonnenbrille mit verspiegelten Gläsern, die sie auf einer Kommode gefunden hatte: „Wem gehört die?“ fragte sie.

Sunny hatte das häßliche Teil aus hartem grünem Kunststoff offensichtlich vergessen. Sonnenbrillen waren sein Tick, er trug immer wieder andere. Das sagte ich Mila, und sie ließ die Brille in ihrem Gewand verschwinden. „Es ist gut vorzusorgen“, erklärte sie spöttisch.

Als die drei gegangen waren, begann ich die Fotos von Victor, die im ganzen Haus verstreut waren, einzusammeln. Wie ein Robotor lief ich von Zimmer zu Zimmer und nahm sie aus den Rahmen. Es war, als sähe ich meinen Händen dabei zu, wie sie eine Arbeit verrichteten, zu der ich selbst nicht in der Lage war. Die Fotos erzählten die Geschichte unserer Liebe in festgehaltenen Augenblicken des gemeinsamen Glücks. Victor im weißen Anzug im schmalen Kanu, unterwegs in den Sümpfen; Victor mit dem nervösen Abraxas; Victor als leuchtender Fremdkörper auf einem der lauten Märkte; Victor sinnend am Morgen in der Wüste ...

„Du mußt sie verbrennen“, hörte ich Milas eindringliche Stimme.

„Das kann ich nicht!“

„Wenn der Suchmann sich geirrt hat, wirst du neue Fotos von deinem Victor machen, sister“

Victors Uhren und Schmuck, die Kreditkarten, sämtliche Ausweise und seinen Paß legte ich in den Safe in der Bibliothek, wo mir mein eigener Reisepaß in die Hände geriet. Ich überlegte, ob ich ihn lieber bei mir tragen sollte - und legte ihn zurück. Sicherheitshalber.

Schwarze Magie kann keinen Zahlencode knacken, dachte ich. Aus den Bädern und dem Schlafzimmer holte ich Victors Bürsten, Wasch- und Rasierutensilien, raffte seine teure englische Unterwäsche zusammen. Die übrige Kleidung hatte ich Mila mitgegeben.

„Er hat genug Geld, um sich alles neu zu kaufen, sister“, sagte Milas Stimme in meinem Kopf. „Heute nacht nimmst du die Büste vom Altar, gehst, wenn alle schlafen, damit in den Garten, betest zu deiner Schutzgöttin Jemonja und bittest sie um Beistand für deine Liebe und verbrennst alles.“

Aus einem der nahen Teiche hörte ich das häßliche, laute Quaken der Ochsenfrösche und aus dem Gras das Zirpen der Zikaden, als ich nachts um eins neben Victors Ahnin im Garten saß und einem lodernden Feuer zusah, in dem jene Dinge ein Raub der Flammen wurden, die mich jeden Tag an ihn erinnert hatten. Im Schein der Flammen glänzte warm das dunkel gemaserte Holz des alten Frauenkopfes mit der mächtigen Haarlocke. Ich dachte an jenen glücklichen Moment, in dem William uns den Kopf gegeben hatte als Zeichen seines Vertrauens. Plötzlich wußte ich, daß ich das Richtige tat. So schwer es mir auch fiel, mich von den materiellen Erinnerungsstücken zu trennen.

Im Schein des Feuers grub ich ein Loch im Garten, in dem ich anschließend Asche und unverbrannte Rückstände versteckte, wie Mila mir geraten hatte. Den Rest der Nacht verbrachte ich auf der Veranda in einem Schaukelstuhl hinter dem Fliegengitter und lauschte in die Dunkelheit hinein. Irgendwann begann ich, mit meinem Bauch zu sprechen. Eine anfangs stumme, später leise Zwiesprache mit dem neuen Leben, von dem ich hoffte, daß es mich für

alle Zeit an den Mann erinnern würde, um dessen Seele ich bangte, weil ich fühlte, daß sein Körper nicht zurückkehren konnte.

Mein Gefühl war zu diesem Zeitpunkt von der Mystik Afrikas bestimmt; aber mein Denken richtete sich nach meinen seit Kindheitstagen antrainierten Schemata. Es wollte wissen, ob die spirituelle Suche Owos das richtige Ergebnis gebracht hatte. Also erklärte ich Abiola, wie er zu dem babalawo, der es regnen lassen konnte, fand, und schlug ihm vor, Mike, den Mann aus Eket, als Begleiter mitzunehmen. Mir selbst war es am wichtigsten, sofort zu einem Gynäkologen zu kommen. Meine Regel war zwar in der Tat seit einiger Zeit überfällig, aber bei dem Klima - und den Aufregungen der vergangenen Wochen - wunderte mich das nicht.

Ich fuhr zu dem Geburtshaus meiner verstorbenen Freundin Yemi, dem einzigen Ort, den ich in Lagos kannte, wo vertrauenswürdige Frauenärzte arbeiteten.

Owo hatte recht gehabt: Ich war schwanger. Trotz Spirale! Ich saß in einer Ecke von Yemis Geburtshaus und heulte, aber mehr aus Glück als aus Verzweiflung. Ich hatte meinen Prinzen zwar verloren, aber ich bekam sein Baby. Seine Maria, die er sich so sehr gewünscht hatte. Oder einen kleinen Victor ... In Afrika ist der Glaube an Wiedergeburt völlig normal. Bislang hatte Victor kein Kind, in dem seine Seele - nach dem Glauben der Afrikaner -

weiterleben konnte. Nun würde er doch eines haben. Er würde weiterleben!

Ich schaffte es irgendwie, den Range Rover durch den Verkehr bis nach Ikoyi zu manövrieren. Ich wünschte mir, mich vor der Welt verkriechen zu können, um mit meinen widerstrebenden Gefühlen zwischen Trauer und Hoffnung ins reine zu kommen. Aber als ich den Wagen in den Hof fuhr, stand dort einer der von Sunny bevorzugten BMWs neben einem Pick-up.

Sunny erwartete mich im Wohnzimmer. Er war nicht allein, hatte eine blutjunge, rundliche Schwarze dabei, die sehr schlecht Englisch sprach. Die Glückliche, die sich Sunnys Gunst als x-te Nebenfrau erfreuen durfte, hörte auf den schönen Namen Felicitas und würde künftig in Victors Haus wohnen. Gemeinsam mit mir.

Denn: „Das Haus ist doch viel zu groß für Sie allein, Ilona. Ich werde das obere Stockwerk benutzen.“

Sunny ließ Unmengen von Kisten hinaufschaffen. Bis zu diesem Tag war er nur einmal in Ikoyi aufgetaucht. Nun fand er mehr und mehr Gefallen an dem im westlichen Stil eingerichteten Haus -was wahrscheinlich auf seine Stunden mit Felicitas zurückzuführen war.

Wenn die beiden sich in dem hellhörigen Haus im Schlafzimmer vergnügten, quiekte Felicitas wie ein kleines Schweinchen.

Auch die zweite Vision des Suchmannes bestätigte sich, wie Abiola mir anderntags niedergeschlagen berichtete: Victor und sein Vater waren tot. Victors neue Sanierungsfirma führte ihren letzten Job vor der Liquidierung aus: Sie veranlaßte seine Bergung. Außerdem beauftragte ich Williams Firma, das Flugzeug nach der Bergung untersuchen zu lassen - aus Versicherungsgründen.

Da Victors Tod nun amtlich war, hielt mich nichts mehr in Lagos.

Ich dachte an Milas Warnung und wollte sofort abreisen. Natürlich heimlich, damit Sunny mir nicht in die Quere kam. Doch ich bekam nur einen Platz in einer Maschine, die erst eine geschlagene Woche später ging.

Es sollte eine lange Woche werden.

Sie begann mit Sunnys Forderung, sofort die beiden Dobermänner wegzuschaffen. Seine Angst vor den beiden Hunden kleidete er in die Drohung, die Tiere andernfalls erschießen zu lassen. Abiola vermittelte sie an ein weißes Ehepaar, bei dem sie es gut hatten.

Dem treuen Femi verschaffte ich einen Arbeitsplatz beim neuen Strengfurt-Geschäftsführer.

Von den letzten Abenden in dem fremd gewordenen Haus verbrachte ich die meisten mit Abiola. Meine beiden Doggen waren ihm zu teuer geworden, und er hatte sie an ein nettes englisches Ehepaar in Victoria Island vermittelt. Seine ständige Begleiterin war jetzt die hübsche Labradorhündin Cilly. Wenn Cilly in Victors Haus, das nun Sunny gehörte, zu Besuch war, verhielt sie sich sehr unruhig.

Einmal schoß sie ins obere Stockwerk hinauf, schnüffelte, bellte und sprang gegen eine der verschlossenen Türen. Dahinter lag ein Raum, den Victor nie benutzt hatte. „Das wäre ein schönes Kin-derzimmer“, hörte ich seine Stimme aus der Vergangenheit herüberklingen. „Und bei Regen können unsere Kinder auf dem überdachten Balkon spielen.“

Ich wußte von Sunnys Leben praktisch nichts. Deshalb konnte ich mir nicht vorstellen, was Cilly hinter der Tür verbellte. Sie ließ sich kaum beruhigen, und ich hatte Mühe, sie wieder nach unten zu bekommen. Am nächsten Tag schleppten vier Männer weitere Kisten in dieses Zimmer. Als Abiola das nächste Mal mit Cilly erschien, ließen wir die unruhige Hündin gleich los. Mit der Nase am Boden lief sie zielsicher wieder nach oben und bellte vor der verschlossenen Tür, hinter der sich die Kisten befanden. Abiola hatte Cilly von meinem Vater aus Deutschland geschickt bekommen. Also rief ich ihn an, und er erzählte, daß Cilly einer von drei ausgemusterten Zollhunden sei. „Sie wurden als Spürhunde in Zügen eingesetzt, um Rauschgift zu erschnüffeln, soweit ich weiß.“

Der traditionsbewußte Sunny hatte eine ganz und gar zeitgemäße Einnahmequelle gefunden: Rauschgift! Abiola kommentierte meine Empörung mit einem nigerianischen Sprichwort: „A leopard never

changes his spots.“ (Ein Leopard verändert seine Flecken nie.) WAHL DER WAFFEN

Um meine Abreisepläne zu tarnen, erschien ich wie üblich im Büro und nutzte die Gelegenheit, um alle persönlichen Unterlagen Victors verschwinden zu lassen. Denn Sunny hatte Akpoviroro ausersehen, sich in die Geschäftsführung einzuarbeiten. Der älteste Sohn Sunnys war ein Mann von Mitte Zwanzig, der von Betriebswirtschaft praktisch keine Ahnung hatte, sich aber hinter meinem großen Schreibtisch räkelte, als handelte es sich um einen Spielplatz für reiche Jungs. Er war genauso klein und gedrungen wie sein Vater, schien aber nicht über dessen hinterlistige Verschlagenheit zu verfügen.

Drei Tage vor meiner Abreise forderte Sunny mich auf, ihn und Akpoviroro zur Bank zu begleiten. Ich kannte Sunnys furchterregende Fahrweise und weigerte mich zunächst. Schließlich erklärte er mir den Grund: Er wollte, daß meine Kontenvollmachten auf ihn und Akpoviroro übertragen wurden. Ich betete, daß ich den Trip heil überstehen würde, und stieg widerwillig ins Auto.

Sunny nutzte die neue Vollmacht, um sogleich umgerechnet eine Million Mark von den Konten zu räumen. Das viele Geld ließ er in einen schwarzen Samsonite-Koffer packen. Den Koffer in der einen, den schwarzen Stock mit dem Leopardenkopf in der anderen Hand, den mit einem Gewehr bewaffneten Akpoviroro als Schatten hinter sich - so eilte Sunny zurück zum Range Rover, hinter dessen Steuer er Platz nahm. Ich wurde nach hinten komplimentiert. Akpoviroro saß auf dem Beifahrersitz, das Gewehr für alle sichtbar in den Händen, den Geldkoffer vor seinem Sitz zwischen den Knien.

Sunny bearbeitete das Lenkrad, als hätte er zu viele amerikanische Krimis gesehen. Rote Ampeln interpretierte er in grüne um, Fußgänger jagte er durch Dauergehupe zur Seite. Ein Straßenköter, der wegen seiner kurzen Beine nicht schnell genug von der Fahrbahn fliehen konnte, wurde brutal überfahren.

„Tote Hunde bringen Glück“, sagte Sunny grinsend.

Und sein Sohn auf dem Beifahrersitz freute sich mit dem rasenden Vater. Lachend richtete er das Gewehr auf Passanten, die erschreckt zurücksprangen. In Deutschland hätte uns bereits nach der zweiten Kreuzung eine Polizeistreife direkt ins Gefängnis geleitet. Ich sank von Kreuzung zu Kreuzung tiefer in die edlen Polster und kämpfte die aufkommende Übelkeit nieder. Als wir endlich in Ikoyi bei Victors Haus ankamen, schaffte ich es gerade noch, die Tür des Rovers zu öffnen. Dann übergab ich mich.

„Ilona, bist du schwanger?“ hörte ich die quietschende Stimme von Felicitas.

Mein Herz setzte aus. Na, das hatte noch gefehlt, daß Sunny von meiner Schwangerschaft erfuhr. Ich hielt mich keuchend vornübergebeugt am Rover fest und sah zu Sunny hoch. Der entblößte sein Raubtiergebiß und strahlte mich an. Dann schüttelte es mich erneut.

„Das ist sehr interessant. Ein Baby von Victor. Oh, Mann, das ist wirklich eine Überraschung. Ilona, Sie sind eine kluge Frau, eine wirklich kluge Frau.“

Ich schleppte mich erschöpft ins Haus und ließ mich aufs weiche Sofa fallen. Nachdem ich wieder etwas zu Atem gekommen war, japste ich: „Sunny, es ist Ihr Fahrstil. Er ist wirklich zum Kotzen.“

„Sie verlieren nie Ihren Humor, Ilona.“ Er schüttelte lächelnd den Kopf. „Schade, daß Sie die Frau Victors waren. Wirklich schade.“

Über den Sinn dieses Satzes konnte ich nicht hinreichend nachdenken, denn nun petzte Felicitas: „Darling, Ilona hat gestern morgen auch erbrochen!“

Blöde Kuh! Ich hatte so aufgepaßt! Aber in diesem hellhörigen Haus aus Holz hörte man wirklich alles. „Unsinn“, sagte ich und holte mir ein Glas Wasser, „ich hatte mir den Magen verdorben.“

„Sicher“, kicherte Sunny, legte seinen Arm um Felicitas' runde Hüften und leitete sie nach oben.

Sie sind eine kluge Frau, hatte er gesagt. Denn er hatte die Bedeutung meiner Schwangerschaft sofort begriffen: Ich bekam Victors Erben. Daran verschwendete ich zu diesem Zeitpunkt zwar keinen Gedanken, denn ich wollte das Baby um seiner selbst und um unserer Liebe willen. Solche Gefühle waren einem Sunny allerdings keinen Gedanken wert. Zitternd verkroch ich mich ins Bett. Die Zeit lief gegen mich - noch zwei Tage, bis ich ins Flugzeug steigen konnte. Zwei Tage, in denen ich beschloß, vorsichtig zu sein. Die Sache hatte nur einen Haken - ich wußte nicht, wovor ich mich schützen mußte.

Am Tag vor meinem geplanten Abflug fand die anglikanische Trauerfeier für Victor und William statt, die ich arrangiert hatte.

Sunny ließ es sich nicht nehmen, in der ersten Reihe zu sitzen.

Nach einem letzten Empfang für die Mitarbeiter, von denen manche meine Wehmut gespürt haben mögen, fuhr ich nach Hause und ließ mir von Simon scharfes Ziegenfleischcurry servieren. Traurig und allein aß ich, während Felicitas und Sunny oben Schweinchen spielten. Das Essen war schärfer als sonst, oder vielleicht kam es mir auch nur so vor; während einer Schwangerschaft verändert sich ja auch das Geruchs- und Geschmacksempfinden. Ich spülte mit viel Wasser nach. Durch die Schärfe des Currys merkte ich erst zu spät, daß im Mund ein leicht bitterer Geschmack zurückblieb. Ich machte Simon darauf aufmerksam, doch der verstand nicht.

„Ich habe gekocht wie immer. Soll ich Madam eine andere Speise servieren?“

Früh zog ich mich zu meiner letzten Nacht in Victors Bett zurück. Im Verlauf der nächsten Stunden erbrach ich mehrmals, was ich auf die Schwangerschaft schob. Am frühen Morgen bekam ich starke Blutungen, mein Körper glühte. Mir fiel Yemis Schwangerschaft ein, ihr schreckliches Sterben in der Klinik. Panik ergriff mich. Ich hatte es fast geschafft, ein paar Stunden später sollte mein Flugzeug zurück nach Deutschland gehen! Mit Bauchkrämpfen schleppte ich mich ins Bad, ließ das lauwarme Wasser von den Tanks auf dem Dach in die Badewanne rauschen und rief Abiola an, meinen letzten Vertrauten.

Im lauwarmen Wasser der Wanne erlitt ich eine Fehlgeburt, bevor Abiola eintraf. Er hatte seinen Vetter mitgebracht, der mich sofort in seine Privatklinik mitnahm. Abiola erzählte mir später, daß mein Unglück das ganze Haus aufgeweckt hatte und sogar Sunny erschienen war, um nach mir zu sehen. Ich kann mich daran nicht mehr erinnern; das einzige, was ich noch weiß, ist eine unsagbar große Verzweiflung, die sich über mich legte wie eine schwere dunkle Decke, unter der ich zu ersticken drohte.

In der Privatklinik von Abiolas Vetter wurde mein Zustand stabilisiert, aber mein eigener Körper war mir vollkommen gleichgültig geworden. Tagelang lag ich da, als wäre ich selbst gestorben. Meine Gedanken kreisten immer um dieselbe Frage: Ich hatte versagt, nicht genügend auf Victors Baby aufgepaßt. Diese Schuld war nicht wiedergutzumachen.

Der Tod unseres Kindes traf mich beinahe noch härter als der von Victor. Da hatte ich so um Victors Seele gekämpft und ihr dann durch die Frühgeburt den Weg zurück auf die Erde genommen. In diesen düsteren Tagen beschuldigte ich mich, Victor endgültig getötet zu haben, weil ich seine Wiedergeburt unmöglich gemacht hatte.

Meine Depression trieb mich sogar so weit, daß ich meine ganze Existenz in Frage stellte, alles, was ich in meinem Leben getan hatte. Und ich gab mir die alleinige Schuld daran, daß ich mich von meinen beiden Kindern entfremdet hatte. Ich fühlte mich wie in der Hölle, unfähig, ihr jemals wieder entkommen zu können. Jeder Antrieb, meine Situation etwa durch den Rückflug zu verändern, war weg. Wenn die Ärzte mich in dieser Klinik vergessen hätten, so wie knapp zwei Jahre zuvor Yemi - mich selbst hätte das am allerwenigsten interessiert.

Abiola besuchte mich in dieser entsetzlichen Zeit häufig, saß stundenlang an meinem Bett. Aber ich hörte seine Worte voller Mitgefühl und seine Aufmunterungsversuche nicht. In den Wochen zuvor hatte ich ihm viel von Mila erzählt. Und dann stand sie eines Nachmittags an meinem Bett, rund und mütterlich, eingehüllt in Hunderte von verschiedenen Düften, eingewickelt in bunte Stoffe, behängt mit Schmuck und Amuletten. Ein großer, bunter Paradiesvogel war in meine graue Traurigkeit vorgedrungen, um mich auf seine Schwingen zu heben und fortzubringen. Zurück ins Leben.

„Du siehst gar nicht gut aus, sister. Was hat der Leopard mit dir gemacht, he?“ Sie ließ die Zunge schnalzen und wackelte mit dem Kopf. „Sister, ich glaube, du brauchst Hilfe.“

Dann stellte sie mir behutsam Fragen nach dem Abend vor der Fehlgeburt. Zum Beispiel, was ich gegessen hatte. Ich sah mich am Tisch sitzen, hörte, wie ich mich über das unglaublich scharfe Ziegen-Curry und das bittere Wasser beschwerte.

„Alligator-Pfeffer, sister. Die weisen Frauen verwenden ihn, um einen Abort herbeizuführen“, sagte Mila ernst.

Ich hatte mich von meiner eigenen Misere zu weit entfernt, um das verstehen zu können. Mila erinnerte mich an einen ungleichen Kampf, in dem ich die Verliererin war, als sie sagte: „Der Leopard jagt bei Nacht, sister, und du bist eine Blinde. Du konntest nicht gewinnen. Kehr nach Hause zurück, beginn ein neues Leben und vergiß alles.“

Sie wollte mich trösten, aber da war ein Unterton in ihren Worten, der in meinem Gehirn die richtige Stelle ansprach. Jenen Ort, in dem mein Kampfgeist sitzt, mein Gerechtigkeitssinn, mein inneres Stehaufmännchen sozusagen. Es signalisierte mir, daß ich nicht schuld am Tod des Babys war. Alligator-Pfeffer, weise Frauen, Abort ... An diesen Worten arbeitete sich mein wieder erwachendes Hirn ab. Mit einem Schlag verstand ich sie. „Mila“, sagte ich langsam, „Sunny hat mir mein Baby genommen!“

Mila schnalzte. „Nein, sister, er hat etwas viel Schlimmeres getan.

Er hat verhindert, daß die Seele deines Mannes im Körper seines Kindes weiterleben kann. So jagt der Leopard. Er holt sich seine Beute, wenn das Opfer sich schon in Sicherheit wiegt.“

Ja, sie hatte recht. Ich hatte mich bereits zu sicher gefühlt, so kurz vor dem Rückflug ...

Ich bat Mila, mich und Abiola zu begleiten, um meine Sachen aus Victors - nun Sunnys - Haus zu holen. Felicitas hatte es sich im Wohnzimmer mit einigen Freundinnen bequem gemacht. Als wir aufkreuzten, verzogen sie sich in die Bibliothek. Der Kopf von Victors Uroma gefiel Mila sehr und vor allem der kleine Altar, den ich um den Kopf herum aufgebaut hatte.

„Deine Zeit in meinem Land war nicht umsonst“, sagte sie anerkennend.

Wir rafften alle meine Sachen zusammen, die sich ausschließlich im Schlafzimmer und im Bad befanden. Ich hatte an meinem letzten Abend alles so weit vorbereitet, daß ich es mit wenigen Handgriffen in die Koffer legen konnte. Sunny schien nichts angerührt zu haben.

Rund und grinsend stand Felicitas als Siegerin in der Tür zur Bibliothek. Ich ging als Verliererin, verwirrt und mit hängenden Schultern. Zu schwach, um dieser Frau, die meine Schwangerschaft verraten hatte, in die Augen blicken zu können.

Abiola nahm mich in seinem Haus auf, in dem seine Mutter mich bekochte. Wir kamen zu dem Schluß, daß Victors und Williams Tod völlig unnötig gewesen war. Victor hatte auf die Thronfolge verzichten wollen. Doch das hatte Sunny nie erfahren. Etwas anderes jedoch war ihm sicher nicht entgangen: Mein Angebot an seine Schwester Betty, sie nach Benin City mitzunehmen. Die Frauen hatten ausgiebig darüber gesprochen, daß ich die gefährliche Strecke selbst fahren würde - weil William und Victor am Morgen nach dem Fest fliegen wollten.

Inzwischen hatten wir erfahren, daß jemand das Höhenruder des Flugzeuges so manipuliert hatte, daß es abstürzen mußte. Eine ziemlich primitive Arbeit, besagte das Gutachten. Aber man hatte ja auch nicht erwartet, daß die Maschine jemals im Sumpf gefunden wurde.

Daß Sunnys Leute für die Manipulation des Höhenruders verantwortlich waren, stand für Abiola und mich außer Frage.

Sunny war durch den Tod von William und Victor mit einem Mal alle Probleme los. Er war der Chief und der Erbe obendrein. Als er von meiner Schwangerschaft erfuhr, „besserte“ er sozusagen nach. Ich konnte - so gesehen - froh sein, daß er nur mein Baby und nicht uns beide beseitigt hatte.

„Es ist eine Gemeinheit, daß Leute wie Sunny mit so etwas durchkommen“, sagte Abiola.

„Ja“, murmelte ich nachdenklich, „da hast du recht.“

Ich fuhr noch einmal zu Mila, um mir von ihr die Zukunft voraussagen zu lassen. Ich wollte wissen, ob ich nach all den Nackenschlägen, die mir das Schicksal verpaßt hatte, jemals wieder glücklich sein könnte.

Aber sie sah in ihren Kauris etwas anderes. „Da ist ein Hindernis auf deinem Weg, sister. Ein großes Hindernis. Dein Gegner will dich vernichten.“

„Warum sollte er das tun wollen, Mila? Ich habe Victor verloren, sein Kind ist tot. Ich bin doch schon genug gestraft!“

„Das Orakel kann dir nicht die Gründe nennen, sister. Es sieht, was passiert. Und dann kannst du deinen Weg entsprechend ändern, damit nicht eintritt, was das Orakel sieht.“

„Und wie soll ich das machen, Mila?“

„Dein Gegner ist der Leopard. Du mußt ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen. Der Leopard hat sich Ogun als Schutzgott gewählt. Du mußt ihn also an dieser Stelle angreifen.“ Ich verstand kein Wort. Mila machte es mir wirklich nicht leicht!

Sie legte Sunnys grüne Sonnenbrille vor meine Füße, in deren Gläsern ich mich spiegelte. „Sagte ich dir nicht, daß es gut ist vorzusorgen?“ Sie lächelte böse und stellte die ewige Gretchenfrage des Lebens: „Hast du noch Geld?“

Was ich verdient hatte, war auf umständlichen Wegen nach Deutschland gelangt, um meine Schulden abzutragen. Aber ich hatte noch einen kleinen Beutel mit ungeschliffenen Diamanten, die Victor mir geschenkt hatte. Mila pickte sich ein paar davon heraus, nahm die Sonnenbrille und sagte: „Sehr gut. Wir fahren zu meiner

sister Enitan.“

Diese sister wohnte nicht weit von Mila im gleichen Stadtteil Suru Lere, der in jener Ecke allerdings noch weniger einladend wirkte.

Nach dem Balanceakt über die stinkenden Abwassergräben standen

Mila und ich in einem Hof, in dem einige Schweine, Ziegen und Hühner herumliefen. Es roch entsetzlich nach Kot und Urin, aber da war noch ein anderer, stechender Geruch.

Mila führte mich zu einem Hinterhof, dessen Eingang mit jujus

geschmückt war. Jetzt erklärte sich der stechende Geruch: Vor mir lagen, in der Sonne zum Trocknen und zum Verkaufen ausgebreitet, die unterschiedlichsten Teile von Tierkadavern - schmutzig graue Krokodilköpfe mit überlappenden Zähnen und blicklosen Augen neben abgetrennten Köpfen von Affen, Hunden, Katzen und Antilopen, ausgestopfte Eulen, Falken und Adler. Daneben unzählige Kopfskelette, ein Korb mit toten Heuschrecken, ein anderer mit Schlangen. In der Sonne trockneten Häute und Felle von Reptilien und Vierbeinern. Obwohl die Jagd auf Löwen und Leoparden auch damals schon verboten war, lagen einige Felle neben denen von Gnus und einer Giraffe. Angeekelt tappte ich auf diesem absurden Friedhof des spiritistischen Unfriedens umher.

Enitan bot in ihrem Supermarkt auch lebende Tiere an, Uhus, Eulen und Geier etwa, die in winzigen Holzverschlägen verschreckt die Köpfe hin und her drehten oder schliefen, als wären sie bereits tot.

Die kleinen Säckchen, die ich das erste Mal im Haus von Moses gesehen hatte, konnte man hier zu Hunderten erstehen.

Aufgrund der großen Auswahl wirkte diese Ansammlung von Zaubermitteln, zu denen auch Metallstangen und Masken gehörten, merkwürdig unwirklich. Horror, der in solch einer Massierung auftritt, erscheint nicht mehr schrecklich. Das Gegenteil tritt ein: Nach einer Weile weicht der Schrecken der Faszination. Sie übermannt den Betrachter, der eigentlich Abscheu empfindet. Ich trat näher, zögernd zunächst, dann mutiger und sah mir einen Krokodilschädel an, dessen Knochen weiß in der Sonne leuchteten.

„Du hast deine Wahl getroffen, sister“, sagte Mila.

„Was meinst du?“

„Du solltest aus all diesen Dingen etwas aussuchen. Das hast du getan. Ich werde daraus ein juju machen, das Sunny aufhalten wird.

Vertrau mir.“

Ich hatte den Krokodilkopf gekauft? Ich trug dazu bei, daß der verabscheuungswürdige Handel mit diesen Tieren unterstützt wurde?

„Du kannst es auch lassen, sister“, meinte Mila, fügte aber mit einem unüberhörbaren Unterton hinzu: „Aber dann kann ich nichts für dich tun.“

„Gibt es denn keinen anderen Weg?“

„Du mußt Sunny mit seinen eigenen Waffen schlagen. Und dies hier“ - sie breitete die Arme aus - „sind'seine Waffen. Du willst doch wieder zurück zu deinen Kindern? Oder nicht?“ Ihr Blick durchbohrte mich. Es gab also nur entweder - oder. Den Weg der afrikanischen Magie: dunkle Mächte mit dunkler Macht bekämpfen

-oder abwarten, ob Milas Orakel wie immer recht hatte. Wenn sich das herausstellte, konnte es allerdings zu spät sein.

Also nahm ich Mila Sunnys verspiegelte Brille aus der Hand und setzte sie dem Krokodil auf den nackten Schädel. „Okay, Mila, wir machen es, wie du gesagt hast. Du kennst dein Land und deine Leute. Ich vertraue dir, sister“, fügte ich mit einem Augenzwinkern hinzu.

Ich weiß nicht, warum ich das Krokodil auswählte. Vielleicht, weil ich so viele in den Sümpfen gesehen hatte. Vielleicht, weil der Schädel in seiner knöchernen Nacktheit etwas Abstraktes hatte, nichts Wirkliches.

Mila nahm den Schädel mit der Brille und marschierte los. „Du hast eine gute Wahl getroffen“, lobte sie mich, „deine orisha ist Jemonja, von ihr stammt dieses Tier.“ Sie gab meiner unbewußten Entscheidung somit eine mystische Bedeutung.

Milas sister Enitan - ich nehme nicht an, daß sie ihre leibliche Schwester war - verfügte in ihrem Haus über ein weiteres Sammelsurium magischer Gegenstände, aus dem ich aussuchen mußte: Ein längliches Röhrchen mit einer roten Flüssigkeit entpuppte sich als rotes Quecksilber, eine messingfarbene Hülse war eine Gewehrpatrone, und ein dreckiger weißer Beutel enthielt roten Sand. All dies wechselte für den Gegenwert meiner Diamanten, die die grobschlächtige Enitan ungerührt entgegennahm, den Besitzer.

Anschließend brachte ich Mila zurück zu ihrem Haus. „Was wirst du damit machen?“

„Dabei darfst du nicht zusehen. Aber die Zutaten, die du ausgewählt hast, weisen mir den Weg. Sunny wird von einer Gewehrkugel getroffen werden. Sie wird ihn in den Sand schleudern, und sein Blut wird den Boden rot färben.“

Das sagte sie sehr bedeutungsvoll. Ich hatte bereits einiges erlebt -

aber an diese Prophezeiung glaubte ich nicht. Trotzdem hütete ich mich, meine Skepsis zu zeigen.

Mila legte alles auf ein großes, verwittertes Holzbrett und befahl mir, die Gegenstände zu bespucken. Immer diese Spuckerei! Aber inzwischen kannte ich den Grund: Indem ich etwas bespuckte, stellte ich einen persönlichen Bezug zu den Gegenständen her, die meinen Gegner aufhalten - oder töten? - sollten. Ich mußte einen Schluck Gin als Opfer für Jemonja nehmen und noch einmal spucken. Schon der Geruch von Alkohol - ich haßte ihn. Angewidert nahm ich einen zaghaften Schluck und spuckte fauchend über die Dinge. So wie ich es bei den babalawos gesehen hatte.

„Perfekt, sister.“ Mila grinste. „Ich habe den Haß und den Ekel in deinem Gesicht gesehen. Es wird ein gutes juju werden.“

Ich fuhr hinaus an den Strand. Dort, wo Victor mich im Arm gehalten hatte, setzte ich mich in den Sand und ließ die Wellen meine Füße umspülen. Wahrscheinlich habe ich eine kleine Ewigkeit so gesessen, völlig in mich selbst versunken. Mir fiel das Wasserritual ein, die Fruchtbarkeitsgöttin Mammy water, die Mila Jemonja nannte und die angeblich meine Schutzgöttin war. Und plötzlich dachte ich an Betty, Williams rundliche Schwester.

„Vielleicht solltest du, wie ich es regelmäßig tue, in ein kleines Dorf im Regenwald fahren“, hatte sie einmal gesagt, „um dort eine Priesterin des Mammy water-Kultes aufzusuchen. Durch die Göttin

Mammy water hat sie die Macht, dir zu helfen, in jeder Lebenssituation deine innere Balance wiederzufinden. Sie wird dir gleichzeitig die nötige Kraft geben, um deinen weiteren, vorbestimmten Lebensweg zu gehen.“