Nicht einmal mich selbst.

Ich erwachte, als jemand meinen Kopf vorsichtig hochhob und eine Kelle Wasser an meine Lippen schob. Gierig trank ich. Durch den Eingang der Hütte sah ich, daß es draußen dunkel geworden war.

Ich mußte stundenlang geschlafen haben. In der Hütte brannten blakend zwei Fackeln. Aber trotz dieses warmen Lichts kam es mir vor, als ob die Frau, die mir zu trinken gab, keine Schwarze war. Sie war braun, bräunlich eher, hatte sehr helle blaue Augen, die mich ruhig musterten.

„Besser?“ fragte sie mich auf deutsch, und ihr schmaler Mund lächelte etwas unsicher, wobei sie eine große Zahnlücke freigab.

„Ja, danke“, sagte ich mechanisch, ohne darüber nachzudenken, wie eine deutsch sprechende Frau in den Busch kam.

„Ich habe Ihren Knöchel bandagiert, während Sie geschlafen haben.

Er sah nicht gut aus“, sagte sie mit einer weichen, dunklen Stimme und lächelte wieder unsicher. „Haben Sie Hunger?“

„Ich glaube schon“, murmelte ich und richtete mich zum Sitzen auf.

Mein rechter Unterschenkel war bis zu den Zehen mit grünen Blättern umwickelt. Er fühlte sich angenehm kühl an.

„Eine große Auswahl an Essen haben wir nicht. Aber das dodo mit

yams schmeckt gut. Möchten Sie probieren?“

„Wahnsinnig gern“, sagte ich etwas überschwenglich, ohne meine Wortwahl zu bedenken.

„Ich hole das Essen“, sagte meine braune Retterin und lächelte scheu. Sie machte jedoch keine Anstalten, ihren Worten Taten folgen zu lassen. Sie sah mich nur an, lächelnd.

Irgend etwas stimmte hier nicht ...

„Essen wäre wirklich prima“, versuchte ich sie an ihre Worte zu erinnern.

„Ja“, sagte sie lächelnd. Jetzt stand sie vorsichtig auf und ging langsam hinaus. Allmählich kam meine Denkmaschine auf Touren, lieferte aber keine Erklärung für das Auftauchen einer Frau, die weder weiß noch schwarz, sondern braun war. Und mit mir in fehlerfreiem Deutsch sprach.

Die Frau kam nach einer Ewigkeit zurück, stellte eine Holzschale mit gebratenen Bananen, dodo genannt, und gestampften Yamswurzeln in einiger Entfernung von mir auf den Boden. Sie verneigte sich, legte die Hände flach auf den Boden und murmelte unverständliche Worte, bevor sie erneut nach dem Essen griff und es mir mit diesem scheuen Lächeln überreichte. „Guten Appetit.“

Während ich den Teller in Windeseile leerte, sah sie mir zu. Sie lächelte immer noch. Mir wurde irgendwie ganz anders. Natürlich, ich erwartete von einem braungefärbten Engel im Busch kein perfektes europäisches Benehmen. Jemand, der hier lebte, mußte durch und durch Individualist sein.

„Sie wundern sich wahrscheinlich, mich hier zu treffen“, sagte die braune Weiße mit ihrem scheuen Lächeln.

„Ehrlich gesagt: ja. Man muß doch gewiß auf einiges verzichten ...“

„Verzichten? O nein, ich habe alles, was ich brauche.“ Sie lächelte wieder. „Aber ich brauche nicht viel. Einen Platz zum Schlafen und etwas zum Essen.“

„Als ich heute Mittag gekommen bin, waren da noch andere Frauen.

Sie waren nackt, mit... ich weiß nicht... sie sahen aus, als wären sie gepudert. Mit Federn in den Haaren.“ Ich bemühte mich um einen unangestrengten Plauderton. Auch mein Gegenüber war unbekleidet, derbraune Staub auf ihrem Körper ließ sie allerdings nicht nackt erscheinen.

Sie hatte meinen Blick natürlich bemerkt. „Die Erde ist meine Kleidung“, sagte sie.

Die Frage brannte mir auf der Zunge: „Warum leben Sie so?“

Sie lächelte wieder scheu, aber nicht beleidigt. Es wirkte eher nachsichtig. „Ich könnte nicht anders leben. Bevor ich hierher gekommen bin, war ich sehr krank. Jetzt ist es besser. Mehr kann ich nicht

verlangen.“ Sie machte eine Pause. „Sie waren beim babalawo,

nicht wahr? Konnte er Ihnen helfen?“

Ich kombinierte, daß sie wohl eine Patientin des Medizinmanns sein mußte, sonst hätte die Frage keinen Sinn gemacht. Also hielt ich meine Meinung zurück. „Er hat mich auf alle Fälle sehr verwirrt. Ich glaube, ich hätte besser vorbereitet sein sollen. Ich bin mehr aus Neugier mitgegangen. John wollte es.“

„Er will, daß Sie es sich anders überlegen. Das ist verständlich. Der

babalawo hat Sie nachdenklich gemacht, ob Sie das Richtige tun.

Aber er kann es Ihnen nicht sagen. Die Antwort müssen Sie selbst finden. Sie ist in Ihnen.“ Während sie sprach, hatte sie meine Hände genommen, die Innenflächen nach oben gedreht und sie vom flackernden Licht der Fackeln bescheinen lassen. „Sie haben kleine Hände. Und wie weich sie sind. Sie arbeiten mit dem Kopf, das merkt man sofort.“ Sie blickte mir ins Gesicht. Mir schien es, als berührten ihre Augen meine Haut. „Sie machen sich Sorgen. Man will zuviel von Ihnen. Aber Sie haben nie gelernt, nein zu sagen. Das ist gefährlich, es reibt Sie auf.“

Ich mußte lachen, es machte mich verlegen, daß diese nackte braune Weiße so offen zu mir sprach. Ich beschloß, den Spieß umzudrehen. So einfach wollte ich mein Innerstes vor der Fremden nicht offenbaren. Auch wenn sie recht hatte. „Bitte, erzählen Sie doch etwas über sich. Es würde mich interessieren, warum Sie hier leben. An was haben Sie gelitten, bevor Sie zum babalawo

gegangen sind und beschlossen haben, hierzubleiben“, fragte ich.

Sie sah mich immer noch an, doch ihr Blick schien durch mich hindurchzugehen. Endlich sprach sie, ohne Lächeln: „Sagt Ihnen der Name Gabersee etwas? Ich war dort fast fünf Jahre lang.“ Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Gabersee ist der Name einer psychiatrischen Klinik in der Nähe von Wasserburg bei München.

Das erklärte alles. Ich saß mit einer Irren im Busch! „Eine sehr anstrengende Zeit. Nur Medikamente. Kaum Zeit für Therapie. So kann man Menschen nicht helfen. Ich wurde richtig krank. Dafür hatte ich diesen Beruf nicht ergriffen.“

„Wie? Welchen Beruf? Ich dachte ...“

„Sie dachten, ich wäre verrückt. Ich weiß. Vielleicht bin ich das ja auch. Ja, wahrscheinlich sogar. Wer rennt schon nackt im Urwald herum?“

Sie erhob sich, um langsam in eine dunkle Ecke der Hütte zu gehen.

Ich hörte das Rascheln von Papieren, und wenig später hielt ich einen deutschen Reisepaß in der Hand, ausgestellt vom Kreisverwaltungsreferat München. Er lautete auf Dr. Julia Schäfer.

Auf dem Paßfoto war eine Frau abgebildet, die mit meinem Gegenüber nur entfernt Ähnlichkeit hatte.

„Das war ich mal“, sagte sie. „Ich habe Ihnen das nicht gezeigt, damit Sie mich nicht für verrückt halten. Es soll Ihnen nur den Weg verdeutlichen, von wo ich gekommen bin.“

„Ich halte Sie nicht für verrückt, Julia.“

„Nicht Julia. Hier heiße ich Oluwafemi. Das sind Worte aus der Sprache der Yoruba. Sie bedeuten „Gott liebt mich“. Denn das ist es, was ich lernen mußte: mich selbst zu lieben. Damit Gott mich lieben kann.“

„Sie sind Ärztin?“ Ich dachte an mein Bein und griff instinktiv an den grünen Verband. Der Knöchel tat nicht mehr weh.

„Wegen der Blätter an Ihrem Bein? Ach, das kann jeder, der sich mit Naturmedizin auskennt. Da ist auch kein Zauber dabei.“ Sie wickelte behutsam mein weißes Bein aus. „Versuchen Sie aufzustehen. Wenn es kein Bruch ist, was ich eigentlich annehme, müßte der Knöchel wieder in Ordnung sein.“