DAS DORF DER WAHNSINNIGEN
Also suchte ich meine Balance. Das war nicht einfach, mit meinen wackeligen Knien. Und dann diese feuchte Hitze! John lief viel zu schnell voraus. Moses hatte noch wesentlich größere Mühe als ich, ihm zu folgen. Schließlich sackte er in sich zusammen, lautlos, wie unter einer zu großen Last. Er war schweißüberströmt. Gemeinsam versuchten wir, ihn hochzubekommen, hakten ihn unter und schleiften ihn mehr, als daß er selbst lief. Wir verließen das schattenspendende Dach der Regenwald-Vegetation, waren der Hitze der Savanne ausgesetzt. Das Grün des noch nahen Waldes verschwamm wie in einem Zerrspiegel. Der nasse, ausgemergelte Körper von Moses lastete schwer an meiner Seite. Ein Loch, eine Unebenheit oder einfach meine Schwäche? Ein messerscharfer Stich im Knöchel - ich war umgeknickt. John war zu überrascht, um uns drei halten zu können. Die beiden Männer fielen auf mich drauf, ich knallte mit der Schläfe gegen irgend etwas. Sendepause.
Ich habe es schon immer gehaßt, wenn man mir die Wangen tätschelt. Aber John tätschelte nicht nur, er klopfte dagegen, als wohnte ein böser afrikanischer Geist in mir. Über mir Johns besorgtes, schweißglänzendes Gesicht vor einem erbarmungslos blauen Himmel. Er zerrte mich in eine halbwegs sitzende Position.
Schwager Moses lag als Häufchen Elend im gelben Gras, mein rechter Knöchel schwoll bereits dick an. Vorsichtig tastete ich nach meiner Schläfe, in der das Blut pochte.
„John, ich kann nicht mehr.“
„Okay, okay. Ich werde Hilfe holen.“
Die Hilfe kam von selbst, lautlos aus dem nahen Wald. Erst zwei, dann vier, schließlich standen fünf fast völlig nackte schwarze Frauen um uns herum. Sie wirkten unwirklich, Traumgestalten gleich. Sie hoben mich hoch, dann Moses, John trabte hinterdrein.
Sie schafften mich in eine schlichte, dunkle Lehmhütte und legten mich auf eine Matte am Boden, jemand gab mir aus einer Kelle leicht modrig schmeckendes Wasser zu trinken. Draußen hörte ich John mit ihnen reden. Er sprach Yoruba, und ich verstand kein Wort. Endlich kam er rein. Er wirkte sehr besorgt, gab sich aber alle Mühe, es sich nicht anmerken zu lassen.
„Ilona, ich muß dich und Moses hierlassen“, begann er, „ich werde allein nach Lagos zurückkehren.“
„Das kannst du nicht machen, John!“
„Morgen bin ich zurück. Morgen früh. Ich verspreche es dir. Ich muß ein Auto holen.“
„Wo willst du ein Auto herkriegen?“
„Ich kriege eins. Versprochen. Sie werden dir nichts tun. Sei unbesorgt. Sie sind zwar ...“ Er machte eine etwas zu lange Pause.
„Sie sind etwas anders hier. Aber hier wohnen nur Frauen. Sie werden sich um dich kümmern.“
Vorsichtig befühlte ich den geschwollenen Knöchel. Die leichteste Berührung schmerzte höllisch. Ich ließ mich auf die Matte am Boden zurückfallen. Meine Güte, was hatte ich der Welt getan, daß ich so büßen mußte! Manövrierunfähig lag ich in einer kahlen Hütte irgendwo im afrikanischen Regenwald.
Mir schoß der Satz des babalawo durch den Kopf: Du mußt deine Balance finden. Ja, natürlich! Es war so einfach! Ich befand mich nicht im Gleichgewicht! In dem Augenblick, als ich umknickte, war das doch ganz deutlich. Der sterbenskranke Moses hing regelrecht auf mir drauf. Aber war das nicht auch irgendwie ein Symbol für meinen inneren Zustand? Von allen Seiten wurde Druck auf mich ausgeübt. Ich mußte alles gleichzeitig sein: Mutter zweier Kinder, Ernährerin dieser Kinder und deshalb gleichzeitig Managerin in einem schwedischen Konzern, der von mir erwartete, daß ich
-während ich hier im Urwald darniederlag - seine Maschinen zur Holzverarbeitung verkaufte.
Damit nicht genug: Ich hatte Vater versprochen, Autos zu verscherbeln. Eine Angelegenheit, die wiederum John sich ausgedacht hatte. Und wo blieb ich? Der babalawo hatte recht: Ich hatte mein inneres Gleichgewicht verloren. In diesem Zustand, und wo John mich obendrein wieder in seine Ehefrau zurückverwandeln wollte, konnte ich unmöglich irgend etwas auf die Beine stellen.