IV. Entwicklungsperspektiven

Insoweit die Menschenrechte in der hier beschriebenen Weise seit 1989 in eine Krise geraten sind, zeichnet als Auslöser dafür ausschließlich der Westen verantwortlich. Wenn es um Perspektiven geht, welche den kritisierten Entwicklungen entgegenwirken könnten, sind die Möglichkeiten neuer Denkmuster somit im Westen beheimatet und nicht etwa in anderen Weltregionen. Mit zu berücksichtigen ist dabei allerdings, wie diese anderen Regionen auf den neuen Umgang des Westens mit den Menschenrechten reagiert haben, der sich nach dem Ende des Kalten Krieges entwickelt hat. Die Reaktion folgt zwei Hauptlinien, welche beide die Menschenrechte als »westlich« apostrophieren. Zum einen erfahren die Menschenrechte zunehmende Ablehnung, weil sie als ein Mittel gesehen werden, durch welches der Westen seine Interventionen begründet. Menschenrechte sind in den Augen dieser Kritiker ein Instrument des Imperialismus. Es besteht kein Zweifel, dass der neue Interventionismus diese Form der Kritik gefördert hat. Die andere Linie der Kritik argumentiert kulturrelativistisch. Sie macht geltend, dass viele Kulturen Asiens wie auch alte afrikanische Stammeskulturen die Prämissen der Menschenrechte in ihrer westlich geprägten Form nicht übernehmen könnten.

Die Beschreibung der krisenhaften Entwicklungen seit dem Ende des Kalten Krieges hat immer wieder und in verschiedenen Zusammenhängen auf die demokratische Legitimation der Menschenrechte zurückgeführt. Zunächst wird deshalb die Frage gestellt, ob überhaupt und allenfalls wie diese Legitimation wieder vermehrt zum Tragen kommen könnte. Daraus ergeben sich Elemente, welche auch für die Stellungnahme zur antiimperialistischen sowie vor allem zur kulturrelativistischen Kritik an den Menschenrechten von Bedeutung sind.

10. Perspektiven der demokratischen Legitimation

Für die Beurteilung künftiger Entwicklungen muss unterschieden werden zwischen der nationalen und der internationalen Ebene. Erst seit der Internationalisierung der Menschenrechte macht sich das bereits erwähnte Paradox bemerkbar, das sich nicht wird auflösen lassen. Menschenrechte sind universal, aber nur in begrenzten Rechtsgemeinschaften können sie durch demokratische Verfahren konkretisiert werden. Würde man den Umstand aus den Augen verlieren, dass die demokratische Konkretisierung nur in geografisch begrenzten Räumen möglich ist, so würde man der demokratischen Legitimation keinen Dienst erweisen, denn diese ergibt sich ja gerade aus der demokratisch ausgehandelten Konkretisierung. Unvorstellbar ist auch das Umgekehrte, also eine Reduktion auf die nationalstaatlich begrenzte Konkretisierung unter Preisgabe der universalen Positivierung. Dies käme einem Rückfall hinter den großen Durchbruch gleich, der nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Internationalisierung der Menschenrechte erreicht wurde. Die Untauglichkeit einer weiteren Vorstellung ist bereits angesprochen worden, die darin besteht, weltweite internationale Organisationen institutionell durch parlamentarische Körperschaften zu erweitern. Längst nicht alle Länder dieser Welt haben sich zu Demokratien entwickelt, auch wenn sich einige darauf hinbewegen. Man kann zum Beispiel China nicht einer Systemordnung unterwerfen, die offensichtlich nicht oder noch nicht die seine ist.284 Demokratie muss sich von unten nach oben entwickeln. Sie kann genauso wenig exportiert oder einer Gesellschaft aufgezwungen werden wie die Menschenrechte.

Die Schwierigkeiten mit der institutionellen Demokratisierung internationaler Organisationen haben zu vielfältigen Vorschlägen geführt, die auf zivilgesellschaftliche Strukturen zurückgreifen möchten. Die Zivilgesellschaft, erst in den achtziger Jahren zum Inbegriff der Dissidentenbewegungen gegen den Kommunismus geworden, stieg nach dem Ende des Kalten Krieges auch zum westlichen Modebegriff auf. Dass er in ganz unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wird, die sich gegenseitig sogar zum Teil ausschließen, wird wenig beachtet.285 Insbesondere die von einigen ihrer selbst ernannten Wortführer geschürten Erwartungen als strahlender Hoffnungsträger der Demokratisierung kann die Zivilgesellschaft nicht erfüllen und dies aus verschiedenen Gründen. Der entscheidenste liegt darin, dass das grundlegende Merkmal jeder Demokratie in der Formel »eine Person – eine Stimme« besteht. Der Umfang des Einflusses einer Person in Organisationen der Zivilgesellschaft hängt hingegen vom zeitlichen und finanziellen Aufwand ab, welchen sie bereit und vor allem in der Lage ist, für die Organisation aufzubringen. Auch der Umstand, dass man sich für bestimmte Organisationen entscheiden muss, weil man nicht in allen gleichzeitig aktiv sein kann, schränkt die Einflussnahme des Einzelnen ein. Demokratische Mitwirkung bezieht sich immer auf das ganze Spektrum der zu entscheidenden Fragen. Sie ist umfassend und kann nicht sektoriell beschränkt werden, genauso wie sie nicht durch fachspezifische Expertisen ersetzt werden kann.

Die oft mangelnde interne Demokratie zivilgesellschaftlicher Organisationen führt aber hin zu einem noch grundlegenderen Problem des externen Einflusses. Engagierte Gruppen können in der politischen Willensbildung keinen größeren Einfluss beanspruchen als Einzelpersonen, man kann »seine demokratische Gleichheit […] nicht durch Engagement ausbauen und damit in eine allgemeine Ungleichheit umwandeln«286. Internationale Nichtregierungsorganisationen können zwar meinungsbildend tätig sein, aber die Legitimation demokratischer Staaten können sie nicht ersetzen. Es kommt hinzu, dass solche Organisationen gerade im Bereich der Menschenrechte bestimmte Menschenbilder transportieren können. Damit verlieren diese Rechte die für sie notwendige Unbestimmtheit, die Voraussetzung dafür ist, dass sie in der demokratisch auszuhandelnden Konkretisierung überhaupt erst bestimmt werden können. Menschenbildtransfer ist nie transparent, er lebt geradezu davon, dass er nicht thematisiert wird, geschweige denn demokratisch kontrolliert. Demokratische Legitimation kann so nicht erreicht werden.287 Diese Elemente hat Harald Müller für Deutschland auf den Punkt gebracht: »Ich werde lieber durch die von der gewählten Bundesregierung beauftragten Diplomaten in internationalen Verhandlungen vertreten als durch Greenpeace oder Exxon, die Ärztekammer oder Oxfam – alles sektorielle Vertreter der ›Zivilgesellschaft‹, über deren Gebaren ich nicht die geringste Mitsprache habe und bei denen ich sicher sein darf, dass eine Abwägung verschiedener öffentlicher Belange gegeneinander, die ich zumindest idealiter den Beauftragten der gewählten Regierung zuschreiben kann, gewiss nicht stattfindet.«288

Die nationale Ebene als Basis

Auf die Notwendigkeit einer Ebenen übergreifenden Betrachtung ist schon hingewiesen worden. Die Frage nach der demokratischen Legitimation der auf internationaler Ebene gewährleisteten Menschenrechte führt deshalb auch auf die nationale Ebene zurück. Demokratie und Menschenrechte wurden im Rahmen des Nationalstaates hervorgebracht, und es ist dies nach wie vor die Ebene, auf welcher dem Bürger die gleichen politischen Mitwirkungsmöglichkeiten am politischen Prozess zugesichert sind.289 Für die Bürger jener demokratischen Staaten, welche nicht Mitglied der Europäischen Union sind, ist es sogar die einzige Ebene, auf welcher sie über gleiche politische Mitwirkungsrechte verfügen, in föderalistisch organisierten Staaten kommt noch die Teilstaatenebene hinzu und allenfalls kommunale Beteiligungsrechte. Auf die Europäische Union wird später zurückzukommen sein. Das Folgende bezieht sich somit nur auf den völkerrechtlichen Bereich, nicht auf den europarechtlichen.290

Durch die Internationalisierung der Menschenrechte haben sich diese den nationalen demokratischen Institutionen entzogen. Sie sind gleichsam auf die internationale Ebene vorausgeeilt – »voraus« in einer zeitlichen Dimension, die sich in Jahrzehnten bemisst und auch ein Jahrhundert erreichen könnte. Wenn es nicht oder noch nicht möglich ist, auf der internationalen Ebene demokratische Institutionen einzurichten, könnte man versuchen, die international garantierten Rechte von der nationalen Ebene aus stärker demokratisch zu legitimieren. Dieser Vorgang findet in beschränktem Rahmen schon heute statt. Da die international positivierten Menschenrechte alle Staaten einbinden, welche die entsprechenden Verträge unterzeichnet haben, wird bei jeder Grundrechtsdiskussion in nationalen Parlamenten ohnehin zugleich über die internationalen Rechte diskutiert.291 Zwar ist die Mitwirkung nur eine indirekte, aber durch solche Diskussionen beeinflusst ein Parlament auch seine Regierung im Hinblick auf künftige internationale Verhandlungen.

Auf diesem Wege kann die demokratische Legitimation internationaler Menschenrechte weiter verstärkt werden, und in verschiedenen Ländern sind Ansätze dazu bereits vorhanden. In den Verfahrensvorschriften der nationalen Parlamente oder wo nötig in der Verfassung kann die Möglichkeit einer formellen Mandatierung der Regierung vorgesehen werden, was internationale Verhandlungen im Bereich der Menschenrechte anbelangt. Fasst man die Definition so weit, dass sie alle Verhandlungsgegenstände beinhaltet, welche die Menschenrechte in Mitleidenschaft ziehen können, wird der Anwendungsbereich solcher Verfahren relativ breit. Die menschenrechtsrelevanten Aspekte des Mandates – und nur diese – werden im nationalen Parlament diskutiert, bevor internationale Verhandlungen aufgenommen werden. Deshalb wird durch ein solches Verfahren die demokratische Legitimation dieser Rechte im internationalen Bereich maßgeblich gefördert. Darüber hinaus aber trägt die Diskussion gleichzeitig zur demokratischen Legitimation der nationalen Grundrechte bei, denn sie werden automatisch mitdiskutiert. Die Position der Regierung in solchen Verhandlungen wird durch die Mandatierung keineswegs geschwächt, sondern eher gestärkt.292 Auch hier geht es wieder um ein Annäherungsverfahren. Da die direkte Mitwirkung nicht oder noch nicht möglich ist, gilt es, über die bestehenden Institutionen wenigstens möglichst nahe an das Angestrebte heranzukommen, im Wissen darum, dass es nicht genügt. Die einen sehen darin das halb leere Glas, die anderen das halb volle.

Die indirekte Förderung der demokratischen Legitimation der Menschenrechte ist aber nur dann möglich, wenn diese Legitimation auf der nationalen Ebene auch wirklich entstehen kann. Damit ist einmal mehr die Gewaltengliederung im Nationalstaat angesprochen. In Staaten mit einer stark ausgebauten Verfassungsgerichtsbarkeit wird die demokratische Legitimation der Grund- und Menschenrechte notwendigerweise geschwächt, vor allem wenn das Gericht über die Kompetenz verfügt, vom Parlament verabschiedete Gesetze außer Kraft zu setzen, falls sie Grund- oder Menschenrechte verletzten. In solchen Ländern kann sich in der öffentlichen Wahrnehmung der Eindruck verbreiten, Menschenrechte würden dem Einzelnen »vom Richter verliehen«. Höchstrichterliche Instanzen erfahren eine Aufwertung und zunehmende Popularität, weil sich der Einzelne bei ihnen »sein Menschenrecht holen kann«. Die demokratischen Institutionen, welchen die Aushandlung und Bestimmung der Rechte obliegt, erleiden demgegenüber einen Popularitätsverlust, der vielfältig begründet wird, kulminierend in der zwar nicht offen ausgesprochenen Vermutung, Politiker seien ohnehin so selbstverliebt, dass die Vertretung eines Allgemeininteresses von ihnen nicht erwartet werden könne. Dazu kann auf nationaler Ebene auch die bereits erwähnte Wahrnehmung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten beitragen. Auf der Rückseite der Medaille mit dem schönen Bild der Heiligsprechung der Zivilgesellschaft befindet sich nämlich immer – auch wenn es vielen zivilgesellschaftlichen Enthusiasten nicht bewusst ist – eine Abwertung des gesamten Bereichs des Politischen, der Demokratie also, wie sie in den öffentlichen Institutionen stattfindet.

Wenn zu Beginn einer parlamentarischen Debatte über den Inhalt und die Grenzen von Menschenrechten bereits feststeht, dass die unterliegende Minderheit – welche Position das auch immer sein wird – eine richterliche Entscheidung herbeiführen wird, muss die demokratische Legitimation dieser Rechte darunter leiden. Die Politiker legen damit die Letztverantwortung für die generelle Konkretisierung der Rechte ab, sie delegieren sie an den Richter. Wenn sie sich mit umso größerer Intensität der Diskussion darüber widmen, wie bereits positivierte Menschenrechte weltweit durchgesetzt werden könnten, ist der oben angesprochene Rollentausch zwischen dem Bereich des Politischen und jenem des Rechts schon relativ weit fortgeschritten. Menschenrechte erscheinen dann mehr und mehr als »vom (Werte-)Himmel« gefallene »Fertigprodukte«293. Damit soll die Diskussion über die weltweite Durchsetzung nicht in Frage gestellt oder gar kritisiert werden. Sie ist nötig, vor allem angesichts weltweit noch sehr rudimentär entwickelter rechtlicher Durchsetzungsmechanismen. Für die Menschenrechte gefährlich wäre jedoch die Annahme, dass es sich dabei um alles handelt, was unter »Menschenrechtspolitik« verstanden werden kann. Die zentrale Aufgabe im Bereich des Politischen ist die generelle Konkretisierung der Grund- und Menschenrechte in der Form von Verfassungen, Gesetzen und völkerrechtlichen Verträgen. Diese Aufgabe können die demokratisch gewählten Institutionen nicht anderen überlassen.

Was die Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen anbelangt, findet zwischen der internationalen und der nationalen Ebene eine verhängnisvolle Wechselwirkung statt. International wäre der Druck gewisser NGO’s an sich zu begrüßen, da demokratisch gewählte Institutionen höchstens in Ansätzen existieren. Auf der nationalen Ebene hingegen ist die Tendenz, zivilgesellschaftliche Organisationen als legitimen Ersatz für – hier existente – Parlamente zu betrachten, aus den oben genannten Gründen für die Demokratie gefährlich. Ein Ausweg aus dieser widersprüchlichen Situation kann darin gefunden werden, national die gefährliche Tendenz offen abzulehnen und gleichzeitig darauf hinzuweisen, dass international mangels demokratisch gewählter Institutionen die Tätigkeit gewisser NGO’s dennoch unverzichtbar sei.

Demokratische Legitimation als Herausforderung

In verschiedenen Ländern Europas sind in den vergangenen Jahren politische Parteien stärker geworden, in deren Programmen nationalistische und fremdenfeindliche Elemente mindestens anklingen. Entweder wird von ihnen verharmlost, dass ein Teil ihrer Forderungen Menschenrechte verletzen, oder sie stellen diese Rechte bewusst und provokativ in Frage und apostrophieren sie als unzulässige Einschränkung des »wahren« Volkswillens. Wenn hier zwei dieser Länder als Beispiele herausgegriffen werden, so deshalb, weil sich in beiden ein ähnliches Gedankengut im Zusammenhang mit der Letztverantwortung der Politik ganz unterschiedlich problematisiert. Ungarn hat 1989 eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit geschaffen. 2010 erließ ein neu gewähltes Parlament ein Gesetz, dessen Grundrechtskonformität in Frage stand. Das Verfassungsgericht waltete seines Amtes und hob das Gesetz auf. Die Regierungsmehrheit machte hierauf von ihrer Zweidrittelmehrheit im Parlament Gebrauch und schränkte die Kompetenzen des Verfassungsgerichtes in den dafür entscheidenden Bereichen ein. Die partielle Entmachtung des Verfassungsgerichtes wurde in einer neuen Verfassung verankert. Die Schweiz verfügt über eine lange Tradition der direkten Demokratie. Hier wurden verschiedene Volksinitiativen mit Forderungen eingereicht, deren Grund- und Menschenrechtskonformität in Frage stand, insbesondere die Forderung nach einem Verbot der Errichtung von Minaretten. Obwohl Regierung und Parlament Ablehnung empfahlen, wurde die Initiative vom Volk angenommen und das Minarettverbot in der nationalen Verfassung festgeschrieben.

Was die Menschenrechte anbelangt, wird es sich zeigen, wie Europa auf diese Entwicklungen reagieren wird, die Europäische Union auf jene in Ungarn und der Europarat auf jene in beiden Staaten. Es ist zu hoffen, dass die internationale Einbindung die Menschenrechte wieder zu ihrer Geltung bringen kann, wenn auch die dafür notwendigen Verfahren und Verhandlungen einige Zeit in Anspruch nehmen werden. Die Abläufe in der Schweiz zeigen, wie anspruchsvoll die Verantwortung der Politik für die Menschenrechte ist. Vor der Abstimmung über das Minarettverbot rechnete man in der öffentlichen Diskussion mit einer klaren Ablehnung, auch die Meinungsforschung kam zu diesem Resultat. Dies entschuldigt niemanden, aber es macht den Ablauf verständlicher. Jene politischen Kräfte, welche das Verbot ablehnten, realisierten erst im Rückblick, dass sie sich in die Abstimmungskampagne stärker hätten einmischen müssen.

Wenn Menschenrechte als »selbstverständlich« hingenommen werden, kann die Diskussion über sie verstummen, und dies gefährdet sie ganz grundsätzlich. Wie die beiden gewählten Beispiele zeigen, gilt dies in gleicher Weise für die direkte wie für die repräsentative Demokratie. Der Unterschied zwischen den beiden Formen besteht vor allem darin, dass das Einbrechen der Rechte in der direkten Demokratie unmittelbarer und wohl auch rascher sichtbar wird. Das Minarettverbot als Beleg dafür zu werten, dass direkte Demokratie »gefährlicher« sei als die repräsentative, wäre ein Fehlschluss. In beiden Formen bedarf es der ständigen öffentlichen Auseinandersetzung mit der Frage, was Grund- und Menschenrechte beinhalten und was sie beinhalten sollen. Diesbezüglich tragen alle Personen, welche die öffentliche Meinung mitbeeinflussen, eine große Verantwortung, in welcher Eigenschaft sie auch immer diesen Einfluss ausüben. Diese Verantwortung kann an niemanden delegiert werden. Die Abläufe in Ungarn zeigen, dass der höchstrichterliche Schutz versagen kann, wenn die Verantwortung der Politik für die Menschenrechte einmal eingebrochen ist. Daraus zu schließen, dass der höchstrichterliche Schutz ohnehin sinnlos sei, wäre aber genauso ein Fehlschluss wie der oben genannte betreffend die direkte Demokratie. Jedes Land hat seine eigene Tradition und Erfahrung, die sich in der Ausgestaltung der verschiedenen Institutionen niederschlägt. Der Umgang mit diesen Institutionen ist nicht ein für alle Mal gesichert, sondern erfordert demokratische Lernprozesse.

Menschenrechte werden immer wieder in Frage gestellt, sie sind nie definitiv erworben. Vielleicht nicht jedes Jahr, aber jedes Jahrzehnt kann sie in einer neuen, unerwarteten Weise gefährden, oder es können Rechte gefährdet werden, welche bisher unangefochten und »selbstverständlich« gegolten haben. Im Zusammenhang mit Mehrheiten und Minderheiten war im zweiten Teil von der ständigen Veränderbarkeit des Rechts die Rede. In einem Land mit direktdemokratischer Tradition zeigt sich die Notwendigkeit noch deutlicher, Mehrheitsentscheide in einem Prozess wechselnder Mehrheiten ablösen zu können. Allerdings verlangt die öffentliche Meinungsbildung, sowohl in der direkten wie auch in der repräsentativen Demokratie, nicht nur genügend Raum, sondern auch genügend Zeit. Aus dieser Sicht rechtfertigt sich unter Umständen die Festlegung von Mindestfristen für erneute Entscheidungen in derselben Materie.294 In direktdemokratischen Strukturen ergeben sich solche Fristen auch schon aus dem Respekt vor dem Souverän, selbst wenn sie formell nicht festgelegt worden sind. Grundsätzlich aber bedeutet demokratische Legitimation immer Veränderbarkeit. Es können und werden immer wieder Entscheide fallen, welche in die »falsche« Richtung gehen. Und genauso können solche Entscheide immer wieder korrigiert werden, aber es muss darum gerungen werden.

Was falsch oder richtig ist, ergibt sich in der Demokratie eben weder aus dem Naturrecht noch aus der Moral, sondern es geht aus dem demokratischen Prozess selbst hervor und bleibt revidierbar.295 Zwar haben die Menschenrechte auch einen moralischen Ursprung – Kant leitet die Menschenwürde daraus ab, dass das Sittengesetz jeden Menschen immer wieder nötigt, die moralische Vertretbarkeit seines Handelns zu überprüfen. Aber in der Praxis sind Menschenrechte keine moralische, sondern eine politische Angelegenheit. Sie finden ihren Niederschlag im Recht. Aber selbst wenn moralische Überlegungen bei der Verrechtlichung eine Rolle spielen, macht dies die Menschenrechte in der Praxis nicht zu einer moralischen Angelegenheit. Die Verantwortung für die Menschenrechte ist eine zutiefst politische.

Mäßigung des Menschenrechtsdiskurses

»Wir erfahren gegenwärtig […] eine wachsende Gefährdung der Menschenrechte. Nicht nur die Verletzung […] kann ihre normative Kraft zerstören. Dies kann ebenso durch eine überzogene Beanspruchung dieses Titels geschehen. […] Eine solche Hypertrophie der Menschenrechte, wie wir sie heute nicht selten erleben, kann ihre normative Eigenständigkeit und vor allem ihre normative Wirksamkeit gefährden.«296 Dieser Text wurde 1978 verfasst, als sich die »Hypertrophie der Menschenrechte«, verglichen mit heute, noch bescheiden ausnahm. Seither haben die Menschenrechte und das Reden über sie einen ungeheuren Aufschwung erlebt, und damit hat auch die Gefährdung ihrer normativen Eigenständigkeit zugenommen. Der Hauptauslöser für diese Entwicklung liegt in der 1975/76 getroffenen Entscheidung der US-Regierung Carter, fortan die Menschenrechte als Instrument internationaler Politik zu benützen.297 Die Folgen wurden erst nach dem Ende des Kalten Krieges sichtbar, als sich ein Menschenrechtsaktivismus von ungeahntem Ausmaß entwickelte. Heute wird diese Entwicklung zunehmend kritisch beurteilt, etwa mit Stichworten wie »Profiteure der boomenden Menschenrechtsindustrie«298. Solche Kritik verlautet keineswegs aus Kreisen, welche den Menschenrechten ihre Wirksamkeit absprechen möchten, sondern sie gibt der eingangs zitierten Sorge Ausdruck.

Menschenrechte beruhen darauf, dass ein Spannungsverhältnis besteht zwischen Normativität und Wirklichkeit. Es ist die Distanz des normativen Anspruchs gegenüber der Wirklichkeit, welche dem einzelnen Menschen Argumente an die Hand gibt, um eine Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse in einer bestimmten Richtung zu verlangen. Menschenrechte sind zunächst eine Sprache der Unterdrückten, und wenn sie sich Bahn verschaffen können zur Befreiung aus der Unterdrückung, werden sie zu einer Sprache der Berechtigten, welche sie gemeinsam generell konkretisieren. Auch nach diesem Schritt bleiben die Menschenrechte jedoch immer eine Sprache der nach wie vor Unterdrückten. So will es die Normativität der Menschenrechte. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Menschenrechte sind zu einer Sprache der Mächtigen geworden. Dazu können hier nur einige wenige Beispiele angeführt werden. Sie alle zeigen, wie wichtig es ist, das Reden über die Menschenrechte massiv zurückzunehmen.

Der neue Interventionismus spiegelt sich auch im öffentlichen Sprachgebrauch in einer Weise wider, die weit über diesen Interventionismus hinausgeht. Jeder Staats- oder Regierungschef, der etwas auf sich hält, mahnt regelmäßig bei anderen Potentaten die Einhaltung der Menschenrechte an. Mit der Hinterfragung dieser Vorgänge sollen die Menschenrechtsverletzungen durch solche Potentaten keineswegs verniedlicht werden. Zu fragen ist lediglich, was in solchen Anmahnungen zum Ausdruck kommt und mit welcher Legitimation. Konkret erhellt dies ein Vergleich mit einer analogen Anmahnung, welche aber von einer internationalen Organisation ausgeht, der sowohl der anmahnende als auch der angemahnte Staat angehören. Zwei Unterschiede sind für das hier diskutierte Thema von Bedeutung. Die bilaterale Anmahnung ist zum einen ausschließlich politisch, sie folgt keinem rechtlich vorgesehenen Verfahren, während Anmahnungen im Rahmen internationaler Organisationen bestimmten Verfahren folgen und den angemahnten Staat ins Recht fassen. Dieser Unterschied führt auf den Rollentausch zurück, wie er bereits beschrieben worden ist. Zum anderen begründet sich die bilaterale Anmahnung ausschließlich moralisch. Moralnormen gehen nicht aus institutionalisierten Verfahren der Verständigung hervor, dies ist nur für Rechtsnormen der Fall. Der anmahnende Staatsoder Regierungschef greift somit auf die Moralnormen zurück, in die er »von Haus aus«299 eingebettet ist, es sei denn, man gehe davon aus, dass Nationen über moralische Qualitäten verfügen können, dass es also »gute« und »weniger gute« Nationen gebe, um einmal bei dieser moderaten Einteilung zu bleiben. Diese Frage wird im Zusammenhang mit der Regionalisierung nochmals aufgegriffen werden.

Es kann konkrete Situationen geben, in welchen sich eine bilaterale Stellungnahme sogar aufdrängt, insbesondere wenn es darum geht, in Situationen der Gewalteskalation eine zunehmende Geschlossenheit der Staatengemeinschaft zu manifestieren. Ungeachtet dessen ist aber klar, dass der internationale Wettbewerb des moralisch legitimierten bilateralen Anmahnens negative Auswirkungen hat. Das bilaterale Anmahnen fördert jenen »bedrohlichen Außendruck«, der die innere Evolution autokratischer Systeme sogar behindern kann.300 Kommt die Mahnung von einer Organisation, welcher der gemahnte Staat selber auch angehört, fügt sie sich in vereinbarte Verfahren ein, was diesen negativen Nebeneffekt immerhin abschwächt. Vor allem aber kann das moralisch legitimierte Anmahnen leicht in die Phase hinüberführen, in welcher von der Moralnorm direkt zur Tat geschritten wird. Wenn dies der Fall ist und wenn die Moralnorm als Legitimationsgrundlage beansprucht werden muss, weil eben keine Rechtsgrundlage gegeben ist, dann besteht die Tat meistens in einer gewaltsamen Intervention. Die Sprachregelung ist geläufig, es heißt, »wir sind moralisch zum Eingreifen verpflichtet«. Der direkte Schritt von der Moralnorm zur Tat und seine Auswirkungen sind bereits beschrieben worden.

Was den Sprachgebrauch anbelangt, soll hier abschließend eine einzige Schlussfolgerung gezogen werden. Militärische Interventionen können als für nötig befunden und mit dem Schutz von Leib und Leben begründet werden, wobei nebst dieser Begründung noch viele weitere Bedingungen erfüllt sein müssen, auf die hier nicht eingegangen werden kann.301 Die Begründung kann und darf aber nie im Schutz der Menschenrechte bestehen. Und nicht nur das. Das Wort »Menschenrechte« sollte im Zusammenhang mit solchen Interventionen überhaupt nicht verwendet werden, nicht nur nicht in der Begründung, sondern weder in der Konzeption noch in der Planung noch in der Durchführung und schließlich am wenigsten in der nachträglichen Evaluation. Menschenrechte werden durch jede kriegerische Handlung notwendigerweise verletzt. Dieser Zusammenhang ist der einzige, in welchem das Wort »Menschenrechte« allenfalls Erwähnung finden könnte. Für die nach Möglichkeiten anzustrebende Vermeidung solcher Verletzungen hält das humanitäre und das Kriegsvölkerrecht jedoch genügend Begriffe bereit, mit denen die Bedingungen zur Erreichung dieses Zieles umschrieben werden können. Dafür ist das Wort »Menschenrechte« nicht notwendig. Der Schindluder, welcher mit dem Begriff der Menschenrechte im Zusammenhang mit dem neuen Interventionismus getrieben worden ist, lässt es angezeigt erscheinen, diesen Begriff bei allen Interventionen konsequent aus dem Spiel zu lassen, auch wenn sie legal und begründet sind. So weit eine sehr beschränkte, aber konkrete Antwort auf die antiimperialistische Kritik an den als »westlich« abqualifizierten Menschenrechten.

Instrumentalisierung und subjektive Ausblendung

Wie Menschenrechte instrumentalisiert werden können, wurde bereits in verschiedenen Zusammenhängen beschrieben. Noch nicht erwähnt worden ist indessen die Diskussion um die transnationale Verrechtlichung. Damit sind Rechtsverhältnisse vor allem des internationalen Wirtschaftsrechts gemeint, die zwischen Privaten oder durch staatliche Stellen mit Privaten eingegangen werden. Neben dem internationalen Recht, das als Völkerrecht aus Verhandlungen zwischen den Regierungen hervorgeht und durch die nationalen Parlamente genehmigt wird, entsteht das Recht zunehmend durch Vereinbarungen unter Privaten oder durch Expertengremien spezialisierter Organisationen.302 Zwar sind an der Entstehung solchen »transnationalen« Rechts neben den Privaten auch staatliche Stellen beteiligt, aber nicht über den Weg der diplomatischen Außenvertretungen der Regierung, welche den Parlamenten gegenüber immerhin rechenschaftspflichtig wären. Dieser »Rechtspluralismus« unterscheidet verschiedene Formen der Entstehung von Recht, welche sich gegenüberstehen und sich gegenseitig ergänzen. Die traditionelle demokratische Rechtssetzung durch Parlamente ist nur noch eine von verschiedenen Möglichkeiten.

Vor allem stellt sich das Problem mangelnder demokratischer Legitimität von Recht, das außerhalb der traditionellen Gesetzgebungsverfahren entstanden ist, wie auch jenes der mangelnden Mitsprache aller von solchem Recht Betroffenen.303 Indessen ist noch ein anderer Zusammenhang von Interesse. Es wird nämlich darauf hingewiesen, dass solche Vorstellungen des Rechtspluralismus auf ein relativ hartes Strafrecht angewiesen sind, um die »Gefahr eines generellen Vertrauensverlustes« in das so pluralisierte Recht zu bannen. Es entstehe eine »Kultur der Kontrolle, Prävention im Vorfeld, expansive technische Überwachungssysteme und notfalls auch das Schwert des (dann vor allem expressiv-symbolisch gebrauchten) staatlichen Strafrechts«.304 Dasselbe gilt für die Menschenrechte. Vorstellungen des Rechtspluralismus sind oft verbunden mit dem Hinweis darauf, dass sich der Zusammenhalt des pluralisierten Rechts auch aus der globalen Ordnung der Menschenrechte ergebe, deren Einhaltung gefordert werden könne. Diese Sicht instrumentalisiert die Menschenrechte und macht sie zu einem Mittel der Disziplinierung. Die Menschenrechte werden als eine fest gefügte Ordnung betrachtet, deren man sich beliebig bedienen kann. Dies steht einer demokratischen Legitimation der Menschenrechte diametral entgegen. Die Idee der Menschenrechte wird damit massiv überdehnt. Menschenrechte können die Erwartungen nicht erfüllen, die ein so begründeter Rechtspluralismus an sie richtet. Würden sie die Erwartung erfüllen können, gingen sie jedenfalls ihrer revolutionären Seite verlustig.

Aus einer ganz andren Sicht könnte indessen von einer subjektiven Form der Instrumentalisierung gesprochen werden, die ebenfalls einen Zusammenhang aufweist mit der revolutionären Seite dieser Rechte. Allerdings besteht diese Instrumentalisierung in einer Ausblendung. Das Spannungsverhältnis zwischen Normativität und Wirklichkeit, welches den Menschenrechten zugrunde liegt, spielt auch für den einzelnen Menschen eine Rolle. Schon kurz nach dem Ende des Kalten Krieges wurde sinngemäß dieser Gedanke in weiser Voraussicht so formuliert: »[…] wir sollten den Autonomiegedanken vielleicht nicht ohne weiteres weltweit nach außen wenden, ohne ihn intern unter den objektiv und subjektiv veränderten Bedingungen der Gegenwart neu zu bedenken.«305 In westlichen Ländern findet sich nicht selten die Vorstellung, Menschenrechte seien »bei uns« weitgehend verwirklicht und umgesetzt, und es wird mit Bedauern festgestellt, dass dies »bei den anderen« leider noch nicht der Fall sei.

Wer sich nicht mehr damit befasst, inwieweit die Menschenrechte im eigenen Umfeld – ja sogar die eigenen Rechte – gefährdet sein könnten, büßt an Fähigkeit ein, sich mit normativer Wertsetzung zu befassen. Auch in diesem Falle liegt der individuelle Freiraum des Einzelnen zur Bildung der eigenen Moralvorstellungen immer mehr brach. Es entsteht eine ähnliche Situation wie jene, wenn die Funktion des Citoyens nicht mehr gefragt ist. Nur wird in dem hier erwähnten Beispiel die Funktion des Citoyens freiwillig aufgegeben. Menschenrechte werden zu etwas, das sich »bei den anderen« abspielt. Menschenrechtsaktivisten mit einer solchen Einstellung verlieren an Glaubwürdigkeit, denn sie können nicht mehr Vorbild sein für die ständige Auseinandersetzung mit der Frage, worin die Rechte bestehen und bestehen sollen. Sie werden zu Menschenrechtsexperten, die gleichsam ein für immer erworbenes »Gut« in die Welt hinaustragen. Aber sie leisten keinen Beitrag mehr dazu, dass »die Menschenrechte politisch wieder ›frei‹ – […] erneut zu einer revolutionären, für alle Kulturen gültigen Idee« werden.306 Dies kann man nur als Citoyen. Man könnte geneigt sein zu fragen, warum im privilegierten Westen eigentlich noch kaum jemand auf die Idee gekommen ist, das Grundrecht auf Eigentum in einer neuen Weise auszubuchstabieren angesichts einer Finanz- und Wirtschaftskrise, die ganze Generationen in unterschiedlicher Weise in Bedrängnis bringt. Wer diese Frage im Lichte der Hungerkatastrophen Afrikas oder im Lichte der Niederschlagung von Demonstranten in arabischen Ländern als zynisch einstuft, misst der demokratischen Legitimation der Menschenrechte eine zu geringe Rolle zu. Insbesondere berücksichtigt dieser Vorwurf des Zynismus zu wenig die revolutionäre Seite der Menschenrechte, in welcher sich das subjektive und das objektive Element gegenseitig verstärken.

Zur Aufrechterhaltung des Spannungsfeldes zwischen Normativität und Wirklichkeit gehört es auch, dass man diese Spannung überhaupt erträgt. Das Anspruchsvollste an der Funktion des Citoyens im Zusammenhang mit den Menschenrechten besteht möglicherweise darin, dass schon durch das Nachdenken über die normative Seite und später auch durch die normative Konkretisierung der Rechte diese Spannung vergrößert wird. Niemand hat dies so treffend auf den Punkt gebracht wie Claude Lefort in einem erstmals 1980 erschienenen Text: »Politik der Menschenrechte und demokratische Politik, das sind zwei Varianten der Antwort auf die gleiche Anforderung, die da lautet: Ressourcen der Freiheit und der Kreativität auszuschöpfen, aus denen eine Erfahrung ihre Kraft zieht, die die Auswirkungen der Teilung auszuhalten vermag; der Versuchung zu widerstehen, die Gegenwart gleichsam gegen die Zukunft auszutauschen, sondern im Gegenteil die Anstrengung zu unternehmen, in der Gegenwart die Erfolgsaussichten aufzuspüren, die sich durch die Verteidigung erworbener Rechte und die Forderung nach neuen Rechten auszeichnen, und dabei zu lernen, diese von der bloßen Befriedigung von Interessen zu unterscheiden.«307

11. Universalität und Regionalisierung

Die beiden wichtigsten Begründungen für die Kritik an den Menschenrechten und ihre Apostrophierung als »westliche« Instrumente der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Dominanz können nun im Lichte der Perspektiven von demokratischer Legitimation dieser Rechte betrachtet werden. Einleitend zu diesem vierten Teil ist bereits unterschieden worden zwischen der antiimperialistischen Kritik auf der einen Seite und jener Kritik, welche die Menschenrechte aus kulturrelativistischen Gründen ablehnt. Der erstgenannten Kritik kann wenig entgegengehalten werden. Sie ist eine Reaktion auf den neuen Interventionismus, wie er nach dem Ende des Kalten Krieges eingesetzt hat, und als solche ist sie berechtigt. Dem steht nicht entgegen, dass diese Kritik am lautesten aus jenen Kreisen ertönt, welche selber mit imperialen Methoden ein eigenes Menschenbild verbreiten und damit das »westliche« bekämpfen, wobei einzelne Gruppen auch nicht vor terroristischen Akten zurückschrecken. Der internationale Umgang mit den arabischen Revolutionen hat eine neue, verglichen mit früheren Interventionen und dem damaligen Sprachgebrauch, etwas zurückhaltendere Position westlicher Staaten erkennen lassen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Höhepunkt des neuen Interventionismus bereits überschritten ist, es sei denn, diese relative Zurückhaltung sei ausschließlich durch mangelnde Finanzierbarkeit begründet. Dennoch ist es offensichtlich, dass man aus früheren Fehlern gelernt hat.

Auf die zweitgenannte Kritik hingegen ist eine differenzierte Antwort möglich. Diese Kritik stellt dem westlichen Individualismus der Menschenrechte den Vorrang der Gemeinschaft in den Kulturen Asiens wie auch in afrikanischen Stammeskulturen gegenüber. Im Weiteren wird etwa festgehalten, die klare Trennung von Recht und Moral sei mit diesen Kulturen nicht vereinbar. Pflichten hätten den Vorrang vor den Rechten, und die Letzteren seien den Individuen nur verliehen worden.308 »Eine Art ›Gegen-Menschenrechtsbewegung‹ afrikanischer, asiatischer und islamisch geprägter Staaten« hat dazu geführt, dass in gewissen regionalen Menschenrechtsübereinkommen solche Vorstellungen denn auch ihren Niederschlag gefunden haben, wie zum Beispiel in der Bankok-Deklaration der ASEAN-Staaten oder der Banjul-Charta einiger afrikanischer Staaten.309 Es geht hier vor allem darum, die kulturrelativistische Kritik der Menschenrechte in einen Zusammenhang mit der demokratischen Legitimation dieser Rechte zu stellen.

Aus einem Verständnis der Menschenrechte, welches diese Rechte ohne demokratische Legitimation konzipiert, können schwerlich Argumente zur Entkräftung der Kritik abgeleitet werden. Dies ergibt sich schon daraus, dass sich so verstandene Menschenrechte mangels demokratischer Legitimation naturrechtlich oder moralisch legitimieren müssen, wobei auch das Naturrecht letztlich auf moralische Normen zurückgreift.310 Moralische Normen sind und bleiben aber immer kulturabhängig. Erst im Verrechtlichungsprozess ist eine kulturübergreifende Fassung möglich, wobei aber die moralischen Argumente in der Konfrontation mit Argumenten aus anderen Bereichen wie Philosophie oder Lebenserfahrung ihren moralischen Mantel abstreifen und säkular werden. Ein Menschenrechtsverständnis, welches keine demokratische Legitimation voraussetzt, muss kulturrelativistische Gegenargumente schon deshalb hervorrufen. Wenn darüber hinaus versucht wird, so verstandene Menschenrechte mittels Intervention in anderen Staaten und gegenüber anderen Kulturen autoritativ durchzusetzen, paart sich diese Kritik mit jener am imperialistischen Vorgehen.

Geht man demgegenüber davon aus, dass Menschenrechte nicht nur demokratisch ausgehandelt werden, sondern dass vor dem Aushandeln die einzelnen Menschen sich gegenseitig – also intersubjektiv – als frei und gleich anerkannt haben müssen, wird dadurch vor allem der kulturrelativistische Vorwurf des übersteigerten Individualismus aufgefangen.311 Der Citoyen kann nicht auf kruden Individualismus reduziert werden. Für andere Kulturen stellt sich nun aber die Frage, ob diese vorgängige gegenseitige Anerkennung unter den Voraussetzungen überhaupt stattfinden könne, welche in der kulturrelativistischen Kritik zum Ausdruck kommen. Die Antwort wird sich auch hier darauf beschränken müssen, dass es sich nur um einen Annäherungsprozess handeln kann. Immerhin sind heute die Ausformulierungen der Menschenrechte verfügbar, auf welche man sich weltweit in rechtlich verbindlicher Form hat einigen können. Sie geben jenen Menschen in diesen Kulturen, welche sich den globalen Standards annähern möchten, normative Argumente in die Hand.

Regionale Abweichungen von den globalen Standards werden sich am ehesten durch Verletzungen der Gleichheit manifestieren, und zwar schon im Aushandlungsprozess und infolge dessen in der Ausübung von Rechten. Mit denselben Mängeln hat die Menschenrechtsentwicklung in der Französischen Revolution begonnen. Dasselbe gilt für alle weiteren Prozesse der anfänglichen Positivierungen dieser Rechte – sonst hätte es der Türöffner-Funktion nicht bedurft. Es ist möglich, in bestimmten Rechtsgemeinschaften die Menschenrechte so auszugestalten, dass der Schnittpunkt zwischen Individualismus und Gemeinschaft nicht genau an jener Grenze liegt, wie sie sich im Westen ergeben hat. Bedingung ist allerdings die Gleichheit der Individuen. Von diesem Aspekt wird im Zusammenhang mit dem Verhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit nochmals die Rede sein. Dass es daneben absolute Schranken gibt, welche auch durch die Rücksichtnahme auf regionale kulturelle Besonderheiten nicht überschritten werden dürfen, versteht sich von selbst. Dies betrifft vor allem den Schutz von Leib und Leben und das Folterverbot.312

Ein Menschenrechtsverständnis, welches von der Notwendigkeit der demokratischen Legitimation dieser Rechte ausgeht, ist mit den weltweiten kulturellen Unterschieden besser zu vereinbaren. Was hier als Krise der Menschenrechte seit dem Ende des Kalten Krieges beschrieben worden ist, geht auch und vor allem darauf zurück, dass dem neuen Interventionismus ein Menschenrechtsverständnis zugrunde lag, das auf dieses Erfordernis nicht nur verzichtet, sondern es bewusst ausschließt, wie es das Beispiel Bosnien & Herzegowina eindrücklich belegt. Dies ist einer der Gründe, weshalb die kulturrelativistische Kritik an den »westlichen« Menschenrechten seit dem Ende des Kalten Krieges so stark zugenommen hat, dass von einer Gegen-Menschenrechtsbewegung gesprochen werden kann. Im Gespräch mit deren Exponenten wird deshalb nicht nur die Rolle des Einzelnen als »Berechtigter der Menschenrechte«, sondern auch jene als Citoyen und »Mitgestalter der Menschenrechte« eine wichtige Rolle spielen.

Was hier mit Regionalisierung nicht gemeint ist – und wiewohl das eigentlich als selbstverständlich erscheint –, sei abschließend und gleichsam der Vollständigkeit halber erwähnt. »Wenn nur die Bevölkerungen solcher Staaten, die sich als intervenierende qualifizieren können, die Menschenrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit, sowie (in mehr oder weniger beschränktem Umfang) auf Partizipation an der Konkretisierung ihrer übrigen Rechte durch öffentlichen Diskurs und Gesetzgebung genießen, während den Bürgern der von Interventionen überzogenen Staaten durch Kriegshandlungen per se die elementarsten Menschenrechte aberkannt und die Konkretisierung aller weiteren Rechte durch Fremdbestimmung entzogen wird, entwickeln sich universelle Menschenrechte zum regionalen Privileg.«313

Die Differenzierung innerhalb des Westens

Im Zusammenhang mit dem Verhältnis zwischen Menschenrechten, Staatlichkeit und Demokratie wurde aufgezeigt, dass und warum die historische Entwicklung diesseits und jenseits des Atlantiks zu einem unterschiedlichen Menschenrechtsverständnis geführt hat. Kernpunkt der Verschiedenheit bildet die demokratische Legitimation dieser Rechte. In Europa kommt ihr große Bedeutung zu, wenn auch in den verschiedenen Ländern in unterschiedlichem Ausmaß. In den Vereinigten Staaten hingegen wurde sie – jedenfalls auf Bundesebene – als bedrohlich gesehen. Dies ist auf ein generell unterschiedliches Verständnis des Staates und der Staatlichkeit im Allgemeinen zurückzuführen, aus dem sich auch ein unterschiedliches Verständnis des Politischen ableitet. In den Vereinigten Staaten dient das Politische in letzter Konsequenz immer dazu, Staatlichkeit zurückzudrängen, während in Europa das Politische zur Ausgestaltung des öffentlichen Raumes – der »res publica« – dient. In allen Ländern Europas spielt die Staatlichkeit eine wichtige Rolle, wenn sich diese Rolle auch auf unterschiedlichen Wegen entwickelt hat.314 Mit Ausnahme der Zeit des New Deal haben die Vereinigten Staaten demgegenüber immer einen mehr oder weniger ausgeprägten Staatsminimalismus gepflegt. Wenn in Europa die Menschen durch die Straßen ziehen, verlangen sie meistens, dass der Staat etwas unternimmt.315 Dass er etwas unterlässt, ist praktisch nur in ökologischen Fragen wie Atomkraft oder im Zusammenhang mit Rüstung oder Kriegsführungen denkbar. Wenn die Menschen in den Vereinigten Staaten demonstrieren, wird weit häufiger verlangt, dass sich der Staat nicht einmischt. Eine Ausnahme bildeten die Bürgerrechtsbewegungen.

In einer Gegenüberstellung des Staatsverständnisses der drei großen Länder mit den ältesten Demokratien ist dieses – unter dem Begriff des »Konstitutionalismus« – qualifiziert worden als »politisch« für Großbritannien, »etatistisch« für Frankreich und »gesellschaftlich« für die Vereinigten Staaten.316 Die Differenz zwischen »politisch« und »etatistisch« widerspiegelt den unterschiedlichen Weg, auf welchem England und Frankreich zur ihrer Konzeption von Staatlichkeit gelangt sind. Beiden Ländern ist aber gemeinsam, dass die Dinge via Staatlichkeit geordnet werden. »Gesellschaftlich« umschreibt die Tendenz, die Dinge allenfalls jenseits von Staatlichkeit zu ordnen. Das transatlantisch unterschiedliche Staatsverständnis kommt auch in den Mechanismen zum Ausdruck, welche der gesellschaftlichen Integration von Menschen dient, die aus anderen Kulturkreisen einwandern und verschiedenen Religionen angehören.317 Da in den Vereinigten Staaten staatspolitische Identität nicht im Vordergrund steht, erfolgt die Integration jedenfalls im Anfangsstadium vorwiegend über private Vereinigungen und verschiedene Gruppen, darunter religiöse und solche mit Mitgliedern gleicher ethnischer Herkunft. Europäische Staaten verlangen demgegenüber von Personen mit Migrationshintergrund die Entwicklung eines Minimums an staatspolitischer Identität, und die Selbstbeschränkung dieser Personen auf den Umgang mit »ihresgleichen« wird eher als Gefährdung der Integration gesehen. Das im Zusammenhang mit dem neuen Interventionismus erwähnte gemeinsame Muster, eine Ordnungsstruktur über ethnische oder religiöse Gruppen zu etablieren, folgte der US-amerikanischen Tradition.

Das US-amerikanische Menschenrechtsverständnis sollte genauso wenig kritisiert werden wie das entsprechende Verständnis anderer Weltregionen. Es ist das Resultat einer historischen Entwicklung. Es hat Bestand, aber einen Bestand in der Form eines regionalen Verständnisses, und zwar eines regionalen Verständnisses auch innerhalb des Westens. Die historischen Verhältnisse, die zum spezifisch US-amerikanischen Verständnis geführt haben, können sich nicht wiederholen, sie waren einmalig und werden es bleiben. Aus ganz anderen Gründen genauso einmalig ist die Situation in Europa. Im historischen Rückblick auf weltweite Eroberung und Ausbeutung im Kolonialismus, aber auch auf Jahrhunderte voller Kriege und Weltkriege ist europäische Identität mit Schuld und deren Aufarbeitung verbunden. Dies hat eine positivere Umschreibung europäischer Identität in heutiger Zeit ermöglicht. Der Nationalstaat ist in Europa erfunden worden, aber Europa ist auch der Kontinent, welcher als Erster darangeht, die Nationalstaaten wieder einzubinden. In den Worten von Jacques Delors: »Europa ist ein Raum, der durch die griechische Demokratie, das jüdisch-christliche Erbe, die Reformation, die Aufklärung und den Einfluss der arabisch-islamischen Welt kulturell geformt wurde. Das ist das Europa, das sich von Amerika, Japan und den anderen Räumen der Welt unterscheidet. Es wird geeint durch eine Art offenen Universalismus, ein bestimmtes Verhältnis zu den großen Fragen von Leben und Tod – ob man nun gläubig ist oder nicht. All das und die Fähigkeit zur Toleranz, das sind die europäischen Werte.«318

Viele historische Gegebenheiten in anderen Bereichen haben ebenfalls zu unterschiedlichen Entwicklungen auf beiden Seiten des Atlantiks beigetragen, auf die hier nicht eingegangen werden kann.319 Es seien nur einige am Rande erwähnt, welche sich auf das Verständnis der Menschenrechte ebenfalls auswirken. Vom unterschiedlichen Stellenwert der Religion wird noch die Rede sein. Damit im Zusammenhang stehen moralische Normen, welche in den Vereinigten Staaten eine andere Rolle spielen als in Europa. Die bereits erwähnte medienwirksame Vorführung des früheren Direktors des Internationalen Währungsfonds nach dessen Verhaftung haben dem europäischen Betrachter eindrücklich vor Augen geführt, wie gezielt – und von einer breiten Bevölkerung durchaus akzeptiert – in den Vereinigten Staaten moralische Missbilligung gewissermaßen als ein Mittel zur Abschreckung eingesetzt werden kann. In Europa würde ein solches Vorgehen jedenfalls von einer Mehrheit als unvereinbar mit der Menschenwürde kritisiert. Ein weiteres Beispiel für den, verglichen mit Europa, ungleich größeren Stellenwert der Moralität sind die politischen Themenschwerpunkte, wie sie vor allem bei Wahlen beobachtet werden können. In Europa wäre es kaum denkbar, dass die Fragen des Schwangerschaftsabbruches oder der Ehe zwischen Homosexuellen zu einem alles dominierenden Wahlkampfthema werden könnten, neben welchem andere Fragen völlig verblassen, denen in Europa Aktualität oder gar existenzielle Bedeutung zugemessen wird.

Der unterschiedliche Stellenwert der Moralität schlägt sich auch hinsichtlich der Bedeutung und im Verständnis der Nation nieder. Die US-amerikanische Nation vermittelt ihren Bürgern eine Identität der moralischen Überlegenheit, welche zwar unter den verschiedenen Präsidenten unterschiedlich stark hervorgehoben wird, aber in großen Teilen der Bevölkerung verankert ist.320 Der Begriff »Schurkenstaat«, der auf der moralischen Bewertungsskala für Nationen den der USA gegenüberliegenden Pol verkörpert, ist ein Produkt der US-amerikanischen Rechtsphilosophie.321 Schon der Begriff, vor allem jedoch seine auch seitens Nicht-US-Amerikaner erstaunlicherweise unkritische Verwendung haben in der internationalen Politik bis heute eine verhängnisvolle Auswirkung. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang der Vorschlag, »die UNO durch einen ›Demokratien-Bund‹ zu ersetzen bzw. um einen solchen zu ergänzen«, ebenfalls ein Produkt US-amerikanischen politischen Vordenkertums.322 Es entspringt der Vorstellung, dass an der Gestaltung der öffentlichen Ordnung nur die »Guten« teilnehmen, die »Bösen« – oder eben die Schurken – hingegen ausgeschlossen werden sollen. Die Dichotomie »gut – böse« hat in den Vereinigten Staaten politisch eine so große Bedeutung, dass es offenbar kaum möglich ist, die Unterstützung der politischen Öffentlichkeit für eine militärische Intervention zu gewinnen, wenn sie sich nicht einfügt in ein »Gut-Böse-Raster«.323 Durch die Kosovo-Erfahrung, die Erkenntnis diesbezüglich neuer Fakten und eine aus zeitlicher Distanz objektivierte Betrachtungsweise reift international sachte die Erkenntnis, dass es genau dieser Raster sein könnte, der Konflikte unlösbar werden lässt.

Die Europäische Union

Mit der unterschiedlichen Bedeutung der Nation ist ein zentrales Thema angesprochen, in welchem Europa innerhalb des Westens eine eigene Identität entwickelt. Im Zusammenhang mit den Menschenrechten ist dies erwähnenswert, weil sich in Europa eine Unionsbürgerschaft jenseits der Nation entwickelt, und zwar in einer völlig neuen Form, die auch mit demokratischer Mitwirkung jenseits der Nation verbunden ist. Was immer die Europäische Union dereinst für eine rechtliche Form annehmen wird, zu einem Gebilde mit einem nationalen Bewusstsein im Sinne dessen, was man im 19. und 20. Jahrhundert darunter verstanden hat, kann sie nicht werden. Die nationale Identität der in der Union lebenden Menschen wird weiterhin vorwiegend in ihrem Herkunftsland verwurzelt sein. Eine Identität als EU-Bürger ist für viele erst langsam im Entstehen. Sie kann zum Beispiel durch die Rechtsstaatlichkeit gefördert werden, von welcher auch diese Ebene geprägt ist. Dann geht sie von den sich weiterentwickelnden Institutionen aus. Vor allem aber werden die politischen Mitwirkungsrechte diese Identität ebenso langfristig fördern wie die politische Auseinandersetzung mit Fragen, welche auf dieser Ebene entschieden werden müssen. Alle diese Anknüpfungspunkte zur Identitätsentwicklung befinden sich in einem Entwicklungsprozess. Kein Zweifel besteht daran, dass dieser Prozess zu einer neuen Form von bürgerschaftlicher Öffentlichkeit führt.

Für die demokratische Legitimation der Menschenrechte hat diese neue Form der demokratischen Mitwirkung eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Erstmals wird es nämlich möglich sein, die Ambivalenz der Internationalisierung zu überwinden. Mit der Grundrechte-Charta sind Menschenrechte auf der übernationalen Ebene formuliert worden, denen ein gewisses Maß an demokratischer Legitimation nicht abgesprochen werden kann. Der Konvent, welcher den Entwurf erarbeitete, verfügte auch über eine parlamentarische Komponente, und das Europäische Parlament hat der Charta zugestimmt. Zwar halten die Mitgliedstaaten daran fest, dass die Grundrechte ein Teil ihrer nationalen Verfassungen darstellen und sie über die ausschließliche Kompetenz verfügen, diese auszugestalten.324 Die Union ist jedoch immer mehr auch in eigener Kompetenz hoheitlich tätig und tritt dem Bürger direkt mit öffentlicher Autorität gegenüber. Deshalb muss sie die Grundrechte auch selber garantieren können.325 Darin unterscheidet sich die Union von einer internationalen Organisation wie dem Europarat. Menschenrechte, welche im Rahmen internationaler Organisationen durch völkerrechtliche Verträge vereinbart worden sind, verfügen über keine demokratische Legitimation, es sei denn, sie leiten diese auf dem indirekten Weg aus den nationalen Parlamenten ab. Wie bereits erwähnt, geschieht dies über den Einfluss auf die nationale Regierung, welche den Staat in der Organisation vertritt. Im Europarat sind Delegationen der nationalen Parlamente auch in der Parlamentarischen Versammlung vertreten, stehen also in direktem Kontakt und können Stellungnahmen und Empfehlungen abgeben, was für die Umsetzung der Menschenrechte von großer Bedeutung ist. In der Ausgestaltung der Rechte selber steht der Entscheid aber den Regierungen der Mitgliedstaaten zu. Anders liegen die Dinge in der Europäischen Union. Der zunehmende Einfluss des Parlamentes lässt erwarten, dass in der Ausgestaltung der Grundrechte die demokratische Legitimation zunehmen wird.326

Für die Parlamente in den Mitgliedstaaten der Union ergibt sich dadurch eine komplexe Situation. Was die internationalen Menschenrechte im Sinne des Völkerrechtes anbelangt, können sie nur über den Einfluss auf ihre Regierungen agieren und versuchen, diese verbindlich zu mandatieren. Was die europarechtlichen Grundrechte anbelangt, ist der Weg über die nationale Regierung zwar auch möglich, aber die langfristige Perspektive liegt in der Einflussnahme über das Europäische Parlament. Eine weitere Vernetzung ergibt sich durch die geplante Ratifikation der Europäischen Menschenrechtskonvention durch die Europäische Union. Diese Möglichkeit ist aufseiten der Union erst durch den Lissabon-Vertrag geschaffen worden, aufseiten des Europarates durch ein Zusatzprotokoll zu dieser Konvention. Wenn dieser Schritt einmal vollzogen sein wird, werden sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, der Europäische Gerichtshof in Luxembourg sowie nationale Verfassungsgerichte im Bereich der Menschenrechte zum Teil zu denselben Fragestellungen äußern können. Bereits mit Blick auf den heutigen Zustand ist in diesem Zusammenhang von einem »Verfassungsgerichtsverbund« gesprochen worden.327

Auch Richter können zur Stärkung der demokratischen Legitimation der Menschenrechte beitragen. Dabei muss unterschieden werden zwischen der internationalen Ebene auf der einen Seite und der nationalen auf der anderen, wobei die Rechtsprechung innerhalb der EU eine Sonderstellung einnimmt. Ein internationales Gericht wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte steht nicht in Konkurrenz zu einem Parlament. Er überprüft unter anderem Verfassungen und Gesetze, die von demokratisch gewählten nationalen Gremien erlassen worden sind, allenfalls aus Referenden hervorgegangene Bestimmungen. Aufgabe dieser Rechtsprechung ist es, die Einhaltung der in der Menschenrechtskonvention garantierten Rechte zu gewährleisten und festzustellen, wann und warum sie verletzt worden sind. Auf der andern Seite spielt die Berücksichtigung nationaler Traditionen und Befindlichkeiten eine gewisse Rolle. Einerseits die Rechte wirksam zu schützen, ohne andererseits zu stark in die demokratische Souveränität der Staaten einzugreifen ist eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe, die bisweilen einer Gratwanderung gleichkommt. Nationale höchste Gerichte stehen hingegen in Konkurrenz zu einem Parlament. In der Ausformulierung ihrer Urteile können Richter zum Ausdruck bringen, dass sie sich in der Positivierung von Grundrechten für kompetenter halten als das dafür zuständige Parlament. Damit tragen sie zur bereits erwähnten Entwicklung der Umlagerung von Wertschätzung in der öffentlichen Wahrnehmung bei, die den Eindruck entstehen lässt, Grundrechte würden »vom Richter verliehen«. Gewollt oder ungewollt wird damit die Politik aus der Verantwortung für die Menschenrechte gedrängt oder immerhin aus ihr entlassen. Gerichte können aber umgekehrt ausdrücklich darauf hinweisen, dass die Verantwortung zur Ausgestaltung der Grund- und Menschenrechte im politischen Bereich liegt, und sie können diese Sicht in ihren Urteilen zum Tragen bringen.

Menschenrechte als Mission

Eine Differenzierung innerhalb des Westens ist hinsichtlich der Menschenrechte vor allem aus zwei Gründen angezeigt. Der eine Grund liegt in der bereits erwähnten moralischen Überhöhung der eigenen Nation in den Vereinigten Staaten. Freiheitsrechte werden von einem Teil der US-amerikanischen Bevölkerung – und dementsprechend auch von deren Vertretern in der Öffentlichkeit – als »amerikanisch« gesehen und der eigenen Nation zugeschrieben, nicht internationalen Vereinbarungen.328 Dies ist auch der Grund, warum dieses Land nicht in der Lage ist, Verträge über Verfahren und Gerichte zum Schutz der international vereinbarten Menschenrechte zu ratifizieren. Es ist für viele US-Amerikaner einfach nicht vorstellbar, dass ein Nicht-Amerikaner über die Vereinigten Staaten urteilen könnte, vielleicht sogar über den Präsidenten dieses Landes.329 Gestützt und begleitet wird diese Haltung durch eine Verklärung und Sakralisierung der US-Verfassung, in welcher man »so viel mehr sieht als das zeitgebundene Ergebnis einer verfassungsgebenden Versammlung: einen Speicher letzter Wahrheiten«330. Diese Vorstellung war in der Gründungsgeschichte noch nicht so stark präsent. Sie ergab sich dann aber dadurch, dass in Frankreich die Revolution scheiterte und dass man sich verständlicherweise von dem früheren Verbündeten abwandte, um nun das Banner der Freiheit allein weiterzutragen.331 Die eigentliche Heiligkeit der Verfassung ergab sich erst als Resultat der notwendigen Beschwörung nationaler Einheit nach dem Ende des Bürgerkrieges. Sie ist mit Abraham Lincoln verbunden und mit seinem politischen Glaubensbekenntnis, das dem Schicksal der geeinten Nation eine Bedeutung für die ganze Menschheit zuerkannt hat.332 Europa stellt mit seiner Entwicklung ein Gegenbild dar zu diesem Selbstverständnis. Mit der europäischen Integration ist es gelungen, die Nationen einzubinden bei aller Verschiedenheit, die sie durchaus bewahren können.

Der zweite Grund liegt in der Bedeutung der Mission. Wenn im Zusammenhang mit der revolutionären Seite der Rechte davon die Rede war, dass »die Menschenrechte politisch wieder ›frei‹ – […] erneut zu einer revolutionären, für alle Kulturen gültigen Idee« werden sollten, so nimmt diese Aussage darauf Bezug, dass diese Rechte durch die westliche Lebensform gleichsam annektiert worden sind. »Die kapitalistische Moderne […] glaubte ernsthaft, alle Menschen seien im Grunde ihres Herzens Amerikaner und warteten sehnlichst darauf, durch die westliche Lebensform erlöst zu werden«333. Die Vorstellung dieser Mission ist keine Zeiterscheinung, sondern sie hat ihre Parallele in der Gründungsgeschichte der Vereinigten Staaten. So wie die Siedler damals ihre Situation als bereits verwirklichten Naturzustand betrachteten, so ist gelegentlich bei US-Amerikanern die Vorstellung anzutreffen, die Verhältnisse in den Vereinigten Staaten müssten in anderen Weltregionen nur bestmöglich kopiert werden, und dies sei die beste Voraussetzung dafür, dass alles gut werde. Europa hat solches auch erlebt, allerdings vor 200 Jahren. Napoleon hat gewisse Errungenschaften der Französischen Revolution mit Waffengewalt über ganz Europa verbreitet. Zum Teil haben die Errungenschaften Fuß gefasst, der Imperator hat ihnen aber enorm geschadet und dazu beigetragen, dass »Revolution« im ganzen Kontinent und für lange Zeit ein Unwort wurde. Auch in der Folge ist die europäische Geschichte nicht frei von missionarischen Zügen, insbesondere im Zusammenhang mit dem Kolonialismus, als der Begriff der »Zivilisation« der Verbrämung eigener Interessen diente.334 Heute ist in Europa kein Verlangen mehr danach zu beobachten, das »Gute« in die Welt hinauszutragen. Die Bedeutung dieses transatlantischen Unterschiedes wird oft unterschätzt.335

Die wichtigste Komponente in der eigenständigen Identität Europas innerhalb des Westens liegt im Stellenwert der Gleichheit, der sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert unterschiedlich entwickelt hat. Frankreich und England fanden auf unterschiedlichen Wegen zu einer starken Staatlichkeit. In Frankreich war die Gleichheit schon im revolutionären Gedankengut angelegt und konnte sich über die Jahrzehnte hinweg mit der Demokratie entwickeln. »Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit«, die drei zentralen Begriffe der Revolution, blieben verbunden. In England wurde angesichts der absoluten Parlamentssouveränität die Gleichheit dadurch erstritten, dass die Wahlberechtigung zum Parlament immer mehr ausgeweitet wurde. Auch die später entstandenen Demokratien setzen ein gewisses Maß an Gleichheit um. Anders in den Vereinigten Staaten. »Die amerikanische Idee der Rechte blieb (auch vor der Abschaffung der Sklaverei) in der Freiheitsidee verwurzelt. Ja, die Freiheit hat sich in den Vereinigten Staaten oft als ein Hindernis für Gleichheit und Brüderlichkeit erwiesen.«336

Freiheit und Gleichheit

In der Entwicklungsgeschichte der Menschenrechte hat erst die Philosophie von Kant den Schlüssel dazu formuliert, wie Freiheit und Gleichheit vereinbar sein können. Dass Freiheit nur als gleiche Freiheit überhaupt Bestand haben kann, wurde hier schon verschiedentlich angesprochen. Im Zusammenhang mit der Differenzierung innerhalb des Westens ist auch der umgekehrte Bezug von besonderer Bedeutung, nämlich dass Gleichheit nur dann Bestand haben kann, wenn sie in unauflösbarer Verbindung mit Freiheit gedacht wird. Forderungen nach Gleichheit müssen der Verwirklichung von Autonomie dienen, wenn sie nicht »zur Forderung nach schematischem Gleichviel« werden und »mit dem Verlust ihrer Legitimationsbasis die Möglichkeit zur Verwirklichung von Freiheit« bedrohen sollen.337 Hier kommt wieder die absolute Unbestimmtheit zum Ausdruck, welche den Menschenrechten eingeschrieben ist. Erst durch den politischen Definitionsprozess werden sie generell konkretisiert. Die Freiheit des Individuums, die in den Grund- und Menschenrechten zum Ausdruck kommt, formt sich erst durch diesen politischen Prozess. Gleichheit ist nicht das Resultat dieses Prozesses, sondern eine Bedingung dafür, dass er überhaupt stattfinden kann. Bevor der Prozess stattfindet, haben die daran Beteiligten sich gegenseitig als Freie und Gleiche anerkannt. Gleichheit gewährleistet, dass alle gleichermaßen an dem Prozess teilnehmen können, in welchem bestimmt wird, worin Freiheit bestehen soll.338

In der Ost-West-Konfrontation war das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit ein zentraler Punkt der Kontroverse. Die pointierten Exponenten beider Seiten stellten Freiheit und Gleichheit gegeneinander und betonten den Vorrang des einen Elementes gegenüber dem anderen in gegenläufiger Weise. Aber beide Betrachtungsweisen sind im Grunde genommen unzutreffend. Marx hat eben genauso unrecht wie seine eingeschworene Gegnerschaft. Wären beide Betrachtungsweisen zutreffend, so hätte mehr Freiheit weniger Gleichheit zur Folge und umgekehrt mehr Gleichheit weniger Freiheit. Zu diesem Nullsummen-Resultat kann man nur kommen, wenn man Freiheit und Gleichheit zunächst voneinander abgekoppelt hat, sodass die Gleichheit als nachträgliches Korrekturelement der ungleichen Verteilung von Freiheit figuriert. Anders verhält es sich, wenn Gleichheit als ein konstituierendes Element der Freiheit gesehen wird, als etwas, das schon immer ein Teil der Freiheit war. Von dieser Annahme geht die Vorstellung aus, dass sich die Menschen vor der generellen Konkretisierung der Menschenrechte gegenseitig als Freie und Gleiche anerkannt haben. Diese Gleichheit führt nicht zu weniger Freiheit irgendeines Beteiligten, sondern die Ausübung der Freiheit des einen fordert die anderen im Gegenteil dazu auf, auch von ihrer Freiheit Gebrauch zu machen, mit anderen Worten, »selbst frei zu sein«.339 Dies bedeutet, dass Gleichheit zu einer Vermehrung an Freiheit führt. Die menschenrechtliche Freiheit geht dabei sehr weit. Von der eigenen Freiheit Gebrauch machen beschränkt sich nicht darauf, die Dinge rational zu erkennen, wie sie ebenso durch Fachexperten erkannt und eingebracht werden könnten. Freiheit ist auch das Recht des Einzelnen, nicht vollkommen rational zu sein, sondern »selbstsüchtig, verrückt, exzentrisch, unverantwortlich, provokativ, obsessiv, selbstdestruktiv, monomanisch, etc.«340. Die Aufzählung dessen, was den freien Menschen ausmachen könnte, erinnert an das »Volk von Teufeln«, durch welches Kant die Errichtung eines Staates ebenfalls für möglich hält, womit er jegliches moralisierendes Gesellschaftsverständnis überwindet.

Wenn Gleichheit als ein konstituierendes Element der Freiheit gesehen wird, kann sie nicht als nachträgliches Korrekturelement für ungleiche Verhältnisse wirken. Im Aushandlungsprozess darüber, wie Freiheit ausgestaltet sein soll, bringt sie sich in anderer Form ein als im Verfahren der nachträglichen Korrektur von Ungleichheiten. Dieser Prozess der generellen Konkretisierung der Menschenrechte wird immer wieder und aus verschiedenen Gründen zu Ungleichheiten führen, jedoch immer nur in einem bestimmten Zeitpunkt. Entweder können ganze Gruppen vom Aushandlungsprozess immer noch ausgeschlossen worden sein, oder in den Prozess Einbezogene haben sich noch nicht genügend einbringen können. Doch in beiden Fällen wird sich die Gleichheit über kurz oder lang wieder bemerkbar machen. Gleichheit ist die Triebfeder der »Türöffner-Funktion« der Menschenrechte, und sie ist auch die Triebfeder für das Verlangen, die Ausgestaltung der Freiheit immer wieder neu auszuhandeln. Es braucht keine imperiale Macht, welche den Rechtsgemeinschaften vorschreibt, dass und wie sie die Menschenrechte aushandeln müssten. Der Aushandlungsprozess ist der Logik der Menschenrechte eingeschrieben. Deshalb wird sie in allen Regionen und allen Kulturen wirksam, auch wenn sich diese einem universalen Menschenrechtsverständnis auf verschiedenen Wegen und in verschiedenen Zeiträumen annähern. Zu jedem Zeitpunkt führt die Ausübung von Freiheit zu Ungleichheiten, weil die Menschen in der Praxis nun einmal über ungleiche Fähigkeiten verfügen, auf was für Umstände diese Ungleichheit auch zurückzuführen ist. Und immer wieder, offenbar in regelmäßigen Abständen, wird deshalb verlangt, dass die Freiheit neu ausgehandelt werden muss unter Beteiligung auch jener, deren Freiheitsausübung sich in der Praxis weniger gut oder gar nicht hat umsetzen können. Aber auch die neu ausgehandelte und festgeschriebene Freiheitsverteilung wird wieder zu neuen Ungleichheiten führen. Der Prozess der periodischen Neuaushandlung der Freiheitsverteilung wird deshalb nie zu Ende sein, solange es Menschen gibt. Er ist darauf zurückzuführen, »dass das Streben nach Freiheit ein tiefes menschliches Bedürfnis ist. Es lässt sich mit Machtmitteln vielleicht unterdrücken, niemals aber zerstören. Nicht Gewalt obsiegt, sondern der unbändige Willen der Menschen, sich zu befreien.«341

Nur wenn man die Gleichheit von der Freiheit abkoppelt, entweder weil man eine ungleiche Freiheitsverteilung anstrebt oder weil man die Gleichheit zur nachträglichen Korrektur ungleicher Freiheitsverteilung einsetzen will, nur dann entsteht ein Gegensatz zwischen Freiheit und Gleichheit. Allerdings können diese beiden Beweggründe nicht losgelöst voneinander betrachtet werden. In einer Gesellschaft mit der vorherrschenden Meinung, Gleichheit sei nur auf Kosten der Freiheit möglich, bleibt zur Erreichung von etwas mehr Gleichheit nur der Umverteilungsansatz. Im 21. Jahrhundert wird die Frage nach dem Verhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit wieder von größerer Bedeutung sein, sie könnte eine ähnlich revolutionäre Sprengkraft entwickeln wie in der Französischen Revolution, nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem weltweiten Zugang zu den natürlichen Ressourcen. Vor bald 300 Jahren hat Alexis de Tocqueville die Grundfrage eingehend beschrieben und nachgewiesen, »wie eng Freiheit und Gleichheit verflochten sind, ohne doch je harmonisch eins zu werden«. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geriet Tocqueville zwar in Vergessenheit, jedoch schlug seine »zweite große Stunde […] nach dem zweiten Weltkrieg: Freiheit contra Gleichheit wird im Kalten Krieg gelesen als Gegensatz von Demokratie und Kommunismus.«342 Nur wenige haben gefragt, »welche Demokratie« gemeint sei, ob die Menschenrechte lediglich eine Schranke für die Demokratie darstellten oder ob sie der demokratischen Legitimation bedürften.

12. Die Nachwirkung des Kalten Krieges

Ein Rückblick auf die zwei Jahrzehnte seit dem Ende des Kalten Krieges zeigt, dass Letzterer immer noch nachwirkt. So erstaunlich ist dies nicht, liegt doch der Beginn dessen, was jetzt zu Ende geht, mehr als 150 Jahre zurück, nämlich in der Abqualifizierung der Menschenrechte und des Rechts als Garanten der Freiheit durch Karl Marx. Nachdem Marx die Revolution vom Naturrecht abgespalten hatte, aus dem sie Ende des 18. Jahrhunderts hervorgegangen war, bot sich die Zuordnung an, welche »die Parteien eines internationalisierten Bürgerkrieges« in der bereits erwähnten verhängnisvollen Aufteilung des Nachlasses aus Naturrecht und Revolution im Kalten Krieg perfekt organisierten.343 Der Kalte Krieg hat die Vereinigten Staaten als Hauptakteur des Westens in den Wurzeln ihres Menschenrechtsverständnisses bestätigt, welche immer noch auf das klassische Naturrecht zurückgehen und im Widerstandsrecht gegen missbräuchlich gehandhabte Staatsgewalt kulminieren. Die totalitären Staaten im Osten verkörperten den Inbegriff solcher Staatsgewalt. Im Westen wurde in den letzten beiden Jahrzehnten des Kalten Krieges ein zunehmender neoliberaler Staatsminimalismus in verschiedenen Spielarten zum bevorzugten Gegenbild.

Dass die Revolution in der Nachlassaufteilung dem Osten zugefallen war, bestätigte sich 1989 in unvorhersehbarer Weise. Nachdem die totalitären Regime durch die Bürgerinnen und Bürger gestürzt worden waren, wirkte sich zunächst unmerklich, aber im Rückblick immer deutlicher die Kontroverse aus, welche in der Ost-West-Konfrontation um die Rolle des Staates ausgetragen worden war. Zum einen galt die Position des Ostens in dieser Frage nach dem Zerfall des Kommunismus verständlicherweise als klar gescheitert. Zum anderen aber kam nun die Bedeutung zum Tragen, welche die mittelosteuropäischen Akteure der Zivilgesellschaft mit dem Begriff des Staates verbanden, den sie »schlechthin mit der pervertierten bürokratischen Herrschaft des Systems identifizierten. Da sie den Staat weder erobern noch moralisch verändern konnten, ließen sie ihn links liegen und absentierten sich in einem Konzept der ›Antipolitik‹ […].«344 Dies gab einem Menschenrechtsverständnis Auftrieb, das den Wurzeln dieser Rechte in der Französischen Revolution wenig Bedeutung beimisst. Vor dem Hintergrund des Staatsminimalismus lassen sich die Menschenrechte kaum so verstehen, dass sie einer demokratischen Legitimation bedürfen. »Antipolitik« kann offenkundig nicht auf einem Verständnis der Menschenrechte beruhen, wonach sich diese erst demokratisch legitimieren müssen. Dies würde nämlich bedeuten, dass zunächst der »Raum und die Zeit der politischen Freiheit der Selbstbestimmung« geöffnet wird, die zur »Freisetzung der Politik« führt.345

Menschenrechte spielten in den Revolutionen Mittelosteuropas eine große Rolle. Es gab Bestrebungen, sie mit demokratischer Legitimation zu versehen und sich demokratisch auf ein eigenes Freiheitsverständnis hinzubewegen. Viele strebten jedoch danach, die Menschenrechte so rasch als möglich festzuschreiben, nachdem die Freiheit endlich errungen war. Dass dabei auch naturrechtliche Elemente eine Rolle spielten und die Vorstellung, Menschenrechte müssten als Schranken der Demokratie möglichst klar vorgegeben werden, ist verständlich. Zu groß war bei vielen Menschen die Angst vor einer Wiederkehr des Totalitarismus. Der Staat war für lange Zeit in Misskredit geraten, und es kann nicht erstaunen, dass man ihn mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu beschränken suchte. Ebenfalls nur im Rückblick kann festgestellt werden – und dies ist nun erstaunlicher –, dass das westeuropäische Staatsverständnis relativ wenig Berücksichtigung fand. Dieses hatte sich während des Kalten Krieges im Schatten der beiden großen Akteure entwickelt, in unterschiedlichem Ausmaß zur Sozialstaatlichkeit geführt und ließ einem Verständnis demokratisch legitimierter Menschenrechte durchaus Raum. Der Staatsminimalismus steht jedoch einer demokratischen Legitimation dieser Rechte entgegen. Das Zurückweichen der westeuropäischen Sicht nach dem Ende des Kalten Krieges ist das Resultat der bereits erwähnten globalen Entwicklung, welche sich schon früher angebahnt hatte. Seit der Regierung Carter in den Jahren 1975/76 wurden für die Vereinigten Staaten »die Menschenrechte zu einer zentralen Agentur (der) Transformation globaler Politik, was aber erst nach dem Zerfall des Kommunismus und damit der unangefochtenen Hegemonie der USA erkennbar wurde«346.

Demokratisch legitimierte Menschenrechte setzen voraus, dass Gleichheit als ein konstituierendes Element der Freiheit verstanden wird. Die Berechtigten gestehen sich gegenseitig gleiche Freiheit zu, bevor gemeinsam ausgehandelt werden kann, worin diese Freiheit bestehen soll. Weder der Neoliberalismus noch der Kommunismus können sich mit dieser Vorstellung anfreunden, wenn auch aus sich diametral gegenüberstehenden Gründen, welche auf die verkürzten Formeln »Freiheit ohne Gleichheit« und »Gleichheit ohne Freiheit« gebracht werden können. Beide verstehen diese Größen vor allem ökonomisch, auch dies unter diametral unterschiedlichen Vorzeichen, nämlich dem absoluten Primat ökonomischer Freiheit auf der einen Seite und dem absoluten Primat ökonomischer Gleichheit auf der anderen. Aus diesen sehr unterschiedlichen Gründen gehen die Akteure auf beiden Seiten gleich vor, sie spalten nämlich Freiheit und Gleichheit voneinander ab. Dass der kommunistische Staat theoretisch dazu dienen sollte, die ökonomische Gleichheit totalitär durchzusetzen, war dem Neoliberalismus Grund genug für seinen Staatsminimalismus. Die staatsminimalistisch verstandene Demokratie soll vor allem dazu dienen, staatliche Aktivität zu begrenzen und die Gesellschaft unbehelligt von staatlicher Intervention funktionieren zu lassen in der Richtung, wie sie Thomas Paine seinerzeit beschrieben hat. So wird Staatlichkeit zum Gegenspieler der Demokratie bei den einen, und Demokratie wird zum Gegenspieler des Staates bei den andern. Und beide sind von der Französischen Revolution ziemlich weit entfernt wie seinerzeit schon Marx.

Was mit den Menschenrechten nach dem Ende des Kalten Krieges geschehen ist und hier als Krise dieser Rechte beschrieben wird, lässt sich am einfachsten mit einem Bild umschreiben. Es ist das Bild des »mit dem Bade ausgeschütteten Kindes«, wobei das Bad für den Kommunismus steht und das Kind für den Stellenwert des Staates oder der Staatlichkeit im Allgemeinen. Kein Zweifel besteht daran, dass das Bad ausgeschüttet werden musste. Und das Kind dürfte den Sturz überlebt haben. Vor allem aber macht der Rückblick auf die beiden Jahrzehnte seit dem Ende des Kalten Krieges deutlich, dass die damalige Aufteilung des Nachlasses auf einem Irrtum beruhte. Naturrecht und Revolution können nicht getrennt werden, denn modern gewordenes Naturrecht kann zu Revolutionen überleiten. Nur das klassische Naturrecht orientiert sich an der vorgegebenen und überkommenen Ordnung.

Das Ende der Ost-West-Konfrontation hat die Chance eröffnet, Freiheit und Gleichheit insofern zusammenzuführen, als die Gleichheit zu einem konstituierenden Element der Freiheit wird, wie es die Französische Revolution entworfen hat. Damit wurde auch die Chance eröffnet, die demokratische Legitimation der Menschenrechte wieder zu fördern und zu stärken. Diese Chancen sind bislang noch wenig wirksam ergriffen worden. Etwas überspitzt könnte man sogar sagen, dass nach 1989 statt einer Aufwertung und Wiederbelebung der Französische Revolution deren Beerdigung inszeniert worden sei. Allerdings lässt sich der Wunsch der Menschen nach Freiheit nicht einfach so beerdigen, und das ist gut so. Die Chancen einer Widerbelebung der demokratischen Legitimation von Grund- und Menschenrechten bleiben immer offen. Ob sie ergriffen werden, wann sie ergriffen werden und in welchen Regionen und Ländern, ergibt sich einerseits aus der historischen Entwicklung, andererseits aus dem kulturellen Erbe. Es wird immer Länder oder Regionen geben, welche den anderen vorangehen, und andere, die nachziehen oder dies aus bestimmten Gründen unterlassen. So haben sich die Menschenrechte auch bisher entwickelt, seit sie im 17. und 18. Jahrhundert theoretisch vorgedacht und danach in die Tat umgesetzt worden sind.

Von der Französischen Revolution bis zur dauerhaften Konstituierung Frankreichs als Demokratie brauchte es mehr als acht Jahrzehnte.347 Angesichts dessen ist eine Verzögerung von zwei oder drei Jahrzehnten seit dem Ende des Kalten Krieges, um welche sich das Ergreifen der damals eröffneten Chancen weitgehend verzögert hat, keine lange Dauer. Dies umso weniger, als es sich bei diesen Chancen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht um ein Zeitfenster handelt, das sich wieder schließt. Und sollte es sich regional oder in einzelnen Ländern dennoch temporär schließen, kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass es immer wieder Menschen gibt, die es öffnen wollen und öffnen werden. Dass die Entwicklung in den ersten zwei Jahrzehnten nach dem machtpolitischen Ende des Kalten Krieges ideologisch nach wie vor von den Begrifflichkeiten dieses Krieges geprägt war, dürfte auch durch die Dauer des großen geschichtlichen Bogens bedingt sein, welcher nun zur Überwindung ansteht. Genau besehen sind dies nicht nur die Jahrzehnte seit 1945, sondern es sind – was die Entwicklung der Menschenrechte anbelangt – die mehr als eineinhalb Jahrhunderte seit Marx und dessen Fehlinterpretation der Menschenrechte in seiner Schrift von 1843, welche die Konzepte der Französischen Revolution unberücksichtigt ließ. Die beiden polarisierten Ideologien, die sich im Kalten Krieg gegenüberstanden, spalteten Freiheit und Gleichheit voneinander ab, weil sie die Analyse auf die ökonomische Frage reduzierten. Die heute anstehende neue Antwort muss auf einem neuen Boden heranreifen, der die ökonomische Frage zwar einschließt, aber auch darüber hinausgreift.

Religion gegen die Menschenrechte

Die kulturrelativistische Kritik an den Menschenrechten kann nicht generell bestimmten Religionen zugeordnet werden. Wenn der Islam heute als den Menschenrechten besonders feindlich gesinnt erscheint, so ist dies eine Konstruktion, deren Anfänge im Westen liegen. Die Revolutionen in arabischen Ländern sprechen eine ganz andere Sprache. Dass die Kritik an den Menschenrechten am schärfsten aus islamistischen Kreisen ertönt, liegt nicht im Islam begründet. Aber die Dominanz, mit welcher die »Bekämpfung des Terrorismus« jahrelang die weltweite Öffentlichkeit beherrscht hat, und dies mit der klaren Ausrichtung auf den »islamistischen Terrorismus«, hat den Islam immer mehr als Hauptfeind der Menschenrechte erscheinen lassen. Zur Eskalation beigetragen haben auch Konflikte im Zusammenleben mit Einwanderern vor allem in europäischen Ländern. Und beigetragen hat die Verbreitung eines betont westlich geprägten Menschenbildes, welches nach dem Kalten Krieg insbesondere aus den Vereinigten Staaten mit missionarischem Eifer in die Welt hinausgetragen worden ist. Der neue Interventionismus, der mit dem Schutz der Menschenrechte begründet wurde, machte diese Rechte zum Exportgut mit allen beschriebenen Konsequenzen. In allen Religionen gibt es in unterschiedlicher Stärke einerseits Tendenzen, welche die Vereinbarkeit mit den Menschenrechten betonen, wie auch gegenläufige Tendenzen, die sich dieser Vereinbarkeit entgegenstellen. Die Letzteren wurden durch die beschriebene Eskalation offensichtlich gefördert, und zwar in allen Religionen.

Innerhalb des Westens selber kam seit dem Ende des Kalten Krieges eine interessante Diskussion in Gang, die verschiedene Überschriften trägt, so zum Beispiel »Wiederkehr der Religion« oder »Neuer Postsäkularismus«. Auch diese Entwicklung scheint wenigstens teilweise eine Spätfolge des Kalten Krieges zu sein. Die notorische Religionsfeindlichkeit des Kommunismus hatte schon während der Ost-West-Konfrontation dazu geführt, dass Dissidenten im Osten durch religiöse Gruppierungen mit besonderer Motivation unterstützt wurden. Hinsichtlich der Menschenrechte stand vor allem die Religionsfreiheit im Vordergrund, die sich nach dem Zerfall des Kommunismus umso klarer hat durchsetzen können. Wird heute in Europa über Menschenrechte und Religion gesprochen, geht es vorwiegend um die Begründung dieser Rechte. In den letzten Jahren ist eine Tendenz aufgekommen oder wieder stärker geworden, welche Menschenrechte und Menschenwürde ganz in die Tradition der »Gottesebenbildlichkeit des Menschen« stellt. Der religiösen Begründung der Menschenrechte wird ein klarer Vorzug gegeben vor allen anderen Bereichen, aus denen diese Rechte auch begründet werden können. Jedenfalls stellt sich diese Betrachtungsweise einem Verständnis der Menschenrechte entgegen, welches von der Notwendigkeit einer demokratischen Legitimation der Rechte ausgeht.

Ein ausschließlich im Christentum verankertes Verständnis der Menschenrechte verliert offensichtlich die Universalität. Es schließt Angehörige anderer Religionen nicht in gleicher Weise mit ein wie die eigenen Gläubigen. Aber genauso wenig kann ein »Ethos«, das sich aus allen Religionen gemeinsam ableiten möchte, als Grundlage für das Verständnis der Menschenrechte herangezogen werden, denn es weist denselben Mangel auf wie eine einzelne Religion, indem es unzählige Menschen nicht mit einbezieht, deren Weltanschauung letztlich nicht religiös verwurzelt ist. Jedoch geht die Problematik über jene der Exklusion hinaus. Die Frage, warum im Westen die Menschenrechte wieder an die Religion angebunden werden sollen, widerspiegelt auch den unterschiedlichen Stellenwert der Religion auf den beiden Seiten des Atlantiks.348 Während des Kalten Krieges wurde die Säkularisierungsthese mehrheitlich dahingehend verstanden, dass der große Stellenwert der Religion in den Vereinigten Staaten innerhalb des Westens die Ausnahme bilde. Der missionarische Eifer der Verbreitung eines vor allem auch US-amerikanisch geprägten Menschenbildes wirkte sich nach dem Ende des Kalten Krieges auch auf Europa aus, sodass immer häufiger davon die Rede war, innerhalb des Westens bilde Europa mit seinem geringeren Stellenwert der Religion die Ausnahme. Diese Diskussion ist wieder im Abklingen begriffen.349 Und was die Menschenrechte anbelangt, entschärft sie sich ohnehin, wenn man auch von einer Differenzierung innerhalb des Westens ausgeht. Die starke Bedeutung der nationalen Identität im Sinne einer moralischen Überlegenheit der Vereinigten Staaten ist bereits erwähnt worden. Eine starke religiöse Identität kann sich mit der nationalen Identität verbinden und diese durch die religiöse Unterfütterung noch verstärken. In Europa sind derartige nationale Identitäten kaum mehr denkbar, wenn man von kleineren nationalistischen Gruppierungen absieht, die aber ein Nischendasein führen.

Die wieder aufgekommene Tendenz, Menschenrechte an die Religion anzubinden, ist ein Versuch, diese Rechte auf etwas Absolutes zurückzuführen, sie gleichsam unantastbar zu machen. Dies mag auf den ersten Blick als eine edle Absicht erscheinen, ist aber den Menschenrechten nicht förderlich. Eine solche Verabsolutierung der Menschenrechte beraubt diese ihres Kerngehaltes, weil das Absolute nur beim einzelnen Menschen als Individuum liegen kann, genauso wie die Selbstgesetzgebung im Bereich der Moral beim einzelnen Individuum bleiben muss. Auch die Politik »muss […] von vorneherein jeden totalen Zugriff auf den Menschen meiden, d. h. seinen Bezug zum ›Absoluten‹ wahren«350. Noch viel mehr trifft dies auf die Religionen zu. Dass die Menschenrechte letztlich in etwas Absolutem begründet sind, steht außer Frage, aber dieses Absolute muss verborgen bleiben, und man kann sich ihm immer wieder nur annähern. Deshalb kann sich niemand dieses Absoluten bemächtigen, um es irgendwie zuzuordnen, auch die Religionen können dies nicht. Jede Aneignung des Absoluten würde den Annäherungsprozess zum Abschluss bringen. Das Absolute kann sich nur im einzelnen Individuum manifestieren. Der Bezug des Absoluten zu den Menschenrechten zeigt sich deshalb nur im subjektiven Element, das einen Teil der revolutionären Seite dieser Rechte ausmacht. In der Losung »Freiheit oder Tod« klingt dieses Absolute an. Es ist eine Losung, die vom einzelnen Menschen nur in freier Entscheidung gewählt werden kann. Dass auch die Religion dem einzelnen Menschen etwas Absolutes vermitteln kann, steht außer Frage, denn Religionen gehen von absoluten Wahrheiten aus. Aber die Menschenrechte garantieren dem Einzelnen gerade den individuellen Freiraum, in welchem er sich für oder gegen Religion entscheiden kann.

Menschenrechte können nicht dadurch geschützt werden, dass man sie zurückbuchstabiert, nämlich von der »Aufgabe« zurück in eine »Vorgabe«. Der Übergang von einer vorgegebenen zu einer aufgegebenen Ordnung hat nun einmal stattgefunden, und er geht in seinen Anfängen zurück auf die kopernikanische Wende im Rechtsdenken. Damit sind die Menschenrechte von vorgegebenen Rechten zu aufgegebenen Rechten geworden. Und nach diesem Übergang kann man sie nur dadurch schützen, dass man sich in den Prozess einmischt, in welchem sie immer wieder demokratisch erarbeitet und legitimiert werden. Dies ist der einzige Weg, auch wenn sich die Rechte gelegentlich in revolutionären Sprüngen weiterentwickeln, welchen das demokratische Legitimationsverfahren dann erst nachfolgen kann.

Von John Locke zu Immanuel Kant

Philosophien können nicht einfach losgelöst von der historischen Situation betrachtet werden, in der sie entstanden sind. Aber es gibt Denkformen und Denkschritte, die in späteren Zeiten und unter veränderten Bedingungen Bestand haben können oder sogar erst später umsetzbar werden. Kant ist in seinen Vorstellungen zu gewissen Bereichen des Privat- und des Strafrechtes zu Schlussfolgerungen gelangt, die man heute kaum nachvollziehen kann. Die von ihm formulierte »natürliche« Voraussetzung für den Bürgerstatus, »dass es kein Kind, kein Weib sei«351, kann man immerhin den damaligen allgemeinen Anschauungen zuschreiben, welche ja auch Olympe de Gouges auf dem Schafott haben enden lassen. Zur philosophischen Begründung der Menschenrechte hat Kant jedoch einen Beitrag geleistet, dessen Konsequenzen noch längst nicht umgesetzt und damit hochaktuell sind. Kants Freiheitsphilosophie ist »so umfassend und radikal, dass sie auch noch den Katalog konkreter menschenrechtlicher Freiheitsforderungen des Westens in einer spezifisch rechtsstaatlichen Weise überholt«352. Abschließend wird Kant in einigen wenigen Punkten den entsprechenden Aussagen Lockes gegenübergestellt, des anderen großen Denkers, der hundert Jahre vor Kant Entscheidendes zur Begründung der Menschenrechte beitrug.

Die hundert Jahre machen einen großen Unterschied aus. Kant war dem Widerspruch nicht mehr ausgesetzt, von dem Lockes Umgang mit dem Verhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit geprägt war und der von der damaligen Naturrechtslehre ausging. Der von Gott geschaffenen Harmonie des klassischen Naturrechts stand damals ein individualistisches Menschenbild gegenüber, das aus diesen Vorgaben ausbrechen wollte. Mit der zentralen Stellung des Eigentums in seiner Philosophie, von dem sich letztlich sogar die beiden anderen Elemente Leben und Freiheit ableiten, ebnete Locke dem Unternehmer den Weg in Handel und Produktion und orientierte sich damit an der Zukunft. Die mit dieser Gesellschaftsordnung verbundene Ungleichheit rechtfertigte er hingegen rückwärtsgewandt durch göttliche Vorgabe, an der nichts zu ändern war. Locke orientierte sich an der Situation Englands am Ende des 17. Jahrhunderts. Damals konnte eine gegenseitige Anerkennung aller Rechtsunterworfenen als erster Akt vor jeglicher Verfassungs- und Gesetzgebung noch nicht gedacht werden.353

Dies hatte sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts radikal geändert, die Voraussetzungen für Kant waren ganz andere. Die Zeit war reif geworden für die Vorstellung, dass der Mensch weder durch eine göttliche noch durch eine sonstige metaphysische Vorgabe eingebunden, sondern dass ihm die Aufgabe gestellt sei, seine Ordnung selber zu schaffen. Die äußere Vorgabe verlegte Kant in das Innere jedes Menschen, dem er als Aufgabe das Gedankenexperiment der Universalisierbarkeit zumutete. Die dazu notwendige Gleichheit der Menschen ist nicht eine äußere Gleichheit, sondern sie ist Voraussetzung dafür, dass das ganze Potential zur Erfüllung dieser Aufgabe überhaupt zum Tragen kommen kann, nämlich der Beitrag aller Rechtsunterworfenen als Citoyen. Dass auch bei Kant dieser Status noch längst nicht für alle Menschen zugänglich war, stellt eine zeitbedingte Einschränkung dar. Sie hat sich später korrigieren lassen, und auch diese Entwicklung war in Kants Denken bereits angelegt. Die Chance, welche das Ende des Kalten Krieges eröffnet hat und welche darin besteht, Gleichheit im Sinne der Französischen Revolution zu einem konstituierenden Element der Freiheit werden zu lassen, kann deshalb auch als Chance gesehen werden, den Weg von Locke zu Kant einzuschlagen.354

Locke sieht die naturrechtlich weitgehend vorbestimmten Grundrechte gesichert durch Rechtsstaatlichkeit und die Zurückbindung staatlichen Handelns zugunsten des Freiraumes für das Individuum.355 Er beschränkt sich deshalb auf die negativen Freiheitsrechte und weist dem Staat die Aufgabe zu, diese Rechte zu schützen. Kant fügt den negativen Freiheitsrechten die positiven politischen Teilnahmerechte hinzu. Sein Staat hat zwar ebenfalls die Rechte zu schützen, aber darüber hinaus hat er eine Rolle in der Phase der Konkretisierung der Rechte, die zunächst unbestimmt sind. Der republikanische Staat stellt die Institutionen zur Verfügung, in welchen die Berechtigten ihren Freiheitsrechten eine konkrete Form und Ausgestaltung geben. Deshalb fällt die naturrechtliche Vorgabe weg, und als naturrechtlich kann bei Kant nur noch das einzige »angeborene« Menschheitsrecht auf Freiheit gesehen werden.

Was bei Kant wegfällt, ist die Zurückführung in frühere als Ideal betrachtete Zustände, wie es in Lockes Widerstandsrecht zum Ausdruck kommt. Während Locke vorwärts und rückwärts blicken muss, um den Widerspruch seiner Zeit auffangen zu können, entwickelt Kant seine republikanische Vorstellung vollständig zukunftsgerichtet, wobei er aber zu großer Vorsicht mahnt, »den Stand eines mit Ungerechtigkeit behafteten öffentlichen Rechts noch so lange beharren zu lassen, bis zur völligen Umwälzung alles entweder von selbst gereift, oder durch friedliche Mittel der Reife nahe gebracht worden« sei.356 Das Wegfallen der Rückbezüglichkeit auf dem Weg von Locke zu Kant zeigt sich auch in der Differenzierung innerhalb des Westens. Diese Betrachtungsweise findet sich mit einem transatlantisch unterschiedlichen Menschenrechtsverständnis nicht nur ab, sondern macht es sogar zukunftsorientiert. Der rückwärtsorientierten Wiederherstellung des schon immer gewollten Staatsminimalismus, für die man sich jenseits des Atlantiks auf eine sakralisierte und fast unabänderliche Verfassung beruft, steht die zukunftsorientierte Erfindung einer neuen Form bürgerschaftlicher Öffentlichkeit in der Europäischen Union gegenüber.

Der europarechtliche Konstitutionalismus der Europäischen Union ist mit dem Verfassungsverständnis von Kant in Verbindung gebracht worden. Dieses wird jenem von Locke gegenübergestellt, das heute immer noch in völkerrechtlichen Kategorien zum Ausdruck kommt. Im völkerrechtlichen Konstitutionalismus haben die Menschenrechte eine staatsbegrenzende und damit Politik begrenzende Funktion. Im Europarecht werden sie jedoch »um eine kollektive, politische Komponente ergänzt. […] Im europarechtlichen Verfassungsbegriff ist eine Erweiterung der subjektiven Rechte um das Element positiver Freiheit als demokratische Teilhabe an der Setzung des Rechts enthalten, das im völkerrechtlichen Verfassungsbegriff – aus guten Gründen – abwesend ist.«357 Ausgehend von dieser Zuordnung, wird auf eine interessante Kontroverse zwischen einigen US-amerikanischen und europäischen Völkerrechtlern hingewiesen. Die Ersteren möchten das europäische Modell auch global umgesetzt sehen, d. h. im bereits erwähnten globalen Zusammenschluss aller Demokratien, was einem Ausschluss der Nicht-Demokratien gleichkommen würde. In Europa wird diese Vorstellung abgelehnt, man beharrt für die weltweite Zusammenarbeit auf den völkerrechtlichen Formen.

Auf die Frage, ob die Menschenrechte einer demokratischen Legitimation bedürfen oder nicht, gibt Kant in seiner damaligen Zeit eine Antwort. Sie muss zwar an die heutigen Verhältnisse angepasst werden, aber dies ist möglich, ohne den Grundgehalt der Antwort zu verändern. Zu Kants Zeit war diese Fragestellung bekannt, denn bereits die Französische Revolution hat darauf eine andere Antwort gegeben als jene Politiker, die bei der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika und in den Jahren danach die Oberhand gewannen und seit dem Ende des Kalten Krieges nochmals einen Aufschwung erlebt haben. Dieses Ende hat aber auch die Chance eröffnet, den Weg von John Locke zu Immanuel Kant weiterzugehen. Es ist der Weg der Versöhnung von Freiheit und Gleichheit.