II. Menschenrechte 1789 – 1989

Die Darstellung der historischen Entwicklung der Menschenrechte folgt hier nicht der rechts- und staatsphilosophischen Linie. Das ausgehende 18. Jahrhundert brachte den entscheidenden Durchbruch, indem Menschenrechte zum ersten Mal systematisch ins Positive Recht übergeführt wurden. Im Folgenden werden einige Stationen dieser Entwicklungslinie aufgezeigt, verbunden aber mit theoretischen Fragen, welche sich erst aus der Positivierung ergeben haben. Auch in diesem zweiten Teil werden jene Aspekte besonders herausgearbeitet, die zur Beurteilung der Situation der Menschenrechte seit dem Ende des Kalten Krieges von Bedeutung sein können.

Auf die Fragen, ob Menschenrechte »moralische Rechte« oder »rechtliche Rechte« seien, ob sie von einem Stadium ins andere übergehen und ob sie nach einem solchen Übergang auch als moralische Rechte weiterbestehen würden, wird hier im Detail nicht eingegangen.75 Die Annahme wird vorausgesetzt, dass sich Menschenrechte auch aus dem Bereich des Moralischen ableiten können, nebst anderen Bereichen wie zum Beispiel Religion oder Philosophie. Ebenso wird die Annahme vorausgesetzt, dass die verschiedenen Begründungen in den Prozess der Positivierung einfließen. Von Interesse sind im Folgenden vor allem die Verfahren, mittels welcher die Rechte in das Positive Recht überführt werden. Außerdem ist die Unterscheidung zwischen zwei Bereichen von Bedeutung, einerseits jener der erwähnten Positivierung der Rechte und andererseits jener der Anwendung dieser Rechte auf den Einzelfall.

Im Folgenden ist mit dem Begriff der »Positivierung« der Grund- und Menschenrechte etwas ausschließlich Juristisches gemeint, nämlich die Überführung einer Idee in gültiges und anwendbares Recht. Der Begriff sagt weder etwas über den Inhalt noch über die Begründung einer solchen Idee aus. Insbesondere ist nicht gemeint, dass ein inhaltlich bestimmtes »moralisches« Recht schon vorher existiert habe, welches man im Akt der Positivierung nur noch habe in eine rechtliche Form »übersetzen« müssen, ohne seinen Inhalt zu verändern. Dies würde einen Rückfall hinter die »kopernikanische Wende des Rechtsdenkens« bedeuten, welche immerhin schon vor mehr als dreieinhalb Jahrhunderten eingesetzt hat.

4. Die Positivierung der Menschenrechte

Menschenrechte beanspruchen universale Geltung. Sie kommen den Menschen aufgrund ihres Mensch-Seins zu, unabhängig davon, in welcher Zeit und in welchem geografischen Raum sie sich aufhalten. Im ausgehenden 18. Jahrhundert war die Zeit für die Positivierung der Menschenrechte reif geworden, für ihre Überführung also in eine Form von Rechten, auf welche sich die einzelnen Individuen sollten berufen können, wenn auch noch nicht in der Form einer direkten Einklagbarkeit vor Gerichten. Die Begründung für diesen Umbruch war eine naturrechtliche. Nachdem das klassische Naturrecht nur den Widerstand erlaubt hatte, eine gestörte Ordnung wiederherzustellen, hatte die Aufklärung dem modernen Naturrecht »revolutionäre Kraft«76 verliehen. In einer beispiellosen historischen Eruption verschaffte sich der menschenrechtliche Autonomieanspruch seinen Durchbruch, Auto-Nomie im Sinne der Selbstgesetzgebung. Für Europa steht dabei die Französische Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen im Zentrum, die in der Französischen Revolution am 26. August 1789 durch die Nationalversammlung verabschiedet wurde. Mit ihrem ersten Satz »Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten« ist sie »wie ein Trompetenstoß durch Europa gegangen«77.

Die Erwähnung sowohl der Menschen als auch der Bürger in der Französischen Erklärung sagt bereits alles aus über einen Widerspruch, der durch die Positivierung der Menschenrechte geschaffen worden ist. Dieser Widerspruch – ein Paradox78 – hat sich bis heute nicht auflösen lassen. Er wird sogar mit den Menschenrechten auf immer untrennbar verknüpft bleiben. Die Französische Erklärung ist im Rahmen der Rechteerklärungen, die es damals schon gab und die ihr noch folgten, die einzige, welche diesen Widerspruch ausdrücklich thematisiert. Menschenrechte sind universal, aber ihre Überführung in das Positive Recht erlebten sie im Rahmen der Nationalstaatenbildung in jeder Nation zu einem anderen Zeitpunkt, auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Die im Rahmen der Nationalstaaten positivierten Rechte standen nur den jeweiligen Bürgern dieser einzelnen Staaten zu. In der geografischen Beschränkung der Positivierung war somit in verschiedener Hinsicht eine Abkehr vom Universalismus angelegt, was die Durchsetzung der Rechte anbelangt. Ihre universale Gültigkeit wurde damit aber nicht in Frage gestellt.

Die französische Erklärung umfasst zwar einen Katalog der verschiedenen Rechte, die nur den Bürgern Frankreichs garantiert werden, die Bedeutung des Dokumentes ging jedoch weit über diesen Anspruch hinaus. Es verstand sich als ein politisches Programm, eine Verkündigung der rechtsphilosophischen Einsichten der vergangenen Jahrzehnte, für deren Umsetzung die Zeit nun reif geworden sei. In der Debatte der Nationalversammlung wurde ausdrücklich hervorgehoben, dass mit dieser Erklärung »Wahrheiten für alle Zeiten und für alle Länder« verkündet würden.79 Aber auch die französische Erklärung hat die von ihr proklamierten Rechte letztlich nur den Bürgern Frankreichs einräumen können. Es dauerte noch mehr als ein Jahrhundert, bis die Zeit für universale Garantien reif werden sollte. Die Positivierung der Menschenrechte erfolgte in zwei Schritten mit zum Teil sogar gegenläufigen Wirkungen. Zunächst wurden die Rechte mit ihrem universalen Anspruch in der Praxis nationalisiert, bevor sie auch in der Praxis internationalisiert werden konnten.

Nationalisierung

Die erste, formal verabschiedete Menschenrechtserklärung ist die Virginia Bill of Rights vom 12. Juni 1776. Ihr folgten verschiedene analoge Erklärungen in anderen späteren Gliedstaaten der damals noch nicht vereinigten Staaten von Amerika. Der Hintergrund dieser Erklärungen ist nicht derselbe wie jener, der zur Französischen Revolution geführt hat. In Amerika ging es darum, die Unabhängigkeit vom englischen Mutterland zu erreichen und einen neuen Staat zu gründen. Als »Revolution« wurden die Umtriebe in Amerika nur von den Engländern im Mutterland bezeichnet, welche die Protagonisten auf dem amerikanischen Kontinent folgerichtig als »Rebellen« und mithin »Verräter« apostrophierten. Diese hingegen führten aus ihrer Sicht einen »Unabhängigkeitskrieg«, und zwar einen berechtigten, den sie nicht mit Revolution gleichsetzten.80 Bereits am 4. Juli 1776 beschloss ein Kongress mit Abgeordneten aus den 13 englischen Kolonien die Unabhängigkeitserklärung, durch welche sich die Kolonien vom Mutterland lossagten und sich von nun an selber als Staaten bezeichneten. In diese Erklärung wurde bezüglich der Menschenrechte der Wortlaut der Erklärung von Virginia zum Teil wörtlich übernommen. Die erste Verfassung der Vereinigten Staaten, durch welche 1787 ein Bundesstaat mit einem Präsidenten an seiner Spitze geschaffen wurde, enthielt noch keinen Katalog der Rechte. Erst 1789 verabschiedete der Kongress die 10 Ergänzungen – amendements – der Verfassung, die eigentliche Bill of Rights. Die USA verfügten als Erste auch über eine Verfassungsgerichtsbarkeit.

Obwohl sich der politische Hintergrund der Entstehungsgeschichte der amerikanischen und der französischen Deklarationen sehr unterschiedlich darstellt, haben sich die beiden Entwicklungen gegenseitig beeinflusst, was vor allem auf persönliche Beziehungen zurückzuführen war. Benjamin Franklin, Mitautor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, hatte 1777 in Paris die Anerkennung der Vereinigten Staaten durch Frankreich ausgehandelt und wirkte danach bis 1785 als Botschafter seines Landes in Paris. Thomas Jefferson, einer der Hauptverfasser der Unabhängigkeitserklärung, löste Franklin als Botschafter in Paris ab und beriet 1789 verschiedene Mitglieder der Nationalversammlung bei der Ausarbeitung der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, soweit dies mit seiner Stellung als Diplomat vereinbar war. Thomas Paine, von Geburt Engländer, beeinflusste mit radikalen Freiheitsidealen die Entwicklung sowohl in Amerika als auch in Frankreich. Der Marquis de La Fayette befehligte als General die französischen Truppen, welche den amerikanischen Kampf um Unabhängigkeit gegen England unterstützten. Als Mitglied der Nationalversammlung brachte er einen ersten Entwurf zur Menschenrechtserklärung ein, der sich am amerikanischen Vorbild orientierte.

Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung verstand sich als an die ganze Menschheit – mankind – gerichtet.81 Sie verkündete in der Präambel »Wir halten diese Wahrheit für offenbar und keines weiteren Beweises bedürftig: Dass alle Menschen gleich sind von Geburt, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, dass zu diesen Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören […], dass, um diese Rechte zu sichern, Regierungen unter den Menschen eingerichtet sind, welche ihre rechtmäßige Gewalt von der Zustimmung der Regierten herleiten.«82 Aber auch jenseits des Atlantiks konnte der Universalitätsanspruch verständlicherweise nicht eingelöst werden. Nicht nur beschränkte sich die Ausübung der Grundrechte auf die Bürger des neu geschaffenen Staates.

Darüber hinaus blieb die Sklaverei unangetastet und wurde die Gleichheit vor dem Gesetz nicht erwähnt, was selbst in den Augen einiger amerikanischer Gründerväter einen Mangel darstellte. Die indianische Urbevölkerung wurde nicht in das Mensch-Sein eingeschlossen, ein Mangel, der viel später überhaupt erst erkannt werden sollte.83 Dass die Frauen in die Rechteerklärungen nicht einbezogen waren, ist allen Dokumenten jener Zeit gemeinsam. Für diesen Schritt war die Zeit noch nicht reif, und Olympe de Gouges, die der französischen Deklaration 1791 eine »Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin« zur Seite gestellt hatte, bezahlte ihre politische Kreativität und ihren Mut im Jahre 1793 mit dem Tod auf dem Schafott.84

Anders als bei der nordamerikanischen Neugründung ging es in Frankreich darum, einen jahrhundertealten Staat aus dem Inneren heraus zu erneuern. Freiheit bedeutete für den »Dritten Stand« der Bürger, den ersten und zweiten Stand, nämlich Adel und Klerus, zu entmachten und sich des Staates kurzerhand zu bemächtigen. Dies geschah am 17. Juni 1789. Ein drohender Staatsbankrott hatte im Mai desselben Jahres dazu geführt, dass König Ludwig XVI. die »Generalstände« einberufen hatte, eine Versammlung, bestehend aus Vertretern der drei Stände, welche seit 1614 nie mehr getagt hatte und praktisch als abgeschafft betrachtet worden war. Der König erhoffte sich von den Generalständen eine Abwendung des Bankrotts, aber er hatte die Situation falsch eingeschätzt. An diesem 17. Juni erklärten sich die Abgeordneten des Dritten Standes zur »Nationalversammlung«. Teile der beiden anderen Stände schlossen sich dem Dritten Stand an, und alle Abgeordneten leisteten den Schwur, nicht auseinanderzugehen, bevor man für Frankreich eine Verfassung verabschiedet habe.85 Die erste Verfassung Frankreichs trat am 3. September 1791 in Kraft, und die verfassungsgebende Versammlung wurde Ende desselben Monats aufgelöst. Der Verfassung wurde die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte als Einleitung vorangestellt.

Die Revolution orientierte sich zunächst an den Ereignissen in Amerika. Die führenden Männer in Paris hatten die Einbindung des französischen Königs durch eine Verfassung vor Augen, ähnlich der Einbindung des US-Präsidenten durch die Verfassung von 1787. Aber die Revolution entwickelte sich weit über diese Vorstellung hinaus. Sie wurde zur »ersten Revolution im vollen Sinne des heutigen Sprachgebrauchs«86. Mit der Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte nahm die Revolution ihren Anfang, sie wurde gewissermaßen zum Programm der gesellschaftlichen und sozialen Umwälzung der folgenden Jahre. Es waren vor allem die radikalen Ideen Jean-Jacques Rousseaus, die diese Entwicklung ermöglichten. Rousseaus Heilsversprechen führte jedoch später zum Moralismus und zum blutigen Terrorregime unter den Jakobinern. Die Gewaltexzesse dieser Zeit haben die Französische Revolution in ganz Europa in ein schlechtes Licht gerückt. Dies verhinderte nicht, dass die Ideen der Revolution Europa ganz entscheidend prägen sollten. Immanuel Kant hat einen Teil seiner Lehren als Antwort auf diesen Schrecken formuliert.

Nationale Positivierungen im 19. Jahrhundert

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts standen die Menschenrechte nicht mehr im Vordergrund.87 Die US-Bill of Rights wurde praktisch bedeutungslos, die Bundesstaaten Massachusetts und Connecticut haben sie erst im Jahre 1939 ratifiziert.88 Schon in der französischen napoleonischen Konsulatsverfassung von 1799 war von Menschenrechten nicht mehr die Rede. Die Französische Revolution endete im Kaiserreich Napoleons, der Europa mit seinen Eroberungsfeldzügen überzog. Nach dessen Niederlage beschloss der Wiener Kongress 1815 ein neues Gleichgewicht der Kräfte in Europa. Die alte Ordnung sollte wieder hergestellt werden, und man war sorgsam darauf bedacht, revolutionäre Erscheinungen zurückzudrängen oder zu verunmöglichen. Europaweit führte man die Monarchie wieder ein und wies die Forderung nach Verfassungen zurück, in denen auch Menschenrechte festgeschrieben werden sollten. Sogar in Frankreich, der Wiege der Revolution, wurde die Monarchie wieder eingeführt.

Aber der Geist war definitiv aus der Flasche entwichen und konnte nicht mehr zurückbefohlen werden. Die Pariser Julirevolution von 1830 scheiterte zwar, und die Monarchie wurde gerettet, aber in einer neuen Form unter dem »Bürgerkönig« Louis Philippe, der vom Parlament ernannt worden war. Im Revolutionsjahr 1848 wurde Frankreich dann zu einem Kristallisationspunkt, der wiederum auf ganz Europa ausstrahlte. In verschiedenen Ländern erfolgte der Übergang zur konstitutionellen Monarchie. Die so geschaffenen Verfassungen formulierten Menschenrechte in unterschiedlichem Umfang, allerdings nie unter diesem Begriff im universellen Sinne, sondern beschränkt auf national begrenzte Bürgerrechte. Auch in Frankreich wurde in den Revolutionen des 19. Jahrhunderts nur noch die Verbriefung der droits des citoyens eingefordert, obwohl man sich nach wie vor auf die Erklärungen von 1789 und 1791 berief. Erst in der französischen Verfassung von 1946 sollte wieder ausdrücklich von den droits de l’homme die Rede sein.

Dennoch wurde der als »Recht der Franzosen« bezeichnete, relativ bescheidene Katalog in der charte von 1814 zum Vorbild anderer konstitutioneller Monarchien wie 1815 der Niederlande oder verschiedener deutscher Länder, die sich zwischen 1818 und 1833 Verfassungen gaben. Die Verfassung Norwegens von 1814 enthielt einen ähnlich beschränkten Rechtekatalog wie die französische charte. Die »Rechte der Belgier« stehen am Anfang eines Verfassungsdokumentes von 1831, noch vor den Bestimmungen über König und Parlament. Der französischen Verfassung von 1848 war keine lange Lebensdauer beschieden. Sie endete infolge des Staatsstreichs von Louis Napoleon, einem Neffen des vormaligen Kaisers, der sich als Napoleon III. wiederum zum Kaiser krönen ließ. Die Verfassung von Piemont-Sardinien 1848, die später zur Verfassung Italiens wurde, orientierte sich ebenfalls am Rechtekatalog der charte von 1814.

Die Schweiz, das einzige Land, in dem die Revolution von 1848 erfolgreich war, konstituierte sich als demokratischer Bundesstaat. Schon in ihrer vorherigen Form eines losen Staatenbundes – seit dem Westfälischen Frieden von 1648 auch völkerrechtlich anerkannt – war die Monarchie der Eidgenossenschaft fremd gewesen. 1848 wurden die Grundrechte aus den Kantonen übernommen, die sich zum Teil bereits im Gefolge der Pariser Julirevolution von 1930 republikanische Verfassungen gegeben hatten.

Die »Grundrechte des deutschen Volkes« wurden in der 1849 in Frankfurt verabschiedeten Paulskirchenverfassung festgeschrieben, die aber nie in Kraft trat, weil der König von Preußen der Gründung eines gesamtdeutschen Staates eine Absage erteilte. Im selben Jahr verabschiedete in Dänemark eine Nationalversammlung mit der Verfassung einen Rechtekatalog. Ein besonderer Durchbruch gelang 1864 in Griechenland mit einem Grundrechtskatalog, der über das in Europa Übliche weit hinausging. Während sich die »Rechte der Preußen« in der vom König oktroyierten Verfassung von 1849/50 bescheiden ausnahmen, erließ der österreichische Kaiser 1867 ein »Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger«, dem er ein Reichsgericht zur Seite stellte, das auch über Beschwerden von Bürgern entscheiden sollte, wenn ihre »durch die Verfassung gewährleisteten politischen Rechte« verletzt seien. Dies war die erste Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa. Die zweite folgte 1874 in der Schweiz, wobei allerdings die Überprüfung von Bundesgesetzen auf Verfassungsmäßigkeit ausgenommen war. In der deutschen Reichsverfassung von 1871 wurden die Grundrechte nicht mehr genannt, man begnügte sich mit dem Hinweis auf die Garantien der Länderverfassungen.

Zur Grundrechtspositivierung im 19. Jahrhundert kann hier kein detaillierter Überblick gegeben werden. Ein abschließender genereller Hinweis gilt hingegen der Auflösung der großen Vielvölkerreiche, des Habsburgischen, des Osmanischen und jenes der russischen Zaren. Diese Entwicklung begann gegen Ende des 19. Jahrhunderts, und sie war von großer Bedeutung für die Menschenrechte in Europa. In Mittelosteuropa entstanden dadurch viele neue Nationalstaaten, so die Balkanstaaten und die Türkei noch vor dem Ersten Weltkrieg, die mittel- und osteuropäischen Staaten nach 1918. Die für die Staatenbildung treibenden Kräfte verlangten staatliche Souveränität und damit verbunden die politischen Individualrechte, trugen aber oft auch nationalistische Züge. In der Auflösung der Vielvölkerreiche nahm eine Entwicklung ihren Anfang, die sich für die Menschenrechte noch bis Ende des 20. Jahrhunderts katastrophal auswirken sollte. Wie es ihr Name schon sagt, hatte man es in den Vielvölkerreichen verstanden, eine Ordnung zu schaffen, die wenn nicht das Miteinander-Leben der verschiedenen Volksgruppen, so doch ein einigermaßen friedliches Nebeneinander-Leben erlaubte. Dies konnte durch Ansätze von Selbstverwaltung erreicht werden, aufkeimende Animositäten zwischen Volksgruppen wurden aber auch gewaltsam unterdrückt. Es erscheint als eine tragische Ironie der Geschichte, dass sich der Kampf um Menschenrechte untrennbar mit der Umgestaltung oder Neubildung von Nationalstaaten verbunden hat. Während dies in Amerika, Frankreich sowie in vielen anderen Staaten erfolgreich war, brachte es im Bereich der vormaligen Vielvölkerreiche ein neues Phänomen hervor, die Definition der Nation entlang ethnischer – übersetzt »völkischer« – Kriterien. Versuche ethnischer Homogenisierung hatte es zuvor in den Vielvölkerreichen nicht gegeben, nicht geben können. Deren Auflösung war in diesen Regionen die Geburtsstunde der Möglichkeit von Genozid.89

Die neuen Staaten formierten sich entweder als Republiken oder als konstitutionelle Monarchien, oder sie wechselten vom einen zum anderen. Grundrechte gelangten auf unterschiedlichen Wegen in deren Verfassungen, und manchmal wurden sie auch wieder eingeschränkt oder gänzlich zurückgenommen – eine Entwicklung, die ihren Höhepunkt mit dem Aufkommen faschistischer Regime in der ersten Hälfte des folgenden Jahrhunderts erlebte. In dem für die Grundrechte günstigsten Fall wurden Grundrechte durch verfassungsgebende Versammlungen formuliert, die demokratisch von den wahlberechtigten männlichen Bürgern bestellt worden waren. Die Verfassungsgebung konnte auch ohne revolutionären Umsturz ablaufen, wie er exemplarisch in Frankreich stattgefunden hatte. Bei der Ausformulierung von Grundrechtskatalogen in solchen Versammlungen war aber stets das Bewusstsein vorhanden, dass man eine neue Ordnung konzipierte, die von revolutionärem Geist geprägt war.

Längst nicht alle Könige und Fürsten waren bereit, die konstitutionelle Monarchie einbinden zu lassen. Sie suchten nach Möglichkeiten, die Bedürfnisse des aufstrebenden handeltreibenden Bürgertums in wirtschaftlicher Hinsicht zu berücksichtigen, ohne aber die damit verbundenen republikanischen Forderungen zu erfüllen. Deshalb erließen sie selber Verfassungen, die gewisse Grundrechtsgarantien enthielten. Dass solche von oben »gewährten« Rechte wieder zurückgenommen werden können, versteht sich schon aus ihrer Entstehungsgeschichte. Die Verfassungen der deutschen Länder, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehend auf diese Weise entstanden waren, enthielten jedoch auch Bestimmungen, wonach sie nur mit Zustimmung einer Volksvertretung abgeändert werden konnten.90

Nationale Positivierungen im 20. Jahrhundert

Das 20. Jahrhundert zerfällt in die Zeit vor und nach 1945. Die große Zeit der Grund- und Menschenrechtspositivierung war die zweite Hälfte des Jahrhunderts. Allerdings nahm die Entwicklung der Menschenrechte mit der Oktoberrevolution von 1917 eine Wendung, deren Bedeutung nur mehr im Rückblick ermessen werden kann. Erst zwei Jahrzehnte nach dem Scheitern des Kommunismus zeigen sich die Folgen einer begrifflichen Zuordnung des Revolutionären, die damals ihren Anfang nahm. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte die Grundrechtspositivierung in Russland kaum Auswirkungen. Allerdings blieb die Verkündung der »Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes« durch den III. Allrussischen Sowjetkongress im Januar 1918 im Ausland nicht ganz folgenlos. Die Bezugnahme der ein Jahr später verabschiedeten Weimarer Verfassung auf ein »menschenwürdiges Dasein«, dem die Ordnung des Wirtschaftslebens zu entsprechen habe, ist als Antwort zu verstehen auf die Auseinandersetzung mit der »sozialen Frage«, die als zentrales Problem des Industriezeitalters nicht mehr ausgeklammert werden konnte.91 Auch wenn sich die revolutionäre Rechteerklärung Russlands in der kommunistischen Diktatur als Farce erweisen sollte, war ihr kurz nach ihrer Entstehung eine programmatische Bedeutung nicht abzusprechen.

Die Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 knüpfte aber vor allem an das damals nicht umgesetzte Erbe der Paulskirche an und entwickelte dieses demokratisch und sozial weiter. Vorangegangen war eine intensive Diskussion über die Rechtsnatur der Grundrechte und deren Schutz. Der umfangreiche zweite Hauptteil der Verfassung trug die Überschrift »Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen«. Trotz dieser Formulierung waren nach damaliger Auffassung Nicht-Deutsche von der Ausübung dieser Rechte nicht ausgeschlossen. In der Ausformulierung der Grundrechte kam auch zum Ausdruck, dass eine gerechte Sozialordnung geschaffen werden sollte.92 Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus wurde diese Bemühung gestoppt. Schon früher hatte in Europa die Außerkraftsetzung von Grundrechten durch den Faschismus begonnen, erstmals 1922 in Italien, dann 1933 in Deutschland, 1936 in Griechenland, 1939 in Spanien sowie schließlich in allen Ländern, die im Zweiten Weltkrieg besetzt wurden. Nach dem Krieg konnten viele westeuropäische Staaten die Verfassungen wiederaufnehmen, welche vor dem Krieg gegolten hatten. Für Griechenland, Portugal und Spanien stand dieser Weg erst nach dem Sturz der Diktaturen in den siebziger Jahren offen.

Das deutsche Grundgesetz vom 23. Mai 1949 stellte den Grundrechtskatalog an den Anfang. Angesichts der beispiellosen Verletzung der Menschenrechte und der Menschenwürde durch den Nationalsozialismus wurde im ersten Artikel die Garantie der Menschenwürde vorangestellt. Die Schaffung einer Verfassungsgerichtsbarkeit hat in der Folge eine Ausweitung der Grundrechte durch gerichtliche Interpretation ermöglicht. Auch die Menschenwürdeklausel selber wurde in zahlreichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes zur Basis für die Weiterentwicklung der Grundrechte. Bei der Beratung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat war eingehend über die Begründung der Menschenwürde diskutiert worden, wobei sich zwei grundsätzliche Positionen gegenüberstanden. Betrachtete man den Nationalsozialismus vor allem als einen Abfall von christlicher Moralität, stand für die Menschenwürde eine naturrechtliche Begründung im Vordergrund. Aus dieser Sicht ging es darum, eine universell gültige, längst vorgegebene naturrechtliche Norm wieder zu entdecken. Für die andere Position war eine naturrechtliche Begründung undenkbar, denn die Verankerung der Menschenwürde im Grundgesetz bedeutete nichts anderes als das Resultat einer bewussten demokratischen Entscheidung. Die Streitfrage musste nicht entschieden werden, denn der Wortlaut »Die Würde des Menschen ist unantastbar« ließ beide Interpretationen zu.93 Das Grundgesetz versteht unter den Menschenrechten jene Grundrechte, die allen Personen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit zustehen, unter den Bürgerrechten hingegen nur Grundrechte der deutschen Staatsbürger.

In Frankreich erschienen die Grundrechte in der Verfassung von 1946 nur in der Präambel, nun aber wieder als droits de l’homme.94 Dies blieb auch so in der Verfassung der Fünften Republik, die de Gaulle 1958 konzipiert hatte, wobei er einen Verfassungsrat – Conseil constitutionnel – neu einführte, den er selbst als Präsident anrufen konnte für den Fall, dass das Parlament verfassungswidrige Gesetze erlassen sollte. 1971 entschied der Conseil constitutionnel überraschend und gegen alle Lehrmeinungen, dass sich sein Prüfungsrecht auch auf die Präambel beziehe. Damit schuf er eine Art Verfassungsgerichtsbarkeit zum Schutz der Grundrechte, die allerdings vor dem definitiven Erlass von Gesetzen stattzufinden hatte. Für die Grundrechte in den Verfassungen der mittelosteuropäischen Länder, die sich nach dem Krieg neu als Satellitenstaaten der Sowjetunion konstituieren mussten, wurde deren Verfassung aus dem Jahre 1936 zum Vorbild. Sie enthielt einen von außen besehen eindrucksvollen Grundrechtskatalog, der rein propagandistisch gedacht war und die Teilhabe an der staatlichen Fürsorge in den Vordergrund rückte. Vor dem Hintergrund des stalinistischen Terrors bis 1953 erscheint der Katalog als »grausige Groteske«.

Wichtiger als ein detaillierter Überblick ist ein abschließender Hinweis auf den Kolonialismus. Während sich die südamerikanischen Staaten bereits im 19. Jahrhundert von den Mutterländern abgelöst und den beschwerlichen Weg Richtung konstitutionelle Monarchie oder Republik eingeschlagen hatten, folgte die große Unabhängigkeitsbewegung für die anderen kolonisierten Kontinente erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Durch die Dekolonisierung entstanden neue Nationalstaaten. Die Vereinten Nationen wurden im Jahre 1945 von 51 Staaten gegründet. Ende der achtziger Jahre war die Zahl der Mitgliedstaaten bereits auf über 160 angewachsen. Der Zusammenhang zwischen Dekolonisierung und Menschenrechten weist auf eine andere tragische Ironie der Geschichte hin und zeigt bittere Wahrheiten auf. Dieselben europäischen Staaten, in denen Grund- und Menschenrechte erkämpft worden waren, unterwarfen noch bis ins 19. und 20. Jahrhundert ganze Kontinente. Sie teilten sie als ihre Kolonien auf, und es stand außer Frage, dass sie den Bewohnern der eroberten Regionen dieselben Rechte nicht einräumen wollten.95 Dieses Nebeneinander von Freiheitsdenken und Unterdrückung in denselben Köpfen wurde in dem Moment zu einer explosiven Mischung, als sich die Völkergemeinschaft anschickte, die Menschenrechte zu internationalisieren. Aber auch der umgekehrte Zusammenhang ist gegeben: Die Dekolonisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wäre nicht denkbar gewesen ohne die gleichzeitige Internationalisierung der Menschenrechte.

Internationalisierung

Ansätze zur übernationalen Positivierung von Menschenrechten gab es schon im 19. Jahrhundert. Obwohl Kant mit seinem Weltbürgerrecht die gedankliche Grundlage geschaffen hatte, wurzelt die Realisierung in einem ganz anderen Feld, nämlich im Schlachtfeld bei Solferino von 1859, das Henry Dunant eindrucksvoll beschrieb.96 Sein Bericht gab den Anstoß zur Gründung des Roten Kreuzes und zur Schaffung des humanitären Völkerrechts, welches dem Schutz von Menschen in bewaffneten Konflikten gilt. Es geht auf eine erste Genfer Konvention von 1864 zurück und wird heute durch die Genfer Konventionen von 1949 geregelt. Einen nächsten Schritt löste der Versailler Friedensvertrag von 1919 dadurch aus, dass er den Schutz der Arbeiterschaft aufnahm. Eigentliche menschrechtliche Garantien wurden nicht vereinbart, jedoch die Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, in deren Rahmen internationale Abkommen mit Schutzbestimmungen erarbeitet und bereits ab 1919 verabschiedet wurden.

Der entscheidende Durchbruch erfolgte jedoch mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948. Angesichts des Grauens der Geschehnisse während des Zweiten Weltkrieges war die weltweite Staatengemeinschaft im Rahmen der 1945 gegründeten UNO übereingekommen, dass der Schutz der Grundrechte nicht länger nur den Nationalstaaten überlassen werden durfte. Das Völkerrecht, welches seit dem Westfälischen Frieden von 1648 ausschließlich darin bestanden hatte, die Verhältnisse zwischen den Staaten zu regeln, wurde um eine entscheidende Kategorie erweitert, indem auch der einzelne Mensch zum völkerrechtlichen Subjekt erklärt wurde. Von nun an wurden die Menschenrechte jedem Menschen durch völkerrechtliche Vereinbarungen zwischen den Staaten garantiert und dies unabhängig davon, welchem Staat oder ob er überhaupt einem Staat angehörte. In zweierlei Hinsicht bedeutete dies eine ganz grundsätzliche Ausweitung der Menschenrechte oder, umgekehrt aus der Perspektive der einzelnen Menschen betrachtet, einen Prozess des Einbezuges. Einerseits machte dieser Inklusionsprozess auch die in einem Staat lebenden Ausländer zu Berechtigten. Auch wenn ihnen längst nicht alle Grundrechte zugestanden wurden, welche die Verfassungen ihren Staatsangehörigen garantierten, so durfte ihnen die Ausübung der nun völkerrechtlich vereinbarten Menschenrechte nicht vorenthalten werden. Es ist deshalb sinnvoll, von Grundrechten zu sprechen, wenn Rechte nur den Staatsbürgern zustehen, jene Rechte aber Menschenrechte zu nennen, die dieser Einschränkung nicht unterliegen. Andererseits bedeuten die völkerrechtlich vereinbarten Menschenrechte auch für die Staatsangehörigen selber eine Ausweitung ihrer Berechtigung. Insbesondere in Ländern, in welchen die nationale Positivierung noch nicht weit fortgeschritten oder zum Beispiel in Diktaturen gänzlich unterblieben war, sollte sich die internationale Positivierung als äußerst wirksames Instrument erweisen. Hier wird das Spannungsfeld zwischen Normativität und Wirklichkeit, das den Menschenrechten innewohnt, am sichtbarsten.

Die Allgemeine Erklärung von 1948 war nur der Anfang eines langen Prozesses, ein Versprechen, das erst eingelöst werden musste. Juristisch verbindliche Rechte wurden durch die Erklärung noch nicht festgeschrieben. Die unterzeichneten Staaten definierten die verabschiedeten Rechte lediglich als das »von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal«, welches »durch fortschreitende Maßnahmen im nationalen und internationalen Bereich« realisiert werden solle. Dabei muss aber unterschieden werden zwischen dem neuen Instrument des völkerrechtlichen Vertrages selber und dem Inhalt der Rechte, so wie sie 1948 deklariert worden sind. Es wird immer ein historisches Faktum bleiben, dass der Durchbruch zur internationalen völkerrechtlichen Positivierung der Menschenrechte mit der Erklärung von 1948 erreicht worden ist. Dass die Ausformulierung als eigentliche Rechte damals noch bevorstand, ändert nichts an dieser Tatsache, ebenso wenig der Umstand, dass die Institutionalisierung einer internationalen Einklagbarkeit der Rechte durch das berechtigte Individuum noch viel weiter entfernt erschien. Was den Inhalt der vorerst als Ideal bezeichneten Rechte anbelangt, markiert das Jahr 1948 hingegen den »Beginn eines langen Prozesses […], dessen Abschluss wir noch gar nicht erahnen können«. Dies schreibt Norberto Bobbio im Jahre 1990 und weiter: »Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist ein Spiegel des historischen Bewusstseins der Menschheit in der Mitte dieses Jahrhunderts von ihren Grundwerten. Sie stellt eine Synthese aus der Vergangenheit und Anregungen für die Zukunft dar, aber die Rechte sind nicht auf ewig festgeschrieben.«97

Der Prozess war lang und schwierig, vor allem weil durch den Kalten Krieg eine Bruchlinie zwischen Ost und West entlang der verschiedenen Kategorien von Rechten entstand. Schon in der nationalen Positivierung waren verschiedene Gruppen von Rechten unterschieden worden. Eine erste Gruppe umfasst die individuellen Freiheitsrechte im Sinne von Abwehrrechten des Bürgers gegenüber Gewalteinwirkung oder sonstiger Freiheitsbeschränkung durch den Staat, also die Freiheit vom Staat. Sie werden auch als negative Freiheitsrechte bezeichnet. Die zweite Gruppe betrifft politische Teilnahmerechte, also die Freiheit im Staat, die auch positive Teilnahmerechte genannt werden. Eine dritte Gruppe schließlich betrifft die sozialen Teilhaberechte, welche angemessene Lebensbedingungen sichern sollen und somit die Freiheit durch oder mithilfe des Staates betreffen.98 Die Bruchlinie zwischen Ost und West betraf die Priorität dieser Gruppen. Der Westen legte das Hauptgewicht auf die ersten beiden Gruppen von Rechten, während der Ostblock die Priorität der Sozialrechte vertrat. Diese Kontroverse hat die Ausformulierung der Ideale von 1948 zu eigentlichen Rechten über Jahre verzögert und führte schließlich zu einer Aufteilung in zwei verschiedene Verträge. Am 16. Dezember 1966 wurde der »Internationale Pakt über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte« sowie der »Internationale Pakt über die bürgerlichen und politischen Rechte« durch die UNO-Generalversammlung verabschiedet. In Kraft getreten sind beide Pakte erst 1976, nachdem die dafür notwendige Ratifikation durch 35 Staaten erreicht worden war.

Westeuropa eilte dieser Entwicklung weit voraus. Der 1949 gegründete Europarat in Straßburg verabschiedete schon am 4. November 1950 die »Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)«, die bereits im Jahre 1953 in Kraft trat. Sie konzentriert sich auf bürgerliche und politische Rechte analog dem später ausgehandelten UNO-Pakt. Die Konvention schaffte insofern einen Durchbruch, als sie ein Individualbeschwerderecht vorsah. Dieses war in den ersten Jahrzehnten noch fakultativ und musste von den Vertragsstaaten nicht anerkannt werden. Auch war es anfänglich nicht möglich, dass sich ein Beschwerdeführer wegen behaupteter Verletzung der garantierten Rechte direkt an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden konnte. Die Ansprechstelle war die Europäische Kommission für Menschenrechte, ein Vermittlungsorgan, welches dann befugt war, einen Beschwerdefall selber vor den Gerichtshof zu tragen. Die heute geltende umfassende Zuständigkeit des Gerichtshofes zur direkten Entgegennahme von Individualbeschwerden wegen behaupteter Verletzung der in der Konvention garantierten Rechte wurde erst im Jahre 1998 eingeführt. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte wurden vom Europarat in der »Europäischen Sozialcharta« vom 18. Oktober 1961 formuliert und im Jahre 1995 mit einem kollektiven Beschwerdeverfahren ergänzt. Mit der Proklamation der »Charta der Grundrechte der Europäischen Union« am 7. Dezember 2000 haben die Grund- und Menschenrechte in Europa eine nochmalige Erweiterung erfahren, insbesondere nachdem die Charta durch das Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon den Status von Positivem Recht der Union – europäischem Primärrecht – erreicht hat.

Auch andere Kontinente haben regionale Verträge zum Schutz der Menschenrechte erarbeitet, die aber im Vergleich mit den europäischen Beschwerdeverfahren weniger weit gehen. Vor allem für die lateinamerikanischen Länder von Bedeutung ist die der EMRK nachgebildete »Amerikanische Menschenrechtskonvention« vom 22. November 1969, die allerdings von den USA und Kanada nicht ratifiziert worden ist. Für Afrika wurde am 26. Juni 1981 die »Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker« verabschiedet. In der Praxis bedeutungsvoller als die regionalen Abkommen sind aber jene Verträge, die im Rahmen der UNO speziell zum Schutze bestimmter Rechte abgeschlossen worden sind, wie die Rassendiskriminierungs- oder die Folterkonvention. Hinzu kommen die Verträge zum Schutz bestimmter Personen, so die Frauendiskriminierungs-, die Kinderrechts- oder die Wanderarbeiterkonvention.

Die Darstellung der Internationalisierung der Menschenrechte wäre unvollständig, würde nicht auch der Prozess der Dekolonialisierung nochmals erwähnt. Einerseits traten die europäischen Kolonialmächte als Förderer der weltweiten internationalen Positivierung der Menschenrechte auf, andererseits verteidigten sie anfänglich ihre kolonialen Ambitionen auch mit Gewalt.99 So hatten die Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien 1950 darauf bestanden, dass ihre Untertanen in den Kolonien in die Garantie der Menschenrechte gemäß der europäischen Konvention nicht von vornherein einbezogen wurden, sondern erst aufgrund der Abgabe einer besonderen Erklärung durch das Mutterland. Immer mehr frühere Kolonien traten als Nationalstaaten der UNO bei, und bereits Anfang der sechziger Jahre bildeten die Länder der »Dritten Welt« eine Mehrheit. Der Westen wie der Osten versuchten, die neuen Staaten in ihren Einflussbereich zu ziehen, wobei sie das Schwergewicht auf unterschiedliche Menschenrechtsnormen legten. International kam eine dritte Ausrichtung auf postkoloniale Menschenrechtsnormen hinzu. Die postkolonialen Länder erreichten bereits 1960 in einer »Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker« die Festschreibung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung, unterstützt von der Sowjetunion und ohne die Stimmen des Westens.100 Als »Selbstbestimmungsrecht der Völker« hat dieses Recht Eingang in die beiden UNO-Menschenrechtspakte von 1966 gefunden. Neben dem Spannungsfeld zwischen Ost und West hat auch der Dekolonisierungsprozess dazu beigetragen, dass die Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Kategorie der internationalen Politik geworden sind.

Der Kalte Krieg hat die Entwicklung der Menschenrechte stark beeinflusst. Mit sieben anderen Staaten hatte sich die Sowjetunion bei der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Jahre 1948 noch der Stimme enthalten.101 Darüber hinaus hatte sie versucht, die Veröffentlichung des Textes im Inland zu verhindern. Innerhalb von zehn Jahren änderte sie jedoch ihre außenpolitische Haltung, und sie wurde zu einer Vorkämpferin der Menschenrechte mit einer ganz bestimmten Ausrichtung. Das Hauptgewicht lag auf der Argumentation, dass ohne wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte auch die bürgerlichen und politischen Rechte bedeutungslos würden. Zwar hat die Ost-West-Kontroverse die Erarbeitung von Menschenrechtsinstrumenten im Rahmen der UN verzögert. Inhaltlich aber hat der Kalte Krieg die Menschenrechtsdiskussion befördert. Es wurde diplomatisch und außenpolitisch darüber verhandelt, worin diese Rechte bestehen sollten, und die postkoloniale Sicht fügte in bestimmten Fragestellungen eine zusätzliche dritte Komponente hinzu. Ein damals und auch im Rückblick noch wenig wahrgenommenes Element ergab sich schließlich aus der speziellen Situation Westeuropas. Im Antrieb zu den Bemühungen um die europäischen Menschenrechte wurde die ursprüngliche Motivation des rückblickenden »Nie wieder!« schon bald ergänzt durch die Motivation, im Kalten Krieg ein westeuropäisches Zeichen zu setzen, das auch der Abwehr des Kommunismus dienen sollte. Das Vorantreiben der Menschenrechte im westeuropäischen Rahmen wurde selber zu einer Komponente des Kalten Krieges und hat dadurch die Entwicklung befördert. Auch aus dieser Sicht kann nicht gesagt werden, der Kalte Krieg hätte die Menschenrechtsentwicklung zum Stillstand gebracht.102

5. Menschenrechte, Staatlichkeit und Demokratie

Die Nationalisierung der nach wie vor als universal verstandenen Menschenrechte hat diese Rechte in der Praxis zu einem Bestandteil des Positiven Rechtes der einzelnen Nationalstaaten gemacht. Damit wurden Menschenrechte zu Bürgerrechten oder Grundrechten. Entstanden als eine Kategorie der Rechtsphilosophie, musste man sie nun auch als einen Gegenstand der Staatsphilosophie betrachten. Die spätere Internationalisierung hat an der engen Verbindung der Menschenrechte mit dem Nationalstaat nichts geändert, nur dass dessen Rolle nun vielfältiger wurde. Seit Menschenrechte überhaupt positiviert worden sind, richten sie sich immer gegen den Staat als Verletzer dieser Rechte. Mit der Positivierung ist der Staat umgekehrt zum Garanten derselben Rechte geworden, indem er dafür zu sorgen hat, dass sie nicht verletzt werden, auch nicht durch private Akteure, die seiner Rechtsordnung unterstellt sind. Später kam die Aufgabe hinzu, internationale Instrumente zum Schutz der Menschenrechte auszuhandeln, im Weiteren die Verpflichtung, auch diese Rechte im eigenen Hoheitsbereich zu garantieren und schließlich sich selbst den internationalen Überprüfungs- und Beschwerdemechanismen zu stellen.

Die Rolle des Staates

Da die nationale Positivierung der Menschenrechte in den verschiedenen Staaten von sehr verschiedenen Voraussetzungen ausgeht und sich über den Zeitraum von mehr als zwei Jahrhunderten erstreckt, waren die Abläufe sehr unterschiedlich. Nun wäre es aber verfehlt, anzunehmen, dass wenigstens der Anfangspunkt im ausgehenden 18. Jahrhundert ein einheitlicher gewesen sei. Gerade was die Bedeutung von Staat und Demokratie im Zusammenhang mit den Menschenrechten anbelangt, gestaltete sich bereits die Ausgangslage in jenen drei Ländern, welche anfänglich für die Entwicklung dieser Rechte die wichtigsten waren, sehr unterschiedlich. Das Verhältnis zwischen Menschenrechten und Demokratie wurde unterschiedlich gesehen und hat sich auch danach unterschiedlich entwickelt. Selbst wenn eine gegenseitige Beeinflussung stattfand – insbesondere zwischen Frankreich und den USA über persönliche Beziehungen –, führten diese historischen Gegebenheiten zu Unterschieden in der Wahrnehmung und Handhabung der Menschenrechte, welche bis heute ihre Auswirkungen haben.

Die Ausgangslage in Frankreich, Amerika und England

Noch bis in die sechziger Jahre des 18. Jahrhunderts begründeten die amerikanischen Kolonisten ihre Ansprüche gegenüber dem Mutterland mit ihren Geburtsrechten als Engländer – birthrights of Englishmen – und dachten nicht an Unabhängigkeit. Wenn sie sich auf ihre »natürlichen« Rechte beriefen, hatten sie die englischen Herrschaftsverträge wie die Magna Charta von 1215 vor Augen oder die Bill of Rights von 1689. In der einleitenden Begründung der Bill of Rights waren eine ganze Reihe von Verstößen des Königs gegen die überkommene Ordnung verurteilt worden, insbesondere dessen Übergriffe in Bereiche, welche dem Parlament, den Gerichten oder der Kirche unterstanden. An solchen älteren Texten orientierten sich nun die Kolonisten und nahmen sich ein Vorbild an ihren englischen Ahnen, die »in ruhmvollen Kämpfen die alten Freiheiten gegen die Übergriffe einer tyrannischen Regierung verteidigt und wiederhergestellt haben«103. Genau wie die englische Bill of Rights enthielt Thomas Jeffersons Entwurf der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung eine lange Aufzählung der Missetaten des englischen Königs, dies geradezu im Sinne eines ausführlichen Sündenkatalogs.104 Für eine naturrechtliche Begründung der Unabhängigkeit hätte dies wenig Sinn gemacht. Vielmehr ging es darum, die Grundlage zu schaffen für die Kündigung eines altrechtlichen Treueverhältnisses zwischen dem König und seinen Untertanen, dessen Wurzeln in Europa ins ständische Mittelalter zurückreichen. Vor allem sollte bewiesen werden, dass nicht die Kolonisten dieses Verhältnis kündigten, sondern der König selbst das Treueverhältnis aufgelöst habe, indem er den Untertanen in Amerika seinen Schutz entzogen hatte. Erst zwei Jahre vor der Unabhängigkeitserklärung wurde 1774 erstmals mit naturrechtlichen Kategorien argumentiert, wonach sich die Bewohner der Kolonien neben ihren Geburtsrechten als Engländer auch auf die Gesetze der Natur berufen könnten.105 Verlangt wurde auch jetzt noch die Wiederherstellung der althergebrachten Ordnung, man machte mit anderen Worten vom naturrechtlichen Widerstandsrecht Gebrauch, und damit bewegte man sich ganz im Rahmen des klassischen und nicht des modernen Naturrechtes.

Diese Argumentation bezog sich auf Kategorien einer Zeit, die sowohl in Kontinentaleuropa als auch in England bereits zu Ende gegangen war. Die ersten Kolonisten hatten England im 17. Jahrhundert verlassen, in einem Zeitraum also, in welchem im Mutterland um ebendiese Kategorien vehement gestritten wurde. Letztlich ging es um die Frage, ob der Staat an übergeordnetes Recht gebunden sei oder ob umgekehrt der Gesetzgeber souverän sei. Auf dem europäischen Kontinent hatte Bodin bereits die Theorie entwickelt, wonach die Gesetzgebung Aufgabe des Souveräns sei, der als absolutistischer Herrscher gedacht war. Damit hatte Bodin die mittelalterliche Vorstellung abgelöst, gemäß der das Recht über dem Staat stehe. Im Übergang vom klassischen zum modernen Naturrecht wurde die von Bodin noch mitgedachte Bindung an göttliches Recht durch eine Bindung an vernunftrechtliche Kategorien ersetzt. Seit der kopernikanischen Wende im Rechtsdenken wurden geltende Gesetze nicht mehr als unbedingt gerecht erachtet, weshalb Recht und Gerechtigkeit auseinanderfallen konnten. So entstand eine Spannung zwischen dem modernen Naturrecht und dem gesetzten Positiven Recht. Mithilfe der Idealvorstellungen des modernen Naturrechtes wurden geltende Gesetze kritisiert. Das Naturrecht diente als intellektuelle Waffe gegen den absoluten Herrscher, der die Gesetze erlassen hatte. In Frankreich, wo sich der Absolutismus unbeschränkt halten konnte, führte diese Konstellation zu einem revolutionären Durchbruch, der für die Menschenrechte weiter gehende Konsequenzen hatte.

In England konnte sich die Vorstellung von einem Recht, das dem Staat übergeordnet ist, länger halten. Der Absolutismus hat sich nicht so wie auf dem Festland durchsetzen können, er wurde immer wieder dadurch gebremst, dass das Parlament der Krone durch die verschiedenen Herrschaftsverträge Zugeständnisse abtrotzen konnte. In diesen Auseinandersetzungen, die im 17. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichten, war die »Souveränität und Unverletzlichkeit des Rechts« ein wichtiges Argument, um klarzustellen, dass sowohl über dem Parlament als auch über dem König gleichermaßen ein Recht stehe, das schon immer gegolten habe.106 In der Glorreichen Revolution setzte sich das Parlament 1688 definitiv gegen die absolutistischen Bestrebungen der Könige durch. In der Theorie hatte damit die Rechtssouveränität obsiegt. Dies galt aber nur für kurze Zeit. In der Praxis nämlich begann das siegreiche Parlament, sich selber vom übergeordneten Recht zu entbinden. Immer klarer setzte sich die Vorstellung der uneingeschränkten Souveränität des Parlaments durch, die als »parlamentarischer Absolutismus« bezeichnet worden ist.107 So löst auch in England die Staatssouveränität die alte Rechtssouveränität ab. Nachdem dies in Frankreich zugunsten des souveränen Königs geschehen war, vollzog sich derselbe Übergang in England zugunsten des souveränen Parlamentes. Das englische Parlament, welches letztlich auf die Magna Charta aus dem Jahre 1215 zurückgeht, war ein Ständeparlament. Es gliederte sich in ein House of Commons, das House of Lords, dem Adel und Klerus angehörten, und schließlich den König, dem ein Anteil an der Gesetzgebung eingeräumt blieb. Mit der Bill of Rights erfolgte der Durchbruch zu einer parlamentarischen Verfassung, und 1716 wurde die Souveränität des Parlamentes formell verankert.108 Die Monarchie erhielt eine neue Grundlage in einem »Bund von König und Volk«, der später mit dem Begriff des King in parliament umschrieben wurde. Freiheitsrechte sind in Großbritannien seit Jahrhunderten und bis heute auch mit der Vorstellung verbunden, in diesem Parlament vertreten zu sein, selbst wenn die Wahlberechtigung sehr lange den Vermögenden vorbehalten war.109

Im Konflikt mit den Kolonien steht Ende des 18. Jahrhunderts die englische Staats- und Parlamentssouveränität genau jener alten Rechtssouveränität gegenüber, welche die Kolonisten im 17. Jahrhundert aus England über den Atlantik mitgebracht und bewahrt haben. Als das englische Parlament in einer kriegsbedingten finanziellen Notlage beschließt, die Abgaben auf gewisse Produkte jenseits des Atlantiks zu erhöhen, lehnen dies die Kolonisten kategorisch ab und stellen dem Parlament des Mutterlandes ihr von den englischen Ahnen ererbtes höheres Recht entgegen. Es ist dasselbe höhere Recht, das ein Jahrhundert zuvor das englische Parlament dem König entgegengehalten hatte.110 »Die mittelalterliche Suprematie des Rechts, die auf dem Kontinent und schließlich auch in England zu einer abstrakten naturrechtlichen Konstruktion verblasst, bleibt schließlich nur noch in Amerika lebendige Wirklichkeit.«111 Zum einen hatten die Kolonisten die Erfahrung gemacht, dass die Gesetze, welche von den lokalen Parlamenten der einzelnen Kolonien erlassen worden waren, in London auf ihre Übereinstimmung mit dem englischen Recht überprüft und allenfalls annulliert wurden. Zum anderen aber waren sie nie mit absolutistischen Herrschaftsansprüchen konfrontiert gewesen, und sie hatten die Auseinandersetzung mit dem Herrschaftsanspruch der englischen Krone dem Parlament im fernen Mutterland überlassen können. Aus diesen Gründen waren die Kolonisten bei der Rechtssouveränität geblieben. Sie hatten keine Veranlassung gehabt, wie England oder Frankreich zur Staatssouveränität überzugehen. »Wenn man die Amerikaner von 1776 fragt, wie denn die natürlichen oder Menschenrechte in ihre positive Gesetzgebung gekommen seien, so antworten sie, dass sie überhaupt nicht hineingekommen, sondern immer schon darin enthalten gewesen seien.«112

Die tatsächlichen Verhältnisse in den Kolonien hatten ebenfalls Einfluss auf das Verständnis des Naturrechts. Nachdem sich die Wiederherstellung der alten Ordnung und die Durchsetzung der englischen Geburtsrechte als undurchführbar erwiesen hatten und die Kolonisten deshalb auf die Unabhängigkeitsforderung umschwenkten, konnten sie sich nicht mehr auf englisches Recht berufen, und es blieb zur Begründung nur noch das Naturrecht. Man stützte sich vor allem auf Locke, den man aber sehr praxisbezogen verstand. Locke hat seine Zweite Abhandlung über die Regierung nach der Revolution in England verfasst. Auch wenn er somit bereits existierende Institutionen beschrieb, um ihnen »eine höhere Rechtfertigung zu geben«, so hatten seine Theorien dennoch allgemeinen und normativen Charakter.113 Sie zeigten auf, wie das Verhältnis des Individuums zum Staat im Idealfall ausgestaltet werden sollte. In ihrer Suche nach praktikablen Lösungen legten die Gründerväter Lockes Theorie aber dahingehend aus, dass er mit dem Naturzustand jene Verhältnisse beschrieben habe, die in Amerika bereits Wirklichkeit geworden seien.114

Dies wirkte sich vor allem auf die Vorstellungen über den Sozialvertrag aus. Locke hatte seinen Sozialvertrag als Gesellschaftsvertrag konzipiert, als lediglich virtuelle Konstruktion, die einer Staatsgründung in der Vorstellung hypothetisch vorausgeht.115 Die Kolonisten hingegen identifizierten den Sozialvertrag kurzerhand mit den vielen real existierenden Verträgen, die bei der Gründung der verschiedenen Kolonien abgeschlossen worden waren. Damit verwandelten sie den Locke’schen Gesellschaftsvertrag gewissermaßen in einen Herrschaftsvertrag.116 Was Locke als Naturzustand vor der Staatsgründung definiert hatte, erachteten die Kolonisten – auch aufgrund ihrer Lebensumstände – als bereits verwirklicht. Dass sie sich, wenn sie im Verlauf der Besiedlung des Kontinentes von Osten nach Westen zogen und weitab jeglicher Zivilisation die Wildnis kultivierten, praktisch in einer Form von real existierendem »Naturzustand« wähnten, ist nicht ganz unverständlich. Die große Differenz im Naturrechtsverständnis der Kolonisten zu jenem der Europäer ergibt sich daraus, dass die schrankenlose Staatsmacht, gegen die man sich wendete, im fernen England saß. Nachdem diese weggefallen war, gab es gar keine Macht mehr, gegen die sich eine naturrechtliche Forderung hätte wenden können. Dies hatte zur Folge, dass zwischen Naturrecht und Wirklichkeit kein Spannungsverhältnis mehr bestand, sich beide immer mehr annäherten und schließlich zusammenfielen. So ist die Überführung des Naturrechtes ins Positive Recht in Nordamerika praktisch nur noch eine »Umbenennung«, während »der im Prinzip gleiche Durchbruch des Naturrechts in der französischen Erklärung eine Revolution bedeutet«.117

Der Staat als Verletzer und Garant der Menschenrechte

Niemand hat je in Frage gestellt, dass der Staat die Menschenrechte verletzen könne. Die Entstehungsgeschichte der Menschenrechte geht auf vielfältigste Erfahrungen gerade solcher Verletzungen zurück. Einigkeit herrschte im ausgehenden 18. Jahrhundert auch darüber, dass der Staat als Garant der Rechte irgendeine Rolle spiele, und sei es auch nur, dass die ersten Positivierungen in den Rechtsordnungen der einzelnen Nationalstaaten vorgenommen wurden. Der Staat hat also eine »Doppelrolle als Garant und geborener Gegner der Menschenrechte«118. Auf die Frage, worin die Rolle des Staates als Garant der Rechte über deren reine Positivierung hinaus bestehen könnte, haben die Länder im Verlauf der letzten Jahrhunderte allerdings ganz unterschiedliche Antworten gegeben.

Eine erste Antwort kommt aus dem englischen common law und aus einer Zeit, lange bevor die Positivierung der Menschenrechte zum Thema wurde. Bereits im Mittelalter war in England durch die Gerichte ein Recht entwickelt worden, das vom Einzelfall ausging. Es betraf vor allem die private Freiheit des Eigentümers und schützte diesen vor Zugriffen nicht nur des Staates, sondern auch Privater. Das common law beruhte nicht auf der Anwendung von Gesetzen. Es stellt »eine spontane vorstaatliche Rechtsentstehung durch sich wechselseitig beobachtende gerichtliche Instanzen« dar.119 Getrennt davon entstanden die vom Parlament verabschiedeten Verfassungsdokumente, welche als Herrschaftsverträge bestimmte Freiheitsrechte garantierten, Magna Charta, Petition of Right, Habeas Corpus Act und Bill of Rights. Eine eigentliche Verfassung sind diese Dokumente nicht, denn sie haben lediglich die Funktion, die »ererbten« Rechte und Freiheiten zu dokumentieren. Großbritannien hat eine geschriebene Verfassung nie gekannt und ist diesbezüglich bis heute ein Sonderfall geblieben. Als Menschenrechte können die ererbten Rechte nicht verstanden werden, sie dienten nur der politischen Elite und zielten darauf ab, die Krone zur Beseitigung von Missständen zu zwingen.120

Da das Parlament Großbritanniens seine Souveränität nur über die Gesetzgebung ausüben kann, kommt der Gesetzesgeltung eine zentrale Rolle zu, dem Prinzip des rule of law. Im selben Prinzip kommt aber auch die Freiheit des Einzelnen zum Ausdruck, die durch die Gerichte nach dem common law vor jeglichem staatlichen Zugriff geschützt werden muss.121 Obwohl das Prinzip des rule of law ursprünglich Anspruch auf naturrechtliche Richtigkeit erhob, während das Parlament den Anspruch auf Richtigkeit seiner Gesetze aus der eigenen Souveränität ableitete, wurden die beiden Traditionen nie als Widerspruch gesehen. Souveränität des Parlamentes und rule of law ergänzen sich gegenseitig. Mit der definitiven Durchsetzung der Parlamentssouveränität wurde klar, dass sich keine andere Gewalt dem Parlament entgegenstellen konnte.122 Aufgrund der Parlamentssouveränität liegt die oberste Garantie der Menschenrechte beim Parlament. Aufgrund des common law spielen die Gerichte aller Stufen in der Garantie der Rechte dennoch eine wichtige Rolle.123 Über einen eigenen Grundrechtskatalog hat Großbritannien mangels einer Verfassung nie verfügt, sondern es war »alles erlaubt, was nicht vom Parlament verboten war«.124 In dieser Formulierung kommt deutlich zum Ausdruck, dass dem Parlament das letzte Wort zusteht und dies bis heute.

Die Gründerväter der USA waren in der historischen Abfolge die Nächsten, welche eine Antwort auf die Frage nach der Rolle des Staates als Garant der Menschenrechte geben mussten. Zum einen hatten die Auswanderer das common law über den Atlantik mitgenommen und brachten es weiterhin zur Anwendung, auch nachdem sie sich von den englischen Verfassungsdokumenten losgesagt hatten. Zum andern aber wirkte sich wiederum das amerikanische Naturrechtsverständnis aus. Diese Naturrechtskonstruktion ging davon aus, dass der Naturzustand mit seinen vorstaatlichen Individualrechten auch dann erhalten blieb, wenn sich die Gesellschaft als Staatswesen konstituierte. Staat und Gesellschaft blieben getrennt, und der Staat sollte nur die Aufgabe haben, die Gesellschaft vor allen Entwicklungen zu bewahren, die ihr Funktionieren beeinträchtigen könnten, ein Funktionieren, das sich am Naturzustand orientierte. Diese Sicht enthält eine zusätzliche Erklärung für das Fehlen eines Grundrechtskataloges in der ersten US-Verfassung. Man ging eben davon aus, dass die Individuen ihre Rechte im Naturzustand bei der Staatsgründung ohnehin nicht verloren,125 sondern die Rechte in den Staat mitgenommen hätten. Entscheidend ist, dass ihnen diese Rechte als Individuen verblieben sind. Sie wurden nicht im Rousseau’schen Sinne auch ein Teil der öffentlichen Ordnung, welche man hätte demokratisch ausdiskutieren und gemeinsam beschließen müssen. Staatsmacht bedeutete für die US-Gründerväter und bedeutet bis heute vor allem eine Bedrohung der naturrechtlichen Freiheit des Individuums.

Zunächst wurde Staatsmacht mit »Regierung« identifiziert. Es sollte genügen, eine Regierung einzusetzen, die jederzeit abrufbar war und die »für Heer, Polizei und Gerichte sorgte«126. Darüber hinaus aber wurde auch eine Gefahr im Volk und in dessen Vertretung gesehen, die darin bestand, dass Gesetze erlassen werden könnten, welche die Individualrechte verletzten oder einschränkten. Die Kolonisten hatten die Souveränität der englischen Parlamentsmehrheit so schmerzhaft erlebt, dass sie eine analoge Gefahr im künftigen eigenen Staat auf jeden Fall verhindern wollten. Zur Verhinderung homogener politischer Mehrheiten waren sie bestrebt, die Macht zu dezentralisieren und so diffus wie möglich zu verteilen, was zu einer gewollten Fragmentierung des politischen Prozesses führte. Die Gründerväter suchten nach einer Organisationsform des Staates, in welcher keine souveräne Macht geschaffen und damit jegliche Höchstzuständigkeit vermieden werden sollte.127 Damit aber nicht genug. Um die Freiheit auch vor dem Volk zu schützen, wurde dem Supreme Court als oberstem Gericht der Vereinigten Staaten das Recht eingeräumt, vom Parlament verabschiedete und vom Präsidenten unterzeichnete Gesetze für nichtig zu erklären, falls sie im Widerspruch zu den Bestimmungen der Verfassung standen.128 Damit wurde das Gericht zum obersten Garanten der Menschenrechte.

Nun war in der historischen Abfolge Frankreich an der Reihe, die Frage nach der Rolle des Staates als Garant der Menschenrechte zu beantworten. Hier war der Übergang vom klassischen zum modernen Naturrecht definitiv realisiert. Darüber hinaus war das Naturrecht revolutionär geworden. Um die Wiederherstellung einer alten Ordnung konnte es nicht gehen, sondern die Menschenrechte konnten nur zusammen mit neuen staatlichen Strukturen entstehen. Freiheit wird durch die öffentliche Ordnung nicht nur geschützt, sondern auch erzeugt, sie »entsteht nicht durch die Abwesenheit des Staates, durch die Konstituierung vorstaatlicher oder staatsfreier Sphären, sondern durch seine demokratische Verfasstheit«129. Anders als jenseits des Atlantiks betrachtete man Gesellschaft und Staat nicht als völlig getrennt, sondern es musste eine Gesamtverfassung für beide geschaffen werden. Die Gesellschaft mit ihrer Vielfalt der privaten, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aktivitäten wurde nicht als von staatlicher Macht bedroht gesehen. Aber nur eine Gesamtverfassung war in der Lage, der Gesamtheit dieser Aktivitäten einen Rahmen zu geben und damit die Entfaltung der Gesellschaft in Freiheit zu ermöglichen. Entsprechend den Vorstellungen Rousseaus zur Volkssouveränität konnten die Freiheitsrechte nur durch formelle Gesetze entstehen, an deren Erlass die Berechtigten in Selbstgesetzgebung als Freie und Gleiche mitgewirkt hatten. Wenn es vom Willen der Berechtigten abhängt, festzulegen, worin die Rechte bestehen, wie weit sie gehen sollen und wo ihre Grenzen liegen, dann kann dies nur die Aufgabe des souveränen Gesetzgebers sein. Eine gerichtliche Überprüfung der Gesetze ist unter diesen Voraussetzungen nicht denkbar, sodass die Legislative Garant der Menschenrechte bleibt.

Damit rückt ein Element der Menschenrechtsentwicklung ins Blickfeld, das Großbritannien und Frankreich bei aller Unterschiedlichkeit verbindet und beide von den Vereinigten Staaten abgrenzt.130 In beiden Ländern ging es darum, rechtliche Schranken aufzurichten gegen den Missbrauch königlicher Gewalt. Dies kommt sowohl in der Bill of Rights von 1689 als auch in der französischen Erklärung der Menschenund Bürgerrechte von 1789 zum Ausdruck. In beiden Ländern erhielt das Parlament eine wichtige Rolle, wenn auch in verschiedenen Jahrhunderten und mit unterschiedlichem politischem Hintergrund.131 Der transatlantische Unterschied ist auf historische Fakten zurückzuführen. England hatte in der Folge von Hobbes den Übergang vom klassischen zum modernen Naturrecht vollzogen, in Frankreich war derselbe Übergang eine Folge von Bodin.132 Die Vereinigten Staaten hingegen sind bei einem klassischen Naturrechtsverständnis geblieben.133 In England und Frankreich wäre es undenkbar gewesen, die Rolle des obersten Garanten der Menschenrechte einem höchsten Gericht zuzuweisen. In den Vereinigten Staaten geschah genau dies, und zwar aus historisch einsehbaren Gründen.

Eine andere Linie verbindet die Vereinigten Staaten mit Frankreich und unterscheidet die beiden Länder von Großbritannien. In England liegt die Wurzel der Freiheitsrechte in den alten ständischen Privilegien der Geburtsrechte, die in einem stufenweisen Prozess auf immer größere Kreise ausgeweitet und schließlich generell verallgemeinert wurden. Die Vereinigten Staaten haben die Idee der Geburtsrechte übernommen, machten sie aber zu Individualrechten, indem sie ihnen in einem »qualitativen Sprung« eine universalistische naturrechtliche Begründung gaben.134 Es ist derselbe Sprung, den Frankreich mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vollzogen hat. Die Begründung dafür liegt letztlich nicht in einer Willenserklärung, sondern in einer absoluten naturrechtlichen Wahrheit. Das Prinzip, die Legitimation von Herrschaft aus den Menschenrechten – und nur aus ihnen – abzuleiten, verbindet Frankreich und die Vereinigten Staaten. Aber dasselbe Prinzip ist in den beiden Ländern sehr unterschiedlich umgesetzt worden und dies aufgrund einer historischen völlig verschiedenen Ausgangslage.

Daraus ergibt sich eine dritte Linie, welche die Vereinigten Staaten mit Großbritannien verbindet und beide Länder von Frankreich unterscheidet. Die Französische Revolution ist von Kontinuitätsbrüchen gekennzeichnet, welche sowohl in England als auch in Amerika vermieden wurden. Sowohl die Glorreiche Revolution in England als auch die amerikanische Revolution lösten lediglich eine »Jahrhunderte dauernde Phase ständiger Evolution« aus, während die Französische Revolution von radikalen Zuspitzungen geprägt ist, welche auch zu einer »konsequenten Wiederkehr der Revolution« führten.135 Was die Vereinigten Staaten und Frankreich anbelangt, war die unterschiedliche historische Ausgangslage viel wirkungsmächtiger als der Umstand, dass die beiden Länder im Prinzip zum selben qualitativen Sprung hinsichtlich der Menschenrechte angesetzt hatten. In den Vereinigten Staaten waren gesellschaftliche Veränderungen nicht nur nicht beabsichtigt, sondern sie sollten bewusst vermieden werden.136 In Frankreich hingegen stand die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte am Anfang einer Entwicklung, welche nicht nur zu »einem staatsrechtlichen Umsturz, sondern auch einer Umwälzung der sozialen Verhältnisse und darüber hinaus einem geistigen Umbruch« führte.137 Aus heutiger Sicht lässt sich feststellen, dass der Umgang mit den Menschenrechten von diesem Unterschied nachhaltig geprägt worden ist. Dies wird im dritten Teil verdeutlicht werden, insbesondere durch den Rückblick auf die Situation seit dem Ende des Kalten Krieges.

Die demokratische Legitimation der Menschenrechte

Die Französische Revolution hat die Menschenrechte auf eine neue Basis gestellt. Die Freiheitsidee, die aus dem Naturrecht kam, verband sich in Frankreich mit der Idee der Demokratie und dies in einer Weise, die explosiv war und es bis heute geblieben ist.138 Der entscheidende Durchbruch bestand darin, dass Selbstbestimmung eine neue, politische Dimension erhielt. Individuelle Freiheit hat sich mit kollektiver Freiheit in dem Sinne verbunden, dass sich die Individuen individuelle Freiheit in Ausübung der kollektiven Freiheit gegenseitig einräumen. Individuelle Selbstbestimmung wird dadurch möglich, dass die individuell Berechtigten ihre kollektive Selbstbestimmung wahrnehmen und sich auf diesem Wege den individuellen Freiraum gegenseitig garantieren. Autonomie erhält so zwei Dimensionen, eine individuelle und eine kollektive. Individuelle und kollektive Autonomie bedingen sich jedoch gegenseitig. Ohne kollektive Autonomie kann die individuelle Autonomie nicht garantiert werden, denn die Individuen könnten sich gar nicht gegenseitig verpflichten, ihre jeweilige individuelle Autonomie zu respektieren. Umgekehrt ist kollektive Autonomie nur auf der Basis individueller Autonomie möglich, denn die Individuen bringen ihre Vorstellung von individueller Freiheit in den Prozess der Gesetzgebung ein, und das können sie nur, wenn sie individuell autonom sind. In diesem Prozess verschränken sich die individuelle und die kollektive Autonomie, welche sich gegenseitig bedingen und sich auch gegenseitig voraussetzen.139 Der Vorgang dieser Verschränkung geschieht auf dem Weg der Gesetzgebung. Gleichheit spielt in diesem Konzept eine zentrale Rolle. Die Bürger, die sich ihre individuelle Freiheit gegenseitig einräumen, gehen von der Übereinkunft oder von der Annahme aus, dass alle das gleiche Recht haben, sich am Gesetzgebungsprozess zu beteiligen, einerseits an der öffentlichen Diskussion und andererseits über ihre Abgeordneten am Entscheid in den gesetzgebenden Versammlungen. Damit erhalten die Menschenrechte eine demokratische Legitimation. Diese ist das Scharnier, durch welches sich Freiheit mit Gleichheit verbinden lässt.

Konkretisiert wurde dieser Vorgang durch die »Nation«. Unter diesem Begriff wurde im Verlauf der Jahrhunderte Verschiedenes verstanden.140 Die Französische Revolution hat sich des Begriffes bemächtigt und machte die Nation zum Träger der Souveränität. Souverän ist das Volk, das über seine Repräsentanten in der Nationalversammlung oder im Parlament die Gesetze erlässt. Es sind die gleichberechtigten Bürger, die gemeinsam die Nation bilden. Nation wird zu Beginn der Französischen Revolution zu einer Umschreibung des »Volkes«, wobei alle ethnischen, also herkunftsbedingten Elemente abgestreift werden, die dem Begriff des Volkes auch anhaften können.141 So gewährte die französische Verfassung von 1793 das Aktivbürgerrecht »jede(m) Ausländer, der das Alter von 21 Jahren erlangt hat, in Frankreich seit einem Jahre ansässig ist und dort von seiner Arbeit lebt oder ein Besitztum erwirbt oder eine Französin geheiratet hat oder ein Kind annimmt oder einen Greis ernährt«142. Die Nation ist in Frankreich eine Staatsbürgernation, der auch die Idee des Universalismus innewohnt. Durch Einwanderung kann man sich dieser Idee ungeachtet der eigenen Herkunft anschließen. Hier findet sich eine Gemeinsamkeit Frankreichs mit den Vereinigten Staaten. Allerdings besteht ein Vorbehalt, soweit die Herkunft das Geschlecht betrifft, denn Frauen waren auch in den Bestimmungen der französischen Verfassung von 1793 in die Aktivbürgerschaft nicht eingeschlossen.

Was die Menschenrechte anbelangt, wird Volkssouveränität in Frankreich so verstanden, dass die Rechte durch die Berechtigten beschlossen werden. Mit der demokratischen Hervorbringung der Menschenrechte und ihrer demokratischen Bestimmung ist definitiv das Ende jeglicher naturrechtlichen Begründung eingeläutet.143 Auch wenn die Menschenrechte ihren Ursprung im Naturrecht haben, lösen sie sich mit jeder Positivierung notwendigerweise von diesem Ursprung ab. Dies kann in einem langsamen Übergang geschehen, in welchem anfänglich noch das Naturrecht im Vordergrund steht, die Ableitung also der Rechte aus »natürlichen« Vorstellungen von der Würde des Menschen, von seiner »Natur« und allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen, die schon vor der Positivierung bestanden haben und damit vorrechtlich sind. Durch die Positivierung erhalten die Rechte dann aber eine konkrete Gestalt, und es werden oft auch ihre Grenzen festgelegt. Durch die Berufung auf diese Rechte und ihre Anwendung auf den konkreten Fall wird die positivrechtliche Ausgestaltung immer wichtiger, und schließlich verblasst vor diesem Hintergrund die naturrechtliche Dimension der Rechte. Naturrechtlich erscheinen dann nur noch jene Rechte, die nicht oder noch nicht positiviert worden sind. Je häufiger und je genauer die Menschenrechte ins Positive Recht überführt werden, und dies auf nationaler oder internationaler Ebene, desto schwächer wird die Bedeutung der nicht oder noch nicht positivierten Rechte, welche allein noch klar dem Naturrecht zugeordnet werden können.144

Aus der demokratischen Legitimation, ohne welche Menschenrechte nach der Französischen Revolution nicht mehr denkbar sind, ergibt sich ein weiterer Aspekt in der Unvereinbarkeit mit der naturrechtlichen Begründung. Dieser Aspekt der Unvereinbarkeit hat sich allerdings nicht im eben beschriebenen langsamen Übergang gezeigt, sondern er manifestierte sich zu Beginn der Revolution durch die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in einem abrupten Bruch mit der Tradition.145 Naturrechtlich begründete Menschenrechte sind vorgegebene Rechte. Im klassischen Naturrecht kommt die Vorgabe aus göttlichem Recht, im modernen Naturrecht kommt sie aus der Vernunft. Beide Erscheinungsformen des Naturrechtes gehen aber davon aus, dass es den besonders Gebildeten vorbehalten sei, diese Vorgaben zu erkennen und richtig einzuschätzen, also nur besonderen Experten. Die naturrechtliche Begründung der Menschenrechte kann es deshalb nicht zulassen, dass in der politischen Auseinandersetzung frei darüber diskutiert wird, was diese Rechte beinhalten und wo ihre Grenzen liegen sollten, denn demokratische Politik zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass sie allen Bürgern gleichermaßen zugänglich ist, also insbesondere auch Nicht-Experten. Deshalb sehen naturrechtlich begründete Menschenrechtskonzepte die Rechte als Schranken für die demokratische Diskussion. Sie lassen die politische Auseinandersetzung nur in einem bestimmten Rahmen zu, und dieser Rahmen wird vorweg durch die Menschenrechte gesetzt. Eine demokratische Legitimation können die Menschenrechte unter diesen Umständen nicht erreichen. Doch damit nicht genug, es gilt auch das Umgekehrte: Weil die Rechte als vorgegebener Rahmen für den demokratischen Prozess gesehen werden, können sie aus diesem Prozess gar nicht hervorgehen, und sie können letztlich durch den politischen Prozess auch nicht verändert oder neuen Gegebenheiten angepasst werden. Naturrechtlich begründete Menschenrechte widersetzen sich gleichsam der Zeit und dem Raum, denn neue Leidenserfahrungen oder räumlich entfernte Erfahrungen, welche neu ins Blickfeld der politischen Öffentlichkeit gelangen, werden an einem solchen Menschenrechtsverständnis oft abprallen. Naturrechtlich begründete Menschenrechte laufen Gefahr, statisch zu werden. Sie entbehren der Dynamik, welche ihnen die demokratische Legitimation notwendigerweise verleiht.

Mehrheit und Minderheit

Wenn Menschenrechte aus demokratischen Verfahren hervorgehen, basiert die Bestimmung ihrer Inhalte und ihrer Grenzen auf Mehrheitsbeschlüssen. Solchen Beschlüssen gehen Beratungen voraus, in welche die Abgeordneten ihre unterschiedlichen Vorstellungen einbringen, wobei eine Annäherung der verschiedenen Standpunkte erreicht werden kann, völlige Übereinstimmung aber wohl höchst selten ist. In ihren Positionen stützen sich die Abgeordneten in verfassungsoder gesetzgebenden Versammlungen ihrerseits wiederum auf die Diskussion in einer politischen Öffentlichkeit, welche eine der Voraussetzung bildet für eine demokratische Legitimation der Menschenrechte. Sowohl in der Öffentlichkeit als auch in den Versammlungen selber ergeben sich im Prozess der Bestimmung der Rechte immer wieder unterliegende Minderheiten. Die Positivierung von demokratisch legitimierten Menschenrechten hat unterliegende Minderheiten regelmäßig und notwendigerweise zur Folge. Für sie ist das dynamische Element in der demokratischen Hervorbringung der Menschenrechte besonders bedeutsam.

Demokratisch erzeugtes Recht muss immer geändert werden können.146 Veränderbarkeit des Rechts ist geradezu ein konstituierendes Element der Demokratie, denn mit jedem Jahr verändert sich der »Volkssouverän«, indem ein neuer Jahrgang hinzukommt und ältere Jahrgänge ausscheiden. Dies bedeutet auch, dass Minderheiten stets nur temporäre Minderheiten sind, weil sie in der demokratischen Auseinandersetzung immer wieder zu Mehrheiten werden können. Genauso wie es Mehrheiten auf Zeit gibt, gibt es auch Minderheiten auf Zeit. Unmittelbar vor dem Revolutionsjahr 1848 wurde dieser Vorgang durch den süddeutschen Demokraten Julius Fröbel folgendermaßen beschrieben: »Man verlangt keineswegs von der Minorität indem sie auf ihren Willen resignirt, dass sie ihre Meinung für irrig erkläre, ja man verlangt nicht einmal, dass sie Ihren Zweck aufgebe, sondern nur dass sie ihn suspendire, dass sie auf die praktische Anwendung ihrer Ueberzeugung so lange verzichte bis es ihr gelungen ist, ihre Gründe besser geltend zu machen und sich die nöthige Zahl von Beistimmenden zu verschaffen.«147 Für die demokratische Legitimation der Menschenrechte gilt diese Umschreibung bis heute. Minderheiten können nur dann zu Mehrheiten werden, wenn eine ständige Auseinandersetzung in einer politischen Öffentlichkeit stattfindet. Auch in den Beratungen, die zu den Mehrheitsentscheiden führen, müssen sich die Abgeordneten ernsthaft darum bemüht haben, gemeinsam eine Lösung zu finden, die möglichst nahe beim Richtigen ist, sodass ihr möglichst viele zustimmen können. Jede Lösung wird aber immer auch fehlerhaft sein, denn die Diskussion muss in einem bestimmten Zeitpunkt durch Mehrheitsentscheid beendet werden, wenn Positives Recht und damit Rechtssicherheit überhaupt entstehen soll. Eine solche Beendigung ist notwendigerweise eine provisorische, der Mehrheitsentscheid ist nicht das Ende der Diskussion, sondern er kann genauso der Anfang einer neuen Diskussion zum selben Thema sein. Zentral in diesem Verfahren ist die Funktion der Diskussion, sowohl jener zwischen den Abgeordneten als auch jener in einer breiteren Öffentlichkeit. Auch dies hat Fröbel in einer Weise formuliert, die bis heute Gültigkeit beanspruchen kann: »[…] die Discussion läßt diese Ueberzeugungen, wie sie sich im Geiste verschiedener Menschen entwickelt haben, auf einander wirken, klärt sie auf und erweitert den Kreis ihrer Anerkennung.«148

Das Entscheidende im Prozess der Auseinandersetzung ist die Möglichkeit der Veränderung, die sich durch die Diskussion in der Position des einzelnen Diskussionsteilnehmers ergeben kann. Dabei ist die Unterscheidung von Bedeutung, welche die Französische Revolution zwischen »citoyen« und »bourgeois« vorgenommen hat.149 Sie betrifft auch die beiden Rollen des Mitautors von Gesetzen und des Gesetzesunterworfenen in derselben Person. Der Bourgeois ist der Wirtschaftsbürger, der seinen privaten Geschäften nachgeht. Ihn gab es schon vor der Revolution, allerdings war er durch die feudalen Verhältnisse Frankreichs in seiner wirtschaftlichen Aktivität viel stärker behindert worden als seine Handelspartner zum Beispiel in England oder jenseits des Atlantiks. Die Revolution stellte dem Bourgeois den Citoyen zur Seite. Als Bourgeois beansprucht der Citoyen individuelle Autonomie, als Citoyen beansprucht der Bourgeois kollektive Autonomie. Der Citoyen bringt in die politische Auseinandersetzung seine persönliche Erfahrung ein, die er zum Teil natürlich auch als Bourgeois gemacht hat. Aber die demokratische Diskussion ist eine Auseinandersetzung zwischen den Menschen und ihren Vertretern in ihrer Funktion als Citoyen, und nicht als Bourgeois. Als Citoyen und in der Konfrontation mit den Anschauungen und Erfahrungen der anderen Citoyens ist der Einzelne immer wieder gezwungen, seine eigene Position zu überprüfen und allenfalls zu verändern.

Der Mehrheitsentscheid, dem eine Diskussion vorangegangen ist, die Zeit und Raum für gegenseitige Überzeugungsarbeit geboten hat, kann inhaltlich ein maßgeblich anderer sein als der Entscheid, wie er sich ohne diese Diskussion ergeben hätte. Würde man sich eine Versammlung von Menschen vorstellen, die Regeln ihres Zusammenlebens finden müssen, sich dabei aber strikt auf ihre Rolle als Bourgeois beschränken, so ist es denkbar, dass das Resultat identisch ist mit der Summe aller privaten Interessen der Beteiligten. Der Unterschied zu einer politischen Versammlung, in welcher die Beteiligten ihre Rolle als Citoyens wahrnehmen, liegt darin, dass das Resultat weit über diese Summe der privaten Interessen nicht nur hinausgehen kann, sondern hinausgehen muss. Aufgabe des Citoyen ist es nämlich, zu prüfen, ob ein zu erlassendes Gesetz von allen Betroffenen gewollt werden könne.150 So hat es Kant 1793 formuliert und dies durchaus im Hinblick auf die Geschehnisse der Französischen Revolution. Mit seiner kurzen Schrift »Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis« verteidigt er die Grundgedanken der Revolution, dies jedoch in einer Weise, welche die französische Verfassungsentwicklung seit 1789 in einer nichtrevolutionären Weise nachvollziehbar machen soll.151 Für Kant ist der Allgemeinwille keineswegs dasselbe wie die Summe der privaten Interessen aller Beteiligten. Der Citoyen muss nach dem Kriterium der Universalisierbarkeit prüfen, ob ein Gesetz im Interesse aller Betroffenen liege. Sich in alle diese Betroffenen hineinzuversetzen und ihre Interessenlage wahrzunehmen wird ihm erst in der politischen Auseinandersetzung gelingen, nachdem alle Standpunkte zur Sprache gekommen sind. In ebendiesem Verfahren kristallisiert sich ein Allgemeininteresse heraus, oder es ergibt sich immerhin eine Annäherung an ein Allgemeininteresse, welches weit über die Summe der privaten Interessen hinausgeht. Oder anders gesagt, wird »dem republikanischen Staatsbürger mehr zugemutet als die Orientierung am jeweils eigenen Interesse«152.

Verglichen mit der vorangegangenen Entwicklung in England und in den Vereinigten Staaten, brachte die Französische Revolution durch die Erfindung einer demokratischen Kultur etwas völlig Neues. Man kann auch sagen, dass die englische und die amerikanische Revolution »erst in der französischen als Revolutionen zu sich gekommen sind«153. Was die Menschenrechte anbelangt, zeigt sich ein Unterschied zu den Vereinigten Staaten im Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit. Frankreich bestimmt mittels Mehrheiten, was Inhalt dieser Rechte sein soll, und durch die Dynamik der demokratischen Legitimation können Minderheiten im Zeitablauf auch wieder zu Mehrheiten werden. Der Schutz von Minderheiten ergibt sich einerseits aus dem Zeitablauf und andererseits aus der Dynamik der Möglichkeit von wechselseitiger Überzeugung in der politischen Auseinandersetzung. Die US-Gründerväter hingegen hatten schon vor der Französischen Revolution in den von ihnen konzipierten Institutionen das genaue Gegenteil geschaffen, nämlich eine Form der Dezentralisierung von Macht, welche das politische Geschehen in eine Vielzahl von Minderheiten aufspalten sollte. Dadurch sollten homogene Mehrheiten vermieden werden, und der Minderheitenschutz wurde zu einem zentralen Thema.154 Damit sollte die Fragmentierung des politischen Prozesses aufrechterhalten werden. Was die Menschenrechte anbelangt, können Parlamentsmehrheiten zusätzlich durch das höchste Gericht desavouiert werden, falls Verfassungsgrundsätze verletzt worden sind. Und schließlich ist die US-Verfassung praktisch fast nicht abänderbar, was auch die in den amendements garantierten Grundrechte betrifft.155 So ist zum Beispiel die Einführung einer Bestimmung über die gleichen Rechte der Geschlechter im Jahre 1982 definitiv gescheitert, weil es nicht gelang, die Zustimmung einer ausreichenden Zahl von Teilstaaten zu erreichen.

Einzelinteressen und Gesamtinteresse

In dieser institutionellen Ausgestaltung zeigt sich eine ganz grundsätzliche Eigenheit im Denken der amerikanischen Gründerväter, die nicht nur in der fehlenden demokratischen Legitimation der Menschenrechte zum Ausdruck kommt und die sich in den Vereinigten Staaten bis heute erhalten hat. Das Konzept eines Gesamtinteresses, welches von den Individualinteressen unterschieden wird und diesen gegenübersteht, ist in diesem Denken kaum zu finden.156 Bis heute wird in der US-amerikanischen politischen Theorie das Handeln der Regierung vor allem als ein Handeln der dahinter stehenden Einzelinteressen verstanden.157 Politische Aushandlungsprozesse, in welchen ein solches Gesamtinteresse überhaupt erst ermittelt werden könnte, stehen deshalb nicht im Vordergrund des politischen Geschehens. Diese Sicht der Dinge ist in radikaler Weise durch Thomas Paine (1737–1809) formuliert worden, dem Engländer, der die amerikanische Revolution mit großer Begeisterung beschrieben hat. In seiner Schrift Rights of Man legte er dar, dass jede effektive Verbesserung der Lebensumstände durch das persönliche Interesse aller Einzelnen vermittelt werden müsse.158 »Jedermann wünscht, seiner Beschäftigung nachzugehen und die Früchte seiner Arbeit und den Ertrag seines Eigentums in Frieden und Sicherheit und mit den geringst möglichen Kosten zu genießen. Werden diese Dinge erreicht, sind alle Zwecke, um derentwillen die Regierung eingerichtet werden sollte, erfüllt.«159 In den Begriffen der Französischen Revolution charakterisiert diese Umschreibung das Individuum in seiner Eigenschaft als Bourgeois.

Paine geht von grundlegenden Prinzipien aus, die in den Menschen von Natur aus angelegt sind und in einem gleichsam naturgesetzlichen Automatismus zu gesellschaftlichem Fortschritt führen. Dieser wird dadurch erreicht, dass man den Individuen möglichst freie Hand lässt, »die friedlichen Künste des Ackerbaus, der Manufakturen und des Handels« zu betreiben, wobei Paine den Antrieb, mit welchem der Mensch von Natur aus an diesem Fortschritt arbeitet, auf dieselbe Stufe stellt wie den »Instinkt in den Tieren«.160 Die gesellschaftlichen Prinzipien sind naturgegeben, und sie würden auch existieren, »wenn alle Förmlichkeiten der Regierung abgeschafft wären. Die gegenseitige Abhängigkeit und der gegenseitige Vorteil [reciprocal interest] der Menschen sowie aller Glieder einer zivilisierten Gesellschaft [civilised community] erzeugen die große Kette des Zusammenhangs, die das Ganze verknüpft«161. Es genügt also, wenn sich die Regierung möglichst wenig in die Verhältnisse zwischen den Privaten einmischt, denn sie würde die Naturgesetzlichkeit nur stören, die zum Fortschritt führt. Entscheidend ist, dass die Regierung gar nicht der Sphäre des Staatlichen zugerechnet wird, sondern sie soll sich direkt aus der Gesellschaft heraus bilden.162 »Was Regierung genannt wird, oder vielmehr, was wir darunter verstehen sollten, ist nichts weiter als ein gemeinsamer Mittelpunkt, in dem alle Teile der Gesellschaft sich vereinigen.«163 Locke war davon ausgegangen, die natürlichen Schranken der Regierung würden sich aus den Rechten des Naturzustandes ergeben, welche die Menschen in den Gesellschaftszustand mit hinübergenommen hätten. Paine vereinfacht die Dinge dahingehend, dass sich die Gesellschaft noch immer im Zustand der Naturgesellschaft befindet.164 Auch Paines konkrete Gebrauchsanweisung ist – wie er selber sagt – einfach, und die natürlichen Rechte des Individuums spielen darin eine zentrale Rolle: »[…] die einfache Tat, die Regierung auf die Prinzipien der Gesellschaft und die Rechte des Menschen zu begründen, räumt alle Schwierigkeit beiseite und bringt alle Teile in herzliche Übereinstimmung.«165

Die Bedeutungslosigkeit eines Gesamtinteresses ergibt sich aus der Trennung von Staat und Gesellschaft. Darin liegt die Besonderheit der Vorstellungen, die sich jenseits des Atlantiks entwickelt haben und von Rousseau wie auch von den Theorien der Französischen Revolution unbeeinflusst geblieben sind.166 Sowohl in England wie auch in Frankreich gibt es eine Verbindung zwischen Staat und Gesellschaft, damals zur Zeit der großen Revolutionen wie heute. Die Gesellschaft betreibt ihre vielfältigen Aktivitäten, in ihr findet sich die vielfältige Lebenswirklichkeit der Menschen, und aus ihr kommen die vielfältigen Impulse, die in den Bereich des Politischen einfließen. Der Bereich des Politischen ist aber klar der Sphäre der Staatlichkeit zugeordnet. Aus dieser geht eine rechtliche Rahmenordnung hervor, die sich auf Staat und Gesellschaft als Ganzes bezieht und den Freiraum für die gesellschaftlichen Aktivitäten garantiert. Dass in England zusätzliche Freiheitsimpulse aus der Anwendung des Common Law durch die Gerichte hinzukommen, schmälert das Band zwischen Staat und Gesellschaft nicht, sondern trägt umgekehrt eher zu dessen Stärkung bei. Die Trennung von Staat und Gesellschaft in der Absicht, den Staat – und damit die Politik – möglichst wenig in die Gesellschaft eingreifen zu lassen, ist in der historischen Entwicklung ein spezifisch US-amerikanisches Phänomen, zurückzuführen auf die besonderen Umstände der Entstehungsgeschichte dieses Landes.

Paines Rights of Man stellte »das ›Textbook‹ der Republikaner« dar, die mit dem Präsidenten Thomas Jefferson im Jahre 1800 die Führung der Vereinigten Staaten übernahmen.167 Die Vorstellung von einer sich selbst regulierenden, staatsminimalistischen Gesellschaft hat dieses Land nachhaltig geprägt und ist mit der Bezeichnung »Laisser-faire« umschrieben worden. Erst viel später, in der Wirtschaftskrise von 1929, sollte das Prinzip des Laisser-faire erschüttert werden. Es folgte die Periode des New Deal, in der Präsident Franklin D. Roosevelt versuchte, durch eine interventionistische Gesetzgebung die soziale Sicherung der Bürger zu stärken.168 Zwar wurden die diesbezüglich bedeutsamsten Gesetze durch den Supreme Court für verfassungswidrig erklärt. In den Präsidentschaftswahlen von 1936 errang Roosevelt aber einen so überwältigenden Sieg, dass sich danach auch die Mehrheiten im obersten Gericht zugunsten des New Deal verschoben. Der Versuch, in den Vereinigten Staaten Ansätze der Sozialstaatlichkeit durchzusetzen, dauerte bis zum Ende der Präsidentschaft von Lyndon B. Johnson. Dessen Sozialreformen unter dem Namen Great Society wurden durch Ronald Reagan 1981 abrupt beendet.169 Die vielen Klagen, welche gegen die im Jahre 2010 landesweit eingeführte Krankenversicherung beim Supreme Court eingereicht worden sind, haben deutlich werden lassen, dass das Prinzip des Laisser-faire in der US-amerikanischen Bevölkerung nach wie vor ungeschmälert verankert ist.

Es erscheint deshalb durchaus logisch, wenn es in der Sicht der amerikanischen Gründerväter keine Notwendigkeit gibt, Grundrechte aus einem Gesamtinteresse heraus zu bestimmen und sie damit demokratisch zu legitimieren: Bei der Staatsgründung haben die US-Bürger ihre Rechte aus dem Naturzustand behalten, »aber nicht als ›the people‹ […], sondern als Individuen«170. Ein Gesamtinteresse, aus dem heraus die Grundrechte erst bestimmt werden könnten, braucht deshalb nicht erarbeitet zu werden. Dieser Umstand erinnert auch an die alte Rechtssouveränität, welche die Kolonisten im 17. Jahrhundert aus England mitgenommen und bewahrt hatten, während sie in Großbritannien längst durch die absolute Parlamentssouveränität ersetzt worden war. Im amerikanischen Modell ist »nicht das Parlament, noch nicht einmal das Volk, sondern allein die Verfassung souverän«171. In Rights of Man hat das bereits Paine deutlich umschrieben: »Die Regierung eines freien Landes besteht, genaugesagt, nicht in den Personen, sondern in den Gesetzen. Diese zu erlassen erfordert keine großen Ausgaben; und wenn sie gehandhabt werden, so ist die gesamte bürgerliche Regierung getätigt […]«172 Da das Recht naturrechtlich vorgegeben ist, bedarf es keiner Diskussion.

Volkssouveränität Der Begriff der Volkssouveränität, der in der Französischen Revolution eine zentrale Rolle spielte, erfuhr in den zwei Jahrzehnten danach eine Erweiterung oder Wandlung. Vor allem aufgrund der Präambel in der Verfassung »We the People of the United States, in Order to …« wurde seit der Gründung der Vereinigten Staaten der Sieg der Volkssouveränität in diesem Land betont.173 Darunter kann aber nicht die »Herrschaft des Gesetzes« verstanden werden, wie sie der französischen Volkssouveränität zugrunde liegt. In der Konzeption der Gewaltenteilung, die man als »französisches« Modell bezeichnen kann, werden die anderen Staatsgewalten durch die normative Qualität des Gesetzes gebunden.174 Die Legislative als Vertretung des souveränen Volkes bindet Exekutive und Verwaltung durch die Form des allgemeinen Gesetzes. Eine verfassungsgerichtliche Kontrolle ist diesem System grundsätzlich fremd. Die US-amerikanische Variante folgt hingegen einer anderen Konzeption der Gewaltenteilung. Sie beruht auf einer »wechselseitigen Kontrolle teilsouveräner Staatsapparate, die sich insgesamt gegenüber dem Volkswillen verselbständigen«175. Darin spielt die richterliche Überprüfung der Gesetze eine entscheidende Rolle, was die Souveränität des Volkes in letzter Konsequenz ausschließt. Im Vorfeld der amerikanischen Staatsgründung war die Frage umstritten gewesen, welcher Konzeption man folgen wolle. Der uneingeschränkten Souveränität des Volkes wurde die Vorstellung des limited government gegenübergestellt. Auch nach der Staatsgründung war noch offen, welche Konzeption sich schließlich durchsetzen würde. Erst die 1803 gefällte Entscheidung des Supreme Court, die Kompetenz zur Überprüfung von Gesetzen zu beanspruchen, hat die Frage definitiv entschieden. Die Akzeptanz dieser Entscheidung wird einerseits auf den wenig ermutigenden Verlauf der Französischen Revolution zurückgeführt, andererseits aber auf eine relative Schwäche der politischen Forderung nach ungehinderter Volkssouveränität.176 Der Supreme Court hat die Vereinigten Staaten aber von der Volkssouveränität weggerückt, wie sie in Europa verstanden und weiterentwickelt wurde. »Anders als im zeitgenössischen England und im Frankreich der Revolution und anders als in nachfolgenden Deutungen der amerikanischen Revolution war damit nicht die Volkssouveränität, wohl aber die Idee des limited government zur Basis des amerikanischen Konstitutionalismus geworden.«177

Für die drei Länder, die als erste den Menschenrechten bestimmte Formen verliehen haben, können diese Formen historisch klar voneinander abgegrenzt werden. Während die demokratische Legitimation der Menschenrechte in Frankreich eine ganz zentrale Rolle spielt und sogar als Grundidee und Basis des ganzen revolutionären Geschehens gesehen werden kann, kennen die Vereinigten Staaten auf Bundesebene diese Form der Legitimation nicht nur nicht, sondern sie haben sie bewusst ausgeschlossen. Das prägende Element für Großbritannien wiederum ist ein für alle Mal die absolute Parlamentssouveränität. Sie hat zur Folge, dass sich das Parlament jederzeit zu den Grundrechten äußern kann, wodurch deren Bestimmung – und die Bestimmung ihrer Grenzen – eine demokratische Legitimation erhält.178 Die Grundrechtswahrung aus dem common law durch die Gerichte fließt in die parlamentarische Beratung ebenfalls ein und steht der demokratischen Legitimation nicht entgegen.179

Der Unterschied zwischen einerseits der französischen Tradition der demokratisch legitimierten Menschenrechte, die es in etwas anderer Form und mit ganz anderem historischem Hintergrund auch in England gibt, und andererseits den Menschenrechten in der US-amerikanischen Tradition, denen eine demokratische Legitimation bewusst aberkannt wird, wurde bis nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kaum wahrgenommen. Dies deshalb, weil Grundrechtspositivierung in den vorangegangenen 150 Jahren auf die nationale Ebene beschränkt blieb. Hinzu kommt, dass im selben Zeitraum die Idee der Menschenrechte ohnehin verblasste, denn dass 19. Jahrhundert »war kein gutes Jahrhundert für die Menschenrechte«180. Die Katastrophen zweier Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts trugen das ihre bei, dass sich daran nichts änderte. Auch während des Kalten Krieges bestand keine Veranlassung, diesem transatlantischen Unterschied nachzugehen und ihn zu thematisieren.181 Es standen ganz andere Spannungsverhältnisse im Zusammenhang mit den Menschenrechten im Vordergrund.

6. Die Bereiche des Politischen und des Rechts

Politik bedeutet ursprünglich die Führung der Staatsgeschäfte im griechischen Stadtstaat, der »Polis«. Jedes öffentliche Gemeinwesen muss mittels politischer Abläufe seine Ordnung errichten und aufrechterhalten, sei dies auf der Ebene des traditionellen Nationalstaates, seiner Teilstaaten oder Gemeinden oder auf der Ebene von Staatenverbänden, internationalen Organisationen oder supranationalen Zusammenschlüssen. Auch in Staaten, deren Ordnung zusammengebrochen ist, findet Politik statt. Ihre Akteure sind aber fast ausschließlich bewaffnete Private, die sich die Staatsmacht anmaßen, meist in der Absicht, eine Diktatur zu errichten und in dieser Form zu Staatlichkeit und Anerkennung von außen zu gelangen. Politik betrifft den Umgang mit öffentlicher Macht. Letztere existiert immer, selbst wenn sie ungeordnet oder verschleiert ausgeübt wird. In Monarchien liegt die Macht normativ beim Monarchen, in Diktaturen beim Diktator, in Theokratien bei einem oder mehreren religiösen Führern und in Demokratien beim Volk, griechisch »Demos«.

Gelegentlich wird heute der Begriff »politisch« mit »parteipolitisch« gleichgesetzt, meistens in der Absicht, den Bereich des Politischen dahingehend zu qualifizieren, dass ein Bemühen um die Berücksichtigung des öffentlichen Interesses von dieser »Politik« nicht erwartet werden könne. Das öffentliche Interesse wird gleichgesetzt mit der Summe der privaten Interessen der Beteiligten, und es wird der Anschein erweckt, dabei handle es sich um eine wertneutrale Beschreibung der Verhältnisse, so wie sie wirklich sind. In dieser Beschreibung kommt jedoch eine normative Vorstellung zum Ausdruck. Das Politische geht in dieser Vorstellung normativ in der Summe privater Interessenlagen unter. Die Normativität, die in dieser Aussage steckt, liegt darin, dass der »Politik« als Führung staatlicher Geschäfte die Fähigkeit abgesprochen wird, überhaupt im Allgemeininteresse handeln zu können. Und wenn man »der Politik« lange genug und einhellig zu verstehen gibt, sie sei ohnehin »korrupt« und zur Wahrnehmung eines Allgemeininteresses gar nicht fähig, dann kann diese Beschreibung zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden.

Wenn in einem Land die öffentliche Ordnung zusammengebrochen ist, wird das Öffentliche ebenfalls durch Privates ersetzt, konkret durch private Akteure. Insoweit besteht eine Verwandtschaft zwischen Verhältnissen in solchen Ländern und der eben beschriebenen Tendenz, die Politik schlechtzureden. Unterschiede zwischen den beiden beschriebenen Tendenzen bestehen vor allem im Umgang mit den Institutionen, die in einem Fall unwirksam werden, im anderen ihre öffentliche – politische – Funktion in einem Aushöhlungsprozess von innen verlieren. Im Folgenden wird der Begriff des Politischen ohne diesen Unterton der Privatisierung verwendet. Um dies zu verdeutlichen, wird der Bereich des Rechts nicht jenem »der Politik« gegenübergestellt, obwohl dies eine durchaus korrekte Bezeichnung wäre. Mit der Formulierung »Bereich des Politischen« soll betont werden, dass der Umgang mit öffentlicher Macht gemeint ist, welche es immer gibt, selbst wenn sie ungeordnet oder verschleiert ausgeübt wird. Demokratien zeichnen sich dadurch aus, dass diese Macht offen und pluralistisch ausgeübt wird. So weit eine begriffliche Vorbemerkung.

Das Politische und das Recht auf nationaler Ebene

Auf der nationalen Ebene hat sich im Zusammenwirken der Bereiche des Politischen und des Rechts hinsichtlich der Menschenrechte bis zum Ende des Kalten Krieges eine Form entwickelt, die trotz Ausnahmen eine Zuordnung erlaubt. Die Verabschiedung von Menschenrechtskatalogen ist eine Sache des Politischen, die Umsetzung oder Durchsetzung der Menschenrechte ist eine Sache des Rechts. Im zeitlichen Ablauf finden die ersten Konkretisierungen somit im Bereich des Politischen statt. Die verschiedenen Gruppen von Grundrechten bedürfen in vielfältiger Hinsicht der Konkretisierung durch die Gesetzgebung. Für die negativen Freiheitsrechte werden deren Schranken oft in formellen Gesetzen festgelegt, desgleichen bedürfen die politischen Teilnahmerechte der gesetzlichen Ausgestaltung. Soziale Rechte schließlich können nur durch die Gesetzgebung wirksam werden, denn zu ihrer Umsetzung müssen sozialstaatliche Institutionen wie zum Beispiel Sozialversicherungen eingerichtet werden, die einer gesetzlichen Grundlage bedürfen. Gesetze werden von demokratisch gewählten Parlamenten beschlossen, sie gehen aus politischen Abläufen hervor.

Die Anwendung der Rechte auf den Einzelfall ist eine Sache des Rechts. Staatliche Behörden müssen in ihren Einzelfallentscheidungen die Grund- und Menschenrechte berücksichtigen, und in Verfahren vor allen Instanzen können die Rechte geltend gemacht werden. In der traditionellen Unterscheidung der Funktionen des Politischen und des Rechts, welche sich auf nationaler Ebene im Zusammenhang mit den Grundrechten entwickelt hat, kommt auch das Element der Gleichheit zum Ausdruck. Grundrechte müssen allen Individuen in gleicher Weise garantiert sein, weshalb sie durch Verfassungen oder Gesetze generell formuliert sein müssen, insbesondere ohne Ansehen der Person und ohne Bezug zu einer konkreten Situation. Erst im einzelnen Anwendungsfall dürfen die konkrete Situation und bestimmte Personen eine Rolle spielen. Wenn die Grundrechte politisch bestimmt und ausgehandelt werden – durch die Berechtigten und ihre Vertreter als Autoren der Gesetze –, bringen die Beteiligten verschiedene Argumente ein, zum Beispiel philosophische oder naturrechtliche Argumente, Argumente mit Berufung auf die eigene Lebenserfahrung, moralische, religiöse oder Argumente aus anderen Bereichen.182 Dabei haben sie auch konkrete Situationen und individuelle Personen vor Augen, die in der Argumentation aber generalisiert werden müssen. Nur jene Argumente können sich durchsetzen, welche alle Personen in gleicher Weise betreffen und sich bildlich gesprochen in der Diskussion so lange »abschleifen« oder verändern, bis sich ihnen eine Mehrheit anschließen kann. Oder um nochmals ein Bild zu bemühen, es gibt ein »Nadelöhr«, durch welches alle Argumente irgendwelcher Art hindurchgehen müssen, wenn sie anwendbares und durchsetzungsfähiges Recht begründen wollen.183

Das Nadelöhr-Verfahren

Dieses Nadelöhr-Verfahren bezieht sich auf jede Verfassungsoder Gesetzgebung, nicht nur auf die Grundrechte. Es markiert den Übergang vom Bereich des Politischen zu jenem des Rechts, die Entstehung des Rechts aus politischen Abläufen oder, nochmals anders gesagt, die Verrechtlichung. Verrechtlichung ermöglicht die Neutralisierung von Gründen aller Art. Moralische oder religiöse Gründe – um nur zwei Beispiele zu nennen – verwandeln sich beim Durchgang durch das Nadelöhr in neutrale Begründungen für allgemeingültiges Recht. Auf dem Weg durch das Nadelöhr streifen diese Argumente gleichsam ihren moralischen oder religiösen Mantel ab, und genau dadurch erlangen sie Allgemeingültigkeit. Als moralische oder religiöse Gründe können sie nur individuelle Gründe sein, und als solche werden sie anfänglich auch in das politische Aushandlungsverfahren eingebracht, aus dem Gesetze hervorgehen sollen. Selbst wenn sie von einer Gruppe der am Verfahren Beteiligten eingebracht werden, handelt es sich um individuelle Gründe, die als solche gar keine Allgemeingültigkeit erlangen können. Erst dadurch, dass sie über Mehrheitsbeschlüsse in allgemeingültige Rechtsnormen einfließen, denen andere Personen möglicherweise aus ganz anders gelagerten Gründen ebenfalls haben zustimmen können, werden sie zu neutralen rechtlichen Begründungen dieser Normen.

Auch wenn sich das Nadelöhr-Verfahren auf jeglichen Gesetzgebungsvorgang bezieht, so ist es doch für die Grund- und Menschenrechte besonders bedeutsam. Nur in diesem Nadelöhr-Verfahren kann nämlich erreicht werden, dass die Rechte des einen mit den Rechten aller anderen vereinbar werden. Denn nur durch den Prozess des Abschleifens der Argumente gewinnen die Beteiligten die Einsicht, dass andere Beteiligte nicht nur andere Interessen, sondern vor allem auch andere Leidenserfahrungen und Betroffenheiten haben. Und für den Fall, dass sich derartige Interessen, Erfahrungen und Betroffenheiten wechselseitig entgegenstehen, muss um Formulierungen gerungen werden. Die an der Auseinandersetzung Beteiligten gelangen zu einem besseren Verständnis für die Lebenswirklichkeit der andern.184 In einem »wechselseitigen Revisionsprozess« entsteht ein deliberativer Mehrwert, der nur durch den Einbezug der Sicht anderer Beteiligter hervorgebracht werden kann.185 Dabei reift notwendigerweise die Einsicht, dass menschenrechtliche Freiheit nur als gleiche Freiheit wirksam werden kann. Darin liegt ein wichtiges Element der demokratischen Legitimation, welche die Menschenrechte in eben diesem Verfahren gewinnen. Der Sinn des Nadelöhr-Verfahrens liegt somit nicht nur im Resultat der demokratischen Legitimierung der Menschenrechte. Die demokratische Legitimation bildet umgekehrt auch ein Gütesiegel und garantiert, dass die Rechte durch das Nadelöhr-Verfahren hindurchgegangen sind, sodass die Rechte der einen jedenfalls bis zu einem gewissen Grad mit den Rechten der anderen vereinbar sind.186

Dieser Gedanken zeigt einmal mehr die Notwendigkeit der Veränderbarkeit von Menschenrechten. Die Menschenrechte haben nämlich als »gleiche Rechte« einer relativ kleinen Gruppe ihren Anfang genommen, denn Gleichheit ist ein relativer Begriff. Er ist abhängig vom geografischen Raum und von der Zeit. Die Abhängigkeit von der Zeit machte sich schon in der Französischen Revolution bemerkbar, zum Beispiel im fehlenden Einbezug der Frauen in die Aktivbürgerschaft, wofür die Zeit noch nicht reif war. Es dauerte noch lange, bis auch die Frauen in die Gleichheit einbezogen wurden, noch viel länger dauerte es bis zum Einbezug der Schwarzen in den Vereinigten Staaten oder weltweit der indigenen Völker, um hier nur einige Beispiele zu nennen. Die Beispiele verdeutlichen aber eine Eigenlogik, welche den Menschenrechten eingeschrieben ist. Auch wenn sie zunächst von privilegierten Gruppen in Anspruch genommen werden, fordern immer weitere Kreise dieselben Rechte ein und verlangen damit Gleichstellung mit den bisher Berechtigten. In diesem Zusammenhang ist von einer »Türöffner-Funktion« der Menschenrechte gesprochen worden, die zur Folge hat, dass sich der Kreis der Berechtigten immer mehr ausweitet.187

Zwischen dem Zeitpunkt, in welchem solche Forderungen erstmals formuliert werden, und jenem ihrer praktischen Durchsetzung können Jahre oder Jahrzehnte vergehen, für die obengenannten Beispiele ging es teilweise sogar um mehr als ein Jahrhundert. Dank des Spannungsverhältnisses zwischen Normativität und Wirklichkeit ist es überhaupt möglich, so lange Zeitspannen durchzustehen, ohne die Forderung fallenzulassen. Dieses Spannungsverhältnis ist den Menschenrechten als Eigenlogik genauso eingeschrieben wie die Zeitachse.

Die Abhängigkeit vom geografischen Raum zeigte sich im ausgehenden 18. Jahrhundert schon ganz allgemein darin, dass die Positivierung der Menschenrechte auf der nationalstaatlichen Ebene begann. Territoriale Begrenzung war anfänglich geradezu ein Formerfordernis, damit die Positivierung der Rechte überhaupt beginnen konnte. Erst die Dekolonisierung im 20. Jahrhundert hat das Bewusstsein aufkommen lassen und immer mehr gestärkt, dass die zunehmende Einlösung der Gleichheit in den europäischen Ländern im 19. Jahrhundert auch der mangelnden Gleichheit der Menschen in den Kolonien dieser Länder geschuldet war. Der Kolonialismus sicherte den wirtschaftlichen Aufschwung Europas zulasten der Kolonien. Dieser selbe wirtschaftliche Aufschwung eröffnete in den europäischen Mutterländern immer weiteren Kreisen von bisher Entrechteten einen besseren Zugang nicht nur zur ökonomischen Entwicklung, sondern auch zur politischen Mitbestimmung.188 Auch heute ist Gleichheit abhängig von Raum und Zeit, sie ist in ständiger Entwicklung begriffen. Das 21. Jahrhundert wird jenes sein, in welchem sich die Frage der Gleichheit zum Beispiel hinsichtlich des weltweiten Zugangs zu den natürlichen Ressourcen in aller Schärfe stellen wird. Zeitliche und räumliche Entwicklung führen theoretisch auf denselben Punkt hin, da es keinen äußeren Kreis mehr gibt, zu dessen Lasten sich die Freiheit des innern Kreises ausdehnen kann. In der Praxis verläuft aber auch diese Entwicklung als Annäherungsprozess, der sein Ziel nie völlig erreichen kann, da sich im Zeitablauf immer wieder neue Ausgrenzungen ergeben können.

Die Tendenz der Menschenrechte, sich auf immer breitere Kreise auszuweiten, kann auch umgekehrt formuliert werden: Immer mehr Menschen verlangen im Zusammenhang mit den Menschenrechten die Gleichheit. In einem bestimmten Moment der Entwicklung kann dies zur Folge haben, dass Menschenrechte von bisher Privilegierten enger begrenzt werden müssen, weil die Gleichheit sonst nicht erreichbar wäre.189 Der Widerstand, der in vielen Ländern gegen die Ausdehnung der politischen Teilnahmerechte auf die weiblichen Bürger geleistet worden ist, lässt sich nur dadurch erklären, dass männliche Bürger, die sich der Gleichheit widersetzten, um ihre Privilegien fürchteten. Viele analoge Beispiele aus anderen Bereichen ließen sich anfügen. Die Auseinandersetzung mit dem weltweiten Zugang zu den natürlichen Ressourcen lässt Diskussionen entlang derselben Argumentationslinien erwarten. Wenn in der Menschenrechtsentwicklung ein Punkt erreicht wird, an dem frühere Rechte enger begrenzt werden müssen, wird es besonders wichtig, dass die Neuaushandlung dieser Grenzen in geordneten politischen Bahnen erfolgt, in denen nicht nur jene gehört werden, die bisher benachteiligt waren, sondern auch die bislang Privilegierten. Die neue Ordnung bedarf ebenfalls der demokratischen Legitimation und dies in jeder Hinsicht. Jede Ausweitung oder Neufassung von Menschenrechten muss wieder durch das Nadelöhr der Verrechtlichung. Die bisher Privilegierten begeben sich wieder in den Aushandlungsprozess, diesmal jedoch gemeinsam mit den bisher Ausgeschlossenen. Verweigern sie dies, dauert der Ausschluss länger, führt aber irgendwann in einen revolutionären Umbruch.

Genauso haben das die Theoretiker des ausgehenden 18. Jahrhunderts noch nicht sehen können. Die damalige Demokratietheorie ging davon aus, dass es jeweils eine richtige Lösung gebe, der man sich in der demokratischen Aushandlung annähern müsse. Nicht umsonst hielt es Kant für möglich, dass Gesetze auch durch einen aufgeklärten Fürsten erlassen werden könnten, wenn er das Gedankenexperiment der Universalisierbarkeit gewissenhaft vornehme. Für Kant ergab sich die Vernunft aus der Auseinandersetzung des Individuums mit sich selber und mit dem Sittengesetz, dem es zu folgen versuchte.190 Erst die Demokratietheorien des 20. Jahrhunderts, insbesondere die Diskurstheorie des Rechts, haben die Vernunft des einzelnen Menschen durch die kommunikative Vernunft erweitert. Diese Vernunft entsteht durch das Gespräch zwischen den Menschen und durch das gemeinsame Erarbeiten und Aushandeln von Lösungen. Voraussetzung dafür ist eine politische Öffentlichkeit, in welcher das überhaupt geschehen kann. Voraussetzung ist aber auch, dass der Prozess der deliberativen Politik gewissen Anforderungen genügt, welche die Beteiligungsmöglichkeit für alle garantieren kann.191

Individuelle und demokratische Legitimation

Die Anwendung der Grund- und Menschenrechte auf den Einzelfall findet in einem anderen Umfeld statt, nämlich im Bereich des Rechts und nicht im Bereich des Politischen. Gerichte oder Verwaltungsbehörden tragen mit ihren Einzelentscheidungen nicht zur demokratischen Legitimation der Rechte bei, denn sie haben die ganz andere Aufgabe, die individuelle Rechtslage zu legitimieren.192 Vergleicht man die drei besonderen Eigenheiten im Vorgehen, welche einerseits die Organe der Politik und andererseits jene des Rechts kennzeichnen, so wird sehr deutlich, weshalb zwischen individueller und demokratischer Legitimation unterschieden werden muss. Zum einen kann die Politik jederzeit auf eigene Initiative tätig werden und Menschenrechte bestimmen oder neu bestimmen. Gerichte oder Verwaltungsbehörden befassen sich mit einem individuellen Fall hingegen nur dann, wenn jemand als Kläger oder Antragsteller auftritt. Zweitens behandeln Gerichte Fälle, die sich schon ereignet haben oder deren Voraussetzungen schon konkret vorliegen, sie sind also retrospektiv tätig. Die Politik hingegen bestimmt den Inhalt von Menschenrechten prospektiv und schafft damit eine künftige Ordnung. Schließlich legen Gerichte und Verwaltungsbehörden das Recht definitiv fest, und wenn alle Möglichkeiten des Weiterzuges an eine übergeordnete Instanz entweder ausgeschöpft sind oder auf den Weiterzug verzichtet worden ist, kann am Resultat nicht mehr gerüttelt werden. Das Individuum hat »sein Recht« definitiv erhalten, teilweise erhalten oder eben nicht erhalten. Anders könnte die Rechtssicherheit auch gar nicht aufrechterhalten werden. Die politische Willensbildung hingegen bleibt immer offen und veränderbar.

Obschon zwischen demokratischer und individueller Legitimation klar unterschieden werden muss, bleiben beide stets aufeinander bezogen. Legitimation ergibt sich aus bestimmten Verfahren, die durch Institutionen und Behörden aus dem Bereich des Politischen und des Rechts wahrgenommen werden – mit den eben beschriebenen Unterschieden. Nur wenn demokratische und individuelle Legitimation aufeinander bezogen bleiben, ist selbstbestimmte Freiheit möglich. Dies wird gerade bei den Menschenrechten besonders einsichtig. Wenn verschiedene Individuen ihre Freiheitsrechte in Anspruch nehmen und sich dabei auf ihre individuelle Selbstbestimmung berufen, können Konflikte entstehen. Sofern die betreffenden Rechte in der Positivierung klar genug umschrieben worden sind, handelt es sich um einen Fall der Anwendung des Rechtes auf den Einzelfall. Durch eine objektive Interpretation der Rechte kann die Grenze des Rechtes des einen so gezogen werden, dass der andere dieselbe Grenze seines Rechtes akzeptieren muss. Wenn es aber darum geht, Rechte in dem Sinne neu zu definieren, dass generelle Konflikte zwischen einer Vielzahl von Individuen – sie mögen sich als Gruppe verstehen oder auch nicht – neu austariert werden und allenfalls Grenzen neu gezogen werden müssen, dann können die Institutionen und Behörden des Rechts den Fall nicht allein lösen, denn aus ihren Verfahren kann nur individuelle Legitimation hervorgehen, und diese allein hilft in einem solchen Falle nicht weiter.193

Eine solche Neuregelung verlangt demokratische Legitimation, die nur aus den Verfahren der Institutionen und Behörden im Bereich des Politischen hervorgehen kann. Voraussetzung dafür ist aber umgekehrt wiederum die individuelle Selbstbestimmung, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen darf kein Individuum von der Teilnahme an der demokratischen Selbstbestimmung ausgeschlossen werden, soll das Ziel nicht verfehlt werden, alle späteren Betroffenen als Adressaten der Rechtsordnung in die Entscheidungen einzubinden. Nur durch den Einbezug aller kann die gegenseitige Einräumung der Rechte sichergestellt werden. Konkret geht es darum, zu erreichen, dass die Rechte des einen mit den Rechten aller anderen vereinbar sind. Dies bedeutet, dass jeder Einzelne die gleichen Rechte aller anderen anerkennt, oder es bedeutet aus der umgekehrten Perspektive, dass er die Grenzen der eigenen Rechte beachtet, wie sie für alle gleichermaßen gelten. Und zum anderen müssen die Beteiligten frei sein, ihre selbstbestimmte Überzeugung in die politische Auseinandersetzung oder über ihre Vertreter in die beschlussfassenden Organe einzubringen.194 Individuelle und kollektive Selbstbestimmung – Autonomie – bedingen sich gegenseitig, und keine der beiden Formen der Selbstbestimmung hat Vorrang.195

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass demokratische Legitimation der Grund- und Menschenrechte nur erreicht werden kann, wenn Verfahren der Verfassungs- und Gesetzgebung existieren, an denen die Berechtigten als Gleiche und Freie über demokratisch gewählte Vertretungen beteiligt sind.196 Solche rechtsstaatlichen Verfahren können nur durch einen demokratischen Staat zur Verfügung gestellt werden. Obschon Kant noch nicht von demokratischen Staaten ausgehen konnte und deshalb zur – vorübergehenden – Möglichkeit der Gesetzgebung durch den Fürsten Zuflucht nehmen musste, hat er ideengeschichtlich den entscheidenden Schritt in der Weiterentwicklung von Rousseaus volonté générale vollzogen. Kants einziges angeborenes Recht auf Freiheit kann nur dadurch konkretisiert werden, dass »jeder über alle und alle über einen jeden ebendasselbe beschließen«, also in Verfahren der staatlichen Gesetzgebung und in der Form von allgemein anwendbaren Gesetzen.197 Und umgekehrt ist es wiederum genau diese Beschränkung auf ein rein formales Prinzip der politisch-rechtlichen Ordnung, welche die inhaltlich definierten Menschenrechte erst hervorbringen kann.198 Es ist deshalb durchaus angemessen, von einem »Recht auf einen Staat« zu sprechen.

Die Ambivalenz der Internationalisierung

Mit der Internationalisierung der Menschenrechte erhielt die Unterscheidung zwischen individueller und demokratischer Legitimation eine neue Dimension. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges war die Verabschiedung von Menschenrechtskatalogen eine Sache der nationalen Politik. Zwar wurden im angloamerikanischen Bereich die Freiheitsrechte auch im Rahmen des common law durch die Gerichte weiterentwickelt, jenseits von ausformulierten Grundrechtskatalogen. In England mit seiner uneingeschränkten Parlamentssouveränität konnte sich aber die Politik jederzeit zur Ausgestaltung der Freiheitsrechte äußern, insbesondere bestimmte sie jene Grundrechte genauer, welche ohne ausführende Gesetzgebung gar nicht ausgeübt werden können. Die demokratische Legitimation der Grundrechte war unbestritten, jedenfalls in jenen Ländern, wo sich diese Tradition in der historischen Linie der Französischen Revolution herausgebildet hatte. Die Anwendung der Rechte auf den individuellen Einzelfall war Sache von Gerichten oder Verwaltungsbehörden. Trotz Ausnahmen konnten die Bereiche des Politischen und des Rechts relativ klar zugeordnet werden. Die Positivierung der Rechte war eine Sache der Politik, ihre Anwendung auf den Einzelfall eine Sache des Rechts.

Diese Zuordnung wurde mit dem Durchbruch zur Internationalisierung der Menschenrechte abgeschwächt. Völkerrechtliche Vereinbarungen über die Menschenrechte entstehen aus diplomatischen Verhandlungen. Die Diplomatinnen und Diplomaten erhalten von ihren Regierungen Instruktionen, die ihnen die allgemeine Richtung, Minimalziele oder allfällige Grenzen vorgeben, welche sie in der Verhandlung zu berücksichtigen haben. Kommt es zu einer Einigung, werden die Dokumente von jenen Regierungen unterzeichnet, für die das Resultat annehmbar ist. Gültigkeit erlangen die Dokumente für den einzelnen Vertragsstaat erst durch die Ratifikation, die vom nationalen Parlament beschlossen werden muss. Dabei kann am Vertragsinhalt nichts mehr geändert werden, sodass eine demokratische Aushandlung des Inhalts und der Ausgestaltung der Rechte entfällt. Deshalb kann die Ratifikation durch den »heimischen demos« den fehlenden Deliberationsprozess nicht ersetzen.199 Auch in jenen Fällen, in denen ein international vereinbartes Menschenrecht der nationalen Ausführungsgesetzgebung bedarf, damit es überhaupt wirksam werden kann,200 darf die parlamentarische Beratung solcher Gesetze nicht mit dem Vorgang verwechselt werden, der die Menschenrechte mit einer demokratische Legitimation versehen kann. Über Inhalt und Ausgestaltung der Rechte findet auch in diesem Fall keine öffentliche Diskussion statt, da sie international vorgegeben sind.

Wenn internationale Menschenrechtsverträge ein Individualbeschwerderecht vorsehen und dafür ein Gericht oder eine andere Beschwerdeinstanz eingerichtet wird, geschieht im Prinzip dasselbe wie auf nationaler Ebene. So wie die nationalen Gerichte die Grund- und Menschenrechte auf den individuellen Einzelfall anwenden oder deren Anwendung überprüfen, gehen auch jene Gerichte oder Beschwerdeinstanzen vor, die durch internationale Vereinbarungen geschaffen worden sind. Seit der Internationalisierung der Menschenrechte hat sich der Prüfungsumfang der nationalen Gerichte stark erweitert, müssen sie doch nun neben den nationalen Grundrechtsgarantien die völkerrechtlich garantierten Menschenrechte zur Anwendung bringen. Die Staaten werden durch das Völkerrecht verpflichtet, Beschwerdeinstanzen einzurichten, vor denen behauptete Verletzungen völkerrechtlicher Menschenrechtsgarantien auch national geltend gemacht werden können. In vielen Staaten sind dies die ordentlichen Gerichte.

International werden keine Parlamente gewählt, die Menschenrechte aushandeln und über deren Ausgestaltung bestimmen könnten. Zwar gibt es Ansätze dazu in Europa, allerdings auch hier ohne eine letztinstanzliche Kompetenz im Bereich der Grundrechte. Die verschiedenen regionalen Ansätze werden Gegenstand des vierten Teiles sein. Im internationalen Bereich fehlen praktisch die Institutionen, die den Menschenrechten eine demokratische Legitimation vermitteln könnten.201 Unter diesen Umständen ist es unumgänglich, dass die internationalen Gerichte und andere menschenrechtliche Beschwerdeinstanzen die Aufgabe übernommen haben, die Menschenrechte auch fortzuentwickeln und an neue Gegebenheiten anzupassen. Damit aber wird notwendigerweise die demokratische Legitimation dieser Rechte durch eine individuelle Legitimation ersetzt und dies mit folgenschweren Konsequenzen. Die Konsequenzen werden deutlich, wenn eine analoge Gegenüberstellung auf der nationalen Ebene vorgenommen wird. Auf dieser Ebene können die Eigenheiten des Vorgehens im Originalmaßstab verglichen werden, die einerseits die Organe des Politischen und andererseits jene des Rechts kennzeichnen. Auf der internationalen Ebene kann dieser Vergleich schon gar nicht stattfinden, da hier die demokratisch gewählten Organe fehlen, welche die Kompetenz hätten, Menschenrechte zu positivieren.

Wenn statt politischer Organe Gerichte über die Fortentwicklung der Grund- und Menschenrechte bestimmen, ist diese Entwicklung nicht mehr offen. Sie beschränkt sich auf jene Bereiche, in welchen es überhaupt zu Klagen oder Beschwerden kommt. Auch in diesen Bereichen findet aber eine gewisse Zementierung statt, da es gute Gründe braucht, einen nächsten gleich liegenden Fall abweichend vom letzten zu entscheiden. Die Fortentwicklung der Grund- und Menschenrechte durch politische Organe bleibt demgegenüber immer offen und kann neue gesellschaftliche Entwicklungen leichter berücksichtigen. Verglichen mit der Gesetzgebung, bedeuten gerichtliche Verfahren immer eine »Individualisierung«. Für die Grund- und Menschenrechte hat dies vor allem dann Konsequenzen, wenn über widerstreitende Rechte verschiedener Personen entschieden wird.202 Die Rechte werden in einem solchen Fall nicht mehr generell formuliert, sondern ausgehend von der individuellen Situation, die möglicherweise gar nicht repräsentativ ist für die allgemeine Problematik, in welche das betreffende Recht als generelles eingeordnet werden müsste. Im Gerichtsverfahren ist manches viel zufälliger als in der demokratischen Aushandlung. So kann das Obsiegen einer bestimmten Sicht von der Durchsetzungsfähigkeit des gewählten Rechtsanwaltes abhängen und nicht zuletzt davon, ob die Mittel zur Verfügung stehen, das Verfahren überhaupt zu initiieren und durchzuführen.

Der Hauptmangel im Zusammenhang mit der demokratischen Legitimation liegt im Ausschluss all jener vom Verfahren, die auch »Berechtigte« sind. Der Entscheid über die Freiheitsverteilung wird dem demokratischen Gesetzgeber aus der Hand genommen. Wenn in einem bestimmten Fall das Individuum der Staatsgewalt gegenübersteht, wird der Mangel an demokratischer Legitimation weniger sichtbar. Der Mangel zeigt sich hingegen in seiner ganzen Schärfe, wenn verschiedene Individuen »ihre Rechte gegeneinander so mobilisieren wie Privateigentümer ihre Eigentumsrechte. Damit wird nicht nur im Verständnis der Beteiligten das Menschenrecht auf ein eigentumsanaloges privates Recht verkürzt. Vielmehr wird dadurch auch das Gericht zu dem Ort, an dem im Einzelfall kollidierende Menschenrechte so gegeneinander abgewogen werden, dass eine generalisierende Wirkung auf vergleichbare Fälle entsteht. Darüber wird schnell vergessen, dass die Grenzen der Menschenrechte untereinander primär von denjenigen gezogen werden müssen, die selbst die Träger allgemeiner und gleicher Menschenrechte sind – also von den Menschenrechtssubjekten selbst und nicht von einem Gericht. Die Konkordanz zwischen potentiell miteinander kollidierenden Menschenrechten bedarf daher auch der Form einer abstrakten und generellen Regelung, in der die Interessen aller Menschenrechtssubjekte unabhängig vom konkreten Einzelfall zur Geltung kommen.«203

Das Paradox und seine Rückwirkung auf die nationale Ebene

Die Internationalisierung der Menschenrechte hat das Paradox deutlicher hervortreten lassen, welches in der Positivierung der Menschenrechte seit jeher angelegt ist. Es gibt einen grundsätzlichen und unauflösbaren Widerspruch zwischen der universellen Umsetzung der Menschenrechte und ihrer demokratischen Legitimation. Im historischen Ablauf zeigte sich das Paradox in zwei Schritten. Die erste Positivierung der Menschenrechte erfolgte auf der Ebene der einzelnen Staaten im Zusammenhang mit der Nationalstaatenbildung. Territoriale Begrenzung bildete geradezu die Voraussetzung dafür, dass die Rechte überhaupt positiviert werden konnten. Dafür war ein Preis zu bezahlen, und dieser Preis bestand in der Universalität, was die Durchsetzung der Rechte anbelangt. Auch wenn Menschenrechte ihren universellen Geltungsanspruch durchaus beibehielten, was sich in ihrer Umschreibung sogar oft ausdrückt – wie in der Französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte –, änderte dies nichts daran, dass sich nur die Angehörigen eines bestimmten Staates auf die Rechte berufen konnten, welche in den betreffenden Katalogen formuliert worden waren. Demokratische Legitimation der Menschenrechte war letztlich nur auf Kosten ihrer universellen Umsetzung zu erreichen. Mit der Internationalisierung der Menschenrechte geschah genau das Umgekehrte. Die Rechte wurden auch in der Praxis universal anrufbar, aber dieser Aspekt der Universalität war nur zu erreichen auf Kosten der demokratischen Legitimation. In der Internationalisierung wurde gleichsam der seinerzeit für die nationale Positivierung bezahlte Preis wieder teilweise zurückerstattet, aber unter weitgehender Preisgabe der demokratischen Legitimation. Letztere konnte auf der internationalen Ebene mangels entscheidungsbefugter, demokratisch gewählter Institutionen schlicht nicht angestrebt werden.204

Das Paradox des Widerspruchs zwischen der universellen Durchsetzung der Menschenrechte und ihrer demokratischen Legitimation könnte erst dann aufgehoben werden, wenn es eine weltweite Demokratie mit einem Weltparlament gäbe, das in Vertretung der ganzen Menschheit über die Ausgestaltung der Menschenrechte befinden könnte. Es ist äußerst fragwürdig, ob ein solcher Zustand überhaupt angestrebt werden soll. Schon Kant hat sich dazu klar geäußert, und er lehnte einen Weltstaat ab, weil er ihn für unregierbar hielt. Er bevorzugte demgegenüber ein Gleichgewicht der Kräfte, das in Richtung einer »allmähligen Annäherung der Menschen zu größerer Einstimmung in Prinzipien zum Einverständnis in einem Frieden leitet«. Ein Weltstaat müsse hingegen »auf dem Kirchhofe der Freiheit« enden.205 Aus heutiger Perspektive und in Zeiträumen, die abschätzbar sind, kann es nicht zu weltweiten Strukturen kommen, mittels deren eine direkte demokratische Legitimation der universal formulierten Menschenrechte erreicht werden könnte – und dies ist auch gut so. Im Bewusstsein, dass die universal gültigen Rechte – jedenfalls in absehbaren Zeiträumen – nicht in ähnlicher Weise mit demokratischer Legitimation ausgestattet werden können, wie dies für die nationale Ebene der Fall ist, muss ein sehr langsam verlaufender Annäherungsprozess trotzdem gewagt werden. Im vierten Teil wird von diesem Aspekt nochmals die Rede sein.

Das Spannungsverhältnis zwischen universeller Durchsetzung und demokratischer Legitimation hat die Grund- und Menschenrechte seit ihrer ersten Positivierung geprägt. Auch heute steckt es den Rahmen ab, in dem sich die einzelnen Nationalstaaten positionieren. Dabei spielt für jeden Staat seine Geschichte eine wichtige Rolle. Wie der Vergleich der historischen Ausgangslage zwischen jenen drei Staaten gezeigt hat, die den anderen in der Positivierung der Rechte vorausgegangen sind, bestehen bereits zwischen ihnen massive Unterschiede im Stellenwert, den sie der demokratischen Legitimation beimessen. Entscheidend ist dabei die Erfahrung, welche im betreffenden Land gemacht worden ist. Je nach historischer Erfahrung wird die Exekutive, die Legislative – allenfalls unter Einschluss des Volkes – oder werden die Gerichte als Gefahr für die Freiheit verstanden. Entsprechend dieser »Bedrohungslage« wird der demokratischen Legitimation der Freiheitsrechte ein größerer oder kleinerer Stellenwert beigemessen.206 Entscheidend ist aber, dass diese Erfahrung nicht nur die Haltung prägt, mit der in den einzelnen Ländern die nationalen Grundrechte betrachtet werden, sondern diese Haltung prägt auch die Sicht auf die international garantierten Menschenrechte. Und auch das Umgekehrte gilt: Das Fehlen einer demokratischen Legitimation der international garantierten Rechte kann Rückwirkungen haben auf den Stellenwert der demokratischen Legitimation im nationalen Bereich.207 Deshalb hat das Paradox einer bestimmten Entwicklung auf nationaler Ebene Vorschub geleistet. Sie besteht darin, den Stellenwert der demokratischen Legitimation der nationalen Grundrechte auch in jenen Ländern tendenziell abzuschwächen, welche dieser Legitimation in der Tradition der Französischen Revolution einen großen Stellenwert beigemessen haben.

Dass die Internationalisierung der Menschenrechte einen großen Durchbruch nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges bedeutet, der gar nicht hoch genug gewertet werden kann, steht außer Frage. Aber dazu kann hier nur wiederholt werden, was Norberto Bobbio nach dem Ende des Kalten Krieges über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO geschrieben hat. Das Jahr 1948 markiere den »Beginn eines langen Prozesses […], dessen Abschluß wir noch gar nicht erahnen können«208. Was heute nottut, ist eine Ebenen übergreifende Betrachtung der Grund- und Menschenrechte, welche auch die Interdependenzen zwischen der nationalen, der regionalen und der weltweiten Ebene analysiert. Die Internationalisierung der Menschenrechte führte notwendigerweise dazu, dass die demokratische Legitimation der Rechte durch die individuelle Legitimation ersetzt worden ist. Dies bedeutet, dass auf der internationalen Ebene die Vereinbarkeit der Rechte des einen mit den Rechten aller andern nicht mehr über die demokratische Legitimation der Rechte erreicht werden kann, sondern auch sie wird auf den Weg über die individuelle Legitimation im Einzelfall verwiesen.

Eine weitere Folge der Ersetzung demokratischer durch individuelle Legitimation liegt darin, dass die Menschenrechte eines ihrer Kerngehalte beraubt werden, nämlich des inneren Zusammenhangs zwischen Freiheit und Gleichheit. Weil der Aushandlungsprozess zwischen allen Berechtigten entfällt, gibt es kein Scharnier mehr, durch welches die Freiheit mit der Gleichheit verbunden werden kann. Aufgrund der Türöffner-Funktion der Menschenrechte wird das Thema im 21. Jahrhundert besonders brisant. Insbesondere im Zusammenhang mit dem weltweiten Zugang zu den natürlichen Ressourcen wird es eine neue Aktualität gewinnen, und es werden die Mechanismen eine besondere Rolle spielen, durch welche man die Vereinbarkeit erreichen kann zwischen den Rechten der einen und den Rechten aller anderen. Auf diesen Aspekt wird im vierten Teil nochmals eingegangen.