I. Grundlagen der Menschenrechte bis 1789

Die Geschichte der Herausbildung dessen, was wir heute als Menschenrechte bezeichnen, ist keineswegs linear verlaufen. In verschiedenen Epochen haben sich neue Einsichten ergeben, Durchbrüchen sind wieder Zeiten des Rückschrittes gefolgt. Es bestehen verschiedene Linien nebeneinander, welche sich ergänzen, aber auch widersprechen können. Die Entwicklungslinien, die im Folgenden aufgezeigt werden, umfassen nicht das ganze Spektrum. Die Darstellung beschränkt sich auf einige besonders wichtige Stadien der historischen Entwicklung. Hervorgehoben werden vor allem jene Aspekte, welche eine Antwort geben auf Fragen, die sich im Zusammenhang mit den Menschenrechten erst seit dem Ende des Kalten Krieges stellen.

1. Vorgeschichte und Umfeld der Menschenrechte

Ideengeschichtliche Grundlagen der Menschenrechte finden sich bereits vor mehr als 2000 Jahren in der Antike. Diese philosophischen Idealvorstellungen blieben damals weitgehend ohne praktischen Einfluss. In ähnlicher Weise trugen christliche Vorstellungen im Mittelalter sowie erste Ansätze von Freiheiten in spätmittelalterlichen Stadtstaaten zu den ideengeschichtlichen Grundlagen der Menschenrechte bei, nicht aber zu ihrer praktischen Herausbildung. Die entscheidende philosophische Entwicklung begann im 17. Jahrhundert, und konkrete Menschenrechte wurden erst Ende des 18. Jahrhunderts ausformuliert.

Der Begriff der »Menschenrechte« ist zu unterscheiden vom Begriff der »Menschenwürde«. Die Menschenrechte dienen dem Schutz der Menschenwürde. Menschenrechte wurden erstmals Ende des 18. Jahrhunderts ausformuliert. Der Begriff der Menschenwürde geht auf eine viel längere Entstehungsgeschichte zurück. Vor dem Rückblick auf einige Stadien in der Entwicklung der Philosophie der Menschenrechte kommt deshalb diese andere Entstehungsgeschichte zu einer kurzen Darstellung.

Der Begriff der Menschenwürde

Die Menschenwürde spielt bereits in der Antike eine Rolle.1 Damals hatte der Begriff insbesondere zwei Bedeutungen. Zum einen wollte man damit die Stellung einer Person innerhalb der Gesellschaft umschreiben. Zum andern ging es darum, den Wert des Menschen im Vergleich zu andern Lebewesen zu charakterisieren, also den inneren Wert des Menschen. Zunächst begründete man die Menschenwürde vor allem durch die Teilhabe des Menschen an der Vernunft. Im frühen Christentum und im Mittelalter wird Menschenwürde dann aus der Stellung des Menschen im Rahmen der Schöpfung definiert. Entsprechend der biblischen Schöpfungsgeschichte hat Gott den Menschen »nach seinem Bilde« geschaffen, weshalb seine Würde aus seiner »Gottesebenbildlichkeit« abgeleitet wird. In der Renaissance weitet der italienische Humanist Pico Della Mirandola diese Gottesebenbildlichkeit dahingehend aus, dass der Mensch als eine kleine Welt alle Möglichkeiten in sich vereinigt, die auch in der großen, von Gott geschaffenen Welt angelegt sind. Die Menschenwürde sieht er darin, dass der Mensch zwischen diesen Möglichkeiten frei wählen kann.

Mit dem Anheben der Neuzeit und mit der Aufklärung gewinnt in der Begründung der Menschenwürde schließlich der Vernunftgedanke die Oberhand. Der deutsche Philosoph und Jurist Samuel Pufendorf fügt zur Idee der Menschenwürde als Teilhabe an der Vernunft den Gedanken hinzu, dass alle Menschen gleicherweise dazu befähigt seien. Damit wird die Würde zur »gleichen Würde aller Menschen«. Philosophen des 16. und 17. Jahrhunderts definieren auch konkrete Freiheitsrechte, die sie zum Teil mit der Menschwürde begründen. Im 19. Jahrhundert wird die Menschenwürde durch die aufkommende Arbeiterbewegung zu einem zentralen Begriff in der politischen Auseinandersetzung. Für die Arbeiterschaft werden materielle Besserstellungen verlangt, die ihr zu einem »menschenwürdigen Dasein« verhelfen sollen. Damit kommt in den Begriff der Menschenwürde die zusätzliche Dimension der Gerechtigkeit. Die Menschenwürde bleibt zwar eine Kategorie des philosophischen Denkens, mit welcher die Menschenrechte begründet werden. Aber sie beginnt sich auszuweiten in den Bereich der konkreten eingeforderten Rechte, sie wird auch selber zu einer juristischen Kategorie. Ein Beispiel für diesen Übergang ist die Weimarer Reichsverfassung von 1919. Der Einleitungssatz über das Wirtschaftsleben verlangt, dass die Ordnung des Wirtschaftslebens »den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle« entsprechen müsse.

Nach der beispiellosen Verletzung der Menschenwürde während des Zweiten Weltkrieges wird in die Präambel der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 der Hinweis auf »unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit« aufgenommen. Die Verfassung der UNESCO vom 16. Dezember 1945 verweist vorweg ebenfalls auf die Verleugnung des demokratischen Ideals »der Würde, der Gleichheit und der gegenseitigen Achtung des Menschen«. Auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO vom 10. Dezember 1948 erwähnt bereits in der Präambel die Menschenwürde und formuliert in Art. 1: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.« Mit diesen Verankerungen in internationalen Dokumenten ist die Menschenwürde definitiv zu einer juristischen Kategorie geworden, ohne jedoch ihren philosophischen Gehalt als Begründung der Menschenrechte zu verlieren.

Nun folgt ein breiterer Durchbruch zur juristischen Garantie der Menschenwürde in den Verfassungen. Damit werden Menschenwürdeklauseln zu einem Gegenstand der Auslegung durch die Gerichte. Wenn Menschenwürdeklauseln auf bestimmte Lebenszusammenhänge angewendet werden, kann die Diskussion jedoch sehr kontrovers werden. Es können Widersprüche entstehen zwischen verschiedenen Interpretationen der Menschenwürde. Die rechtlichen Diskussionen um verschiedene Interpretationen der Menschenwürde, wie sie seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts und vor allem in dessen letzten Jahrzehnten aufgebrochen sind, fließen zusammen mit den Diskussionen über die richtige Ausgestaltung der Menschenrechte selber. Seit deren erster Ausformulierung Ende des 18. Jahrhunderts ist die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Inhalt dieser Rechte nie mehr abgebrochen.

Herrschaftsvertrag und Gesellschaftsvertrag

Den ersten konkreten Formulierungen der Menschenrechte ist im Spätmittelalter eine Entwicklung vorausgegangen, welche sich über mehrere Jahrhunderte erstreckte. Sie läutete lange im Voraus gleichsam die Neuzeit oder die »Moderne« ein. Im mittelalterlichen Feudalismus wurden die Menschen in einen Stand hineingeboren, in eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe, welcher sie zeit ihres Lebens als Bauern, Handwerker, Adlige oder Geistliche angehörten. Trotz dieser als gottgegeben betrachteten Ordnung begann sich schon während des Mittelalters ein Individualismus zu regen, der sich auch in den Mitwirkungsrechten der Bürger in den Stadtstaaten des Spätmittelalters zeigt. Durchbrüche in der strengen Zugehörigkeit zu den Ständen waren teilweise schon früher möglich gewesen. So konnten Bauernsöhne durch entsprechende Bildung zu Geistlichen werden oder Bauern zu Handwerkern und damit unter Umständen zu Bürgern, wenn sie in eine Stadt gezogen waren und länger dort gelebt hatten.2

Im selben Zeitraum entwickelte sich die Rechtsfigur des Herrschaftsvertrags. Einer der ältesten Herrschaftsverträge ist die Magna Charta Libertatum aus dem Jahre 1215. Darin verpflichtete sich der englische König vertraglich, gewisse Rechte seiner Untertanen zu respektieren. Dieses Dokument stellt die erste Urform einer geschriebenen Verfassung in Europa dar, die allerdings noch nicht von einem Parlament erlassen, sondern vom König verfasst worden war. Es hielt unter anderem fest, dass der König bestimmte Entscheide nicht mehr allein treffen konnte, sondern nur in Absprache mit einem Rat von Vasallen der Krone. Damit wurde die Magna Charta zum Ursprung des Parlamentarismus in Europa. Später folgten ähnliche Dokumente, so die Petition of Right im Jahre 1628, die Habeas-Corpus-Act 1679 und schließlich die Bill of Rights 1689, welche dem englischen Volk und seinen Repräsentanten bestimmte Rechte gewährten. 3 Herrschaftsverträge sind konkrete geschichtliche Realitäten, sie wurden zwischen dem Herrscher und seinem Volk abgeschlossen und festgeschrieben. Der Herrschaftsvertrag stellt eine bestehende und im Großen und Ganzen akzeptierte Herrschaftsordnung nicht in Frage. Er dient lediglich der Sicherung gewisser überlieferter Freiheiten im Rahmen solcher vorgegebenen Ordnungen. Dies bedeutet auch, dass der Herrschaftsvertrag immer ein bereits bestehendes Staatswesen voraussetzt, in welchem er abgeschlossen wird.

Vom Herrschaftsvertrag zu unterscheiden ist der Gesellschaftsvertrag, wie er im 17. Jahrhundert durch die Rechtsphilosophie als Idee hervorgebracht wurde. Der Gesellschaftsvertrag ist keine konkrete geschichtliche Realität, sondern eine reine Vorstellung, eine virtuelle Konstruktion, die einer Staatsgründung notwendigerweise vorausliegen muss. Diese Vorstellung ermöglichte im Denken über Recht und Staat eine große Wende. Dazu beigetragen hat insbesondere der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588 –1679). Bisher hatte man den einzelnen Menschen ausschließlich in Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Ordnung gesehen. Diese Ordnung galt als göttlich vorgegeben, und sie bildete den Ausgangspunkt für die Pflicht des Individuums, sich einzufügen. Wenn es individuelle Rechte gab, so waren diese eine Folge der Pflicht gegenüber Gott und gegenüber den anderen Menschen, sich selbst und seine Verhältnisse zu vervollkommnen. Hobbes leitete einen Paradigmenwechsel ein, indem er den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt stellte, den er als von Natur aus frei betrachtete. Ausgangspunkt wurde nun das Recht des Individuums, aus welchem sich die Ordnung erst ableiten konnte. Damit eine so konzipierte Ordnung überhaupt entstehen kann, braucht es einen Akt der Übertragung von individuellen Rechten an die Gemeinschaft, und diesen Akt nennt Hobbes »Gesellschaftsvertrag«.

Die von Natur aus frei geborenen Individuen lebten zunächst in einem »Naturzustand«. Durch den Gesellschaftsvertrag vereinbarten sie dann, eine rechtlich-politische Gemeinschaft zu begründen. Der Paradigmenwechsel besteht in einer Umkehr des Verhältnisses zwischen Ordnung und Freiheit. Der mittelalterliche Herrschaftsvertrag gewährte dem Individuum Freiheit im Rahmen der vorgegebenen ständischen Ordnung, und zwar mit der primären Zielsetzung, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Die durch den Herrschaftsvertrag gewährten Freiheiten kamen nur den Angehörigen privilegierter Schichten zugute. Die rechtsphilosophische Begründung einer Ordnung durch den Gesellschaftsvertrag hingegen machte es möglich, die Freiheit ins Zentrum zu setzen und die Ordnung davon abzuleiten. Während der Herrschaftsvertrag bestehende Ordnungen politischer Herrschaft nicht in Frage stellte, sollte die Idee des Gesellschaftsvertrages dazu dienen, politische Herrschaft als solche neu zu begründen und zu rechtfertigen.

Mit der Freiheit untrennbar verbunden war der Gedanke der Gleichheit aller Individuen. Im konkreten Herrschaftsvertrag können Kriterien definiert werden, welche die Individuen erfüllen müssen, damit ihnen die vom Herrscher gewährten Freiheiten überhaupt zustehen. Die zugestandenen Rechte können sich zum Beispiel auf privilegierte Stände oder Berufsgruppen beschränken, oder sie können den Besitz von Gütern voraussetzen. In der Vorstellung vom Gesellschaftsvertrag hingegen sind alle Individuen gleichermaßen frei geboren. Weil die Freiheit eine angeborene ist, muss auch die Gleichheit der Menschen eine angeborene sein. Freiheit und Gleichheit verbinden sich. Wäre die angeborene Freiheit nicht mit der Gleichheit verbunden, so müsste irgendjemand zuvor entschieden haben, welche Menschen zu den privilegierten gehören und welche nicht. Es müssten Kriterien definiert worden sein, nach denen Freiheit »angeboren« oder »nicht angeboren« ist. In der Theorie des Gesellschaftsvertrages sind derartige Unterscheidungen aber undenkbar, denn sie beruht gerade darauf, dass Freiheit allen Menschen angeboren ist und somit gar nicht zugeteilt werden kann. Der Stellenwert der Gleichheit bildet einen wichtigen Unterschied zwischen dem Herrschafts- und dem Gesellschaftsvertrag.

2. Hauptentwicklungslinien der Menschenrechte

Mit der theoretischen Figur des Gesellschaftsvertrages war der Boden bereitet, auf welchem jene Philosophien entwickelt werden konnten, die Ende des 18. Jahrhunderts ihre Umsetzung in konkrete Menschenrechte erfuhren. Die folgende Darstellung kann nur eine summarische sein und beschränkt sich auf jene Aspekte, welche für die Entwicklung der Menschenrechte von Bedeutung sind. Sie finden sich im 17. und 18. Jahrhundert vor allem bei Thomas Hobbes, dann bei John Locke, Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant.

Thomas Hobbes

Thomas Hobbes (1588–1679) ist es zu verdanken, dass die öffentliche Ordnung nicht mehr so gesehen wurde, als sei sie durch übergeordnete Instanzen vorgegeben worden. Die Einrichtung dieser Ordnung wurde nun zu einer Aufgabe der frei geborenen Individuen, wenn auch vorläufig nur in der Theorie. Man kann deshalb vom Übergang von einer vorgegebenen zu einer aufgegebenen Ordnung sprechen.4 In einer vorgegebenen Ordnung können bestimmten Menschen oder Ständen bestimmte Freiheiten gewährt werden, denn es lässt sich aus der Vorgabe ableiten, welche Menschen oder Stände dies sein sollen, um welche Freiheiten es sich handeln soll und unter welchen Bedingungen schließlich die Gewährung dieser Freiheiten erfolgen soll. Wird die vorgegebene Ordnung außer Kraft gesetzt, fallen alle Vorgaben weg. Die gewährten Freiheiten werden ersetzt durch die allgemeine und gleiche Freiheit, welche es den Menschen zur Aufgabe macht, die Ordnung gemeinsam zu schaffen. Seit dem 16. Jahrhundert und Hobbes hatte die Menschheit einen langen Weg zurückzulegen auf der Suche nach den Möglichkeiten, wie diese Aufgabe gelöst werden kann, auch heute ist sie noch unterwegs. Der von Hobbes vorgedachte Übergang von einer vorgegebenen zu einer aufgegebenen Ordnung bildet das Fundament für die spätere Herausbildung der Menschenrechte. In heutiger – und aus dem Marktgeschehen entliehener – Begrifflichkeit hat dieser Übergang das Individuum aus der Vorstellung befreit, es sei das Produkt einer Ordnung, und er hat den Weg geöffnet zur Vorstellung, dass das Individuum Produzent dieser Ordnung ist.

Hobbes ist insoweit der Begründer einer konkretisierbaren Philosophie der Menschenrechte, als er die ursprüngliche Freiheit und Gleichheit aller Menschen postuliert. Ein weiterer für die Entwicklung der Menschenrechte entscheidender Gedanke geht auf Hobbes zurück. Er verlangte, dass ein Herrscher beim Erlass von Gesetzen absolut frei sein müsse, allein verantwortlich der Gesellschaft, die ihn eingesetzt und ihm die Gesetzgebung übertragen hat. Damit hat Hobbes den Herrscher von göttlichem oder natürlichem Recht abgelöst. Voraussetzung dafür war, dass es eine neue Autorität gab, welche dem gesetzgebenden Herrscher seine Funktion übertragen hatte, nämlich die im Gesellschaftsvertrag vereinten Individuen, welche frei und gleich geboren waren.5

Im Gesellschaftsentwurf von Hobbes werden Freiheit und Gleichheit allerdings wieder weitgehend illusorisch. Er suchte nach einer Antwort auf die blutigen Auseinandersetzungen des 17. Jahrhunderts, welches durch die Religionskriege auf dem europäischen Kontinent und durch den Bürgerkrieg in England geprägt war. Mit dem Konzept des Gesellschaftsvertrages schuf er zwar die Möglichkeit einer Begründung politischer Herrschaft aus der Freiheit des einzelnen Menschen. Nach seiner Vorstellung ist diese Freiheit im virtuellen Naturzustand der Menschheit jedoch gefährlich, weil sie zum »Krieg aller gegen alle« führen kann.6 Die bürgerkriegsträchtige Rechtsunsicherheit kann für Hobbes nur durch einen starken Staat und einen absoluten Herrscher überwunden werden. Dem Herrscher übertrugen die Individuen ihre ganze Freiheit und alle ihre Rechte mit Ausnahme des Rechtes auf Leben, das bei Hobbes als einziges dem Individuum zusteht.

Damit hat Hobbes eine Begründung für die Regierungsform des Absolutismus formuliert. Er schlug gleichsam vor, dass die Menschen ihre angeborenen Rechte dadurch wahren sollten, dass sie zugunsten eines absoluten Herrschers darauf verzichteten.7 Freiheit und Gleichheit gibt es deshalb bei Hobbes nur noch im Rahmen des Verbandes der staatlichen Untertanen. Hobbes kann aufgrund seines Gesellschaftsentwurfes wohl kaum als Menschenrechtstheoretiker bezeichnet werden. Dennoch hat er eine entscheidende Grundlage für die spätere Entwicklung konkreter Menschenrechte geschaffen.

John Locke

Der nächste Schritt in der Entstehungsgeschichte der Menschenrechte ist dem englischen Philosophen John Locke (1632 bis 1704) zuzuschreiben. Wie sein um mehrere Jahrzehnte älterer Landsmann Hobbes ging er von einem Naturzustand aus, in welchem die Menschen frei und gleich gewesen seien, sowie vom Selbsterhaltungstrieb des Menschen im Naturzustand. Bei Locke wird dieser Trieb zu einem Recht und zu einer Pflicht auf Selbsterhaltung. Daraus leitet er in seiner »Zweiten Abhandlung über die Regierung« das Recht auf Eigentum ab, welches in seiner Theorie eine ganz zentrale Stelle einnimmt.8 Jedermann sei Eigentümer seiner eigenen Person und habe somit auch Eigentum am Produkt der Arbeit der eigenen Hände. Das Recht auf Eigentum entstehe dadurch, dass der Eigentümer einen Gegenstand bearbeite. Der Eigentümer sei im Naturzustand auch berechtigt, sich gegen Einbrüche in dieses Recht zu verteidigen, dem Rechtsbrecher gegenüber als Richter zu wirken und ihn auf eigene Faust zu bestrafen. Die Einführung des Geldes habe es dem einzelnen Menschen aber schon im Naturzustand ermöglicht, mehr Land zu bearbeiten, als er für die eigene Selbsterhaltung benötigte, und den Mehrertrag an Früchten zu verkaufen. Da die Menschen unterschiedlich fleißig seien, führe dies schon im Naturzustand zu ungleichen Besitzverhältnissen.

Der Abschluss des Gesellschaftsvertrages und damit die Errichtung eines Staates wird genau in dem Moment unumgänglich, in welchem der Einzelne nicht mehr in der Lage ist, »das über unmittelbare Körperkraft und Verfügungsgewalt hinausreichende Eigentum« zu schützen.9 Dazu setzen die Menschen eine Regierung ein, deren ausschließliche Aufgabe es ist, die Rechte des Individuums zu schützen. Darunter versteht Locke den Schutz des Eigentums, bestehend aus Leib, Leben und Privateigentum. Entsprechend gestaltete er die staatlichen Institutionen. In England hatte sich 1688 in der »glorreichen Revolution« das Parlament definitiv gegen die absolutistischen Bestrebungen der Könige durchgesetzt.10 An diesen Verhältnissen orientierte sich Locke und übertrug die Gesetzgebungshoheit vom Herrscher auf die Legislative. Diese wurde von jenen Bürgern gewählt, die über Eigentum verfügten. So hat er auch als einer der Ersten die Bedeutung von Mehrheitsentscheiden für die parlamentarische Willensbildung thematisiert. Die Legislative sollte jene Gesetze erlassen, die für den Schutz der Rechte des Individuums notwendig sind. Die Durchsetzung der Gesetze sollte einer Exekutive obliegen, wobei diese beiden Organe klar getrennt sein müssten. Lockes Theorie über die Ausgestaltung der öffentlichen Institutionen ist darauf ausgerichtet, für die neu aufstrebende Schicht des wirtschaftenden Bürgers möglichst gute Bedingungen zu schaffen. Auch daraus erklärt sich die zentrale Bedeutung des Eigentums in seiner Philosophie, welches eng verbunden ist mit dem Begriff der Arbeit. Arbeit wird damit zur rechtlichen Begründung des Privateigentums.

In eigenartigem Gegensatz dazu steht Lockes Begründung dieser Ordnung aus der von Gott geschaffenen Natur der Menschen.11 Jeder Mensch sei als Individuum unabhängig, unterstehe aber dem von Gott geschaffenen natürlichen Gesetz. Die Hauptaufgabe jedes Menschen liege darin, dieses bereits in der Natur enthaltene göttliche Gesetz aufzufinden und zu erkennen. Atheisten und solchen, die sich weigerten, sich öffentlich in irgendeiner Form zu Gott zu bekennen, spricht Locke deshalb den Bürgerstatus ab. Das Erkennen der Naturgesetze verlange eine gewisse Bildung und sei damit jenen vorbehalten, die sich dieses Wissen haben aneignen können. Ihnen komme die Aufgabe zu, ihre Erkenntnis im Volk zu verbreiten und damit eine moralische Vormundschaft zu übernehmen. Verglichen mit Hobbes, hat Locke den Durchbruch zur völligen Ungebundenheit wieder etwas zurückgenommen. Die den Menschen aufgegebene Ordnung hat er mit Elementen früherer vorgegebener Ordnungen verbunden, in denen Anklänge an die Gottesebenbildlichkeit des Menschen zum Tragen kommen.

Vor allem aber hat Locke die Vorstellungen von Hobbes mit einem anti-absolutistischen Gegenentwurf konfrontiert, den man als »Staat der Eigentümer«12 bezeichnen kann. Damit veränderte sich das Verhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit. Während Hobbes die Gleichheit dadurch gewahrt hatte, dass er alle Menschen unter der absoluten Herrschaft gleich unfrei machte, wahrte Locke nun die Freiheit, dies aber um den Preis der Aufspaltung der Gesellschaft in Wohlhabende und Besitzlose. Verglichen mit Hobbes, hat Locke die Menschenrechte dahingehend weiterentwickelt, dass eine Übertragung von Rechten durch das Individuum an den Staat nicht mehr unbeschränkt möglich war. Damit hat Locke maßgebliche Grundlagen für den liberalen Rechtsstaatsgedanken geschaffen, und er hat die Entwicklung einer konkretisierbaren Vorstellung von den Menschenrechten ganz entscheidend beeinflusst. Weder Hobbes noch Locke haben aber das Versprechen einlösen können, welches in der Vorstellung des Gesellschaftsvertrages eingeschrieben ist, dass nämlich alle Menschen gleich und frei sind.

Jean-Jacques Rousseau

Im Hinblick auf die Einlösung des Versprechens schaffte sieben Jahrzehnte später der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) einen Durchbruch, der für die Weiterentwicklung konkretisierbarer Menschenrechte große Bedeutung erlangen sollte. Nach Rousseau ist nicht ein außerhalb des Individuums stehendes Gesetz maßgeblich, sondern das Gewissen jedes einzelnen Individuums. Er hat als Erster erkannt, dass Freiheit des Einzelnen und staatliche Durchsetzung einer Ordnung nur dann miteinander vereinbar sind, wenn diese Ordnung aus der Selbstgesetzgebung durch die Individuen hervorgeht, welche dem Staat unterworfen sind. Damit führt Rousseau die Auto-Nomie des einzelnen Menschen ein – die wörtliche Übersetzung von Selbst-Gesetzgebung. Hier kommt auch zum ersten Mal die Doppelrolle des Individuums hinsichtlich der Rechtsordnung zum Ausdruck: Einerseits hat das Individuum dem Gesetz zu gehorchen, ist also dem Recht unterworfen. Andererseits aber ist das Individuum zusammen mit den anderen gleichgestellten Individuen auch Gesetzgeber und Mitautor der Gesetze. Der Einzelne ist gleichzeitig Autor und Adressat der Gesetze, ersteres als Mitgesetzgeber, das zweite als Unterworfener unter die Gesetze, die er vorher mitverfasst hat. Freiheit gewinnt so eine weitere Dimension, sie umfasst nun auch politische Teilnahmerechte, indem das Individuum die öffentliche Ordnung mitgestalten können soll.

Dieser Gedanke kommt bei Rousseau im Begriff der Volkssouveränität zum Ausdruck: Die Gesetzgebungshoheit, welche Locke vom Herrscher auf die Legislative verschoben hatte, übertrug Rousseau nun auf alle Individuen, die einem Staatswesen unterstellt sind. Damit bringt er zum Ausdruck, dass der Einzelne in seiner Rolle als dem Gesetz Unterworfener nur dann frei ist, wenn er zuvor in der Rolle des an der Gesetzgebung Beteiligten dem Gesetz auch zugestimmt hat. Der gemeinsame Wille aller Individuen kommt nach Rousseau in der volonté générale zum Ausdruck, die mit der Souveränität der Bürger identisch ist. Er hält Gesetzgebung für legitim, wenn sie aus einem Plebiszit hervorgegangen ist, wenn die Bürger die Richtlinien also in einer Volksversammlung beschlossen haben, was nur in Kleinstaaten denkbar ist. Für Rousseau widerspricht die definitive Verabschiedung von Gesetzen durch parlamentarische Repräsentanten dem Grundsatz der Selbstbestimmung.

Durch die Ablehnung einer außerhalb des Individuums stehenden Autorität kam Rousseau wieder auf die Ungebundenheit des Individuums zurück, von der schon Hobbes ausgegangen war. Die Hürde, welche im Denken von Hobbes für die Weiterentwicklung der Menschenrechte angelegt war, hat Rousseau übersprungen, indem die Rechte nicht mehr an einen absolutistischen Herrscher abgetreten werden müssen, sondern nur an die volonté générale, den gemeinsamen politischen Willen aller Individuen. Gerade hier liegt aber auch wieder ein Element der Unfreiheit im Denken von Rousseau, denn die Abtretung der Rechte an die Gemeinschaft ist eine mindestens so kompromisslose wie jene von Hobbes gegenüber dem absolutistischen Herrscher.13 Zum einen überträgt das Individuum nach Rousseau alle von der Natur gegebenen Rechte an die Gemeinschaft ohne jegliche Ausnahme.14 Hobbes hatte immerhin noch dem Recht auf Leben einen besonderen Stellenwert zuerkannt. Zum andern stellt das Gemeinwesen, das durch den Gesellschaftsvertrag geschaffen wird, selbst eine Einheit dar, die nach Rousseau eine eigene Individualität aufweist. In ihr gehen die Rechte des einzelnen Individuums völlig auf. Von den Rechten des Einzelnen ist deshalb im Rahmen der volonté générale nach der Übertragung nicht mehr die Rede.

Auch Rousseau geht davon aus, dass die Ordnung den Menschen nicht vorgegeben, sondern es ihre Aufgabe sei, die Ordnung selber zu entwickeln. Die Freiheit des Menschen wird dadurch stark aufgewertet. Freiheit wird aber so stark mit menschlicher Vollkommenheit und menschlichem Glück identifiziert, dass daraus ein fast religiöser Heilsanspruch hervorgeht, der leicht totalitär werden kann. Rousseau postuliert letztlich einen Anspruch auf Tugend und Glück, den der Staat den Bürgern garantieren soll. Damit radikalisiert er die Freiheit in einer Weise, die sie in der Praxis schließlich illusorisch werden lässt. Im Bemühen, Freiheit und Gleichheit aufeinander abzustimmen und beide Ziele gleichzeitig zu verwirklichen, führten Rousseaus Gedanken vor allem durch das Konzept der Selbstgesetzgebung und die Doppelrolle des Individuums als Autor und Adressat der Gesetze trotzdem einen entscheidenden Schritt weiter. Rousseaus Schriften hatten auf die politische Entwicklung der damaligen Zeit einen großen Einfluss, insbesondere auf die Französische Revolution. Aber auch in den folgenden Jahrhunderten haben sie die Theoriebildung inspiriert, vor allem deren radikaldemokratische Varianten. Als eigentlicher Menschenrechtsbegründer kann Rousseau nicht gelten. Dennoch bilden seine radikalen Ideen eine unentbehrliche Grundlage für den weiteren Verlauf der menschenrechtlichen Ideengeschichte.

Immanuel Kant

Ein Jahrhundert nach John Locke, dem bis dahin bedeutendsten Menschenrechtstheoretiker, vollzog der in Königsberg lebende deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) den nächsten entscheidenden Schritt der Menschenrechtsphilosophie. Er schuf die Grundlage, auf welcher Freiheit und Gleichheit vereinbar wurden. Damit ermöglichte er auch den definitiven Durchbruch von einer vorgegebenen zu einer aufgegebenen Ordnung.15 Beeinflusst vom Denken Rousseaus, stützte er sich insbesondere in seiner Rechtsphilosophie teilweise auf dessen Begriffe, hinterfragte sie aber kritisch und differenzierte sie weiter aus. Das politische Ideal Rousseaus, das vollständige Aufgehen des Einzelnen im gemeinsam gebildeten Willen, schlüsselt Kant in ein moralisches und ein rechtliches Ideal auf. Gemeinsam ist den beiden Bereichen der Verzicht auf inhaltliche Vorgaben. Kant zeichnet nur das Verfahren vor, in welchem der Inhalt oder immerhin eine Möglichkeit gefunden werden kann, sich ihm anzunähern. Ausgangspunkt sowohl für den moralischen als auch für den rechtlichen Bereich ist die Freiheit des Individuums. Ein wichtiger Unterschied zwischen beiden Bereichen liegt jedoch darin, dass die Befolgung der rechtlichen Vorschriften erzwingbar ist, jene der moralischen hingegen nicht.

Freiheit kommt dem Menschen gemäß Kant vor allem deshalb zu, weil er ein denkendes Wesen ist und weil er durch sein Denkvermögen in der Lage ist, die Dinge und Geschehnisse in der Welt zu beurteilen und zu werten. Weil der Mensch Vernunft hat, ist er in der Lage zu beurteilen, was für Konsequenzen sein Handeln für ihn und für andere hat oder haben könnte. Darüber hinaus aber gibt es in jedem Menschen etwas letztlich Unerklärbares, das ihm sagt, wie er sich verhalten soll, damit es sowohl den anderen Menschen als auch ihm selbst gegenüber verantwortbar sei. Dieses Unerklärbare ist eine moralische Kategorie, die Kant das »Sittengesetz« nennt. Jeder Mensch wird durch dieses Sittengesetz »genötigt«, das moralisch Richtige zu tun. Ob er allerdings seiner Einsicht folgt und danach handelt, ist seine eigene Sache, denn Moralität lässt sich nicht erzwingen. Auch wenn er unmoralisch handelt, kann er dem Sittengesetz nicht ausweichen. Ihm stellt sich immer wieder die Frage, ob er eine konkrete Handlung moralisch vor sich selber rechtfertigen kann. In den Worten Kants geht es darum, ob die Handlung einem subjektiven Prinzip, einer »Maxime«, folgt, »durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde«. Die ständige Nötigung durch das Sittengesetz bezeichnet Kant als »kategorischen Imperativ«.16

Kant verzichtet darauf, inhaltliche Vorgaben darüber zu machen, was moralisch richtig oder falsch sei. Stattdessen zeigt er auf, in welchem formalisierten Verfahren sich das Individuum mit dieser Frage am besten auseinandersetzen kann. Das entscheidende Kriterium ist dabei die Verallgemeinerbarkeit oder die Universalisierbarkeit. Dass der Mensch zu dieser Auseinandersetzung fähig und innerlich auch immer wieder dazu aufgefordert ist, verleiht ihm sittliche Autonomie und macht für Kant in letzter Konsequenz die Würde des Menschen aus. Würde kommt dem Menschen deshalb zu, weil er über einen freien Willen verfügt, die Voraussetzung der Selbstgesetzgebung im Bereich der Moral. Rousseau bezog den von ihm eingeführten Begriff der Selbstgesetzgebung vor allem auf die öffentliche Ordnung, die im Recht zum Ausdruck kommt. Da für ihn Recht und Moral letztlich zusammenfallen, differenziert er die beiden Bereiche auch in der Selbstgesetzgebung nicht weiter – mit der verhängnisvollen Konsequenz, dass das Individuum die moralische Selbstbestimmung schließlich an einen totalitären Staat verlieren kann. Kant trennt nun die beiden Bereiche, nicht aber in dem Sinne, dass nur das Recht auf Selbstgesetzgebung beruhen müsse, während die Moral aus irgendwelchen vorgegebenen Werten abgeleitet werden könne. Vielmehr findet nach Kant im Bereich der Moral genauso ein Gesetzgebungsvorgang statt, jedoch nicht ein kollektiver, sondern ein individueller.

Auch für den rechtlichen Bereich nimmt Kant eine Formalisierung vor und verzichtet auf inhaltliche Vorgaben. Das Recht dient dem Schutz der Freiheit des Individuums. Es legt die Bedingungen fest, die garantieren sollen, dass jeder nach seinem Belieben das anstreben und verwirklichen kann, was er will, sofern dies mit demselben Maß der Selbstverwirklichung aller anderen vereinbar ist. Dieses freie Belieben, zu tun und zu lassen, was man will, bezeichnet Kant als »Willkür«. Sie schließt auch ein Handeln ein, das auf persönlichen Wünschen, Begierden oder Launen beruht, die vorübergehend sein können und objektiv als unvernünftig erscheinen mögen. Willkür kann aber nicht die Grundlage sein für sittliche Autonomie. Diese ergibt sich erst aus der Selbstgesetzgebung des Einzelnen unter dem Sittengesetz, das er in sich trägt und das von persönlichen Begierden oder kurzfristigen Launen abstrahiert. Während sich das Sittengesetz nur an den Einzelnen wendet und dieser mit sich selbst ausmachen muss, worin es besteht und ob er ihm folgen will, dient das rechtliche Gesetz dem menschlichen Zusammenleben. Es schützt die Freiheit des Individuums, indem die anderen notfalls auch gezwungen werden können, ihre Freiheit nur in einer Weise auszuüben, welche die gleiche Freiheitsausübung aller Individuen nicht verunmöglicht. Freiheit ist deshalb unausweichlich verbunden mit Gleichheit. Nur als gleiche Freiheit ist Freiheit überhaupt denkbar.

Bei Kant gibt es letztlich nur ein einziges angeborenes Recht auf Freiheit, das dem Menschen »kraft seiner Menschheit« zusteht.17 Es wird deshalb als »Menschheitsrecht« bezeichnet und ist im Wesentlichen darauf ausgerichtet, Fremdbestimmung des Individuums zu vermeiden. Damit es geschützt werden kann, müssen Institutionen eingerichtet werden, welche die Wahrnehmung dieses Rechtes garantieren können. Dies müssen staatliche Institutionen sein. Auch die notfalls zwangsbewehrte Durchsetzung des Rechts kann nur Aufgabe des Staates sein. Wie die Denker vor ihm geht Kant von einem Naturzustand aus. Er stellt sich diesen Zustand so vor, dass eine Art Privatrecht geherrscht habe, aufgrund dessen jedes Individuum zunächst einmal beliebige Dinge – allerdings nur provisorisch – in seinen Besitz genommen habe. Einen Krieg aller gegen alle wie bei Hobbes bedeutet der Naturzustand gemäß Kant zwar nicht, dennoch ist dieser Zustand mangels Rechtsschutz eine unsichere Sache. Deshalb verlangt das angeborene Freiheitsrecht von den Menschen, dass sie den Naturzustand verlassen und sich zwangsbewehrten öffentlichrechtlichen Gesetzen unterwerfen, dass sie sich in den Worten von Kant in einen »bürgerlichen Zustand« begeben. Die Menschen sollen sich in einem Staat zusammenfinden, den Kant als »die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen« definiert.

Die Pflicht der Menschen, sich unter Rechtsgesetzen zusammenzufinden und damit einen Staat zu gründen, ergibt sich aber auch daraus, dass die gesetzgebende Gewalt nur »dem vereinigten Willen des Volkes« zukommen kann.18 Kant übernimmt das Konzept der Volkssouveränität von Rousseau, allerdings in modifizierter Form und ohne dessen Vorstellungen zur plebiszitären Demokratie. Im Idealfall sei es Aufgabe des Volkes, im Namen aller Staatsbürger »vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputierten) ihre Rechte zu besorgen«. Dieses repräsentative System sieht er aber erst dann verwirklicht, wenn der Staat zur Form einer »wahren Republik« gefunden hat. Mit dem Begriff der Republik meint Kant die Teilnahme aller Bürger an der res publica. Das Menschheitsrecht von Kant wird deshalb auch als »Recht auf eine Republik« bezeichnet oder als »Recht auf einen Staat«.19 Die Erweiterung des Freiheitsverständnisses durch politische Teilnahmerechte, welche schon Rousseau vorgedacht hat, kommt bei Kant erst richtig zum Tragen. Kant entwirft die Grundelemente der parlamentarischen Demokratie, lehnt aber im Gegensatz zu Rousseau direkt demokratische Elemente ab.20

Republikanismus

Ein konkretes System der staatlichen Institutionen zeichnet Kant nicht vor, vielmehr nimmt er auch diesbezüglich eine Formalisierung vor. Er zeigt den Weg auf, wie man sich republikanischen Zuständen annähern kann. Solange der republikanische Zustand noch nicht erreicht ist, müssen Gesetze durch den Fürsten erlassen werden, der sich auch auf seine Staatsbeamten stützen kann. Damit beschreibt Kant die Situation in seinem Staat Preußen, dem die Stadt Königsberg zugehörte. Kant hat aber die Geschehnisse der 1789 ausgebrochenen Französischen Revolution genau verfolgt. Er war überzeugt, dass sich die kontinentaleuropäischen Monarchien im Niedergang befänden. Deshalb werde sich der republikanische Zustand über kurz oder lang überall durchsetzen. Es ging ihm auch darum, beim Übergang von der Monarchie zur Republik Gewaltexzesse zu vermeiden. Dabei hatte er Exzesse der Französischen Revolution vor Augen.21

Der Fürst ist aber in der Gesetzgebung nicht frei. Er hat darauf zu achten, dass er »seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen können, und jeden Untertan […] so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammen gestimmt habe. Denn das ist der Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes.«22 Auch hier nimmt Kant wieder eine Formalisierung vor, sein »Probierstein« ist ein Gedankenexperiment. Kant bestimmt nicht vom Inhalt her, was gerecht sei, sondern er trägt dem Monarchen auf, sich vorzustellen, ob seine Untertanen dem Gesetz zustimmen würden, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten. Solange die Bürger noch nicht über ihre Abgeordneten »ihr Recht besorgen« können, muss sich der Monarch als Mandatar und Repräsentant der Bürger betrachten und die Abwägung für sie vornehmen. Ist der Zustand der Republik einmal erreicht, können die Bürger diese Abwägung selber vornehmen. Die von Kant eingeführte Formalisierung gilt auch für sie: Sie sollen konkrete Gesetzesvorlagen nicht daraufhin überprüfen, ob sie ihnen gefallen oder ob sie ihnen persönliche Vorteile bringen, sondern die entscheidende Frage geht dahin, ob die Gesetze von allen gewollt werden können, die unter diesen Gesetzen werden leben müssen. Der Allgemeinwille ist für Kant nicht identisch mit der Summe aller privaten Interessen. Vielmehr verlangt die Gesetzgebung, dass die Bürger von ihrer privaten Situation abstrahieren und nach allgemeinen Kriterien der Vernunft prüfen, ob die geplante Regelung im Sinne aller Betroffenen verallgemeinerbar sei. Das entscheidende Kriterium ist wieder die Universalisierbarkeit. Durch die Verallgemeinerung gewinnt der Bürger zunächst einmal eine Freiheit gegenüber sich selber, gegenüber seinen eigenen, vielleicht vorübergehenden und damit objektiv gesehen eher unvernünftigen Wünschen und Launen. Dies ist die Voraussetzung für eine objektive Prüfung der Universalisierbarkeit.

Hier trifft sich der rechtliche Bereich mit dem moralischen. Auch das Sittengesetz stellt den einzelnen Menschen immer wieder vor die Frage, ob sein Handeln einem subjektiven Prinzip folge, von dem er auch »wollen kann, dass es zum allgemeinen Gesetz werde«, mit anderen Worten, dass es universalisierbar sei. Auch hier ist der »Probierstein« ein Gedankenexperiment. Genauso wie ein einzelner Mensch eine bestimmte Handlung nur dadurch vor sich selber moralisch rechtfertigen kann, dass er prüft, ob das zugrunde liegende subjektive Prinzip universalisierbar wäre, genauso muss der Mensch als gesetzgebender Bürger prüfen, ob eine Gesetzesvorlage durch alle Gesetzesunterworfenen gewollt sein könnte, also universalisierbar wäre. Im moralischen Bereich kommt die Würde des Individuums dadurch zum Tragen, dass es durch das Gedankenexperiment der Verallgemeinerung seiner eigenen Prinzipien das Sittengesetz zur Anwendung bringt. Genauso verhält es sich im rechtlichen Bereich. Das einzige angeborene Recht auf allgemeine und gleiche Freiheit kommt dadurch zum Tragen, dass der Gesetzgeber durch das Gedankenexperiment der Universalisierbarkeit den allgemeinen Volkswillen ermittelt.

Der Republikanismus von Kant weist aber zusätzlich über die innerstaatlichen Verhältnisse hinaus. Wie die Individuen den Naturzustand verlassen und in einen Zustand »unter Rechtsgesetzen« eintreten sollen, so soll auch ein internationaler Rechtszustand angestrebt werden. Völkerrecht soll durch einen freien »Föderalismus« souveräner Staaten geschaffen werden, die sich landesintern auf eine republikanische Verfassung stützen. Kant spricht von einem »Völkerbund«, den diese Staaten bilden sollen, einen Weltstaat lehnt er ausdrücklich ab. Sein »Weltbürgerrecht« beschränkt er auf »Bedingungen der allgemeinen Hospitalität«. Die Menschen sollen auch Staaten bereisen können, über deren Bürgerrecht sie nicht verfügen, und es soll ihnen dort ein minimaler Schutz zugestanden werden.23 Zwar stellt diese Forderung, verglichen mit heute, einen bescheidenen Anfang dar. Dennoch ist Kant auch in jenem Bereich ein entscheidender Schritt in der Theorie der Menschenrechte zu verdanken, der über den innerstaatlichen Schutz hinausgeht.

Zum innerstaatlichen öffentlichen Recht, welches das Zusammenleben der Menschen im Rahmen des einzelnen Gemeinwesens festlegt, und zum Völkerrecht, das den Beziehungen zwischen den Staaten eine Ordnung verleiht, kommt das »kosmopolitische« Recht hinzu. Es legt nicht nur die Ansprüche jedes Menschen gegenüber den Staaten fest, deren Bürger er nicht ist, sondern es zielt auch darauf ab, das Zusammenleben des Einzelnen mit allen jenen Menschen in eine rechtliche Ordnung zu bringen, die keine Bürger desselben Gemeinwesens sind. Damit gewinnt das angeborene Recht auf allgemeine und gleiche Freiheit eine weitere Dimension.

3. Menschenrechte, Moral und Recht

Mit der Rechts- und Moralphilosophie von Kant kommt hinsichtlich der Menschenrechte eine erste Entwicklung der Grundlagen zum Abschluss. Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts setzte die Ausformulierung konkreter Menschenrechtserklärungen ein, die im Zusammenhang standen mit der Neugründung von Nationalstaaten oder mit der Überführung bestehender Staaten in neue Staats- und Regierungsformen. Die gegenseitige Beeinflussung von Theoriebildung und politischer Praxis hat sich dadurch verstärkt. Kant nahm zu den politischen Geschehnissen Stellung, insbesondere zog er Lehren aus der Französischen Revolution. Zum Abschluss dieses ersten Teiles werden einige Fragen vertieft, wie sie sich im Vergleich der vier Autoren ergeben, die hinsichtlich der ersten Grundlagenentwicklung der Menschenrechte summarisch dargestellt worden sind. In einigen Punkten ergibt sich dabei auch schon ein Bezug zur Gegenwart.

Normativität und Wirklichkeit

Menschenrechte orientieren sich negativ an den wirklichen Verhältnissen. Wenn Menschenrechtstheorien aufgestellt und philosophisch begründet werden, so liegt der Grund dafür immer in einer nicht befriedigenden Wirklichkeit, in leidvollen Erfahrungen der Verletzung von Menschenwürde. Jede Philosophie der Menschenrechte entsteht, weil in der Wirklichkeit etwas »nicht stimmt«, weil der Wirklichkeit etwas anderes gegenübergestellt wird, was anzustreben wäre. Es wird eine Norm aufgestellt, an der die Wirklichkeit zu messen ist. Wenn ein Zustand beschrieben wird, der noch nicht verwirklicht ist, handelt es sich um eine »normative« Beschreibung. Normativität bedeutet einen Maßstab, an welchem die Wirklichkeit gemessen wird. Der Maßstab sagt nicht aus, wie es ist, sondern wie es sein sollte. Dem »Sein« wird ein »Sollen« gegenübergestellt. In die heutige Sprache übersetzt, könnte man sagen, jedes Menschenrecht, das später einmal rechtlich konkretisiert wird, habe mit der Feststellung »hier stimmt etwas nicht« eines Menschen begonnen. Es ist die ganz elementare Intuition, im Gegensatz zu den wirklichen Verhältnissen eine eigene Vorstellung des Richtigen oder des Gerechten zu entwickeln. Dazu ist der Mensch – und nur der Mensch – fähig.24 Er kann »Nein« sagen, weil er über einen freien Willen verfügt, der – nach Kant – letztlich seine Menschenwürde ausmacht.

Jedes Rechtsgesetz – sei dies eine Staatsverfassung, eine Ordnungsregel für den Straßenverkehr, eine Bestimmung über den Abschluss von privaten Verträgen oder eine internationale Vereinbarung zwischen Staaten – hält etwas fest, was einen menschlichen Willen zum Ausdruck bringt. Es ist der Wille einer verfassungsgebenden Versammlung, eines Gesetzgebers oder einer Behörde, wer immer zuständig sein mag, die betreffende Rechtsnorm zu formulieren. Setzung einer Rechtsnorm ist ein normativer Akt, der zum Ausdruck gebrachte menschliche Wille führt zu einer Norm des Sollens. Wenn keine Normativität gegeben ist, wenn also kein menschlicher Wille zum Ausdruck kommt, beschreibt ein Text oder ein Satz die Wirklichkeit. Ein solcher Satz ist deskriptiv. Er kann die Wirklichkeit zwar richtig oder falsch beschreiben, aber menschlicher Wille kommt darin nicht zum Ausdruck. Die Unterscheidung zwischen normativen und deskriptiven Texten zeigt sich auch, wenn Rechtsgesetze mit Naturgesetzen verglichen werden. Die traditionelle Naturwissenschaft will Naturgesetze ergründen, und sie geht davon aus, dass es in der Natur Gesetze gibt, deren Logik mit wissenschaftlichen Methoden ergründet werden kann. Naturgesetze sind nicht normativ, in ihnen kommt kein menschlicher Wille zum Ausdruck, sie sind der Natur gegenüber rein deskriptiv.

In der Praxis bedeutet Normativität im Zusammenhang mit den Menschenrechten, dass man sich auf einen Maßstab beruft, der mit den wirklichen Verhältnissen nicht übereinstimmt, und eine Angleichung dieser Verhältnisse an den Maßstab verlangt. Normativität gibt dem einzelnen Menschen Argumente in die Hand, um eine Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse in einer bestimmten Richtung zu verlangen. Deshalb bedeutet Normativität auch, dass ein solches Verlangen begründet werden muss. Eine Norm ist immer mit einer Begründung verbunden, selbst wenn sich in der Wirklichkeit noch kaum jemand dieser Begründung anschließen kann. Eine Norm ohne Begründung wäre keine Norm, sondern es würde sich dabei um einen Glaubenssatz handeln, der absolute Wahrheit beansprucht und gerade deshalb gar keiner Begründung bedarf.

Die Menschenrechte leben geradezu davon, dass ein Spannungsverhältnis besteht zwischen dem Anspruch und dessen Verwirklichung. Sobald die Wirklichkeit selber zum Maßstab gemacht wird, verlieren die Menschenrechte ihren Gehalt. Oder anders gesagt: Sobald die Wirklichkeit so ideal ist, dass man sie sogar zum normativen Maßstab erheben könnte, erübrigt sich dieser Maßstab. Im Paradies braucht es keine Menschenrechte. In der Vergangenheit wurde immer wieder versucht, eine konkrete Wirklichkeit zum normativen Maßstab zu erklären und dadurch Anspruch und Verwirklichung in Übereinstimmung zu bringen. Die Folgen waren verheerend. Diktaturen haben die Wirklichkeit stark beschönigt und verzerrt dargestellt, damit auch nur ansatzweise ein Abglanz normativer Richtigkeit erweckt werden konnte. Aber auch die von der Wirklichkeit abweichende Norm, die aufgestellt wird, um die Wirklichkeit in einer bestimmten Richtung zu verändern, kann nicht das Paradies beschreiben. Menschenrechte werden immer in einer konkreten Situation formuliert, und sie müssen stets unvollkommen bleiben. Erst in einer bestimmten historischen Situation und ausgehend von konkreten menschlichen Leidenserfahrungen, erhalten Menschenrechte als normativer Maßstab einen konkreten Inhalt. Spätere Leidenserfahrungen in neuen historischen Situationen oder in anderen Ländern und Weltregionen verändern diese Inhalte, weiten sie aus und konkretisieren sie weiter. Auch können spätere Ungerechtigkeitserfahrungen dazu führen, dass Widersprüche zu früher aufgestellten Normen sichtbar werden, welche ihrerseits auf frühere Ungerechtigkeitserfahrungen zurückgehen.25

Wenn Menschenrechte wirksam sein sollen, muss also in zweifacher Hinsicht eine klare Trennung bestehen zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Zum einen muss der Anspruch immer als Alternative zur Unrechtserfahrung in der Wirklichkeit formuliert werden, alles andere führt entweder ins illusionäre Paradies oder in die reale Diktatur. Aber Maßstab und Wirklichkeit bleiben dennoch aufeinander bezogen, denn der Maßstab drängt sich ja auf, weil die Wirklichkeit als leidvoll erfahren wird. Zum andern bleibt die Formulierung der Alternative immer provisorisch.26 Der menschenrechtliche Anspruch kann nie in seiner Absolutheit formuliert werden, sondern nur entsprechend der konkreten historischen und regionalen Situation. Menschenrechte sind ein stetiger und nie zur Ruhe kommender Versuch, sich dem Absoluten anzunähern, das im Begriff der Menschenwürde anklingt, das man aber nie konkret formulieren kann.27 Könnte man das Absolute formulieren, käme der Annäherungsprozess zum Abschluss, er käme zur Ruhe – eine paradiesische oder diktatorische Ruhe.28 So gesehen enthält jede Erklärung der Menschenrechte »eine doppelte ›Anmaßung‹, weil sie Prinzipien und Rechte errichtet, die (politisch) noch nicht verwirklicht sind, und diesen Akt dabei jemandem zuschreibt, der ebenfalls noch ›nicht existiert‹ – dem freien Menschen«.29 Die Antwort auf diese Anmaßung ist generell für Verfassungen formuliert worden, also auch über die Menschenrechte hinaus: »Die Versprechen einer demokratischen Verfassung sollen nicht als beständiger Quell der Enttäuschung dienen, […] sondern als ein Ansporn, die Ordnung weiterzuentwickeln.«30

Normativität und Menschenrechtstheorien

Das Spannungsverhältnis zwischen Normativität und Wirklichkeit kommt auch in der Entwicklung der Menschenrechtstheorien zum Ausdruck. Hobbes hat mit der Vorstellung vom Gesellschaftsvertrag einen normativen Ausgangspunkt geschaffen, der für die Entwicklung der Menschenrechte nicht mehr hintergehbar war. Er hat die Freiheit des Einzelnen ein für alle Mal postuliert. Freiheit und Gleichheit wurden in seiner Theorie illusorisch. Dies ist darauf zurückzuführen, dass er die Normativität nicht weiterentwickelte, sondern sich im praktischen Gesellschaftsentwurf an der Wirklichkeit orientierte. Er ging davon aus, dass die frei und gleich geborenen Menschen, wenn man sie denn in die Wirklichkeit entließe, sofort in einen Kriegszustand aller gegen alle geraten würden, was nur durch einen starken Staat und einen gesetzgebenden absoluten Herrscher aufgefangen werden kann. Freiheit und Gleichheit gehören nicht zur normativen Hinterlassenschaft von Hobbes, er gibt dem Individuum nichts in die Hand, worauf es sich diesbezüglich berufen könnte. Hingegen geht die normative Begründung der Staatlichkeit auf Hobbes zurück. Im Vordergrund steht dabei das Recht auf Leben. In der Normativität von Hobbes brauchen frei und gleich geborene Menschen einen Staat, damit sie vor Anarchie und Tod geschützt sind.

Bei Locke zielt die Normativität in umgekehrte Richtung. Alleiniger normativer Maßstab sind die Individualrechte, insbesondere das Recht auf Eigentum, bestehend aus Leib, Leben und Privateigentum. Über diese Rechte verfügt das Individuum schon im Naturzustand. Sie liegen der Staatsbildung voraus, und der Staat darf nur so weit ausgebildet werden, als er diese Rechte nicht verletzt. Lockes Konzeption der staatlichen Organisation hat selber keine normative Qualität, sie dient lediglich als Instrument zur Sicherung der Individualrechte.31 Nur diese Letzteren begründet er normativ, er setzt dafür einen Maßstab, den er jeglicher davon abweichenden Wirklichkeit gegenüberstellt. Weil auch Locke – wie vor ihm schon Hobbes – seine Konzeption der staatlichen Organisation an der Wirklichkeit orientiert, geht er von den Verhältnissen in England aus. Da er die Gesetzgebungshoheit auf die Legislative übertragen hat, muss er vor allem dieser klare Grenzen setzen. Die normativ begründeten Individualrechte, die bei Locke vorstaatlich und vorpolitisch sind, bilden auch für die Legislative eine absolute Schranke. In der englischen Linie der Menschenrechtsentwicklung spielt die Parlamentssouveränität eine entscheidende Rolle, wie sie sich seit der Magna Charta aus verschiedenen Herrschaftsverträgen entwickelt hat. Lockes Normativität konzentriert sich deshalb stark auf diese Schranke. Seine Zweite Abhandlung über die Regierung ist ein »Appell an das Volk und an die Regierenden, ihre Beziehungen diesem Muster gemäß einzurichten«32. Die Normativität von Locke gibt dem Individuum Argumente zur Verteidigung der Freiheitsrechte in die Hand, die gegen den Staat gerichtet sind.

Rousseau konzentriert seine normative Aussage im Unterschied zu Locke auf die Organisation der staatlichen Institutionen, wobei die Volkssouveränität im Mittelpunkt steht. Bei Rousseau sind die Individualrechte nicht mehr vorstaatlich und vorpolitisch, sondern die Berechtigten müssen sie in Ausübung der Volkssouveränität durch die Gesetzgebung selber ausgestalten. Die Unterscheidung zwischen Normativität und Wirklichkeit macht Rousseau selber deutlich, indem er neben dem Begriff der volonté générale jenen der volonté de tous verwendet, womit die Summe der Einzelinteressen und der partikularen Vorlieben gemeint ist. Der normative Begriff der Volkssouveränität kommt in der volonté générale zum Ausdruck, einer Idealvorstellung vom Gemeinwillen aller Rechtsunterworfenen, auf welchen sich diese in der demokratischen Auseinandersetzung geeinigt haben. Weil es sich um eine Idealvorstellung handelt, kann Rousseau die Aussage machen, die volonté générale könne die Menschenrechte nicht verletzten, sie sei »immer auf dem rechten Weg«.33 Der faktische Souverän hingegen kann die Menschenrechte sehr wohl verletzen, und zwar dann, wenn er statt der volonté générale der volonté de tous folgt, wenn sich also die Einzelinteressen durchsetzen.

Dem normativen Gesetzgeber sind bei Rousseau keine Schranken gesetzt, auch nicht durch Individualrechte. Diesen Rechten kommt keine normative Wirkung zu, weil für ihn der ideal gedachte normative Gesetzgeber mit dem wirklichen Gesetzgeber identisch ist. Wenn der wirkliche Gesetzgeber durch seine Gesetzgebung Menschenrechte verletzt, gilt das beschlossene Gesetz dennoch als absolute Wahrheit, weil es auf die volonté générale zurückgeht. Zwischen Normativität und Wirklichkeit wird nicht unterschieden, »Sollen« und »Sein« fallen zusammen. Bei Rousseau haben die Menschenrechte keine normative Qualität. Sie können nicht als normativer Maßstab für die Wirklichkeit herangezogen werden. Hingegen gibt Rousseau dem Individuum die normativen Argumente in die Hand, politische Teilhabe einzufordern. Rousseau hat als Erster einen normativen Begriff der Volkssouveränität formuliert, womit er für die Entwicklung der modernen Demokratie einen außerordentlich wichtigen und bahnbrechenden Beitrag geleistet hat.

Verglichen mit den drei vorgenannten Philosophen, gibt die Normativität von Kant dem Individuum die umfassendsten Argumente in die Hand. Im Vergleich mit Rousseau besteht der entscheidende Schritt von Kant darin, dass er die Identität des idealen mit dem wirklichen Gesetzgeber vermeidet. Die tatsächliche Gesetzgebung kann das Ideal des normativ gedachten Allgemeinwillens nie erreichen. Es bleibt immer bei einer Annäherung an die Gerechtigkeitsvorstellungen, welche aus der volonté générale hervorgehen. Deshalb ist für Kant der Allgemeinwille auch nicht abhängig von der Herrschaftsform. Solange die Herrschaftsform der Republik noch nicht erreicht ist, kann der Allgemeinwille auch durch einen beliebigen Gewalthaber repräsentiert werden, denn entscheidend ist nicht das Entstehungsverfahren für die Gesetze, sondern das Gedankenexperiment der Universalisierbarkeit. Wenn der Fürst dieses Gedankenexperiment gewissenhaft ausführt, wobei er sich auch auf die ihn umgebenden Beamten stützen kann, trägt er gemäß Kant in ähnlicher Weise zur Annäherung der Gesetzgebung an den normativ gedachten Allgemeinwillen bei, wie es ein demokratisch gewählter Gesetzgeber tun müsste.

Aber Gesetzgebung durch den Fürsten kann nur ein provisorischer Zustand sein, denn auch der Republikanismus selber hat bei Kant normative Qualität.34 Die Republik ist der normativ gesetzte Zustand, auf den sich jede Herrschaftsform hinbewegen soll. So gibt Kant dem Individuum in zweifacher Hinsicht normative Argumente in die Hand. Einerseits kann es politische Teilhabe verlangen, andererseits die Menschenrechte. Das eine kann ohne das andere letztlich nicht bestehen. Menschenrechte und politische Teilhabe – heute würde man sagen, Menschenrechte und Demokratie – weisen in der normativen Vorstellung Kants gegenseitig aufeinander hin.

Naturrecht und Positives Recht

Für die Entwicklung der Menschenrechte ist das Naturrecht von ganz entscheidender Bedeutung. Im Naturrecht kommt die Vorstellung zum Ausdruck, man könne aus der Natur des Menschen eine Ordnung ableiten, deren Sinn und Wert den Menschen vorgegeben ist. Das Konzept des Naturrechtes erschließt sich vor allem aus einer Gegenüberstellung zum »Positiven Recht«, worunter man die Gesamtheit jener Rechtsnormen versteht, welche in einer konkreten Rechtsgemeinschaft zur Anwendung gelangen. Normen des Positiven Rechts entstehen dadurch, dass sie in dem für die Rechtssetzung vorgesehenen Verfahren erlassen worden sind, sie entstehen mit anderen Worten durch ihre »Positivierung«. Demgegenüber geht das Naturrecht dem Positiven Recht voraus, es bewegt sich auf einer »überpositiven« Ebene. Naturrecht ist nicht deshalb gültig, weil es in einem bestimmten Verfahren erlassen und in bestimmte Formen gebracht worden ist, die Gültigkeitsvoraussetzungen für Positives Recht darstellen, sondern es kann Gültigkeit auch jenseits solcher formalen Bedingungen beanspruchen. Die Naturrechtslehre betrachtet die Natur und damit auch die menschliche Natur als ein Ordnungsgefüge, das unabhängig vom Willen und Handeln der Menschen existiert, sei dies nun eine von Gott den Menschen vorgegebene, eine kosmische oder eben eine »natürliche« Ordnung.

»Naturrecht« ist von der Antike bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die Bezeichnung für einen großen Teil der gesamten Rechtsphilosophie. Über die Jahrhunderte machte es eine Entwicklung durch. Neben die Wurzeln in der antiken Philosophie treten im Mittelalter die christlichen Wurzeln, und die beiden Stränge machen gemeinsam jenes Naturrecht aus, das als klassisches oder traditionelles bezeichnet wird. Diese traditionelle Naturrechtslehre ist mit göttlichem Recht verknüpft. Sie erkennt in der Welt eine gottgeschaffene Harmonie, die auch in der Natur zum Ausdruck kommt und sich aus dieser ableiten lässt. Mit der Reformation kommt dann aber ein individualistisches Menschenbild auf, denn der protestantische Gläubige ist für seine Beziehung zu Gott nicht mehr auf die Kirche angewiesen und tritt aus den Bindungen der feudalistischen Gesellschaftsordnung heraus. Für die Rechtsphilosophie bedeutet dies den Anfang des Übergangs vom klassischen zum modernen Naturrecht.35 Am Anfang dieses Übergangs steht der niederländische Diplomat und Gelehrte Hugo Grotius (1583 – 1645), der auch als Begründer des Völkerrechtes gilt. Er stellte die Verknüpfung der naturrechtlichen Vorstellungen mit göttlichem Recht in Frage.

Als Folge eines Glaubensstreites in seinem Heimatland, in welchem die calvinistische Partei obsiegte, wurde Grotius 1618 des Hochverrates angeklagt und zu lebenslanger Haft verurteilt, die er in einer Wasserburg zu verbringen hatte. Seine Frau Maria und deren Magd Elsje durften ihn nicht nur mit Speise und Trank versorgen, sondern auch mit den für seine Studien notwendigen Büchern, die in einer großen Kiste auf einem Nachen zum Gefängnis und nach Gebrauch wieder zurückgebracht wurden. Dass die beiden Frauen, nachdem der Gelehrte zwei Jahre in Haft verbracht hatte, diesen im Frühling 1621 kurzerhand selber in die Bücherkiste steigen ließen und ihm so zur Flucht verhalfen, blieb nicht ohne Folgen: Drei Jahre nach seinem Tod besiegelte der Westfälische Frieden 1648 die Umsetzung des Völkerrechtes in Europa, wie es Grotius in den Jahren nach seiner nur teilweise verbüßten Haft entworfen hatte.36

Auch wenn Grotius die Verknüpfung des Naturrechtes mit göttlichem Recht ablehnte, hielt er noch am göttlichen Ursprung des Naturrechtes fest. Für ihn hatte Gott die Menschen so geschaffen, dass sie in der Lage seien, gültige Prinzipien aus ihrer Natur abzuleiten. Der bereits im Zusammenhang mit der Menschenwürde erwähnte Jurist Samuel Pufendorf (1632 bis 1694) vollzog den nächsten Schritt im Übergang vom traditionellen zum modernen Naturrecht. Zur Bestimmung der naturrechtlichen Normen müsse man nicht auf Gott zurückgehen, sondern sie würden sich aus der Vernunft, dem Trieb und den Umweltbedingungen des Menschen ergeben. Andere Denker haben das Naturrecht weiterentwickelt. Es fand eine kontinuierliche Verschiebung weg von göttlicher Vorgabe und hin zu allgemeingültigen und universal anerkannten Werten statt, welche durch die Vernunft der Menschen konkretisiert werden müssten. Die Vernunft der Menschen tritt an die Stelle der göttlichen Vorgabe, was einer Säkularisierung des Naturrechts gleichkommt.37 Das moderne Naturrecht wird denn auch als »rationales Naturrecht« oder als »Vernunftrecht« bezeichnet.

Der Übergang vom theologisch begründeten zum rational begründeten Naturrecht ändert jedoch nichts daran, dass die Naturrechtslehre eine »geheime, vorgegebene Ordnung der Natur und der Gesellschaft« voraussetzte. Diese könne nur von den »Vernünftigen« richtig erkannt werden: von Philosophen, Theologen, Juristen und sonstigen Experten.38 So wurde also eine Analogie hergestellt zwischen den Naturwissenschaften einerseits, welche die vorgegebenen Gesetze der physischen Natur erkunden, und der Rechtswissenschaft andererseits, welche die genauso natürlich vorgegebenen Gesetze in der Gesellschaft ergründet. So wie Isaak Newton im 17. Jahrhundert die Regeln der Schwerkraft entdeckt hatte, so sollte es möglich sein, den Inhalt der natürlichen Rechtsgesetze zu erkennen. Anders als beim Positiven Recht beruht die Normativität des Naturrechtes – auch des modernen Naturrechtes – somit nicht auf menschlichem Willen. Diesbezüglich sollte jedoch zusätzlich das zeitbedingte Menschenbild in Betracht gezogen werden.

Durch den Übergang vom traditionellen zum modernen Naturrecht wird in diesem nämlich ein Element wirksam, das seine Bedeutung bewahrt hat und bis heute Wirksamkeit entfalten kann. Die Vertreter des modernen Naturrechtes wollten von der Natur des Menschen ausgehen, »wie sie nun einmal ist«, und nicht wie im traditionellen Naturrecht von einer Natur, wie sie sein sollte.39 Unbeabsichtigt legten sie dem ein Menschenbild zugrunde, das von der damaligen Zeit abhängig war. Die modernen Naturrechtstheoretiker ließen in die »wirkliche Natur« des Menschen unbewusst jene zeitbedingten Inhalte einfließen, die ihnen als notwendig erschienen, um daraus entsprechende Prinzipien ableiten zu können. Diese Ableitung gelingt nur dann, »wenn man vorher die menschliche Natur mit kulturellen Forderungen und Bedürfnissen angefüllt hat; dann kann man wie der Zauberkünstler aus dem Zylinder aus ihr breit herausholen, was man vorher zusammengepackt hineingelegt hat«40.

Die Gegenüberstellung zum Positiven Recht macht schließlich deutlich, dass es sich beim Naturrecht eben nicht um anwendbares Recht handeln kann, sondern gleichsam um ein Rechtsideal oder um »Recht nur im ethischen Sinne von Gerechtigkeit«. Gerade deshalb war das Naturrecht für die Entwicklung der Menschenrechte von so entscheidender Bedeutung. Menschenwürde ist in ihren Anfängen von der Antike bis Ende des Mittelalters eine rein naturrechtliche Kategorie. Das Naturrecht erhebt die Menschenwürde geradezu ins Zentrum seiner Lehre und gewinnt daraus die Vorstellung, dass dem einzelnen Menschen konkrete Ansprüche zustehen können. Aus der naturrechtlichen Begründung der Menschenrechte leitet sich in der historischen Entwicklung denn auch die universale Geltung dieser Rechte ab. Sie sind unabhängig von einer konkreten Rechtsgemeinschaft sowie deren Positivem Recht und stellen ausschließlich auf das Mensch-Sein der Menschen ab. Die entscheidende Triebkraft für die ersten Positivierungen der Menschenrechte im ausgehenden 18. Jahrhundert war das Naturrecht. Aber dadurch wurden die Menschenrechte zu Positivem Recht, und das Naturrecht wurde nach der Positivierung durch das Positive Recht abgelöst.

Ein anderer Begriff, der im Naturrecht wichtig wurde, schließlich aber auch zu dessen Abklingen zugunsten des Positiven Rechtes beigetragen hat, ist jener der Souveränität.41 Im Mittelalter bestanden die wichtigsten Aufgaben eines weltlichen Herrschers in der Heerführung und im Amt des Richters, der göttliches Recht anzuwenden hatte. Im 16. Jahrhundert kam der Gedanke auf, dass Könige auch befugt sein sollten, Gesetze nach ihrem eigenen Gutdünken selber zu erlassen. Die Gesetzgebungshoheit des Herrschers kam in dessen »Souveränität« zum Ausdruck. Der Begriff geht auf den französischen Juristen Jean Bodin (1529 – 1596) zurück, der nach einer Möglichkeit suchte, in seinem Vaterland wieder die Grundlage für eine friedensstiftende öffentliche Ordnung zu schaffen. Diese war aufgrund der Religionskriege zusammengebrochen und hatte im blutigen Schrecken der Bartholomäusnacht von 1572 geendet, in welcher auf obrigkeitlichen Befehl Tausende von Hugenotten ermordet worden waren. Bodin definierte den Staat als »am Recht orientierte, souveräne Regierungsgewalt« und sprach die Gesetzgebungshoheit dem absoluten Herrscher zu, der nach französischem Vorbild gedacht war.42

Die Gesetzgebungshoheit wurde aber auch von Bodin so verstanden, dass der Herrscher immer noch das übergeordnete göttliche Recht mit zu berücksichtigen hatte. Von dieser Vorstellung hat sich erst Hobbes definitiv verabschiedet. Er interpretierte das Naturrecht und den Souveränitätsbegriff dahingehend, dass das Recht des einzelnen Menschen vollumfänglich aus der Gesetzesherrschaft und aus dem Verfahren der Gesetzgebung abgeleitet werden muss. Damit hat Hobbes einen kompromisslosen Rechtspositivismus eingeführt. Verbindlich ist nur noch das Positive Recht. Einerseits darf nun jeder alles tun, was ihm aus egoistischen Gründen in den Sinn kommt, andererseits aber muss der chaotische Kriegszustand aller gegen alle vermieden werden, der dadurch entstehen könnte. Letzteres besorgt der absolute Herrscher durch seine Gesetzgebung. Dabei ist er an nichts gebunden, er ist frei, nachdem der Gesellschaftsvertrag die Gesellschaft aus der Ordnung der Natur herausgelöst hat. Hobbes hat die Souveränität mit der Gesetzesherrschaft verbunden und mit der Form, in welcher Gesetze erlassen werden müssen, damit sie Geltung erlangen können. Gleichzeitig hat er aber die Souveränität von allen anderen Bindungen abgelöst.

Naturrechtsbezug bei Locke

Auch Locke wies zwar die zentrale Funktion zur Freiheitssicherung der Gesetzgebung zu. Seit Hobbes hatte sich aber in England manches geändert. Mit der Glorreichen Revolution hatte sich 1688 das Parlament gegen das absolutistische Königtum definitiv durchgesetzt. Nach diesem Vorbild setzte Locke das Parlament als souveränen Gesetzgeber ein. Damit begründete er einen ersten Ansatz zum Gedanken der Volkssouveränität, wobei sein »Volk« nur jene Bürger meint, welchen durch die verschiedenen Herrschaftsverträge bestimmte Rechte gegenüber der Obrigkeit eingeräumt worden sind. Bezüglich der naturrechtlichen Bindungen hingegen schwingt das Pendel bei Locke, verglichen mit Hobbes, wieder zurück. Er konnte dem »kühnen Schritt« von Hobbes nicht folgen, der »bewusst die Definition von Gut und Böse als Aufgabe des Staates erklärte und damit die Normordnung als etwas grundsätzlich Künstliches angesehen hatte – im Gegenteil, Hobbes stieß auf entrüstete Ablehnung«43. Die neuzeitliche Naturrechtslehre war mit einem Widerspruch konfrontiert. Einerseits ging sie von der Vorstellung einer von Gott geschaffenen Harmonie aus, die dem klassischen Naturrecht zugrunde liegt. Andererseits orientierte sie sich an einem neuen, indvidualistischen Menschenbild, das die gesellschaftlichen Bindungen aus dem Feudalismus abgelegt hatte und nach Verwirklichung des Individuums in Produktion und Marktwirtschaft strebte.

Bei Locke zeigt sich dieser Widerspruch auch im Umgang mit dem Verhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit. Hinsichtlich der Freiheit ließ sich Locke vom neuen individualistischen Menschenbild leiten und schuf für die aufstrebende Schicht des wirtschaftenden Bürgers möglichst gute Bedingungen, indem er die Freiheit der Besitzenden in den Mittelpunkt seiner Theorie stellte. Die Aufspaltung der Gesellschaft in Wohlhabende und Besitzlose begründete er demgegenüber durch den anderen Pol des damaligen Widerspruches, nämlich mit Naturrecht. Die naturrechtliche Begründung richtet sich aber keineswegs nur an die Besitzlosen mit der Pflicht, das Eigentum der Besitzenden zu respektieren. Die Letzteren unterstehen der göttlich vorgegebenen Ordnung genauso. Sie haben wie alle Menschen nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht der Selbsterhaltung.

Freiheit begründet Locke zukunftsorientiert, mangelnde Gleichheit begründet er vergangenheitsorientiert. Locke ist ein Vertreter des modernen Naturrechts, der ohne den Rückgriff auf klassisches – gottgegebenes – Naturrecht nicht auskommt.

Die Widersprüchlichkeit in Lockes Begründung spiegelt nichts anderes wieder als die Widersprüchlichkeit der damaligen Gesellschaft. Er berücksichtigt beide Seiten des Widerspruchs, indem er zunächst von der natürlichen Gleichheit der Menschen ausgeht, die Ungleichheit aber, die in der Wirklichkeit eine notwendige Folge des Produktionsprozesses ist, normativ naturrechtlich rechtfertigt. Damit weist Locke auch bereits über das klassische Naturrecht hinaus: »Lockes Lehre vom Menschen, der nach ständiger Vermehrung seines Eigentums strebt, gehört zu jenen Theorien der modernen Naturrechtsauffassung, die die klassische Naturrechtslehre von innen her aushöhlten, ohne jedoch ihren Rahmen, die Existenz gottgeschaffener, natürlicher, vom Menschen erkennbarer Normen in Frage stellen zu wollen.«44

Naturrechtlich begründet wird auch das Widerstandsrecht, das Locke gegen Übergriffe sowohl der Exekutive als auch der Legislative für gegeben hält, und zwar in Fällen, in welchen diese Organe gegen den alleinigen Staatszweck verstoßen, die Erhaltung von Leben und Eigentum der Bürger. Ein Widerstandsrecht haben nur die Vermögenden, nicht aber die Besitzlosen. Und wiederum setzt die Begründung an beiden Polen des ideengeschichtlichen Widerspruches in der damaligen Zeit an. Das Widerstandsrecht ergibt sich bei Locke aus der zukunftsorientierten Zielsetzung, die Entwicklung der marktwirtschaftlichen Produktionsweise vor hemmenden Interventionen der Obrigkeit zu schützen, sei dies nun Exekutive oder Legislative. Die Legitimation für diesen Widerstand entnimmt Locke jedoch dem klassischen Naturrecht. Dieses lässt Widerstand ausschließlich mit der Zielsetzung zu, die gottgewollte Ordnung wiederherzustellen, wenn sie verletzt worden ist, denn klassisches Naturrecht kennt nur die Restauration. Es wird dem modernen Naturrecht vorbehalten sein, das Widerstandsrecht fallenzulassen und revolutionär zu werden.45

Diesen Übergang vollzieht Rousseau. Wie schon Hobbes und Locke begründet er das angeborene Recht auf gleiche Freiheit naturrechtlich. Ein Widerstandsrecht würde bei Rousseau keinen Sinn mehr machen, denn die volonté générale hat immer recht, sie kann nicht auf dem falschen Weg sein. Der naturgegebenen Wahrheit, die bei Locke objektiv erkennbar und den Gebildeten zugänglich ist, stellt Rousseau die radikale Aussage gegenüber, dass Tugend nicht auf überlegenem Wissen beruhe. Auch und gerade der »einfache« Mensch könne tugendhaft sein. Damit entfällt die von Locke proklamierte moralische Vormundschaft der Gebildeten gegenüber dem Volk. Die gesetzgeberische Souveränität, die bereits durch Locke auf den parlamentarischen Gesetzgeber übertragen worden war, hat Rousseau vollends dem Volk zugewiesen. Dadurch ergibt sich ein Bezug zu Hobbes, der als inhaltlich ungebunden nur den Herrscher sieht und diesen unabhängig machen wollte von der Kritik seiner Untertanen. Rousseau stellt hingegen als inhaltlich ungebunden das Individuum in den Mittelpunkt. Eine Parallele zwischen Hobbes und Rousseau hinsichtlich des Naturrechtes kann dennoch gesehen werden. Rousseau entwickelt die Lehre von Locke in einer ähnlichen Weise weiter wie früher Hobbes die Lehre von Bodin. Beide lösen den Souveränitätsbegriff des Vorgängers vom Natur- und Vernunftrecht ab. Inhaltlich wird die Gesetzgebung dadurch frei von irgendwelchen Vorgaben. Der Unterschied zwischen den beiden Ablösungen vom Naturrecht im 16. und 17. Jahrhundert liegt darin, dass der Schritt von Bodin zu Hobbes die Fürstensouveränität betraf, jene von Locke zu Rousseau hingegen die Volkssouveränität.46

Naturrechtsbezug bei Kant

Mit Kant nimmt der Bezug der Menschenrechtstheorien zum Naturrecht nochmals eine neue Wendung, welche zunächst als definitive Überwindung des Naturrechts beschrieben werden kann. Lediglich dem einzigen »angeborenen« Menschheitsrecht auf Freiheit können naturrechtliche Wurzeln attestiert werden.47 Von Rousseau übernimmt Kant die Ablehnung der Vorstellung, der Mensch müsse besonders gebildet sein, um das Richtige tun zu können. Auch sieht er in der Natur keine inhaltlichen Vorgaben, welche in Handeln übersetzt werden könnten. Die Natur habe zwar ihre innere Ordnung, deren Regeln durch die Naturwissenschaften ergründet werden. Aber einen Anhaltspunkt dafür, wie die Menschen die Ordnung ihres Zusammenlebens inhaltlich ausgestalten sollen, finde sich genauso wenig in der Natur selber wie in einer hinter ihr verborgenen kosmischen oder göttlichen Ordnung. Dass Kant auf die Vernunft der Menschen baut und aus diesem Umstand die Menschenwürde ableitet, bedeutet für ihn nicht, dass diese Vernunft eine natürliche menschliche Anlage sei. Eine anthropologische Begründung der Menschenrechte verwirft Kant ausdrücklich.48 Vielmehr sei es eine moralische Aufgabe des Menschen, den Durchbruch der Vernunft selber herbeizuführen.

In der Gesetzmäßigkeit der Natur, wie sie durch die Naturwissenschaft analysiert wird, sieht Kant aber dennoch ein Symbol für die strenge Gesetzmäßigkeit, mit welcher das Gedankenexperiment der Universalisierbarkeit betrieben werden soll. Auch das Sittengesetz, das den einzelnen Menschen immer wieder »nötigt«, sich zu fragen, ob sein Handeln moralisch richtig sei, hat für Kant einen symbolischen Bezug zur Natur. Am eindrücklichsten kommt dies in seinem Satz zum Ausdruck, der später zu seiner Grabinschrift geworden ist: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir49 Damit knüpft Kant auch an eine naturrechtliche Tradition an. Obschon aus der Natur keine inhaltlichen, materiellen Vorgaben abgeleitet werden können, ist es die Natur, die den Menschen dazu treibt, für sich selber und im Zusammenleben mit den anderen Menschen immer wieder neu nach der richtigen und verantwortbaren Ordnung zu suchen. So betrachtet hat Kant dem Naturrecht eine Wendung gegeben, die es gleichsam vollendet und mit der Moderne vereinbar macht.50

Dennoch kann nicht gesagt werden, Kant begründe die Menschenrechte naturrechtlich. Kants »Vernunftrecht« ist nicht jenes vernunftbegründete Naturrecht, welches das klassische abgelöst hat. Auch das vernunftbegründete Naturrecht basiert auf einer vorgegebenen Ordnung, die es lediglich rational und richtig zu erkennen gelte, was nur die Aufgabe von besonders qualifizierten Personen, Gebildeten und Experten, sein kann. Mit Rousseau lehnt Kant dies in aller Deutlichkeit ab. Zu Beginn seiner philosophischen Studien hatte Kant »im gantzen Durst nach Erkenntnis« allerdings noch geglaubt, das Wissen oder die Erkenntnis »allein könnte die Ehre der Menschheit machen«. Deshalb habe er »den Pöbel der von nichts weis« verachtet. Aufgrund der Auseinandersetzung mit den Ideen von Rousseau, den er sehr verehrte, trat dann aber ein Sinneswandel ein, den Kant selber beschreibt: »Rousseau hat mich zurechtgebracht. Dieser verblendende Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren …«51

Kant hat die Alternative von Naturrecht und Positivem Recht gleichsam dadurch aufgehoben, dass er einerseits die menschliche Natur als eine Vernunftnatur definierte, es andererseits aber zur Aufgabe der Menschen machte, durch Selbstgesetzgebung eine rechtliche Ordnung herbeizuführen, in der diese Vernunft zum Ausdruck kommt. Er hat den Übergang von einer vorgegebenen zu einer aufgegebenen Ordnung zum ersten Mal gedanklich ermöglicht und definitiv geschafft. Die einzige Vorgabe, die auch bei Kant bestehen bleibt, ist das Sittengesetz. Damit ist eine Perspektive umgesetzt worden, für die Hobbes den Blickwinkel eröffnet hatte. Man kann auch sagen, Kant sei zwar beim Naturrecht geblieben, habe aber einen Wechsel vorgenommen von inhaltlichem zu verfahrensmäßigem Naturrecht.52 Auch für Kant macht ein Widerstandsrecht wenig Sinn, denn es gibt keine inhaltlich vorgegebene Ordnung, zu welcher man zurückkehren könnte für den Fall, dass sie von den Herrschenden verletzt worden wäre.53 Er hat ein für alle Mal gezeigt, dass aus der »Natur« des Menschen kein inhaltlich eindeutiges Recht abgeleitet werden kann, das für alle Zeiten und für alle Menschen Gültigkeit beanspruchen könnte. »Hinter diese Erkenntnis Kants gibt es keinen Weg zurück.«54 Hingegen hat er nicht in Frage gestellt, dass es »richtiges Recht« gibt, auch wenn dieses in verschiedenen Zeiten und für verschiedene Menschen nicht dieselben Inhalte haben muss. Diesbezüglich verweist er die Gesetzgebenden auf den Prozess der ständigen Annäherung, der von ihnen einen hohen Grad an Verantwortungsbewusstsein verlangt, indem sie das Gedankenexperiment der Universalisierbarkeit gewissenhaft vornehmen müssen.

Vor allem aber löst Kant die Vorstellung, welche das ganze Naturrecht geprägt hat, dass nämlich aus der Natur des Menschen verbindliche Rechtsinhalte abgeleitet werden könnten, auf eine völlig neue Weise ab. Er individualisiert das »Richtige«, indem er jedem einzelnen Menschen die sittliche Autonomie zugesteht, den Annäherungsprozess selber zu vollziehen. Dieser Prozess erschöpft sich nach Kant keineswegs in der Kritik an bestehenden Verhältnissen. Vielmehr beinhaltet er auch die Aufforderung zu aktiver politischer Einmischung.55 Die dafür vorgesehenen demokratischen Institutionen waren zu Kants Zeiten mancherorts erst noch zu schaffen. Auch dazu war und ist jeder einzelne Mensch aufgefordert. Mit dem Prinzip der sittlichen Autonomie jedes Individuums, aus der sich für Kant auch die Würde des Menschen ableitet, hat er zur philosophischen Begründung der Menschenrechte einen bahnbrechenden Beitrag geleistet, aus welchem die Konsequenzen auch heute erst in Ansätzen gezogen worden sind.

Autonomie, Tugend und Zwang

Bei aller Verehrung für Rousseau unterscheidet sich Kant von diesem grundlegend. Gemeinsam ist beiden der Begriff der Autonomie, der dann aber im Verhältnis zwischen Recht und Moral zu ganz unterschiedlichen Konsequenzen führt. Der Stellenwert der Moral im Recht wurde ein erstes Mal von Hobbes grundsätzlich neu definiert. Gemäß dem von ihm eingeführten kompromisslosen Rechtspositivismus gilt ausschließlich das Recht, welches in den staatlich vorgesehenen Verfahren als solches gesetzt worden ist. Damit hat Hobbes das staatliche gesetzte Recht abgelöst von aller theologischen wie philosophischen Moral. Dies ist eine Errungenschaft, hinter welche eine pluralistische Gesellschaft nicht mehr zurückgehen kann.56

Wie ein Staatwesen einzurichten sei bestimmt sich ausschließlich nach Kriterien seines guten Funktionierens und kann nicht aus moralphilosophischen Grundsätzen abgeleitet werden. In dieser von Hobbes begründeten Sichtweise hat Gesetzgebung nichts mehr zu tun mit tugendhafter Vorzüglichkeit. Zum einzigen Kriterium dafür, was geltendes Recht sei und was nicht, wird die Erzwingbarkeit. Geltendes Recht ist also nicht mehr, was für »wahr« gehalten wird oder für »gut«, auch nicht für »richtig« oder »gerecht«, sondern geltendes Recht sind jene Rechtsnormen, die mit staatlicher Gewalt durchgesetzt werden können. Damit dient das Recht nur noch der Sicherung einer Friedensordnung im menschlichen Zusammenleben, und es geht auf Distanz gegenüber jeglichem Glauben und jeglichen Wahrheitsansprüchen. Es fand ein tief greifender normativer Wandel statt, der gleichsam eine »kopernikanische Wende des Rechtsdenkens«57 zur Folge hatte.

Die Wende bahnte sich langsam an und erlitt auch Rückschläge. Aber sie hatte weitreichende Konsequenzen, indem verschiedene Bereiche ausdifferenziert wurden. Das Individuum war nicht mehr Teil der Schöpfung, sondern stand als Subjekt der Welt gegenüber und konnte die Welt damit auch objektiv, gleichsam von außen betrachten. Damit verbunden war die Trennung von Vernunft und Wirklichkeit. Die Wirklichkeit war nicht mehr einfach nur Schöpfung, die vom Menschen als unverrückbare Tatsache hingenommen werden sollte, sondern der Mensch begann die Dinge kraft seiner Vernunft zu hinterfragen. Und schließlich – für die Entwicklung der Menschenrechte besonders bedeutsam – traten Moralität und Legalität auseinander, Recht und Moral waren nicht mehr identisch. Die Trennung von Recht und Moral bedeutet natürlich nicht, dass moralische Argumente bei der Rechtssetzung keine Rolle spielten. Wer immer künftig an der Rechtssetzung beteiligt war, musste sich überlegen, welche moralischen Normen genügend abgestützt waren, dass man sie in die Form des Rechtes kleiden konnte. Insbesondere war zu prüfen, welche moralischen Argumente so klar anerkannt waren, dass man sie bei der Rechtssetzung nicht nur mitberücksichtigen konnte, sondern geradezu mitberücksichtigen musste, wenn das Recht Geltung beanspruchen sollte.

Bei Locke gibt es keine Trennung von Recht und Moral. Zwar unterscheidet er zwischen dem göttlichen Gesetz, dem bürgerlichen Gesetz und dem Gesetz der öffentlichen Meinung und des Rufes. Die drei Normenbereiche werden auch durch die Sanktionen unterschieden, die bei ihrer Verletzung eintreten. Verletzung des göttlichen Gesetzes wird durch Sanktionen im Jenseits bestraft, hinter dem bürgerlichen Gesetz steht die staatliche Strafandrohung, und bei Verletzung des Gesetzes der öffentlichen Meinung und des Rufes droht Missbilligung durch die Öffentlichkeit. Aber zwischen den drei Kategorien besteht nur ein gradueller Unterschied. Alle drei sind Bestandteil des Ordnungsmodells, das Locke ausschließlich naturrechtlich abstützt, letztlich auf göttliches Recht. Für Locke sind sowohl moralische als auch rechtliche Gesetze nur durch die Sanktionen wirksam, welche bei ihrer Übertretung zu erwarten sind. Zwischen religiösen, moralischen und rechtlichen Normen besteht kein prinzipieller Unterschied, sondern höchstens ein gradueller.58 Auch hinsichtlich der Frage, wie ein Staatswesen einzurichten sei, kann Locke der Kompromisslosigkeit eines Hobbes in der völligen Ablösung von der Moralphilosophie nicht folgen. Zwar erklärt er die Tugend des Einzelnen prinzipiell und insoweit zu einer Privatangelegenheit, als deren Missachtung den Staat nicht erschüttert. Aber Lockes Staat hat vor allem die Aufgabe, dem Bürger eine Lebensführung zu ermöglichen, die im Einklang steht mit den vorgegebenen Naturgesetzen.59

Bei Rousseau erhält die Moral einen Stellenwert, der die Konzeption von Freiheit letztlich scheitern lässt. Politische Freiheit verknüpft Rousseau mit dem Ideal eines Tugend-Glücks, das nur der republikanische Staat garantieren kann. Das Individuum soll seine privaten Interessen voll zurückstellen, und es soll sich als Bürger ganz in die politische Gemeinschaft einbringen, die ihm dann eine neue Identität verleiht. Danach lebt der Bürger ausschließlich für den Staat und sieht sein ganzes Glück in dessen Gedeihen. An die Stelle der natürlichen Selbstliebe soll die Vaterlandsliebe treten. Rousseau fordert eine religion civile, eine Bürgerreligion, die in ihren Konsequenzen weit über das hinausgeht, was Locke an Vorgaben des göttlichen Naturrechts postuliert. Das Glaubensbekenntnis, das Rousseau verlangt, ist aber ein »rein bürgerliches […], dessen Artikel festzusetzen dem Souverän zukommt, nicht regelrecht als Dogmen einer Religion, sondern als Gesinnung des Miteinander, ohne die es unmöglich ist, ein guter Bürger und ein treuer Untertan zu sein«60. Die Dogmen der Bürgerreligion umfassen neben der Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze auch den Glauben an die Existenz Gottes.

Der Unterschied zu Locke betrifft vor allem die Gesinnungsfreiheit. Locke verlangt zur Sicherung des sozialen Miteinanders nur die äußere Staatsloyalität, welche er durch das religiöse Bekenntnis gestärkt sieht. Demgegenüber geht es Rousseau um die innere Loyalität. Der Bürger soll die Gesetze nicht nur befolgen, sondern er soll sie »ernstlich lieben«. Locke sieht Religion lediglich als unentbehrliche Stütze für Recht und Moral. Rousseau hingegen schreibt der Republik selber religiösen Charakter zu. Für ihn kann sich der Bürger nur dann sinnvoll an der Gesetzgebung beteiligen, wenn er ein tugendhafter Bürger ist. Recht soll »richtiges« Recht sein, und das ist es nur dann, wenn darin das kollektive Gute zum Ausdruck kommt. Deshalb ist die Republik von Rousseau ein Tugendstaat. Schon in seiner theoretischen Konzeption trägt diese Sicht Ansätze zum Totalitarismus. Rousseaus Philosophie wurde denn auch zur Begründung späterer Gesellschaftsentwürfe mit totalitären Zügen herangezogen. Der Grund für dieses totalitäre Element im Denken Rousseaus liegt im Stellenwert der Tugend, die direkt in Zwang umgesetzt werden kann. Moral und Recht fallen bei Rousseau zusammen, sie können nicht mehr getrennt werden, wie es durch die kopernikanische Wende im Rechtsdenken zu Beginn der Neuzeit postuliert worden war.

Recht und Moral bei Kant

Kant schlüsselt das politische Ideal Rousseaus, nämlich das vollständige Aufgehen des Einzelnen im gemeinsam gebildeten Willen, auf in ein moralisches und ein rechtliches Ideal. Seine Ansicht kann bis heute Gültigkeit beanspruchen. Man könnte auch sagen, dass erst mit Kant die kopernikanische Wende im Rechtsdenken definitiv zum Durchbruch kommt, die von Hobbes eingeleitet, von späteren Denkern jedoch noch nicht oder nicht konsequent umgesetzt worden war. Kant hat die beiden Bereiche der Moral und des Rechts vollständig getrennt, aber er hat aufgezeigt, wie sich beide dennoch aufeinander beziehen. Der augenscheinlichste Unterschied besteht darin, dass rechtliche Vorschriften erzwingbar sind, moralische hingegen nicht. Kants Begründung für diese Differenz macht deutlich, warum eine gegenseitige Bezugnahme der beiden Bereiche trotzdem notwendig ist.

Die Rechtsordnung hat die Aufgabe, das äußere Zusammenleben der Menschen zu regeln. Dass man Rechtsnormen befolgen muss, leitet sich aus dem moralischen Sittengesetz ab. Das Befolgen von Rechtsnormen kann auch andere Gründe haben. Wer sich einer Rechtsnorm unterzieht, nimmt entweder das moralische Gesetz ernst, welches die Befolgung auch der rechtlichen Normen verlangt. Oder – zweite Möglichkeit – er folgt dem Sittengesetz nicht blindlings, hält aber eine bestimmte Rechtsvorschrift für sinnvoll, sodass er ihr nachlebt. Oder – dritte Möglichkeit – er findet die Rechtsvorschrift zwar falsch, fügt sich ihr aber trotzdem, weil er die rechtliche Sanktion bei Nichtbefolgung fürchtet. Gehorsam gegenüber einer Rechtsnorm sagt also nichts über die Moralität dessen aus, der die Rechtsnorm befolgt. Und das muss nach Kant auch so sein, denn die Rechtsordnung hat nur die Aufgabe, das äußere Zusammenleben der Menschen zu regeln. Mit den Zwangsmitteln, die ihr dafür zur Verfügung stehen, darf sie in keiner Weise auf die Gesinnung der ihr unterworfenen Menschen Einfluss nehmen. Würde sie dies tun, so hätte das verhängnisvolle Konsequenzen. Es wäre damit das Tor weit aufgestoßen zum Rousseau’schen Tugendstaat, in welchem gegenseitiges Misstrauen, Bespitzelung und Gesinnungsschnüffelei herrschen. In einem inquisitorischen Gesinnungsstaat werden rechtliche Zwangsmittel unweigerlich zur Gesinnungskontrolle eingesetzt. Damit bringt die Rechtsordnung sogar sich selber in Gefahr, denn Gesinnungsterror führt leicht in chaotische Zustände, wie die Französische Revolution gezeigt hat. In Gefahr gerät aber auch die Moralität. Dem Individuum wird nämlich die Kompetenz abgesprochen, dem moralischen Sittengesetz zu folgen, das sich in ihm zu Wort meldet, egal ob es sich bei diesem Individuum durchsetzen kann oder nicht. Auf die Gefährdung beider Bereiche weist Kant mit Deutlichkeit hin: »Wehe aber dem Gesetzgeber, der eine auf ethische Zwecke gerichtete Verfassung durch Zwang bewirken wollte! Denn er würde dadurch nicht allein gerade das Gegentheil der ethischen bewirken, sondern auch seine politische untergraben und unsicher machen.«61

Aus der Gegenüberstellung der beiden Bereiche von Recht und Moral ergibt sich ein unterschiedlicher Umgang mit Pflichten. Jede Pflicht ist bei Kant eine moralische Pflicht, dies schon deshalb, weil sie sich aus dem Sittengesetz ableitet. Ob eine solche Pflicht auch zu einer rechtlichen Pflicht wird, ergibt sich allein und ausschließlich aus der Rechtsordnung. Die Verletzung einer Rechtspflicht zieht Sanktionen nach sich, während die Verletzung einer nur moralischen Pflicht äußerlich sanktionslos bleibt. Die Positivierung von Rechten, ihre Überführung vom moralischen Bereich in jenen des einklagbaren Rechts, hat zur Folge, dass das Element der Verpflichtung zurücktritt und durch das Element der Berechtigung ersetzt wird. Eine moralische Pflicht erfüllt man aus freien Stücken, der nur moralisch Berechtigte kann nichts verlangen. Der Bettler streckt seinen Becher dem Passanten entgegen, und ob gegeben wird oder nicht, entscheidet sich allein im Gewissen des Passanten. Moralische Ordnung lebt nur von Pflichten, der entscheidende Akteur in der Moralität ist die verpflichtete Person. Ganz anders im Recht, wo die rechtlich berechtigte Person zum entscheidenden Akteur wird. Wer ein Recht geltend macht, das ihm »von Rechts wegen« zusteht, zwingt den Verpflichteten, das Recht des Berechtigten zu respektieren. Beim Übergang eines bisher moralisch empfundenen Anspruches ins Positive Recht findet also ein Perspektivenwechsel statt. »Akteure nehmen eine andere Perspektive ein, wenn sie, statt moralische Gebote zu befolgen, ihre Rechte in Anspruch nehmen62 Während moralische Ordnungen von Pflichten leben, basieren rechtliche Ordnungen auf Rechten.63 In der moralischen Ordnung bestimmt der Verpflichtete das Verhalten, in der rechtlichen Ordnung hat es hingegen der Berechtigte in der Hand, das Verhalten des Verpflichteten zu beeinflussen oder gar zu bestimmen.

Nicht nur für das Befolgen der Rechtsnormen ist das moralische Sittengesetz von Bedeutung, sondern ebenso für die Rechtsordnung selber. Die Moral stellt die normative Grundlage des Rechts dar, sie muss im Recht zum Ausdruck kommen. Wer immer Recht setzt – sei dies gemäß Kant im vorrepublikanischen Zustand der Fürst oder seien dies in der Republik die Repräsentanten der aktiven Bürgerschaft in den Parlamenten –, unternimmt nichts anderes als den Versuch, das Sittengesetz ins Recht zu übersetzen. Das Gedankenexperiment der Universalisierbarkeit, welches nach Kant angestellt werden muss, um herauszufinden, ob ein Gesetz von allen Rechtsunterworfenen gewollt sein könnte, bezieht sich ja nicht auf die privaten Interessen dieser Rechtsunterworfenen. Vielmehr soll die Frage entsprechend dem Allgemeinwillen beantwortet werden, also nach den allgemeinen Kriterien der Vernunft. Damit verweist Kant auf das moralische Sittengesetz als Grundlage allen Rechts.64

Aber der Versuch der Übersetzung des Sittengesetzes ins Recht bleibt immer unvollendet. Auch dies kann als eine Folge der kopernikanischen Wende im Rechtsdenken betrachtet werden, die dafür gesorgt hat, dass Richtigkeit des Rechts und Geltung des Rechts nicht mehr übereinstimmen müssen. An die Stelle des Anspruches auf Richtigkeit der Rechtsvorschriften tritt ein ständiger Annäherungsprozess an das, was richtig sein könnte, aber nie genau definiert werden kann. Infolge der kopernikanischen Wende hatte man eingesehen, dass es nie möglich sein wird, absolut richtiges, wahres, gutes oder gerechtes Recht zu setzen. Und diese Einsicht war wiederum damit verbunden, dass das Recht von den Menschen selber hervorgebracht werden musste, dass es also nicht mehr von einem Schöpfergott kam oder aus einer natürlichen Schöpfung abgeleitet werden konnte. Einem Schöpfergott oder der inneren Ordnung einer Schöpfung kann man die Schaffung von absolut richtigem Recht zutrauen, auch von wahrem, gutem und gerechtem Recht. Ob man die Schaffung von solchem Recht für möglich hält, ist dann eine Frage des Glaubens. Die Aufklärung hat nun aber die Gesetzgebung nicht nur in die Hände der Menschen, sondern auch in deren Köpfe und Herzen verlegt. Hätte man danach immer noch verlangen wollen, dass daraus absolut richtiges Recht hervorgehe, wäre dies gleichsam einer Gotteslästerung gleichgekommen, denn damit hätte sich der Mensch an die Stelle Gottes gesetzt.

Der Annäherungsprozess an immer mehr Richtigkeit des Rechts hat jedoch auch bei Kant seinen Antrieb von außerhalb der Rechtsordnung, aus dem Sittengesetz. Wie dieses den einzelnen Menschen immer wieder »nötigt«, das moralisch Richtige zu tun, haben moralische Grundsätze die Eigenschaft, »in einem ständigen Aufklärungsprozess auf Verwirklichung, d. h. staatliche Sanktionierung« zu drängen und damit auf Verrechtlichung.65 Die Einwirkung der Moral auf das Recht ist also eine doppelte: Erstens fordert das moralische Sittengesetz das Individuum auf, die Rechtsnormen zu befolgen. Und zweitens fordert das Sittengesetz die Rechtsgemeinschaft auf, jene moralischen Normen zu Positivem Recht zu machen, die genügend breit abgestützt und anerkannt sind. Es gibt aber noch eine dritte Forderung, welche der Positivierung des Rechts vorausliegt, nämlich die moralische Pflicht, überhaupt den Naturzustand zu verlassen und sich in einem bürgerlichen Zustand unter Rechtsgesetzen zusammenzufinden. Diese Pflicht leitet sich aus den angeborenen Freiheitsrechten der Menschen ab.

Für die Unterscheidung zwischen moralischen Normen und rechtlichen Normen gibt es bei Kant kein inhaltliches Kriterium, sondern nur das formale Kriterium der Erzwingbarkeit. Der Übergang vom moralischen Bereich zu jenem des Positiven Rechts hat dabei gleichsam die Funktion eines Filters: Normen, die diesen Filter nicht passieren können – zum Beispiel, weil die ihnen zugrunde liegenden moralischen Vorstellungen bestritten werden, weil sie also nicht genügend breit abgestützt und anerkannt sind –, müssen im Bereich der Moral verbleiben.66 Dadurch entsteht für die betreffende Materie eine Garantie der »rechtlichen Nichtregelung« und damit der Nichterzwingbarkeit, sodass das Individuum in seiner Autonomie jedenfalls im betreffenden Normenbereich geschützt bleibt, einerseits vor rechtlichem Zwang, andererseits aber »auch gegen moralische Anforderungen«67.

Das Recht erleichtert den Umgang mit der Moral

Damit ist gleichsam eine Entlastungsfunktion des Rechts angesprochen. Das Recht entlastet das Individuum von moralischen Zwängen, es schafft einen individuellen Freiraum, in dem man im Prinzip tun und lassen kann, was man will, solange es nicht rechtlich verboten ist. Was Kant als freie Willkür bezeichnet, geht nicht weiter, als es mit der freien Willkür der anderen Menschen vereinbar ist. Aufgabe der Rechtsordnung ist es, jedem Individuum den Freiraum zu garantieren, der diese Willkür möglich macht, und ihn notfalls zu erzwingen. Innerhalb des Freiraumes kann es sich das Individuum sogar herausnehmen, dem Sittengesetz nicht zu folgen, denn die Auseinandersetzung mit dem Sittengesetz ist eine individuelle, die keinen Zwangsmaßnahmen unterliegt. Ein Austausch über moralische Normen ist zwar möglich, ja sogar sinnvoll, denn er hilft dem Einzelnen in der Meinungsbildung darüber, was er unter dem Sittengesetz verstehen will. Im Gegensatz zur Rechtssetzung kann aber die Diskussion über moralisch Normen nicht zur allgemeinen Verbindlichkeit solcher Normen führen. In der moralischen Wertordnung verbleibt der letzte Entscheid immer beim Individuum, und zwar sowohl was den Inhalt des Sittengesetzes anbelangt als auch den Entscheid, ob man sein Verhalten danach richten will oder nicht.

Die Entlastung von der Moral durch das Recht wird anschaulich, wenn man sich die beiden Rollen des Individuums einerseits als Autor und andererseits als Adressat der Rechtsnormen vergegenwärtigt. Als Mitgesetzgeber sollen die Bürger von ihrer privaten Interessenlage abstrahieren und nach allgemeinen Kriterien der Vernunft prüfen, ob eine geplante Regelung im Sinne aller Betroffenen und damit universalisierbar sei. Darin kommt das Sittengesetz zum Ausdruck, welches vom Bürger verlangt, dass er seine moralischen Vorstellungen einbringt. Ist das Recht aber einmal festgesetzt und hat es damit Gültigkeit erlangt, wechselt der Bürger von der Rolle des Mitgesetzgebers in jene des Rechtsunterworfenen, des Adressaten der Rechtsordnung. Auch hier findet ein Perspektivenwechsel statt. Als Rechtsunterworfener ist der Bürger davon befreit, sich immer wieder neu zu überlegen, was moralisch richtig sei. Diese Überlegung ist ihm zwar keineswegs verwehrt, aber er kann sich auch darauf beschränken, die Rechtsnormen einfach zu befolgen. Er kann sich auf den Standpunkt stellen, als Mitgesetzgeber habe er seine moralische Rolle ein für alle Mal erfüllt und danach halte er sich einfach an die Rechtsordnung. Die Rolle des Mitgesetzgebers wird zwar immer wieder an den Bürger herangetragen. Dennoch entlastet ihn als Adressaten der Rechtsnormen das Recht definitiv von der Moral.68

Diese Entlastung ist wiederum notwendig, damit das Individuum seine Rolle als Mitautor der Rechtsordnung in Freiheit wahrnehmen kann. Wenn er bei der Gesetzgebung von seinen privaten Interessen abstrahieren soll, muss der Einzelne auf die allgemeinen Kriterien der Vernunft zurückgreifen. Er muss auf seine moralischen Grundsätze abstellen, die er zuvor auf ihre Universalisierbarkeit überprüft hat. Den Entscheid, worin diese Grundsätze bestehen, kann ihm niemand abnehmen, er muss den Entscheid vor sich selber fällen, auch wenn er sich zuvor mit anderen Leuten darüber austauschen kann. Vor allem darf er keinem moralischen Druck ausgesetzt sein. Als Mitautor der rechtlichen Normen braucht jeder Mensch den Freiraum, den ihm die Rechtsordnung als Rechtsunterworfenem gewährt, damit er seine eigenen Moralvorstellungen überhaupt entwickeln kann. Er soll nicht Moralvorstellungen einbringen müssen, die ihm von anderen aufgezwungen worden sind. Die sittliche Autonomie, die bei Kant letztlich die Würde des Menschen ausmacht, ist also abhängig von der rechtlichen Autonomie, dem Freiraum, den die Rechtsordnung dem einzelnen Menschen garantiert. Sittliche, also moralische Autonomie und rechtliche Autonomie bedingen sich gegenseitig. »Um seiner sittlichen Autonomie willen muss der Mensch die Möglichkeit haben, sich gegen die Zudringlichkeit eines autoritären gesellschaftlichen oder staatlichen Moralismus auf seinen Rechtsanspruch ›zurückzuziehen‹ und sich notfalls hinter dem Recht zu verbergen.«69 Die Unerzwingbarkeit der moralischen Normen erlaubt es dem Individuum, seine moralischen Vorstellungen in die Gestaltung der Rechtsordnung frei einzubringen.

Für die Menschenrechte ist die so verstandene Interdependenz zwischen dem Bereich der Moral und jenem des Rechts von großer Bedeutung, insbesondere die Interdependenz zwischen der moralischen und der rechtlichen Autonomie. Jedes konkrete Menschenrecht beginnt nämlich damit, dass jemand genau das in Frage stellt, was alle andern rings um ihn her nicht nur als »normal« empfinden, sondern geradezu für moralisch geboten halten. Dieser Jemand stellt fest, dass die Moralvorstellungen seines Umfeldes mit seinen eigenen nicht übereinstimmen. Und wenn die für ihn unstimmigen moralischen Normen ihren Weg bereits ins Recht gefunden haben – dies wird sehr oft der Fall sein, wenn sie von einer so überwältigenden Mehrheit als »normal« empfunden werden –, stellt er fest, dass dieses Recht eigentlich geändert werden müsste. Dieses letztlich unerklärbare »Hier stimmt etwas nicht«-Erlebnis steht am Ursprung der einzelnen Menschenrechte, lange bevor sie ihren Weg ins Recht finden können. Die Unerklärbarkeit dieses Erlebnisses ist vergleichbar der Unerklärbarkeit des kantischen Sittengesetzes selbst, das den einzelnen Menschen immer wieder »nötigt«, sich mit ihm auseinanderzusetzen.

Jede Neuerung im Nachdenken über die Menschenwürde beginnt mit individueller Dissidenz. Die Äußerung solcher Gedanken kann lebensgefährlich sein. Insbesondere moralisch rigide Gesellschaften wie Theokratien machen mit Dissidenten oft kurzen Prozess, weil sie befürchten, dass es sonst zu einer Ausbreitung der dissidenten Gedanken kommen könnte. Hier liegt der zentrale Punkt im Übergang von Rousseau zu Kant begründet. Durch die Trennung von Recht und Moral hat erst Kant die Gewissensfreiheit ermöglicht. Das Recht entlastet den Rechtsunterworfenen von der Moral und garantiert ihm umgekehrt den Freiraum für die individuelle Gewissensentscheidung, die er als Mitautor der Gesetze benötigt. Mit demselben philosophischen Schritt überwindet Kant in letzter Konsequenz das Naturrecht, und zwar in seinen beiden Erscheinungsformen. Zum einen wird der Dogmatismus des klassischen Naturrechts überwunden – die göttliche Vorgabe. Aber auch das moderne Naturrecht kann keinen Bestand mehr haben, da es ebenso »sittliche und rechtliche Anforderungen unzulässig vermengte«70. Bei Kant gibt es eine inhaltlich vorgegebene Wahrheit nicht mehr, nur der freie Wille des Individuums kann den Annäherungsprozess auf der Suche nach dem Richtigen vorantreiben.

Einerseits fordert das Sittengesetz nach Kant den Einzelnen auf, die Rechtsvorschriften einzuhalten, sich ihnen also zu unterwerfen. Darüber hinaus wird das Individuum durch dasselbe Sittengesetz immer wieder zum Dissidenten. Was bei Kant den Staatsbürger ausmacht, ist also eine Doppelrolle. Staatsbürgerliche Identität ist immer eine »Verbindung von Gehorsam und Kritik«71. Vom Rechtsunterworfenen verlangt das Sittengesetz zwar Anpassung, aber es ruft dasselbe Individuum als moralisches Wesen und insbesondere als Mitautor der Gesetze zu immerwährender Dissidenz auf, und dies mit großer Nachhaltigkeit, denn der Annäherungsprozess an das Richtige, der in Selbstverantwortung vor sich selber geführt werden muss, ist nie zu Ende. Damit wird auch deutlich, dass Autonomie ein rein formaler Begriff ist, der nie von vornherein mit Inhalten gefüllt werden kann. Aus der Autonomie, der sittlichen Selbstgesetzgebung der verschiedenen Individuen entstehen unterschiedliche Inhalte, die sich notwendigerweise gegenseitig in Frage stellen, was einen stetigen Entwicklungsprozess in Gang hält und – in heutiger Terminologie – den gesellschaftlichen Pluralismus ausmacht. Dasselbe gilt für die rechtliche Autonomie, auch sie ist ein rein formaler Begriff. Was geltendes Recht ist, muss immer wieder neu ausgehandelt werden, und im Aushandlungsprozess widerspiegelt sich der gesellschaftliche Pluralismus.

Abschließend ein letzter Aspekt der Entlastung von der Moral bei Kant. Er besteht darin, dass die Republik nicht auf tugendhafte Bürger angewiesen ist. In der Friedensschrift hält Kant ausdrücklich fest, dass auch ein »Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben)« mit Erfolg einen Staat einrichten könnte.72 Den Übergang vom Naturzustand in einen bürgerlichen Zustand können auch Menschen vollziehen, die nur ihre individuellen Interessen verfolgen wollen, es ist dazu keine gemeinwohlorientierte Einstellung nötig. Wer sein Hab und Gut und andere persönliche Interessen verteidigen will, hat – wenn er »Verstand« hat – auch ein Interesse daran, dass die Gesellschaft vom Naturzustand in den bürgerlichen Zustand übergeht, weil er nur dann mit den anderen Menschen »unter Rechtsgesetzen« zusammenleben kann und rechtlichen Schutz genießt. Für das Stadium des Überganges von einem in den anderen Zustand sieht Kant allerdings noch eine Notwendigkeit der Orientierung am moralischen Sittengesetz, aber da kann es auch »Trittbrettfahrer« geben, die aus purem Eigennutz mithelfen, einen Staat zu gründen und ihm eine Verfassung zu geben, und genau diese meint Kant mit seinem Volk von Teufeln.73 Ist der Staat einmal eingerichtet, sodass die Bürger unter Rechtsgesetzen leben können, bringen die Staatsbürger ihre Interessen in die Rechtssetzung ein. Dieser Vorgang kann sogar dazu führen, dass sie dabei die Gemeinwohlorientierung entdecken, denn ohne das Gedankenexperiment der Verallgemeinerbarkeit oder Universalisierbarkeit kann man sich bei der Gesetzgebung kaum verständigen. Notwendig ist dies aber nicht für den Gesetzgebungsvorgang. Auch für den Fall, dass in der öffentlichen Auseinandersetzung über die Setzung von Recht die Beteiligten nur ihre persönlichen Interessen einbringen und auf moralische Argumentationen verzichten, ist es nach Kant möglich, die Verfassung so einzurichten, dass aus dem korrekt ablaufenden demokratischen Aushandlungsverfahren ein Resultat hervorgeht, das Gemeinschaftsinteressen notwendigerweise mitberücksichtigt.74 Oder, wie es Kant zu seinen Teufeln formuliert, »der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnung hätten«.