III. Die Krise der Menschenrechte seit 1989

Mit dem Ende des Kalten Krieges hat sich die Bedeutung der Menschenrechte verändert. Das Ende der kommunistischen Diktaturen wurde mit großer Erleichterung wahrgenommen und mit der Hoffnung auf einen raschen Durchbruch der Menschenrechte verbunden. Diese Hoffnung hat sich insofern erfüllt, als zahlreiche neue Demokratien in ihre Verfassungen umfassende Menschenrechtskataloge aufgenommen haben und die garantierten Rechte auch tatsächlich ausgeübt werden können. Allerdings hätten schon damals gewisse Sprachschöpfungen aufhorchen lassen müssen, mit denen das freudige Ereignis kommentiert wurde, so zum Beispiel das »Ende der Geschichte« des Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama. Rückblickend auf die zwei Jahrzehnte, welche seit dem Ende des Kalten Krieges vergangen sind, lässt sich auch eine Krise der Menschenrechte beschreiben, deren Ausgangspunkt offensichtlich in jenem gefeierten Augenblick liegt. Worin diese Krise besteht, kann nur aufgrund der Situation der Menschenrechte und des Umgangs mit ihnen verstanden werden, wie er von 1945 bis 1989 auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges geübt worden ist. Diese Periode wird im Folgenden kurz nachgezeichnet, beschränkt auf jene Elemente, welche für die nachfolgende Krise von besonderer Bedeutung sind. Danach können die krisenhaften Erscheinungen nach 1989 beschrieben werden.

7. Der Kalte Krieg und sein Ende

Nach 1945 erfolgte zunächst der große Durchbruch nationaler Positivierungen der Grund- und Menschenrechte. Von dieser Entwicklung unberührt blieb nach wie vor Großbritannien, es lebte ohne Verfassung und ohne Grundrechtskatalog. Dieses Land war seiner eigenen Tradition gefolgt und hatte die Geburtsrechte der Engländer kontinuierlich ausgeweitet. Es geschah nicht durch Revolutionen, aber in Entwicklungsschritten, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts knapp an einem bewaffneten Aufstand vorbeiführten.209 In der Logik der absoluten Parlamentssouveränität zielte damals die Hauptforderung der Arbeiterschaft auf eine bessere Vertretung im Parlament. Erreicht wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts praktisch eine Verdoppelung der Wahlberechtigten, das allgemeine Wahlrecht der – notabene männlichen – Bürger erst in späteren Schritten. Hier wirkte immer noch die naturrechtliche Vorstellung vom Widerstandsrecht nach, aber die Ausweitung der Rechte geschah über eine Ausweitung des aktiven Wahlrechtes, eine Tradition, die viel weiter zurückging als die Französische Revolution. In Großbritannien führte der Kampf um die Menschenrechte deshalb immer über das Parlament und dies in verschiedener Hinsicht. Zum einen wurde um den Zugang zur gleichen Wahlberechtigung gekämpft, gleichzeitig musste jedoch innerhalb des Parlamentes das Gewicht der Krone und des Oberhauses zurückgedrängt werden, damit sich die Parlamentssouveränität überhaupt in Richtung Volkssouveränität entwickeln konnte. Und schließlich wurde im Parlament um den Erlass jener Gesetze gekämpft, die einer Umsetzung von sozialen Rechten gleichkamen, obwohl sie nicht in einem formellen Grundrechtskatalog festgeschrieben waren. Erst im Jahre 1998 wurde ein solcher doch noch geschaffen, indem die Europäische Menschenrechtskonvention durch die Human Rights Act ins nationale Recht übernommen wurde – 45 Jahre nach deren Inkrafttreten im Jahre 1953, was für das Rechtsverständnis dieses Landes einigermaßen sensationell war.210 Englands einzigartige Fähigkeit zu Innovationen in Teilschritten verdankt sich der langen Tradition, auf welche die Institutionen des Landes zurückblicken. Diese Dauerhaftigkeit wiederum beruht darauf, dass man vor graduellen Anpassungen dieser Institutionen nie zurückgeschreckt ist.211

Der entscheidende Durchbruch der nationalen Positivierung geschah in der Bundesrepublik Deutschland, wo alles darangesetzt wurde, das neue Grundgesetz vor dem Schicksal der Weimarer Verfassung zu bewahren, deren Geltung der Nationalsozialismus ein Ende gesetzt hatte. Über den Grundrechtskatalog hinaus wurde im Grundgesetz festgeschrieben, dass gewisse Bestimmungen nicht abgeändert werden dürfen, insbesondere jene über die Menschenwürde sowie über Demokratie und Rechtsstaat. Die Einrichtung einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit ermöglichte eine Rechtsprechung zu den Grundrechten, die sich als großer Erfolg erwies. Dem Verfassungsgericht wurde die Kompetenz eingeräumt, vom Parlament erlassene Gesetze aufzuheben, wenn ein Verstoß gegen die Verfassung festgestellt wird. In der praktischen Auswirkung auf die Ausgestaltungen der Gewaltengliederung im Schutz der Grundrechte geht diese Kompetenz sogar weiter als jene des US-Supreme Court.212 Rückblickend ist festzustellen, dass zu Beginn des Kalten Krieges zu den drei Ländern, die als erste den Menschenrechten bestimmte Formen verliehen hatten, mit der Bundesrepublik Deutschland ein viertes hinzukam, das die weitere Entwicklung maßgeblich beeinflusste. Was die hier besonders interessierende demokratische Legitimation der Grund- und Menschenrechte anbelangt, neigte sich damit die Waagschale stärker in Richtung jener Sicht, für welche die demokratische Legitimation dieser Rechte nicht im Vordergrund steht und die sich historisch vor allem in den Vereinigten Staaten herausgebildet hat.

Die Ost-West-Konfrontation

Da West- und Ostblock im Kalten Krieg den Schwerpunkt auf verschiedene Gruppen von Rechten legten, wurden die Menschenrechte damals zu einem aufmerksam verfolgten Thema. Die Bündnisse in Ost und West nutzten »die Sprache der Menschenrechte als eine Waffe«213. Kontrovers war dabei die Rolle des Staates. Die vorrangige Betonung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte durch den Osten verlangte nach einem aktiven Staat, denn diese Rechte verwirklichen notwendigerweise eine Freiheit durch oder mithilfe des Staates.214 Damit im Zusammenhang stand als weitere Kontroverse das Verhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit. »Ohne Freiheit keine Gleichheit«, hieß es tendenziell im Westen, während es im Osten umgekehrt »Ohne Gleichheit keine Freiheit« hieß. Beide Lager definierten ihre eigene Position vor allem im Hinblick auf die gegnerische, was zu einer zunehmenden Pointierung führte. Je stärker durch die Wortführer des Ostens die Gleichheit und die Rolle des Staates betont wurden, desto klarer wurden durch den Westen die Freiheit und die negativen Freiheitsrechte vom Staat in den Vordergrund gestellt. Darüber hinaus betonte der Westen konsequent die politischen Rechte, also die positiven Teilnahmerechte der Freiheit im Staat, und er stellte diese den totalitären Verhältnissen im Osten gegenüber. Die stereotype Antwort vonseiten des Ostens bestand in der Feststellung, ohne Gleichheit bleibe die Freiheit eine Illusion und dasselbe gelte für die politischen Teilnahmerechte ohne die Gewährung sozialer Rechte. Indessen stand die Lebenssituation der Menschen auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhanges in einem bitteren Gegensatz zu den Deklarationen dieser Staaten auf politischer und diplomatischer Ebene. Nicht nur litten sie unter der mangelnden politischen Freiheit, sondern auch der Lebensstandard war vielerorts prekär. Nur in einigen Satellitenstaaten der Sowjetunion präsentierten sich die ökonomischen, wenn auch nicht die politischen Lebensbedingungen etwas erträglicher. Erstaunlicherweise erlebten insbesondere die sozialen Rechte einen beispiellosen Aufschwung, und dies in Westeuropa, das gewissermaßen im Schatten der beiden großen Akteure dieser Kontroverse lag. Der Halbkontinent zählte sich klar dem westlichen Lager zu und bildete den westlichen Brückenkopf gegenüber dem Osten. Gerade diese Nähe hat die europäische Entwicklung beeinflusst. Schon der beispiellose Ausbau der Institutionen um die Europäische Menschenrechtskonvention macht dies deutlich. Anfänglich bestand die Haupttriebfeder für diese Entwicklung in den Gräueltaten des Krieges. Aber schon bald trat dieser Motivation die Ost-West-Konfrontation mindestens gleichwertig zur Seite.215 Darüber hinaus entwickelten die Staaten Westeuropas durchgehend eine Komponente von Sozialstaatlichkeit, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Vor allem in Deutschland hat dabei die Aufarbeitung der Vergangenheit eine Rolle gespielt, war doch die Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre durch den Nationalsozialismus aufgefangen worden – in erschreckender Weise. Deutschland konnte aber auch an eine ältere Tradition anknüpfen, denn die Bismarck’sche Sozialversicherung hatte schon Ende des vorangegangenen Jahrhunderts ein europäisches Novum geschaffen, welches als »fürsorglich-obrigkeitliche Antwort auf die soziale Frage« bezeichnet worden ist.216 Dass der Sozialstaat in Westeuropa in den Nachkriegsjahrzehnten relativ gut ausgebaut werden konnte, war auch auf den wirtschaftlichen Aufschwung in diesem Zeitraum zurückzuführen. Allerdings sollte die Systemkonkurrenz zwischen Ost und West als politische Motivation nicht unterschätzt werden. Vor allem in den ersten Jahrzehnten des Kalten Krieges hat sie ebenfalls entscheidend zu dieser Entwicklung beigetragen. Bereits 1961 konnte mit der Europäischen Sozialcharta ein gemeinsamer westeuropäischer Nenner für die Sozialstaatlichkeit gefunden werden.

Der Propaganda des Ostens in der großen Konfrontation der beiden Blöcke, die auch in der Sprache der Menschenrechte geführt wurde, setzte Europa gleichsam den Tatbeweis entgegen. In Westeuropa wurden die drei Gruppen von Rechten gleichzeitig ernst genommen, sowohl die Freiheit vom Staat und die Freiheit im Staat als auch die Freiheit durch oder mithilfe des Staates. Die Notwendigkeit von Gesetzgebung zur tatsächlichen Umsetzung und praktischen Verwirklichung der Grund- und Menschenrechte war unbestritten. Und diese Gesetzgebung erfolgte demokratisch über die von den Bürgern gewählten Vertretungen in den Parlamenten. Damit wurde in der Praxis auch demokratisch entschieden, wie weit die einzelnen Rechte auf der nationalen Ebene gehen sollten. Die demokratische Legitimation der Grund- und Menschenrechte wurde unter diesen Umständen kaum diskutiert. Die Organe der Europäischen Menschenrechtskonvention in Straßburg agierten in den ersten beiden Jahrzehnten eher zurückhaltend.217 Das deutsche Verfassungsgericht hingegen weitete seine Rechtsprechung zu den Grundrechten schon bald aus, indem es auch Verletzungen von Grundrechten beurteilte, die durch Handlungen von Drittpersonen verursacht worden waren.218 Was den westeuropäischen Ausbau der Sozialstaatlichkeit anbelangt, bleibt abschließend zu erwähnen, dass sich damals zum transatlantischen Partner keine große Differenz ergab, wirkte doch in den Vereinigten Staaten immer noch der New Deal nach, eine Ausnahmesituation, die bis Ende der siebziger Jahre andauern sollte.

Naturrecht und Revolution

Die ideengeschichtlichen Wurzeln des Kalten Krieges reichen jedoch über mehr als ein Jahrhundert zurück. Was die Menschenrechte anbelangt, spielen zunächst die Geschehnisse im ausgehenden 18. Jahrhundert eine Rolle, vor allem aber deren spätere Beurteilung durch Karl Marx. In seiner 1843 verfassten Schrift »Zur Judenfrage«, die sich zunächst vor allem mit der Religionsfreiheit auseinandersetzt, befasste er sich auch mit den Menschen- und Bürgerrechten im Allgemeinen und fällte über sie ein vernichtendes Urteil. Aufgrund seiner Gesellschaftsanalyse sah Marx in der Durchsetzung der Menschenrechte in Amerika und in Frankreich lediglich den Aspekt, dass das Individuum zur Verfolgung seiner ökonomischen Einzelinteressen von der Gemeinschaft freigestellt werde. Die »sogenannten Menschenrechte« seien nichts anderes als »die Rechte des Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft, d. h. des egoistischen Menschen, des vom Menschen und vom Gemeinwesen getrennten Menschen«.219 Das Privateigentum habe sich vom Gemeinwesen emanzipiert, und um es zu schützen, hätten die Bourgeois gemeinsam den Staat geschaffen, der aber neben und außerhalb der Gesellschaft existiere. Über diesen Staat und seine Gesetze sichere die besitzende Klasse ihr Eigentum.220 Der moderne Staat diene ausschließlich der Sicherung des Eigentums, also den egoistischen Interessen der Besitzenden. Diese Sicht scheint geradezu bei Thomas Paine anzuknüpfen, der Gesellschaft und Staat ebenfalls völlig getrennt versteht. Auch er sieht als Motor der Entwicklung allein das egoistische Interesse der Einzelnen. Ein über das Individualinteresse hinausgehendes Gesamtinteresse ist nach Paine nicht nur unnötig, sondern für die gesellschaftliche Entwicklung geradezu hinderlich – eine Sicht der Dinge, die vor allem in Amerika hat Fuß fassen können.

Tatsächlich hat sich Marx vorwiegend an den Vereinigten Staaten orientiert und ausdrücklich festgehalten, dass Nordamerika – in dem von ihm kritisierten Sinne – das vollendetste Beispiel eines modernen Staates sei. Wenn er die Revolution, die aus dem Naturrecht hervorgegangen ist, als lediglich »politisch« abqualifiziert und ihr die »proletarische« Revolution gegenüberstellt, so geht er von der angelsächsischen Naturrechtstradition aus, welche beim Widerstandsrecht geblieben ist und die Revolution im französischen Sinne nie gekannt hat.221 In seiner Beschreibung der Menschenrechte, wie sie aus den Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts hervorgegangen sind, blendet Marx den Gleichheitsaspekt der Französischen Revolution aus. Die Nennung von Menschen und Bürgern durch die Französische Rechteerklärung interpretiert er deshalb auf seine Weise. Die Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts hätten nur den Bürger als Bourgeois rechtlich befreit, die gesellschaftliche Befreiung der »Menschen« könne erst durch die proletarische Revolution erreicht werden. Marx geht von der Annahme aus, dass die Entfesselung der Privatinteressen die Gesellschaft in Individuen habe zerfallen lassen. Deshalb bleibt ihm die Vorstellung verschlossen, die Individuen könnten als Citoyen die Menschenrechte so bestimmen, dass ihnen normativ das Element der Gleichheit eingeschrieben wird. Er ist gefangen in seiner ideologischen Prämisse und »blind gegenüber jenen Elementen, die im Text der Menschenrechtserklärung selbst außerhalb des Bannkreises der Ideologie in Erscheinung treten«222. Erstaunlich ist die Gemeinsamkeit, die zwischen Paine und Marx in der Reduktion auf den Bourgeois besteht, auch wenn beide das Geschehen des ausgehenden 18. Jahrhunderts in verschiedenen Jahrzehnten gewertet haben und notabene mit unterschiedlichem Resultat.

Die Revolutionen beidseits des Atlantiks hatten naturrechtlich argumentiert. Sowohl die US-Gründerväter als auch die Revolutionäre in Frankreich gingen davon aus, dass sie Naturrecht in Positives Recht überführten, allerdings taten sie dies in unterschiedlicher Weise. Die Vereinigten Staaten setzten auf ein liberales Naturrechtsverständnis, in welchem die natürlichen Gesetze mit den Gesellschaftsprinzipien übereinstimmen, wie es Paine so enthusiastisch umschrieben hatte. Gesellschaft und Staat bleiben getrennt in der Absicht, die gesellschaftlichen Kräfte freizusetzen und sie nach Möglichkeiten vor staatlicher Intervention zu bewahren. Frankreich hingegen errichtete revolutionär – und auf der neuen philosophischen Grundlage von Rousseau und der volonté générale – eine von Grund auf neue Ordnung für Staat und Gesellschaft, welche die Grundlage bildete für eine produktive Entwicklung der gesellschaftlichen Kräfte.223 In den Vereinigten Staaten begann man erst im Jahre 1800 mit der Wahl von Thomas Jefferson zum Präsidenten die eigene Entwicklung als Revolution zu bezeichnen, wobei man aber eher die »Revolution von 1800« meinte.224 Nach wie vor bedeuteten die beiden Revolutionsbegriffe nicht dasselbe, vor allem ideengeschichtlich nicht aufgrund der unterschiedlichen Naturrechtstraditionen.225 Ungeachtet dieser Unterschiede, welche wahrzunehmen in der Öffentlichkeit kein Anlass bestand, galten zu Beginn des 19. Jahrhunderts Naturrecht und Revolution als zusammengehörig, sie waren durch eine Klammer verbunden.

Im 19. Jahrhundert nahm die Bedeutung naturrechtlicher Begründungen ab, und im Vordergrund stand das Positive Recht.226 Revolutionen waren in Europa ohnehin verpönt, nachdem die Französische in der Herrschaft Napoleons und den Eroberungsfeldzügen geendet hatte, mit denen er ganz Europa überzog. Die Revolutionsangst bekam in diesem Jahrhundert durch die Theorien von Marx jedoch noch eine andere Qualität. Die von ihm geforderte proletarische Revolution basierte nicht auf der Positivierung von Naturrecht, das bei allen Unterschieden die Grundlage sowohl für die amerikanische als auch für die Revolution in Frankreich gewesen war. Marx löste das revolutionäre Geschehen vom Recht ab und schrieb es vollständig einem gleichsam automatischen Vorgang der Naturgeschichte zu. Erstaunlich ist auch hier wieder der Ansatz einer Parallele zu Paine, der ebenfalls auf natürliche gesellschaftliche Abläufe vertraute, die durch staatliche Gesetze möglichst wenig zu stören seien. Marx hatte aber das Recht als Ganzes diskreditiert, er hatte es zu einem Herrschaftsinstrumentarium der besitzenden Klasse deklariert. Damit hat er die Klammer aufgelöst, die Naturrecht und Revolution immer noch zusammengehalten hatte. Die beiden Komponenten, die in ganz unterschiedlicher Weise zur Entwicklung von Freiheit und Gleichheit hatten beitragen können, wurden voneinander getrennt. Ab 1917 erhielten sie mit der Oktoberrevolution eine klare Zuordnung. Man hat »den Nachlaß verhängnisvoll eindeutig aufgeteilt: die eine Seite hat die Erbschaft der Revolution, die andere die Ideologie des Naturrechts übernommen«227.

Die Sowjetunion ist Marx insofern nicht gefolgt, als sie ab 1948 nach anfänglicher Ablehnung der Menschenrechte diese zu einem Teil ihres Instrumentariums machte, mit welchem im Kalten Krieg die ideologischen Auseinandersetzungen geführt werden konnte. In der Ost-West-Kontroverse finden sich dennoch indirekte Bezüge zu dem nun getrennten Begriffspaar Naturrecht und Revolution, insbesondere was die Rolle des Staates anbelangte. Der totalitäre Staat setzte auf Kosten der Freiheit die Gleichheit durch, oder er gab diese Zielsetzung zumindest ideologisch vor und hat sie wenigstens anfänglich als revolutionär betrachtet. In den Augen des Westens mussten einem solchen Staat Grenzen gesetzt werden. Die Menschenrechte, die dazu in der Lage sein sollten, wurden vorstaatlich verstanden und somit naturrechtlich begründet. Der Kalte Krieg hat immerhin dazu beigetragen, das alte Schema der Aufteilung im erwähnten Nachlassverfahren wieder anklingen zu lassen. Was die Menschenrechte anbelangt, wurden die Vereinigten Staaten als westlicher Hauptakteur in ihren immer noch klassisch geprägten Wurzeln der Naturrechtsauffassung bestätigt, insbesondere im Widerstandsrecht gegen totalitäre staatliche Herrschaft, wie sie im Osten vielfältig existierte. Das Erbe der Revolution aber schien mit dem Ende des Kalten Krieges definitiv gescheitert.

Der neue Interventionismus

Rückblickend auf die beiden Jahrzehnte seit dem Ende des Kalten Krieges kann festgestellt werden, dass dieses Ende bildlich gesprochen die Schleusen geöffnet hat für einen neuen Interventionismus, der auch im Namen der Menschenrechte betrieben wurde. Offensichtlich hatte das »Gleichgewicht des Schreckens« Staaten bislang am Versuch gehindert, die Menschenrechte in anderen Staaten autoritativ durchzusetzen. Das Stichwort hieß »humanitäre Intervention«, womit eine durchaus militärische Intervention gemeint war. Die Menschenrechte wurden zu einer Formel, mittels welcher solche Interventionen legitimiert werden sollten. Die Begründung militärischer Interventionen mit dem Schutz der Menschenrechte ist schon an sich problematisch. Für die Menschenrechte besonders folgenreich war im Falle des Zweiten Irakkrieges, dass als Begründung anfänglich die Vernichtung von Massenvernichtungswaffen angeführt wurde. Nachdem sich diese Begründung als haltlos erwiesen hatte, wurde als neue Begründung auf den Schutz der Menschenrechte zurückgegriffen. So verkamen die Menschenrechte zu »einer hegemonialen Technik internationaler Politik, der sich unterschiedliche Konfliktparteien bedienen können, um ihren partikularen Interessen eine universale Wendung zu geben«.228

Die Voraussetzungen für die verschiedenen Interventionen waren unterschiedlich. Die Frage nach ihrer Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht wurde kontrovers diskutiert und teilweise verneint. Auf diese Frage soll hier nicht weiter eingegangen werden, sondern was hier vor allem interessiert, ist das Verständnis der Menschenrechte, welches in den Interventionen zum Ausdruck kommt. Dass militärische Interventionen immer schon an sich und unausweichlich Menschenrechtsverletzungen zur Folge haben, stellt nur einen Teil der Problematik dar. Jede Intervention ist auch mit einer Vorstellung vom Wiederaufbau des betreffenden Staates verbunden, der nach der militärischen Befriedung oder auch schon während derselben durch die intervenierenden Mächte in Gang gesetzt wird. Die Rolle, welche den Menschenrechten in diesen Konzepten zugedacht wird, bildet den anderen Teil der Problematik. Die vier Interventionen, die in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Ende des Kalten Krieges unternommen worden sind, haben eines gemeinsam: Aufbau oder Wiederaufbau der betreffenden Staaten wurden nach einem gemeinsamen Muster konzipiert, welches darin besteht, eine Ordnungsstruktur mittels ethnischer oder religiöser Gruppen zu etablieren.

In der Reihe der vier Interventionen nimmt jene in Bosnien & Herzegowina jedoch eine Sonderstellung ein und dies aus verschiedenen Gründen. Sie begann 1995 und steht damit am Anfang der Reihe, in welcher Staatsaufbau über ethnisch oder religiös definierte Ordnungsstrukturen angestrebt wurde. Bosnien bildete damit den Ausgangspunkt für eine Entwicklung im Staatsaufbau, welcher seine Fortsetzung im Kosovo, in Afghanistan und schließlich im Irak fand. Im Gegensatz zu späteren Interventionen wurde jene in Bosnien vom Völkerrecht klar gedeckt und erfolgte durch die NATO aufgrund einer Resolution des UNO-Sicherheitsrates. Die militärische Befriedung wurde sehr rasch erreicht, und zwar bereits binnen einiger Monate. Es muss allerdings auch erwähnt werden, dass die Intervention sehr spät erfolgte, nachdem der Krieg in Bosnien schon fast vier Jahre gedauert und unzählige Opfer gefordert hatte. Im Aufbau staatlicher Strukturen durch die internationale Gemeinschaft spielten die Menschenrechte eine zentrale Rolle. Verglichen mit dem gesamten nichtmilitärischen Aufwand, war der Anteil der Aufbauarbeit im Bereich der Menschenrechte um ein Vielfaches höher als in den anderen Krisenregionen, in welchen später interveniert wurde. Vor allem aufgrund der raschen militärischen Befriedung kann die menschenrechtliche Aufbau-Aktivität in Bosnien besser evaluiert werden als in den drei nachfolgenden Interventionen. Während in den anderen drei Krisenregionen die Schwierigkeiten bei der militärischen Befriedung immer im Vordergrund standen und auch die Aktivitäten im Bereich der Menschenrechte stark beeinträchtigten, kann in Bosnien die Auswirkungen des Staatsaufbaus auf die Situation der Menschenrechte unabhängig vom militärischen Geschehen beurteilt werden. Deshalb ist Bosnien für das Verständnis der Menschenrechte, wie es sich nach dem Ende des Kalten Krieges entwickelt hat, besonders aussagekräftig.

Das Beispiel Bosnien&Herzegowina

Der Staatsaufbau nach dem Krieg in Bosnien basierte vollumfänglich auf dem Friedensabkommen von Dayton, das weitestgehend durch die US-Administration konzipiert worden war. Die Menschenrechte nahmen in diesem Abkommen eine zentrale Rolle ein, welche durch drei Elemente charakterisiert werden kann.229 Das erste besteht im bereits erwähnten Muster, eine öffentliche Ordnungsstruktur über die ethnischen Gruppen zu etablieren. Dass die militärischen Demarkationslinien mehr oder weniger zu neuen internen Grenzen im föderalistischen Staat wurden, erklärt sich zwar aus dem Zustandekommen des Abkommens, waren die vormaligen Kriegsherren doch an den Verhandlungen in Dayton mitbeteiligt. Darüber hinaus aber fand bis in die detaillierten föderalistischen Strukturen des Landes eine konsequente Ethnisierung statt, wie sie in der Geschichte Bosniens über Jahrhunderte hinweg nie existiert hatte. So wurde zum Beispiel für das dreiköpfige Staatspräsidium eine Vertretung der drei ethnischen Gruppen festgeschrieben, von bosnischen Serben, bosnischen Kroaten und Bosniaken.230 Als zweites Element ist die Verfassung zu nennen, die Bestandteil des Abkommens war und dem neuen Staat durch die internationale Gemeinschaft vorgegeben wurde. Darüber hinaus erklärte das Abkommen alle weltweiten und europäischen Übereinkommen zum Schutze der Menschenrechte in Bosnien für direkt anwendbar. Das dritte Element schließlich besteht in einer großen Zahl von Möglichkeiten, Beschwerden bei verschiedenen Institutionen eimzureichen, welche sowohl auf der Ebene des Gesamtstaates als auch auf der Ebene der Teilstaaten eingesetzt wurden. Sie dienten der Geltendmachung von Verletzungen der im Abkommen garantierten Grund- und Menschenrechte.

Das Abkommen von Dayton galt in der internationalen Gemeinschaft als unantastbar. Noch viel höher war sein Status in der bosnischen Bevölkerung, wo es anfänglich als »heilig« galt. Die internationalen Akteure setzten ihr ganzes Prestige dafür ein, dass der Inhalt des Abkommens nicht zur Diskussion gestellt wurde. Eine solche Rigidität ist an sich verständlich für eine Rechtsgrundlage, welche nach vier Jahren Krieg, ethnisch bedingter Vertreibungen und massiver Kriegsverbrechen wieder zu einer stabilen Ordnung führen soll. In der Praxis und im Zusammenspiel mit den drei genannten Elementen trug diese Rigidität jedoch dazu bei, die gesellschaftliche Befriedung langfristig zu verhindern. Ein praktisches Beispiel kann dies verdeutlichen. Unmittelbar nach dem Ende des Krieges im Jahre 1996 machten Betroffene oft geltend, sie seien in ihren Menschenrechten speziell als Angehörige ihrer Ethnie verletzt. Die Opfer argumentierten, ihre Menschenrechte »als bosnische Kroaten«, »als bosnische Serben« oder »als Bosniaken« seien verletzt worden. Diese Argumentation war oft verbunden mit der – ausdrücklich dargelegten oder impliziten – Vorstellung, die Angehörigen jener ethnischen Gruppe, welcher die Täter zugeordnet wurden, seien ihres Anspruches auf die Menschenrechte verlustig gegangen. Die begangenen Taten würden zu schwer wiegen, als dass sich die Täter noch auf Menschenrechte berufen könnten. Wenn man berücksichtigt, dass diese Argumentation in einer Gesellschaft vorgetragen wurde, die durch die Kriegsjahre, durch ethnisch motivierte Vertreibungen und Gräueltaten schwer traumatisiert war, ist der Gedankengang an sich nachvollziehbar. Aber er verkennt natürlich den Kerngehalt jeglichen Menschenrechtes. Er bezeichnet etwas als »Menschenrecht«, das gar nicht in diesen Bereich gehört, sondern eher in den Bereich des Privatrechtes, vermischt mit Strafrecht, das aber den Rachegedanken noch nicht überwunden hat.

Die eben dargestellte – notabene verquere – Sicht der Dinge wurde durch verschiedene Elemente gefördert, die im Abkommen von Dayton selbst verankert sind. Es räumte den Menschenrechten eine alles überragende Rolle ein. Hinzu kam die bereits erwähnte Verfassungsrigidität. Schließlich sicherte das Abkommen allen Vertriebenen die Rückkehr in ihre Wohnungen und Häuser zu. Eine solche Rückkehr konnte in der Praxis allerdings ein gefährliches Unterfangen sein, wenn nämlich am ursprünglichen Wohnort inzwischen ausschließlich Angehörige einer anderen Volksgruppe ansässig waren, die sich gegen die Rückkehr der früheren Bewohnerschaft zur Wehr setzten. Die Ethnisierung in den staatlichen Strukturen trug das ihre zur Verstärkung solcher Abwehrreaktionen bei. Die Kombination dieser Gegebenheiten führte in eine ausweglose Situation. Obschon die Individuen theoretisch über alle Garantien und Rechte verfügten, welche ihnen das interethnische Zusammenleben dadurch ermöglichen sollten, dass sie sich wieder an ihrem ursprünglichen Wohnort niederließen, blieb den meisten von ihnen dieser Weg noch über Jahre hinweg versperrt. Wollten sie umgekehrt als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger darauf Einfluss nehmen, dass bessere Voraussetzungen für das interethnische Zusammenleben geschaffen wurden, stießen sie auf rigide Strukturen. Die staatliche Organisation war nicht nur säuberlich entlang ethnischer Trennlinien geschaffen worden, sondern darüber hinaus unabänderlich festgeschrieben.

Was in Bosnien zu beobachten war, ist eine auf die Spitze getriebene Individualisierung der Menschenrechte, wie sie bereits im Zusammenhang mit deren Internationalisierung beschrieben worden ist. Das Beispiel dieses Landes zeigt auch, dass die konsequente Individualisierung letztlich zu einer Privatisierung der Menschenrechte führt. Von den Bewohnern des kriegserschütterten Landes wurde erwartet, dass sie das interethnische Zusammenleben durch die Rückkehr an ihre früheren Wohnorte fördern sollten, also auf der individuellen Ebene und im konkreten Einzelfall. Durch das Einklagen und die Durchsetzung individueller Freiheitsrechte sollte die Freiheit aller gefördert werden, insbesondere die Bewegungsfreiheit über jene ethnischen Grenzen hinweg, welche während des Krieges durch gezielte Vertreibungen zustande gekommen waren. Individuelle Selbstbestimmung sollte zu wachsender Selbstbestimmung aller Bewohner Bosniens führen, der konkrete Einzelfall sollte sich langfristig zum Regelfall entwickeln. Viele Beschwerden wegen Menschenrechtsverletzungen, welche an die zahlreichen Beschwerdeinstanzen herangetragen wurden, betrafen deshalb Haus- und Wohneigentum oder entsprechende Nutzungsrechte. Zwar standen in diesen Fällen den Beschwerdeführern formal die Behörden des betreffenden Wohnortes gegenüber, aus denen sie vertrieben worden waren. In einer Vielzahl von Fällen schützten diese aber die neuen Bewohner, die in der Wahrnehmung der Beschwerdeführer und auch in der Praxis die eigentlichen Beschwerdegegner waren. Im öffentlichen Menschenrechtsverständnis förderte dies eine Verkürzung von Menschenrechten auf ein privates Eigentumsrecht.231

Das Menschenrechtsverständnis, das dem Staatsaufbau in Bosnien & Herzegowina zugrunde liegt, kennt keine Komponente der demokratischen Legitimation. Deshalb war es nicht geeignet, zur Befriedung eines Landes beizutragen, in welchem vordringlich das Auseinanderfallen der Bevölkerung in ethnisch definierte Volksgruppen zu überwinden war. Der US-Administration kann es wohl kaum angelastet werden, dass sie bei der Konzeption des Abkommens von Dayton das US-amerikanische Menschenrechtsverständnis im Maßstab »eins zu eins« auf ein europäisches Land übertrug, mit allen spezifischen Ausprägungen, wie sie im zweiten Teil beschrieben worden sind. Zur Zeit des Abschlusses des Abkommens bestand kein Anlass, diese Zusammenhänge zu hinterfragen. Im Vordergrund stand bei allen direkt oder indirekt Beteiligten wie auch in der Öffentlichkeit die Erleichterung darüber, dass der Krieg in Bosnien endlich durch einen Friedensschluss beendet werden konnte. Erst die Folgeinterventionen haben deutlich werden lassen, dass es nicht nur problematisch ist, Ordnungsstrukturen mittels ethnischer oder religiöser Gruppen zu etablieren, sondern dass auch das US-amerikanische Menschenrechtsverständnis an sich zu hinterfragen war, welches einerseits eine demokratische Legitimation dieser Rechte ablehnt und andererseits ihre Ausübung durch ihre Einklagbarkeit allein für genügend gesichert hält.

Menschenrechte und Demokratie

Im Hintergrund der verschiedenen Menschenrechtsverständnisse steht das Verhältnis zwischen Menschenrechten und Demokratie. Schon im ausgehenden 18. Jahrhundert hatten sich dazu verschiedene Vorstellungen entwickelt, wobei damals weniger von Demokratie als von Republik die Rede war.232 Diesbezüglich bestehen zwei Haupttendenzen. Die eine räumt in diesem Begriffspaar der Demokratie den Vorrang ein, die andere den Menschenrechten. Beides hat Vor- und Nachteile. Geht man vom Primat der Demokratie über die Menschenrechte aus, nimmt man damit in Kauf, dass Menschenrechte durch demokratisch gefällte Entscheidungen eingeschränkt werden. Dies kann insbesondere dazu führen, dass die Menschenrechte von Minderheiten einer populistischen Mehrheitsdemokratie geopfert werden. Geht man umgekehrt von einem Primat der Menschenrechte über die Demokratie aus, gibt man der Demokratie von außen eine Vorgabe. Dadurch wird der demokratische Aushandlungsprozess eingeschränkt, insbesondere kann nicht mehr frei demokratisch ausgehandelt werden, worin die Grund- und Menschenrechte bestehen sollen und wo ihre Grenzen liegen, sondern dieser Prozess ist nur noch in Details möglich, innerhalb der Bandbreite nämlich, welche der Demokratie durch die Menschenrechte vorgegeben ist. Eine vermittelnde Position nimmt die Diskurstheorie des Rechts ein.233 Sie geht weder vom Primat der Demokratie noch von jenem der Menschenrechte aus, vielmehr betrachtet sie Menschenrechte und Demokratie – genauer Menschenrechte und Volkssouveränität – als gleichursprünglich. Menschenrechte bilden einerseits eine Bedingung dafür, dass der demokratische Prozess der Verfassungsgebung überhaupt stattfinden kann, denn die an diesem Prozess Beteiligten müssen zuvor die freie und gleiche Beteiligung wechselseitig anerkannt haben. Andererseits bildet der demokratische Prozess eine Bedingung für die Positivierung der Menschenrechte, da die Berechtigten erst in diesem Prozess gemeinsam definieren, worin die Rechte bestehen und wie weit sie gehen sollen.

Auch diese vermittelnde Position geht davon aus, dass Menschenrechte demokratisch legitimiert sein müssen. Dieses Element teilt sie mit jener Sicht, welche im Verhältnis zwischen Menschenrechten und Demokratie den Primat der Demokratie einräumt. Der umgekehrten Sicht – Primat der Menschenrechte – kommt die vermittelnde Position dadurch entgegen, dass sich die Berechtigten zuerst einmal gegenseitig als Gleiche anerkennen und Verfahren festlegen müssen, in welchen sie gleichberechtigt werden mitwirken können. Erst danach können sie über die Rechte und ihre Grenzen bestimmen, wodurch sie sich diese gegenseitig einräumen. Der Schutz von Minderheiten wird einerseits durch das Aushandlungsverfahren erreicht, in welchem die Rechte der einen mit den Rechten aller anderen vereinbar werden sollen, und andererseits durch die Möglichkeit, Menschenrechte immer wieder neu auszuhandeln, oder anders gesagt durch die Türöffner-Funktion dieser Rechte. Von den beiden ursprünglichen Haupttendenzen, welche ein Primat entweder den Menschenrechten oder der Demokratie einräumen wollen, opfert die erste die demokratische Legitimation der Rechte, die zweite opfert den Schutz von Minderheiten. Die vermittelnde Position muss weder das eine noch das andere opfern, sie kann beidem Rechnung tragen. Dies liegt daran, dass sie von einem anderen Verständnis der Volkssouveränität ausgeht als die beiden anderen Positionen.

Beide Haupttendenzen, welche einem der beiden Elemente den Primat einräumen, sehen Souveränität als unverändert vom absoluten Herrscher auf das Volk übertragen. Daraus ergebe sich eine Volkssouveränität, die ebenfalls absoluten Charakter habe. Deshalb sieht die eine Position die Notwendigkeit, diese absolute Volkssouveränität durch Menschenrechte einzuschränken, während die andere Position in Kauf nimmt, dass demokratisch beschlossene Rechte Minderheiten benachteiligen. Die vermittelnde Position, welche Menschenrechte und Volkssouveränität als gleichursprünglich betrachtet, setzt schon bei einem früheren Stadium an, nämlich im Moment des Übergangs der Souveränität vom absoluten Herrscher auf das Volk.234 Bei diesem Übergang legt die Souveränität ihre Absolutheit ab, sie unterwirft sich gleichsam dem Grundsatz der Gleichheit und der Freiheit all jener, auf welche sie übergeht, wenn sie sich vom absoluten Herrscher verabschiedet. Oder anders gesagt lässt die Souveränität den Absolutismus beim Herrscher zurück. Der absolute Herrscher konnte mit seiner Souveränität nach freiem Belieben umgehen. Das Volk der Freien und Gleichen hingegen kann die Souveränität nur in einem Rahmen ausüben, der den Grundsatz von Freiheit und Gleichheit nicht verletzt.235 Weil diese Grenze schon in der Volkssouveränität selber angelegt ist, braucht diese nicht noch durch Menschenrechte begrenzt zu werden, sondern sie kann auf den Aushandlungsprozess vertrauen, der zwischen den Berechtigten und zwischen deren Vertretern in den entsprechenden Versammlungen stattfindet. Bedingung dafür ist einzig, dass es Verfahren und Institutionen im Bereich des Politischen gibt, in welchen diese Aushandlung stattfinden kann, und dass diese Verfahren die freie und gleiche Beteiligung der Berechtigten garantieren können.

Schließlich ist noch eine weitere Position zu erwähnen, die zunächst ebenfalls zwischen den beiden Primatspositionen zu liegen scheint. Sie geht davon aus, dass die Berechtigten sich die Menschenrechte zwar gegenseitig eingeräumt haben, aber nur am Anfang und nur ein einziges Mal. Danach überlassen sie nicht nur die Anwendung im Einzelfall, sondern auch die Weiterentwicklung der Rechte übergeordneten Instanzen. Nach Hobbes haben die frei und gleich geborenen Individuen dem absoluten Herrscher ihre ganze Freiheit und alle ihre Rechte übertragen, mit Ausnahme des Rechtes auf Leben.236 Die Konzeption, welche in den Vereinigten Staaten von den Menschenrechten entwickelt worden ist, unterscheidet sich von dieser Position zwar diametral, weil die Individuen ihre Rechte aus dem Naturzustand behalten können. Aber die Methoden des Schutzes dieser vorstaatlichen Rechte folgen dem Muster der einmaligen gegenseitigen Zusicherung und Delegation der Verantwortung an andere Autoritäten. Einerseits werden die in der Verfassung niedergelegten vorstaatlichen Grundrechte dadurch geschützt, dass Verfassungsänderungen durch sehr hohe formale Hürden praktisch verunmöglicht werden.237 Andererseits bewahrt der Supreme Court die Rechte vor dem Gesetzgeber und vor dem durch ihn repräsentierten Volk. Mit ihrer ursprünglichen Zustimmung zur Verfassung haben die Berechtigten lediglich ihr Einverständnis mit einem »individualzentrierten liberalen Freiheitsverständnis« bekundet, mit einem »vorrevolutionären Rechtssystem, das eine liberale Eigentumsordnung ohne politischen Zugriff organisieren soll«.238 Entgegen dem ersten Eindruck handelt es sich also auch bei diesem Verständnis des Verhältnisses zwischen Menschenrechten und Demokratie um eine Variante, die wie kaum eine andere auf dem Primat der Menschenrechte beruht. Auch in dieser Vorstellung entbehren die Menschenrechte der demokratischen Legitimation und dies umso mehr, je länger der Zeitpunkt der anfänglichen Zustimmung zurückliegt.

Für den neuen Interventionismus zugunsten der Menschenrechte, wie er sich seit dem Ende des Kalten Krieges etabliert hat, ist die Frage nach der demokratischen Legitimation dieser Rechte von entscheidender Bedeutung. Geht man nämlich davon aus, dass Menschenrechte einer demokratischen Legitimation bedürfen, dann sind sie nicht exportierbar. So verstandene Menschenrechte können niemandem geschenkt werden, sie können aber auch niemandem aufgezwungen werden. Zwangsexport und aufgezwungener Import von Menschenrechten, wie er seit dem Ende des Kalten Krieges insbesondere im Zusammenhang mit militärischen Interventionen stattgefunden hat, ist nur möglich, wenn die Rechte ohne demokratische Legitimation gedacht sind. Aus dieser Feststellung ergibt sich die Frage, auf welche Basis sich die so verstandenen Menschenrechte stattdessen stützen.

8. Moralisierung der Menschenrechte

Wenn nicht die Berechtigten darüber entscheiden, was die Menschenrechte beinhalten und wo ihre Grenzen liegen, muss diese Frage anders oder durch andere entschieden werden. Will man hinter die kopernikanische Wende des Rechtsdenkens zurückgehen, so überschreitet man in der ideengeschichtlichen Entwicklungsgeschichte jenen Moment, in dem die Menschen begannen, die Ordnung nicht mehr als von außen vorgegeben, sondern als ihnen aufgegeben zu betrachten. Sowohl das klassische wie auch das moderne Naturrecht haben auf moralische Normen zurückgegriffen, eine vorpolitische Schranke, welche durch die Gesetzgebung nicht überschritten werden durfte.239 Auch heute wird moralisch argumentiert, wenn Menschenrechte nicht durch demokratische Verfahren begründet und legitimiert werden sollen.240 Dass mangels Aushandlungsprozess auf moralische Kategorien zurückgegriffen wird, liegt schon deshalb auf der Hand, weil moralische Normen etwas Individuelles sind. Sie werden nicht zwischen den Individuen vereinbart. Verantwortlich für seine individuelle Moral ist letztlich jeder Einzelne.241 Nur die Verrechtlichung könnte eine moralische Norm allgemein verbindlich machen, dies aber unter der Bedingung, dass sie durch das Nadelöhr-Verfahren hindurchgeht und dabei ihren moralischen Mantel hinter sich zurücklässt, also gleichsam säkular wird. Ein analoges Verfahren kennt der Bereich der Moral nicht, weshalb Moralnormen auch nicht in bestimmten Verfahren geändert werden können. Manchmal wird im Verfahren der Änderung von Rechtsnormen sichtbar, welche Veränderungen im Bereich der Moral stattgefunden haben. Das prominenteste Beispiel dafür ist nach wie vor die Gesetzgebung über den Schwangerschaftsabbruch.

Moralnormen können im Gegensatz zu Rechtsnormen nicht autoritativ vorgeschrieben und sie können auch nicht durchgesetzt werden. Schon Kant verwahrte sich dagegen, dass der Staat irgendwelche moralischen Kategorien vorschreibe und sich damit anmaße, auf die Gesinnung des Einzelnen Einfluss zu nehmen. Damit korrigierte er Rousseau in genau jenem Bereich, der dessen Freiheitsverständnis letztlich zur Illusion werden ließ, weil in Rousseaus Tugendstaat Moralvorstellungen direkt in Zwang umgesetzt werden konnten. Mindestens so problematisch ist die Vorstellung, dass Private moralische Normen mit allgemein verbindlichem Charakter aufzustellen versuchen, wodurch sie sich gleichsam die Rolle von Tugendwächtern anmaßen. Auch diese Vorstellung führt unweigerlich in diktatorische Verhältnisse, in denen private Tugendwächter Anspruch auf Staatsmacht erheben.

Wenn die Menschenrechte ihre Legitimation aus dem Bereich der Moral ableiten, stellt sich die Frage, wer sie positiviert. Und da es im Bereich der Moral kein institutionalisiertes Verfahren der allgemeinen Verständigung gibt, können dies nur Einzelpersonen sein. Diese müssen sich als »moralisch handelnde Personen ohne weiteres als Subjekte betrachten, die von Haus aus in ein Netz moralischer Pflichten und Rechte eingebettet sind«242. Die Einzelpersonen müssen also letztlich mit sich selber ausmachen, was sie unter Moral verstehen, auch wenn sie sich mit anderen Personen darüber unterhalten können, was moralisch richtig sei.243 Die bereits gestellte Frage läuft somit darauf hinaus, durch was sich diese Einzelpersonen auszeichnen. Die Antwort ergibt sich am anschaulichsten im historischen Zusammenhang, im Urbild der Rolle des Hohepriesters.244 In modernen pluralistischen Gesellschaften sind es Experten aller Art, denen in ihren jeweiligen Bereichen ein besonderes Wissen zugeschrieben wird. Aber auch Richter können zu Schöpfern von Moralnormen werden. Ein Bild für das richterliche Erbe des Hohepriestertums zeigt sich manchmal schon äußerlich. Längst nicht in allen, aber in einigen Rechtskulturen tragen Gerichtspersonen Gewänder, die an hohepriesterliche Roben erinnern. Auch wenn sich Richter mit moralischen Normen befassen müssen, heißt dies nicht, dass sie selber deren Schöpfer sind. Gesetzgebung kann nie alle einzelnen Anwendungsfälle voraussehen und muss notwendigerweise einen Spielraum offenlassen für die Auslegung des Gesetzes im Einzelfall. Neben verschiedenen Auslegungsregeln muss der Richter generelle Moralvorstellungen berücksichtigen, sofern sie in der betreffenden Gesellschaft allgemein anerkannt sind. Erst wenn der Richter eigene Moralvorstellungen einbringt, die mit den mehrheitlich anerkannten nicht übereinstimmen, wird er zum eigentlichen Schöpfer von Moralnormen. In moralisch umstrittenen Fragen sind Gerichte oft gezwungen, durch ihre Stellungnahme die eine oder die andere moralische Sicht zu unterstützen oder zu verwerfen. Problematisch wird dies dann, wenn der Gesetzgeber mehrheitlich zu einer anderen moralischen Wertung gelangt ist.245

Was die Menschenrechte anbelangt und den neuen Interventionismus seit dem Ende des Kalten Krieges, ist die Moralisierung ein wichtiges Element zum Verständnis dieser Entwicklung. Exportierbar sind Menschenrechte nur dann, wenn ihnen eine Konzeption zugrunde liegt, die keine demokratische Legitimation dieser Rechte voraussetzt. An die Stelle der demokratischen Legitimation tritt eine moralische. Dies allein erklärt die Krise der Menschenrechte seit dem Ende des Kalten Krieges allerdings noch nicht. Die Krise geht auch auf eine eigenartige Veränderung im traditionellen Verständnis zurück, was den Bereich des Politischen und jenen des Rechts im Zusammenhang mit den Menschenrechten anbelangt.

Der Rollentausch des Politischen und des Rechts

»Grundrechte sind nicht vom (Werte-)Himmel gefallen […].« So die Einleitung des Kommentars zum deutschen Grundgesetz unter dem Titel »Verfassungsgeschichte« im Abschnitt über die Herkunft, Entstehung und Entwicklung der Grundrechte.246 Es ist eine anschauliche Umschreibung des Zusammenwirkens zwischen den Bereichen des Politischen und des Rechts auf der nationalen Ebene, wie sie jedenfalls bis zum Ende des Kalten Krieges wahrgenommen werden konnte. Auf der nationalen Ebene gehört die Verabschiedung von Menschenrechtskatalogen wie auch der Erlass von Gesetzen zu ihrer Konkretisierung in den Bereich des Politischen, die Anwendung und Durchsetzung im Einzelfall ist eine rechtliche Angelegenheit. Mit dem Durchbruch zur Internationalisierung verlor diese Zuordnung zwar einen Teil ihrer Plausibilität, denn die politische Aushandlung von Menschenrechtskatalogen wurde zu einem Dialog zwischen Regierungen. Obschon die nationalen Parlamente nur noch mit den Endresultaten solcher Aushandlungen konfrontiert wurden, blieb aber die Wahrnehmung über die Zuordnung weitgehend aufrechterhalten und dies aus zwei Gründen. Die Ost-West-Kontroverse rückte in der Aushandlung von Menschenrechtskatalogen auch die Rolle des Staates in den Vordergrund. Obwohl diese Kontroverse kaum auf parlamentarischer Ebene ausgetragen wurde, war sie – im Rahmen der Außenpolitik – dem Bereich des Politischen zuzuordnen. Und die Anwendung der Rechte auf den Einzelfall blieb auf der internationalen Ebene ebenfalls eine Sache des Rechts; dies in dem relativ bescheidenen Rahmen, in welchem Beschwerdeverfahren überhaupt entwickelt werden konnten, wenn man vom Ausnahmefall Westeuropa absieht.

Lässt man die damalige Wahrnehmung im Raum stehen und vergegenwärtigt sich die heutige Wahrnehmung in den Kategorien der Zuordnung der Menschenrechte einerseits zum politischen Bereich und andererseits zu jenem des Rechts, so ergibt sich ein Bild, das vom damaligen erstaunlich stark abweicht. Zum einen nehmen die Menschenrechte in den Medien einen viel breiteren Raum ein als während des Kalten Krieges, sie wurden »zu einer globalen Währung […], in die nahezu jeder irgendeinen Anspruch konvertieren kann«247. Zum anderen aber dreht sich die mediale Darstellung vorwiegend um die Durchsetzung bereits positivierter Grund- und Menschenrechte und dies vorwiegend durch Handlungen im politischen Bereich. Über die traditionelle Durchsetzung von Grund- und Menschenrechten durch rechtliche Verfahren wird zwar auch berichtet, und ein diesbezügliches Interesse der Öffentlichkeit besteht durchaus. Aber weitaus spektakulärer und viel häufiger ist die mediale Verwendung des Begriffes »Menschenrechte« im Zusammenhang mit der Forderung nach politischem Handeln. Dabei ist die politische Begründung einer militärischen Intervention durch den Schutz der Menschenrechte nur das extremste Beispiel. Auch wenn ein Staats- oder Regierungschef gegenüber einem anderen die Einhaltung von Menschenrechten anmahnt, ist dies ein Akt der Politik. Oder wenn ein Staat sich anmaßt, Berichte über den Entwicklungsstand der Menschenrechte in anderen Ländern zu veröffentlichen, so ist dies ein politischer Akt.

Auch nichtstaatliche Organisationen greifen vorwiegend politisch ein, selbst wenn sich einige von ihnen auf die Durchsetzung von Menschenrechten mittels rechtlicher Verfahren spezialisiert haben. Diese Entwicklung geht auf die siebziger Jahre zurück. Nachdem sich in der Ost-West-Konfrontation der Osten auf die Menschenrechte eingelassen hatte mit der erwähnten Kontroverse um die Rolle des Staates, wurden in der internationalen Öffentlichkeit im Zusammenhang mit den Menschenrechten ganz andere Dinge dominant. Zum einen begannen nichtstaatliche Akteure grenzüberschreitend tätig zu werden und in globalen Moralkampagnen die Einhaltung der Menschenrechte einzufordern.248 Im selben Zeitraum wurde im Westen der Begriff der Zivilgesellschaft aus der Taufe gehoben in der Absicht, den vom totalitären Staat unterjochten Menschen eine Denkform an die Hand zu geben, um sich gegen diesen Staat zur Wehr zu setzen.249 Während die Staaten im Rahmen der internationalen Organisationen weiterhin völkerrechtliche Instrumente zum Schutz der Menschenrechte aushandelten, wurde in der Weltöffentlichkeit das Einfordern von Demokratie und Menschenrechten in totalitären Staaten zum vorherrschenden Thema. Die Moralkampagne wurde zum Instrument, mittels dessen nichtstaatliche Akteure – sie wurden nun auch in demokratischen Staaten zunehmend »zivilgesellschaftliche« Akteure genannt – zivilgesellschaftliche Dissidenten in den betreffenden Ländern öffentlichkeitswirksam unterstützten. So entwickelten sich Ansätze zu einem Menschenrechtsaktivismus, der seine Aufgabe darin sah, den Menschenrechten durch politische Einflussnahme möglichst weltweit Geltung zu verschaffen. Mit dem Ende des Kalten Krieges nahm dieser Aktivismus einen ungeahnten Aufschwung.

Dieser Aktivismus ist an sich nicht zu kritisieren, aber es hat sich daraus eine Verengung in der öffentlichen Wahrnehmung der Menschenrechte ergeben. Von der Auseinandersetzung mit der Frage, was Grund- und Menschenrechte eigentlich beinhalten könnten oder sollten – also vom Positivierungsakt selber –, ist äußerst selten die Rede. Wenn Diskussionen über derartige Fragen geführt werden, dann drehen sie sich meistens um die Möglichkeiten, den bisherigen Kategorien von Rechten neue hinzuzufügen, wie zum Beispiel ein Recht auf Nahrung. Solche Diskussionen sind unabdingbar. Sie führen aber gegenwärtig auch deshalb oft ins Leere, weil in der Öffentlichkeit das Bewusstsein nicht mehr vorhanden ist, dass der Inhalt der Rechte immer wieder neu ausgehandelt werden muss. Die ständige Auseinandersetzung mit der Frage, was Grund- und Menschenrechte beinhalten, ist als politische Auseinandersetzung zum Erliegen gekommen. Sie hat sich vom Bereich der Politik in jenen des Rechts verschoben und wird heute von Richtern oder Experten entschieden. Damit ist auch die politische Diskussion um die Frage zum Erliegen gekommen, wo die Grenzen der Rechte liegen, damit sie mit den Rechten aller anderen vereinbar sind. Und weitgehend verstummt ist schließlich die politische Auseinandersetzung mit der Abhängigkeit der Grund- und Menschenrechte von Raum und Zeit, welche immer wieder eine Neuaushandlung der Grenzen von Rechten erforderlich macht.

Der eingangs zitierte Kommentator des Grundgesetzes hat inzwischen in dem von ihm abgelehnten Sinne Recht erhalten: Die Positivierung von Grund- und Menschenrechten wird heute durch eine breite Öffentlichkeit nicht als eine politische Frage wahrgenommen, sondern als eine Frage des Rechts und dies in der Weise, als seien die Rechte »vom (Werte-)Himmel gefallen«. Klaus Günther hat dies auf den Punkt gebracht: »Wir nehmen die Menschenrechte zwar überall und jederzeit in Anspruch, aber wir verhalten uns zu ihnen wie zu Fertigprodukten, die wir bloß passiv konsumieren, ohne an ihrer Herstellung beteiligt zu sein und ohne ihren inneren Mechanismus zu kennen. Dadurch werden wir abhängig von denen, die diese Produkte herstellen und die uns diese Produkte verkaufen, ohne uns in ihre geheimen Konstruktionspläne einzuweihen.«250 Offensichtlich hat sich in der öffentlichen Wahrnehmung der Menschenrechte jedenfalls bis zu einem gewissen Grade ein Rollentausch zwischen dem Bereich des Politischen und jenem des Rechts ereignet. Die Verschiebung der Positivierung vom Bereich des Politischen in jenen des Rechts wurde durch die Internationalisierung der Menschenrechte gefördert, und insoweit war sie immerhin teilweise unumgänglich. Auf der nationalen Ebene liegen die Dinge anders, denn es bestehen demokratisch gewählte Institutionen zur Verfassungs- und Gesetzgebung. Es ist bereits erwähnt worden, dass eine Ebenen übergreifende Betrachtungsweise hilfreich sein kann. Sie öffnet den Blick dafür, wie eine Rückwirkung der demokratischen Mängel im internationalen Bereich auf die nationale Ebene vermieden werden kann.251 Für die gegenläufige Verschiebung, jene der Anwendung der Menschenrechte auf den Einzelfall vom Bereich des Rechts in den Bereich des Politischen, gab es keinen äußeren Anlass. Allenfalls könnte man als Grund die Konstellation des Kalten Krieges in Betracht ziehen, die das Aufbrechen der totalitären Strukturen im Osten nur durch die massive Moralisierung überhaupt erst möglich gemacht habe. In der Zeitspanne nach dem Ende des Kalten Krieges rücken indessen andere Aspekte in den Vordergrund.

Entmenschlichung durch Moralisierung

Im Zusammenhang mit der Verschiebung der Anwendung von Grund- und Menschenrechten auf den Einzelfall – Verschiebung vom Bereich des Rechtes in jenen des Politischen – sollte weniger von »Anwendung« als von »Nicht-Anwendung« die Rede sein. Was alles geschehen kann, wenn moralische Kategorien in Handlungen eindringen, vor denen die Menschheit durch die Verrechtlichung eigentlich geschützt sein sollte, hat Hans Jörg Sandkühler durch einige Beispiele auf den Punkt gebracht. Menschen seien heute geneigt, sich »auch dann subjektiv moralisch ›berechtigt‹ zu fühlen, wenn sie, wie Militärs in nicht erklärten, völkerrechtlich nicht legitimierten und ›Kollateralschäden‹ bei Zivilisten verursachenden Kriegen unter Missachtung des Völkerstrafrechts zu töten befehlen, wenn sie, wie ein deutscher Innenminister, im ›Kampf gegen den Terrorismus‹ ein Luftsicherheitsgesetz planen, das vom Bundesverfassungsgericht als Verletzung der Menschenwürde verworfen wird, wenn sie, wie ein Frankfurter Vize-Polizeipräsident, mit Folter drohen zu dürfen glauben und wegen Verleitung Untergebener zu schwerer Nötigung angeklagt werden müssen usf.«252. Dem Mörder, dem damals die Folter angedroht worden ist, wurde wegen dieser Verletzung der Menschenrechte ein Schmerzensgeld zugesprochen. Der Kommentar dazu in einem Leserbrief fasst die Moralisierung in wenigen Worten zusammen: »Es ist nicht zu verstehen, was in unserem Rechtssystem möglich ist … Dieser Herr […] dürfte … keinerlei Menschenrechte besitzen.«253

Die Liste der Beispiele kann leicht verlängert werden. Die Bilder aus dem Gefangenenlager Guantanamo und aus dem Gefängnis Abu Ghraib fügen sich in diese Reihe ein.254 Aber auch die oben beschriebene verquere Interpretation der Menschenrechte in Bosnien & Herzegowina ist auf den Vorgang der Moralisierung zurückzuführen. Wenn in den Balkankriegen Angehörige einer bestimmten Ethnie durch Angehörige einer anderen Ethnie getötet wurden, einzig weil sie dieser Ethnie angehörten, so waren diese schrecklichen Vorgänge nur möglich auf der Basis kollektiver Moralisierung. Dabei spielten zum Teil ethnisch bedingte Verbrechen eine Rolle, die Jahrzehnte zurücklagen und während des Zweiten Weltkrieges oder im Partisanenkampf geschehen waren. Wegen Verbrechen, die vorher durch Angehörige der betreffenden ethnischen Gruppe begangen worden waren, wurden deren Angehörige als moralisch so minderwertig angesehen, dass sich die Frage gar nicht mehr stellte, ob sie der Gattung »Mensch« angehören würden und ihr Leben deshalb geschützt sei. Das individuelle Identifikationsmerkmal der ethnischen Zugehörigkeit, das sie in den Augen ihrer Mörder moralisch minderwertig machte, wurde so dominant, dass das Merkmal »Mensch« dahinter völlig verblasste. In letzter Konsequenz führt Moralisierung zur Entmenschlichung.

Die Folgen der Moralisierung im Bereich der Anwendung – oder vielmehr »Nicht-Anwendung« – der Menschenrechte auf den einzelnen Fall können vor allem dann beobachtet werden, wenn diese Rechte positiviert und über längere Zeit bereits anerkannt waren. In solchen Situationen ermöglicht die Moralisierung einen »Rückfall«, indem bestimmten Menschen oder Gruppen von Menschen die Rechte abgesprochen werden, weil sie sich selber moralisch diskreditiert hätten. Diktatoren argumentieren nicht moralisch, sondern fast immer mit der öffentlichen Ordnung. Wenn in arabischen Staaten versucht wird, die aufkeimenden Befreiungsbewegungen gewaltsam zu unterdrücken, muss nicht auf die Moral zurückgegriffen werden, denn der Umgang mit Aufständischen wurde schon immer so gehandhabt. Moral kommt meistens erst dann ins Spiel, wenn nach Begründungen gesucht wird, einzelnen Menschen oder ganzen Kategorien von Menschen ihre Rechte zu verweigern oder zu entziehen. In diesem Zusammenhang zeigt sich ein entscheidendes Merkmal der Menschenrechte, welches heute in der öffentlichen Wahrnehmung oft nicht mehr präsent ist. Menschenrechte wurden nicht zugunsten der tugendhaften Leute erfunden, sondern gerade umgekehrt zum Schutze auch der von der Gesellschaft verachteten, zum Beispiel Straftäter, Bettler, Vagabunden oder Flüchtlinge. Vermögende und an die öffentlichen Sitten angepasste Bürger hatten den Schutz durch die Menschenrechte weniger nötig als diese verachteten Menschen, obschon sie selbst ihre Freiheiten auch revolutionär erkämpfen mussten. Der Durchbruch bestand darin, dass dem Menschen die Rechte aufgrund der alleinigen Tatsache des »Mensch-Seins« zustehen sollten.

Der Vorgang der Entmenschlichung durch Moralisierung zeigt auf, wie wichtig es ist, die Grund- und Menschenrechte ohne Ansehung des einzelnen Anwendungsfalles zu positivieren. Vor allem ihre Grenzen müssen durch allgemeine Gesetze festgelegt werden zu einem Zeitpunkt, in welchem der konkrete Fall noch nicht bekannt ist. Die Zuweisung der Positivierung zum Bereich des Politischen macht es möglich, »gefahrlos« moralische Argumente zugunsten der Menschenrechte geltend zu machen. Sie werden in den Aushandlungsprozess eingebracht mit anderen Argumenten, die anderen Bereichen entstammen können wie beispielsweise Philosophie, Religion, allgemeiner Lebenserfahrung oder Erfahrung eigener Entwürdigung. Der Aushandlungsprozess muss jedoch in die Verrechtlichung münden. Alle diese Argumente werden beim Durchgang zur neutralen Begründung von Recht, auch die moralischen Argumente werden säkular. Es ist genau diese Verrechtlichung, welche dafür sorgt, dass im einzelnen Anwendungsfall eine Moralisierung verhindert wird. Findet sie dennoch statt, so bedeutet dies in letzter Konsequenz das Ende der Menschenrechte.

Zwei Beispiele sollen abschließend verdeutlichen, wie weit die Moralisierung schon in die Lebenswelt eingedrungen ist, ohne dass man dessen gewahr wird. Das erste Beispiel entstammt dem allgemeinen Sprachgebrauch und betrifft Attribute, mit denen das Wort »Bevölkerung« oft versehen wird. Vor nicht allzu langer Zeit betrafen kriegerische Ereignisse oder Naturkatastrophen eine Bevölkerung ohne zusätzliches Attribut. Wenn die Bevölkerung seit geraumer Zeit praktisch ausschließlich als »Zivilbevölkerung« auftritt, hat dies einen möglichen Grund. In Bürgerkriegen treten zunehmend Privatmilizen auf, von denen dieser Begriff die nicht bewaffnete Bevölkerung abgrenzen soll. Nun ist aber die Bevölkerung seit einigen Jahren fast immer »unschuldig«. Terroranschläge und Kriege verursachen den Tod zahlloser »unschuldiger« Menschen. Dass dies beklagenswerte, wenn nicht empörende Vorgänge sind, soll hier keineswegs in Frage gestellt werden. Die Frage geht einzig dahin, ob das Leben unschuldiger Opfer beklagenswerter sei als das Leben anderer Opfer, die von irgendeiner Instanz als weniger unschuldig qualifiziert werden. Es gibt Fälle, in denen von Schuld die Rede sein kann. Ein Selbstmordattentäter sucht bewusst die Handlung, die strafrechtlich als Schuld qualifiziert werden müsste, auch wenn ein Strafverfahren nicht stattfindet. Dennoch stellt sich angesichts der »unschuldigen« Bevölkerung immer die bange Frage, ob sich unter den betroffenen Menschen nicht doch einige »schuldige« befunden hätten, die es durchaus hätte treffen dürfen, da es »um sie ja nicht schade sei«. Moralisierung kann sich auch über unbedachten Sprachgebrauch verbreiten.255

Das zweite Beispiel betrifft lediglich ein einzelnes Ereignis, wenn auch ein inhaltlich ebenfalls bedenkliches. In den Tagen nach der Verhaftung des früheren Direktors des Internationalen Währungsfonds ist oft die entwürdigende Zurschaustellung des Angeschuldigten in den Medien kritisiert worden. Die meisten Kommentatoren präsentierten als Hauptargument für ihre Kritik den Umstand, dass die Unschuldsvermutung so lange gelten müsse, bis eine rechtskräftige Verurteilung erfolgt sei. Eine solche Argumentation stellt schon an sich eine gravierende Verletzung der Menschenwürde dar. Ob ein Angeschuldigter einer strafbaren Handlung überführt werden kann, ist eine Frage, die in den dafür vorgesehenen rechtsstaatlichen Verfahren geklärt werden muss. Das Resultat dieser Verfahren hat aber überhaupt keinen Einfluss auf den Anspruch des Angeschuldigten oder des später Verurteilten auf menschenwürdige Behandlung. Nicht nur jeder Bettler und jeder Dieb hat dieselbe Menschenwürde wie alle anderen Menschen. Selbst wenn eine Person schwerster Verbrechen oder terroristischer Anschläge überführt wird, muss ihre Würde als Mensch in jedem Stadium des Verfahrens gewahrt werden, vor und nach einer Verurteilung wie auch während der Strafverbüßung. Es gibt in der Philosophie der Menschenrechte kein vorher und nachher, es gibt keinen Zeitpunkt, in dem die Menschenwürde zum Erliegen kommt. Nicht einmal der Tod eines Menschen stellt diesen Zeitpunkt dar, wie die Gefühle der Pietät belegen, die der Anblick eines Toten auslöst.

Vom Befreiungs- zum Disziplinierungsinstrumentarium

Die Explosivität der Menschenrechte im ausgehenden 18. Jahrhundert entstand, weil sich die naturrechtliche Freiheitsidee mit der Demokratie verbunden hatte und Selbstbestimmung politisch wurde. Plötzlich wurde klar, dass zwischen der individuellen und der kollektiven Selbstbestimmung ein enger Zusammenhang besteht, sodass sich die beiden Formen der Autonomie nicht mehr trennen ließen. Der Siegeszug dieser Befreiungsidee war keineswegs ungebrochen. Aber sowohl im 19. wie auch im 20. Jahrhundert hat sie an verschiedenen Orten immer wieder zu befreienden Durchbrüchen beigetragen, in beeindruckender Weise vor allem in den Revolutionen des Jahres 1989. Nur wenige Jahre später setzte eine Entwicklung ein, welche dieser zweihundert Jahre alten befreienden Sicht beinahe den Todesstoß versetzt hätte. Seit bald zwei Jahrzehnten wird kollektive Selbstbestimmung den Ländern von außen »verordnet«, Demokratie wird exportiert. Claus Offe hat in einer interessanten Analyse die Bedeutung von »demokratisieren« hinterfragt. Das Wort habe einen erstaunlichen Wandel durchgemacht von einem reflexiven zu einem transitiven Verb, »also von der Bezeichnung eines Regimewandels, der aus inneren Konflikten einer sich demokratisierenden Gesellschaft hervorgeht, zur Bezeichnung einer Prozedur, die an einer Gesellschaft seitens externer Akteure vollzogen wird, die mit dem missionarisch drohenden Unterton auftreten: ›Wir werden euch schon demokratisieren!‹«256.

Wenn Demokratie und Menschenrechte einen inneren Zusammenhang aufweisen, tangiert eine solche disziplinierende Haltung auch diese Rechte. Der Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Demokratie kann in zwei Richtungen betrachtet werden. Zum einen geht es um die demokratische Legitimation der Menschenrechte, also die Bedeutung der Demokratie für ihre Hervorbringung. Umgekehrt stellt sich die Frage nach der Bedeutung der Menschenrechte für die Demokratie. Über die gegenseitige Bedingtheit der beiden Bereiche hinaus kann diese Frage dahingehend zugespitzt werden, ob ein Menschenrecht auf Demokratie formuliert werden kann oder soll.257 Auf diese Fragestellung wird hier nicht näher eingegangen. Vielmehr stehen die Auswirkungen im Vordergrund, welche der Zwangsexport der Demokratie auf die Menschenrechte hat. Diese Auswirkungen waren verheerend. Zunehmend gerieten die Menschenrechte in den Verdacht, »ein Feigenblatt zu sein, die humanitäre Maske des westlichen Imperialismus und das Zuckerbrot der Großmacht im Kampf gegen den Islam«258. Genauso wie die Demokratie nach dem Kalten Krieg zu einer Drohung geworden ist, sind auch die Menschenrechte tendenziell zu einer Drohung geworden. Spätestens mit dem Zweiten Irakkrieg – und nach dem Umschwenken in dessen Begründung von der Gefahr durch Massenvernichtungswaffen zum Schutz der Menschenrechte – hat die Weltöffentlichkeit wahrnehmen können, was diese Drohung bedeuten kann.

Bei der Begründung von Interventionen in Drittstaaten spielte die »Schutzpflicht« eine Rolle, die es im Namen der Menschenrechte wahrzunehmen gelte. Die Diskussion um eine Schutzpflicht des Staates zur Wahrung der Grundrechte wird auf der nationalstaatlichen Ebene geführt, in Deutschland insbesondere im Zusammenhang mit der Drittwirkung der Grundrechte, also mit dem Schutz des Individuums vor Verletzungen seiner Grundrechte durch Private. Grundrechte wurden damit zur Basis für den Erlass entsprechender Gesetze.259 Wird aber dieser Gedanke auf die internationale Ebene übertragen, transformiert er sich in mancher Hinsicht. Insbesondere wird die Schutzpflicht für die Menschenrechte zur Grundlage für ein Handeln, was einer »unmittelbaren Moralisierung der Menschenrechte« gleichkommt.260 Viele Moralnormen übersetzen sich nicht in Rechtsnormen, zum Beispiel die Normen im Bereich der Höflichkeit. Es kann sich aber auch niemand anmaßen, die Einhaltung solcher nicht verrechtlichten Moralnormen gewaltsam zu erzwingen. Problematisch wird es, wenn Moralnormen direkt in die Tat umgesetzt werden, ohne dass sie zuvor verrechtlicht worden sind, und dies aus verschiedenen Gründen. Zunächst fehlt die Kontrolle durch das Recht, die direkt moralisch abgestützte Handlung kann nicht überprüft werden. Im Weiteren liegt der Entscheid über die moralische Rechtfertigung der Tat immer bei einer Einzelperson, da moralische Normen etwas Individuelles sind und nicht demokratisch zwischen den Individuen vereinbart werden. Nur mittels dieser problematischen Moralisierung können Menschenrechte, die ursprünglich als Abwehr gegen das staatliche Gewaltmonopol gedacht waren, »in Aufgabenkataloge für ein globales Gewaltmonopol transformiert, das heißt Freiheitsrechte zu Ermächtigungsnormen umdefiniert« werden, welche es ermöglichen sollen, international nicht nur Druck auf andere Staaten auszuüben, sondern notfalls militärisch zu intervenieren.261

Der Übergang vom Befreiungs- zum Disziplinierungsinstrumentarium, der sich im Bereich der Menschenrechte beobachten lässt, ist mitbedingt durch eine gegenwärtige Tendenz der Entdemokratisierung, welche die Entstehung von Recht ganz allgemein betrifft. Es würde den Rahmen der vorliegenden Ausführungen bei Weitem sprengen, diese Tendenz und ihre Hintergründe beschreiben zu wollen, welche zum Teil, aber nicht vollumfänglich in der Globalisierung liegen. Dennoch sollen einige Aspekte mit besonderer Tragweite für die Menschenrechte herausgegriffen werden. Sie lassen sich im weitesten Sinne einordnen in das Spannungsfeld zwischen Normativität und Wirklichkeit. Sehr verkürzt ausgedrückt, hat der hier kritisierte Übergang damit zu tun, dass normative Fragestellungen in den Bereich des Kognitiven verschoben werden.262 Damit wandern sie von jenem Bereich, in welchem es darum geht, etwas zu »wollen«, in den anderen Bereich, in welchem es lediglich darum geht, die Dinge, wie sie nun einmal sind, »richtig zu erkennen«.263 Mit dem Erkennen von Dingen, »wie sie sind«, können Fachexperten betraut werden. Die Abklärung, »was man will«, kann man nicht delegieren. Man kann die Fachexperten höchstens fragen, »was man wollen soll«, aber auch in diesem Falle muss die Antwort der Experten nochmals geprüft werden, denn sie werden lediglich die verschiedenen Meinungen und ihre Vor- und Nachteile darstellen können, selbst wenn ihr Gutachten in eine abschließende begründete Empfehlung mündet.264 Normativität ist nie identisch mit Wirklichkeit – es sei denn, man lebt im Paradies oder in einer Diktatur. Eigentliches »Wollen« besteht immer in einem Abweichen von der Wirklichkeit – oder allenfalls im Willen, andere an diesem Abweichen zu hindern.

9. Naturrecht und aufgezwungene Menschenbilder

Die Muster sind alt, nach denen Disziplinierungen in der beschriebenen Art und Weise funktionieren. Schon im Zusammenhang mit dem Übergang zum modernen Naturrecht wurde aufgezeigt, wie sich die Experten bemühten, ihren Vorstellungen die »wirkliche Natur« des Menschen zugrunde zu legen, wobei sie sich auf ein durchaus zeitbedingtes Menschenbild bezogen. Geschah dies bewusst, so steckte ein geschicktes Stück Normativität dahinter, welches den Nicht-Experten jedoch verborgen bleiben sollte. Dadurch, dass man den Menschen so darstellte, »wie er war«, und dieses Bild der Rechtsordnung zugrunde legte, gab man den Menschen vor, wie sie sein sollten. Dies bedeutete natürlich auch eine Vorgabe, wie sie nicht sein sollten. Letztlich lief es darauf hinaus, den Menschen aufzuzeigen, welche Form der Selbstverwirklichung erstrebenswert sei und welche nicht. Genau diese Vorgabe wurde durch die Französische Revolution aufgebrochen. Nun war alles offen, und auch aus der Natur konnten keine Vorgaben mehr abgeleitet werden. Das Neue an den Menschenrechten dieser Revolution war ihre absolute Unbestimmtheit.265 Es wurde zur Aufgabe des politischen Prozesses, zu bestimmen, worin die Rechte bestehen sollten, und dieser Prozess war notwendigerweise als einer gedacht, der nie zu einem Abschluss gelangen würde.

Wenn zur Charakterisierung der heutigen Situation der Menschenrechte von »Fertigprodukten«266 die Rede ist und davon, dass uns die geheimen Konstruktionspläne dieser Produkte verborgen bleiben, geht es um die Beschreibung derselben Muster. Wir sollen abhängig werden von Menschenbildern, an deren Entwurf wir uns nicht selber haben beteiligen können. Menschenbilder hat es immer gegeben, und sie passen sich den jeweiligen Machtverhältnissen an. Sie tragen es in sich, dass sie als rein beschreibend erscheinen, jedoch immer normativ gemeint sind. Einen historischen Überblick der Menschenbilder vermittelt Friedrich Wilhelm Graf, wobei er diese in Menschenbildmuseen versammelt.267 Da finden sich neben dem wohlbekannten christlich-abendländischen oder dem asiatischen sogar ein »Menschenbild der NATO« und andere Kuriositäten. Gemeinsam ist allen Menschenbildern, dass sie eine starke Normativität vermitteln sollen. Konkret wird den Leuten vorgegaukelt, es gehe nur darum, den Menschen zu sehen, »wie er ist«. Diejenigen, welche diese Menschenbilder formulieren, möchten andere davon abhalten, selber über Menschenbilder nachzudenken und möglicherweise für sich selber sogar eigene zu formulieren. Definitionshoheit über das Menschenbild bedeutet »politisch-soziale Macht und Herrschaft über den Menschen«268.

Erst seit der Französischen Revolution wird der Streit über Menschenbilder politisch ausgetragen. Weil das Naturrecht von einem natürlichen Menschen ausgeht, also von einem Menschen, »wie er ist«, werden naturrechtliche Menschenbilder in den politischen Aushandlungsprozess eingebracht. Auch religiöse, moralische oder andere Argumente, die in diesen Prozess einfließen, können sich in Menschenbildern manifestieren. Sogar jene, welche die Bestimmung der Menschenrechte in revolutionärer Sichtweise ganz dem Aushandlungsprozess überlassen wollen, der sich immer wieder erneuert, gehen letztlich von einem Menschenbild aus, das »revolutionär« genannt werden kann. Allerdings ist eine neuere Entwicklung zu beobachten, welche dem politischen Aushandlungsprozess den Streit über die Menschenbilder überhaupt entzieht. Neu daran ist vor allem, dass Menschenbilder nicht mehr als solche in Erscheinung treten, die willentlich formuliert worden sind, sondern sie ergeben sich einfach durch die Lebensverhältnisse, wie sie »nun einmal sind«.

Das Beispiel eines relativ jungen Menschenbildes kann dies illustrieren. Es ist das Bild des »Individuums als Unternehmer«, das gelegentlich in Debatten über die Ziele von Bildung und Ausbildung Erwähnung findet. Darin kommt zum Ausdruck, dass persönliche Fähigkeiten als Ressourcen betrachtet werden, die im Wettbewerb gegen andere Individuen eingebracht werden. Dies kann nur gelingen, wenn eine ständige Erfolgsmaximierung stattfindet, sodass alle Lebensbereiche vom Wettbewerbsdenken durchdrungen werden.269 Man könnte deshalb auch von einem Menschenbild des »Wettbewerbers« sprechen, welches das Marktgeschehen immer umfassender prägt. Das auf einem vollständig wettbewerbsorientierten Lebensentwurf basierende Menschenbild hat die Eigenschaft, dass es im Marktgeschehen andere Lebensentwürfe zurückdrängt und in letzter Konsequenz ausschließt. Nicht nur setzt sich der Wettbewerber gegenüber dem Nicht-Wettbewerber über kurz oder lang durch, sondern er hat auch ein Interesse daran, dass immer mehr Lebensbereiche marktmäßig organisiert werden. Wettbewerb ist jedoch »kein wertneutrales Instrument zur effizienten Verwirklichung beliebiger Lebensformen […]; vielmehr bevorzugt er strukturell die wettbewerbs- und erwerbsorientierte Lebensform«270.

Das Überflüssigwerden der politischen Auseinandersetzung über Menschenbilder führt einerseits zurück in naturrechtliche Vorstellungen. Allerdings sind die Autoritäten, welche das naturrechtliche Menschenbild definiert haben, unsichtbar geworden, sie sind der »unsichtbaren Hand des Marktes« gewichen. Auch hier ist eine normative Fragestellung in den Bereich des Kognitiven verschoben worden. Es geht also nicht mehr darum, etwas zu »wollen«, sondern nur noch um richtige und rationale Erkenntnis. Diese Entwicklung fügt sich ein in den bereits erwähnten generellen Prozess der Entdemokratisierung, welcher dazu führt, dass Recht nicht mehr von jenen beschlossen wird, die von diesem Recht betroffen sind, sondern von Fachexperten. Dies führt nun doch wieder zu den naturrechtlichen Vorstellungen zurück, welche die Ableitung von Recht aus Naturgesetzen Experten vorbehalten wollen. In dieser Sicht können Nicht-Experten mangels Fachwissen vom Weg der rein rationalen Erkenntnis abkommen. Und statt zu erkennen, was natürlich vorgegeben ist, und zwar so, »wie es ist«, würden sie womöglich ein »Wollen« einbringen.

Expertise statt Demokratie

Demokratie steht zum Expertenwesen in einem komplementären Verhältnis. Möglicherweise ist sogar eine Analogie gegeben, indem einerseits Demokratie der Normativität zugeordnet werden kann, andererseits Expertenwesen dem Beschreiben von Wirklichkeit. Demokratische Erzeugung von Recht bedeutet, dass Nicht-Experten miteinander aushandeln, was zu Recht werden soll und was nicht. Dass sie keine Experten sind, bedeutet nicht etwa, dass sie nicht in manchen Bereichen über ein Fachwissen verfügen können, welches in seiner Breite und Tiefe dem Wissen von Experten durchaus entsprechen kann. Der entscheidende Unterschied zum Experten besteht darin, dass dieses Wissen im demokratischen Aushandlungsprozess nicht mit der Autorität des Experten als »erkannte« Wahrheit eingebracht wird, sondern als »gewollter« Standpunkt. Dieser muss begründet werden, und zwar mit Argumenten, welche die andern Nicht-Experten möglichst überzeugen sollen. Vor allem aber kann der so eingebrachte Standpunkt in der Auseinandersetzung von allen am Aushandlungsprozess beteiligten Personen bestritten werden, ohne dass diese über Expertenautorität verfügen müssen.271 Demokratische Erzeugung von Recht verlangt die Festlegung von Verfahren, in denen Expertenwissen beigezogen werden kann, aber die relative Richtigkeit des Resultates hängt von anderen Dingen ab. Zum Beispiel trägt die Verhandlung dazu bei, dass die Beteiligten den Verhandlungsgegenstand immer besser einschätzen können, sie erwerben Fachwissen, ohne deshalb zu Experten zu werden.272 Sie werden im Verlauf der Verhandlungen Standpunkte vertreten, die zwar immer mehr fachkundig fundiert sind, dabei aber »gewollte« Standpunkte bleiben.

Neben der Ersetzung demokratischer Abläufe durch Expertenwissen sollte in diesem Zusammenhang auch nochmals die Rolle von Richtern erwähnt werden, die unter gewissen Umständen zu Schöpfern von Moralnormen werden. Was die Menschenrechte anbelangt, nimmt die richterliche Funktion in der Ersetzung demokratischer Abläufe einen besonders breiten Raum ein, vor allem weil sie auf der internationalen Ebene mangels demokratisch gewählter Institutionen unumgänglich ist. Hinzu kommt jedoch eine Entwicklung seit dem Ende des Kalten Krieges, welche diese Ersetzung auch auf nationaler Ebene befördert. Durch die Einrichtung der starken Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland hatte sich schon nach dem Zweiten Weltkrieg tendenziell eine Stärkung jener Sicht der Menschenrechte ergeben, für welche die demokratische Legitimation dieser Rechte nicht im Vordergrund steht und die sich historisch vor allem in den Vereinigten Staaten herausgebildet hat. Zahlreiche insbesondere mittelosteuropäische Staaten sind dem deutschen Beispiel gefolgt. Die so entstandene Zurückdrängung der demokratischen Legitimation der Rechte wird aus verschiedener Perspektive hinterfragt. Aus rechtspolitischer Sicht wird vor allem die Individualisierung kritisiert, die Funktion von Verfassungsgerichten als »Hüter von Grundrechten gegen den Gesetzgeber […], weil in ihr dem Gesetzgeber, dem auch die Ausgestaltung subjektiver Freiheitssphären obliegt, partikulare Anliegen entgegengesetzt werden«273. Aus demokratietheoretischer Sicht wird unter anderem die Annäherung oder gar Aussöhnung verschiedener Standpunkte betont, die nur in demokratischer Aushandlung erreicht werden kann, während höchstrichterliche Entscheidungen notwendigerweise zur Polarisierung beitragen, weil sie lediglich zur Kenntnis genommen werden können und Gewinner sowie Verlierer zurücklassen.274

Auch wenn in der Ersetzung demokratischer Abläufe der Richter dem Experten nicht gleichgesetzt werden kann, werden in beiden Fällen zum Teil analoge Fragen aufgeworfen. Hinzu kommt, dass sich vor allem in der transnationalen Schaffung von neuem Recht die beiden Funktionen zunehmend vermischen. So werden im Wirtschaftsrecht Streitschlichtungen häufig Schiedsgerichten übertragen, die mit entsprechenden Fachspezialisten besetzt werden.275 Das Hauptproblem, welches sich in der Weiterentwicklung von Grund- und Menschenrechten sowohl durch Experten als auch durch Richter in gleicher Weise stellt, ist das Entfallen der Positivierung in der Form von generell gültigen Gesetzen ohne Ansehung des Einzelfalles. Mit dem Nadelöhr-Verfahren entfällt das gegenseitige Abschleifen der verschiedenen Gründe für die Ausgestaltung der Rechte, und diese können schließlich keine rechtliche Neutralität erlangen, weil das Verfahren fehlt, in dem sie den bisherigen religiösen, philosophischen oder moralischen Mantel abstreifen könnten. In diesem Punkt überschneiden sich die beiden oben genannten Kritiken aus rechtspolitischer und demokratietheoretischer Sicht. Insbesondere bleiben mangels dieser Verfahren moralische Begründungen als solche im Raum stehen. Häufig wenden Richter geltendes Recht auf Einzelfälle an, ohne eigene Moralvorstellungen einzubringen. Dennoch haben sie die Möglichkeit dazu. Es gibt Zeiten und Regionen, in welchen Moralisierung nicht sehr gefragt ist, und es gibt umgekehrt Zeiten und Regionen, in welchen in der Öffentlichkeit nach Moralisierung verlangt wird. Auch Richter können sich solchen Tendenzen nicht völlig entziehen.

Von der erwähnten Tendenz zur Entdemokratisierung sind die Menschenrechte noch stärker betroffen als die Rechtsordnungen als Ganze. Grund- und Menschenrechte stellen der Wirklichkeit einen normativen Maßstab gegenüber, der ein ständig offenes Spannungsverhältnis begründet. Sie sagen nichts darüber aus, »wie es ist«, sondern darüber, »wie es sein soll«. Wenn nun die Tendenz dahin geht, das Normative zurückzudrängen und durch rein kognitive Vorgänge zu ersetzen, oder anders gesagt, wenn an die Stelle des »Wollens« das »richtige Erkennen« tritt, dann verblassen die Menschenrechte aus ihrem Inneren heraus. Was die Moralisierung der Menschenrechte anbelangt – und insoweit diese die komplementäre Erscheinung darstellt zum Rückgang oder zum Fehlen der demokratischen Legitimation dieser Rechte –, ist die Wahrnehmung der Öffentlichkeit recht unterschiedlich je nach dem Bereich, den die Moralisierung betrifft. Wenn militärische Interventionen durch eine unmittelbare Moralisierung der Menschenrechte begründet werden, durch eine Moral also, die sich nicht zuerst in Recht übersetzt, sondern direkt zur Tat schreitet, wird meistens öffentlich dagegen protestiert, immerhin in jenen Staaten, welche diesbezüglich sensibilisiert sind. Die Moralisierung, welche dadurch gefördert wird, dass Demokratie durch Expertenwissen oder durch Richterspruch ersetzt wird, geht hingegen unmerklich vor sich. Sie löst kaum Widerstände aus.

Die revolutionäre Seite der Menschenrechte

Revolutionen sind politische Umwälzungen. Im Zusammenhang mit den Menschenrechten ruft das Adjektiv »revolutionär« zunächst und vor allem Schilderungen und Bilder aus dem Jahre 1789 in Paris auf, verbunden aber mit nationalen Bildern, wie es sie in vielen Ländern gibt. Neben diesen geschichtsmächtigen und eindrücklichen Narrativen tritt ein anderes revolutionäres Element in den Hintergrund, das äußerlich weniger spektakulär erscheint, für die Menschenrechte aber genauso unabdingbar ist, nämlich die individuelle Dissidenz. Neben den großen Revolutionen gibt es Durchbrüche im einzelnen Menschen, welche man als »kleine Revolutionen« bezeichnen könnte. Es ist der Moment, in dem ein Mensch seiner ganz elementaren Intuition folgt und einfach »Nein« sagt, weil für ihn klar geworden ist, dass »etwas nicht stimmt«. Die revolutionäre Seite der Menschenrechte beruht auf einer Interaktion von subjektiven und objektiven Elementen, auf einem Zusammenwirken also zwischen der großen und der kleinen Revolution. Dieser Zusammenhang ist in eindrücklicher Form wieder wahrnehmbar geworden, als junge Menschen in arabischen Staaten mit dem revolutionären Ruf »Freiheit oder Tod« durch die Straßen zogen. Dies bedeutet, dass das Verlangen nach Freiheit so stark geworden ist, dass ein Leben ohne diese Freiheit als nicht mehr lebenswert erscheint. Oder anders gesagt, das Leben in Freiheit rückt so nahe an den elementaren Begriff des Mensch-Seins heran, dass »Leben in Freiheit« und »Mensch-Sein« untrennbar, ja beide Begriffe sogar identisch werden. Das Leben in Unfreiheit ist mit der eigenen Würde als Mensch nicht mehr vereinbar, sodass die Alternative »Freiheit oder Tod« plötzlich die Grenze von der Möglichkeit zur absoluten Notwendigkeit überschreitet, wenn die Würde bewahrt werden soll.

Nur wenige Menschen gelangen zu solchen revolutionären Haltungen einfach deshalb, weil sie sich von anderen mitreißen lassen. Jeder Mensch hat Bindungen an geliebte Menschen, an sein Umfeld und andere Lebenszusammenhänge. Niemand wird all dies ohne Weiteres aufs Spiel setzen, im Wissen darum, dass ein solcher Entscheid auch für die anderen Menschen im eigenen Umfeld großes Leid bringen kann. Niemand wird deshalb eine solche Grenze leichtfertig überschreiten, sondern der Schritt ist das Resultat einer langen, schmerzlichen Auseinandersetzung mit andern und mit sich selber. In letzter Konsequenz ist es aber immer ein individueller Entscheid, der manchmal mit Hilfe und Unterstützung anderer gefällt wird, manchmal aber auch gegen deren ausdrücklichen Widerstand. Die eben am Beispiel der jüngsten Geschehnisse in arabischen Ländern dargestellte Situation verlangt großen Respekt. Und nicht nur das, sie verlangt auch Dankbarkeit vonseiten jener, welche die Früchte derart mutiger Entscheide ernten können, wenn auch Jahre oder Jahrzehnte später und möglicherweise an ganz anderen Orten.

Das Herausragende solcher Situationen sollte indessen nicht dazu verleiten, die »kleine Revolution« nur in Zusammenhängen zu vermuten, deren Dramatik in der dargestellten Weise öffentlich wahrnehmbar ist. Nicht weniger dramatisch sind die ungezählten kleinen Revolutionen im Leben einzelner Menschen, die auf denselben schmerzlichen Abläufen beruhen, auf einem »Nein« zu Bedingungen, welche mit der eigenen Würde nicht länger vereinbar sind. Es handelt sich immer um die Befreiung aus Abhängigkeiten, welcher Art diese auch immer sein mögen und in welchen Bereichen sie auch immer stattfinden mögen, in Familie, Arbeitswelt, kulturellen, politischen oder anderen Lebenszusammenhängen. Besonders schwierig sind solche Schritte, wenn die Abhängigkeit eine Bindung darstellt, die auch Geborgenheit vermittelt. Jeder Mensch braucht und hat Bindungen. Für viele Menschen stehen Bindungen an andere Menschen an erster Stelle, es können aber auch Bindungen an Ideale, an Gruppen oder an andere Strukturen sein. Alle Bindungen sind Veränderungen unterworfen. Deshalb kann sich Geborgenheit in Einschränkung wandeln, sei es durch eine autoritäre Veränderung des Umfeldes, sei es durch eine Entwicklung des Individuums in Richtung eines größeren Bedürfnisses nach Unabhängigkeit, die zur Folge hat, dass eine früher akzeptierte Bevormundung unerträglich wird. Aus persönlichen Beziehungen kennen viele Menschen solche Wandlungen. Brisant können sie in Gruppenbezügen mit autoritären Zügen werden, in Sekten oder ganzen Religionen, rigiden Familien-, Sippen- oder Clanstrukturen, kulturell oder politisch ausgerichteten extremistischen Gruppen mit oft nationalistischen oder rassistischen Zielen.

Damit ist der Zusammenhang angesprochen, der zwischen Individualismus und Universalismus besteht und der sich abgrenzt von jeglicher Gruppenidentität. Menschenrechte sind untrennbar mit den beiden erstgenannten Begriffen verbunden. Sie betreffen einerseits den individuellen Menschen, den sie als einzigartiges und unverwechselbares Individuum herausheben. Und anderseits sind sie bedingt durch die Universalität, welche das Mensch-Sein aller Individuen in gleicher Weise einschließt. Die individuelle und die universelle Seite der Menschenrechte spiegeln sich gegenseitig wider. Die Verletzung der Würde eines einzelnen Menschen verletzt zugleich die Würde aller Menschen, weil alle Menschen dieser Würde gleichermaßen teilhaftig sind. Und umgekehrt leitet sich die Individualität und Unverwechselbarkeit des einzelnen Menschen von seinem Mensch-Sein ab, das er mit allen anderen Menschen teilt. Er ist gerade deshalb unverwechselbar, weil alle anderen Menschen ebenfalls unverwechselbar sind.

Die beiden Prinzipien des Individualismus und des Universalismus widersetzen sich grundsätzlich einer Gruppenidentität.276 In der Französischen Revolution hatte dies eine so große Bedeutung, dass sowohl die Versammlungs- als auch die Vereinsfreiheit keinen Eingang in die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 fanden.277 Ein später verabschiedetes Gesetz verbot alle Korporationen, womit dem feudalistischen Gesellschaftsverständnis sichtbar und radikal ein Ende gesetzt wurde. Da dies einem Gewerkschaftsverbot gleichkam, hat Marx später gerade darin einen weiteren Beleg für einen »bürgerlichen Staatsstreich« gesehen. Obwohl auch ökonomische Gründe beim Erlass des Gesetzes eine Rolle gespielt haben, ist der Grund in einer tieferen Dimension zu sehen. Der Individualismus der Französischen Revolution löst den Einzelnen nicht aus der Gesellschaft heraus, vielmehr wird die Vereinzelung zur Bedingung seiner sozialen Integration, »weil sie ihm ermöglicht, die eigene Lebensgeschichte als einen sich in der Gesellschaft abspielenden Vorgang wahrzunehmen«278.

Gruppenidentität ist nur dann mit Individualismus und Universalismus vereinbar, wenn sie aus freien Stücken gewählt worden ist und sich jederzeit ohne Begründung wieder beenden lässt. Ist dies nicht der Fall, trägt diese Identität eine Tendenz zur Angleichung in sich, welche auf Abgrenzung beruht. Es wird ein Gruppen-»Wir« definiert, das sich von den »Anderen« unterscheidet. Das Phänomen »Wir gegen die Anderen« hat in der Analyse von Gewaltexzessen jeglicher Art eine zunehmende und erschreckende Aktualität erlangt, von Ausschreitungen jugendlicher Banden bis zum ethnisch motivierten Völkermord. Demgegenüber vermittelt die Identität im Universalismus dem einzelnen Menschen die Notwendigkeit, seine Individualität aufrechtzuerhalten. Auch hier zeigt sich die gegenseitige Bedingtheit von Individualismus und Universalismus einerseits und von subjektiven und objektiven Elementen andererseits. Der Einzelne bewahrt die eigene Unverwechselbarkeit nicht nur aus subjektiven Gründen, sondern er wahrt damit auch jene aller anderen Menschen, ob ihm das nun bewusst ist oder nicht.279 Dies bedeutet keineswegs, dass einem individualistisch und universalistisch identifizierten Individuum die Bildung von Gruppen mit Gleichgesinnten oder mit Personen gleicher Herkunft verwehrt bleibt. Aber durch eine Gruppenbildung, die Individualismus und Universalismus verbunden ist, wird dem Individuum eine Identität vermittelt, welche weder »ausschließliche« noch »ausschließende« Züge annehmen kann.

Die gegenseitige Bedingtheit der subjektiven und der objektiven Elemente bildet die Basis für die revolutionäre Kraft der Menschenrechte. In der hier gewählten Begrifflichkeit ist es der Zusammenhang zwischen kleiner und großer Revolution. Große Revolutionen fordern Schweiß, Blut und Tränen. Kleine Revolutionen verlangen dem Individuum fast immer »nur« Schweiß und Tränen ab. Der Blutzoll beschränkt sich auf Fälle gewaltbereiter Clan- und Sippenstrukturen, zu schweigen einmal von Gesellschaften, in welchen die Menschenrechte kaum anerkannt sind.

Inhaltlich kommt die revolutionäre Kraft dieser Rechte aus der gegenseitigen Widerspiegelung des universalen Mensch-Seins und der individuellen Würde des einzelnen Menschen. Die Identität des Individuums in diesem universalen Mensch-Sein verbindet den Einzelnen mit allen anderen Menschen, seine Würde als Individuum ist identisch mit der Würde aller Menschen. Die Bindung des Individuums an das universale Mensch-Sein ist die einzige, welche ihm nie weggenommen werden kann. Sie ist auch die einzige, die nie einschränkende Züge annehmen kann. Deshalb kann sie nie den Gedanken auslösen, dass man sich ihr als Individuum entziehen müsste. Sie ist nicht nur objektiv, sondern sie ist auch subjektiv unverlierbar. Und sie ist es, welche die unauslöschliche Kraft der Menschenrechte ausmacht. Wie diese Kraft in revolutionären Durchbrüchen kollektiv zum Tragen kommt, haben die Geschehnisse in den arabischen Ländern einmal mehr ins Bewusstsein gebracht.

Die Moralisierungsresistenz der Menschenwürde

Der subjektive Teil im revolutionären Element der Menschenrechte ist beschrieben worden als Befreiung aus Bedingungen, Abhängigkeiten und Bindungen aller Art, zum Beispiel in den Bereichen von Arbeitswelt, Familie oder anderen Lebenszusammenhängen. Die eben angesprochenen autoritären Strukturen, die zur Disziplinierung der an sie gebundenen Individuen vor Gewaltanwendung nicht zurückschrecken, machen im Gesamtbild dieser Strukturen nur einen kleinen Teil aus. Abstrahiert man von der Gewaltanwendung, so ist allen diesen Strukturen eines gemeinsam. Sie versuchen, Bindungen und Abhängigkeiten aufrechtzuerhalten, indem sie das Individuum moralisch unter Druck setzen. Moralisierung spielt auch hier eine wichtige Rolle. Wie der moralische Gruppendruck ausgeübt wird, ist bekannt und wird seit Längerem auch öffentlich thematisiert. »Willst du uns das wirklich antun?«, lautet etwa die Kernfrage, und sie wird in vielen Spielarten abgewandelt. Mit dem oder der Sprechenden im Singular wird sie analog in privaten Beziehungen eingesetzt und ist dort nicht weniger wirkungsvoll. Mittels derartigen moralischen Drucks sollen die beschriebenen kleinen Revolutionen verhindert werden.

Längst nicht alle Befreiungen aus einschränkenden Bedingungen, Abhängigkeiten oder Bindungen haben die revolutionäre Intensität, welche sie überhaupt in einen Zusammenhang mit den Menschenrechten rücken kann. Insbesondere das dabei oft dominierende Denken in persönlichen Vorteilen oder in Kategorien der Interessenmaximierung vermag keinen Zusammenhang zu den Menschenrechten auszulösen. Die Privatisierung der Menschenrechte, wie sie am Beispiel des Staates Bosnien & Herzegowina beschrieben worden ist, löst vielmehr im umgekehrten Sinne diese Rechte von ihrem Grundgehalt ab und macht sie unwirksam. Menschenrechte stehen zwar dem Individuum zu, aber »private« Rechte sind sie nicht. Der Zusammenhang ergibt sich nur dann, wenn sich das betroffene Individuum mit der Frage auseinandergesetzt hat, ob der von ihm in Erwägung gezogene Schritt moralisch richtig sei. Der Punkt, in welchem das Revolutionäre anklingt, wird aber erst dann erreicht, wenn das Umfeld die mögliche kleine Revolution durch moralischen Druck verhindern will, wenn also gleichsam die Keule der Moralisierung in Aktion gesetzt wird, und seit Kant ist der Grund für diesen Zusammenhang offenkundig. Die Würde des Menschen basiert darauf, dass er über die sittliche Autonomie verfügt, über einen freien Willen, welcher die Voraussetzung darstellt für die Selbstgesetzgebung im Bereich der Moral. Nicht nur der Entscheid über den Inhalt der moralischen Wertordnung bleibt dem Individuum vorbehalten, sondern auch der Entscheid, ob es danach handeln wolle oder nicht.280

Wer einem anderen vorschreiben will, wie er ein eigenes Handeln moralisch zu werten habe, attackiert direkt die Menschenwürde des anderen. Deshalb durchzuckt bei der Drohung mit der Moralisierungskeule den davon betroffenen Menschen etwas, was letztlich nicht erklärbar ist und mit seiner Würde zu tun hat. Dieses Etwas macht ihn darauf aufmerksam, dass er, wenn er seine Würde bewahren will, möglicherweise den schmerzhaften Weg zur kleinen Revolution zu beschreiten. Das Sittengesetz von Kant, das sich im einzelnen Menschen immer wieder meldet – ob ihm dies nun passt oder nicht –, tritt also sogar zur eigenen Verteidigung in Aktion. Es treibt den Einzelnen nicht nur dazu an, seine eigenen Moralvorstellungen überhaupt zu entwickeln, sondern es meldet sich auch dann zu Wort, wenn andere Leute diesem Individuum den Freiraum streitig machen wollen, den es dafür benötigt. So gewinnt das Sittengesetz selber eine revolutionäre Dimension, auch wenn Kant diese Begrifflichkeit wohl kaum verwendet hätte.281 Der Schutz des Individuums vor moralischer Bedrängnis durch andere ist der Trennung von Recht und Moral zu verdanken. Sie gibt dem einzelnen Menschen den Freiraum, so zu denken, zu sprechen und sich zu verhalten, wie es seinen eigenen Moralvorstellungen entspricht und nicht solchen, die ihm von anderen aufgezwungen worden sind.

Damit erschließt sich noch ein weiterer Zusammenhang. Eine Folge der Trennung von Recht und Moral besteht darin, dass das Recht dem einzelnen Menschen den Umgang mit der Moral erleichtert. Dies betrifft das Individuum in seiner Funktion als Rechtsunterworfener oder, in der Begrifflichkeit der Französischen Revolution, als Bourgeois, der sich nur an die Gesetze halten und sich um die Moral nicht unbedingt kümmern muss. Als Mitautor der Gesetzgebung hingegen, in der anderen Rolle des Citoyen, ist er auf genau diesen Freiraum angewiesen, den ihm die Trennung von Recht und Moral gewährt. Nur in diesem Freiraum ist es dem Individuum möglich, seine eigenen Moralvorstellungen zu entwickeln, die es in den Prozess der Gesetzesaushandlung einbringt oder auf der Stufe der gesetzgebenden Institutionen durch seine Vertreter einbringen lässt.282

Der angesprochene Prozess der Entdemokratisierung entzieht die Erzeugung von Recht zunehmend dem Gesetzgeber und setzt an dessen Stelle den Fachexperten, gelegentlich auch den Richter. Damit reduziert dieser Prozess den einzelnen Bürger auf seinen Status als Rechtsunterworfenen, der Citoyen wird gleichsam überflüssig und weicht vollständig dem Bourgeois. Das Menschenbild des Wettbewerbers fügt sich nahtlos in diese Sichtweise ein. Wenn die Funktion des Citoyens einfach nicht mehr gefragt ist, dann liegt der individuelle Freiraum des Einzelnen zur Bildung der eigenen Moralvorstellungen teilweise brach. Dieser Brache stellt sich das revolutionäre Element der Menschenrechte entgegen. Man könnte sagen, das Sittengesetz melde sich auch da zu Wort. Nicht nur verlangt es vom Individuum die Entwicklung seiner eigenen Moralvorstellungen und verteidigt den dafür nötigen Freiraum, sondern drängt darüber hinaus den Einzelnen, seine Funktion als Citoyen tatsächlich wahrzunehmen. Dies ist womöglich die revolutionärste Seite der Menschenrechte. Die »Welt-Stellung des Menschen […], die immer tiefer erfahrene Verantwortung des Menschen für seine Welt« ist denn auch als »revolutionärer Grundzug« der Menschenrechte bezeichnet worden.283 Menschenrechte bilden einen Schutzwall gegen die Entdemokratisierung, vorausgesetzt, sie sind nicht von vornherein ohne demokratische Legitimation konzipiert worden.