|235|Nachwort

Noch vor Ausbruch der Kriege im Balkan schrieb Hagen Schulze 1990 die folgenden Zeilen: »Wenn Europa eine Zukunft haben soll, dann wird es unvermeidlich an das Europa der Vergangenheit anknüpfen müssen; in dieser Umbruchphase ist es Aufgabe der Historiker, die Identität Europas zu benennen, und die Aufgabe der Politiker und damit unser aller Aufgabe, das Bewahrenswerte vom Gefährlichen und Selbstzerstörerischen zu unterscheiden.«238 Die Balkankriege haben in grausamster Weise erneut aufgezeigt, wie wichtig es ist, das Bewahrenswerte vom Gefährlichen und Selbstzerstörerischen zu unterscheiden. Die Recherchen für dieses Buch habe ich nach Abschluß meiner Arbeit in Bosnien begonnen, um Antworten zu finden auf die im Balkan aufgetauchten Fragen. Meine Beobachtungen vor Ort und die darauf gestützten Vermutungen genügten mir nicht. Auch heute sind für mich viele Fragen noch längst nicht befriedigend beantwortet. Dennoch schien es mir richtig, das bisher Erarbeitete in die Form eines Buches zu bringen. Die Aufgabe selbst, das Bewahrenswerte vom Gefährlichen und Selbstzerstörerischen zu unterscheiden, kann nur in einer breiten Debatte unter Europäerinnen und Europäern wahrgenommen werden, in welcher Erkenntnisse ausgetauscht, Gedanken formuliert und wieder verworfen werden, Schlußfolgerungen versucht und nach reiflicher Diskussion und Überlegung durch andere ersetzt werden, die den Beteiligten als noch richtiger erscheinen. In diesem Sinne kann ich mir nur erhoffen, auch vielfältig widerlegt zu werden, und zwar durch Analysen und Argumente, welche bessere Antworten geben auf die Fragen, deren Beantwortung ich für unumgänglich halte. Nur in letzterem werde ich mich nicht so leicht umstimmen lassen: Daß es nämlich im transatlantischen |236|Verhältnis Fragen gibt, deren Beantwortung keinen Aufschub erträgt.

Ich hätte dieses Buch nicht schreiben können ohne die Unterstützung vieler Freundinnen und Freunde, Bekannter, Fachleute und Praktiker verschiedener Richtungen. Zunächst möchte ich all jenen danken, die es mir durch ihre Gesprächsbereitschaft ermöglicht haben, die Arbeit in Bosnien fast bis zum Ablauf der Amtszeit weiterzuführen – mein Rücktritt bereits während des letzten Amtsjahres erfolgte einerseits zur Sicherung der Nachfolge und andererseits, um es dem Nachfolger zu ermöglichen, über die erste fünfjährige Amtszeit hinaus für eine neue Rechtsgrundlage der Institution zu sorgen. Ich kann sie hier längst nicht alle erwähnen. Danken möchte ich Danielle Coin und Christos Giacoumopoulos, die im Rahmen des Europarates mit Bosnien befaßt waren und mir unzählige wertvolle Einsichten zum Thema dieses Buches vermittelten, sowie Victor Ruffy, langjähriges Mitglied des Nationalrates, dessen Präsident und Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, für seine Unterstützung in all diesen Jahren. Ein Gespräch in Sarajevo mit dem Historiker Urs Altermatt hat es mir relativ früh ermöglicht, Bosnien in einen weiteren mittelosteuropäischen Kontext einzuordnen. Der für mich sehr hilfreiche Gedankenaustausch wurde so zum Ausgangspunkt des Buches.

Auch die vielen Personen, die mir nach der Rückkehr aus Bosnien mit Informationen behilflich waren, kann ich hier nicht alle erwähnen. Danken möchte ich dem Arabisten Hartmut Fähndrich für seine Hinweise zum Islam. Ich danke der Philosophin Carola Meier-Seethaler und der Soziologin Judith Jànoska, deren Unterstützung über die reine Sachinformation weit hinausging. Für die Vermittlung eines kurzen Aufenthaltes am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg danke ich Professor Helmut Steinberger, Mitglied der Venedig-Kommission des Europarates. Gespräche mit Mitarbeitern dieses Instituts waren für den Einstieg in den juristischen Teil der Arbeit sehr hilfreich. Wertvolle Hinweise zum Völkerrecht, |237|zum internationalen Privatrecht und zum Rechtsverständnis erhielt ich von der Professorin und den Professoren Nicolas Michel, Direktor für Völkerrecht im Departement für auswärtige Angelegenheiten, Daniel Thürer in Zürich, Franz Werro in Fribourg, Sabine von Schorlemer in Genf, Ivo Schwander und Jens Drolshammer in St. Gallen, Thomas Cottier und seiner Assistentin Krista Nadakavukaren Schefer in Bern, sowie von meinem früheren Studienkollegen und Zürcher Anwalt Georg von Segesser. Danken möchte ich vor allem auch Jörg Paul Müller, Professor für Staats- und Völkerrecht sowie Rechtsphilosophie an der Universität Bern, für seine Unterstützung und den unermüdlichen Ratschlag, das bereits Erarbeitete nun endlich zu Papier zu bringen. In den Dank schließe ich seine frühere Assistentin Caroline Klein ein, die mir den Zugang zur Bibliothek und deren Benutzung erleichterte. Auch wenn die Hinweise dieser Fachleute für meine Arbeit sehr nützlich waren, bedeutet dies selbstredend nicht, daß diese alle mit meinen Schlußfolgerungen übereinstimmen würden.

Sehr viel bedeutet hat mir das Gespräch mit meinen bosnischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Mein Dank gilt ihnen allen, für ihre Unterstützung und für all das, was sie mir vermittelt haben. Wohl nur ansatzweise erhielt ich durch einige von ihnen einen Eindruck, was es heißt, in bedrohlichen Ausnahmesituationen die eigene Würde nicht preiszugeben. Ich habe immer versucht, die Fachkompetenz der bosnischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter richtig einzuschätzen und sie entsprechend einzusetzen. Mit der Zeit erkannte ich, daß ein frühest- und größtmögliches Abstellen auf diese Kompetenz ein wichtiger Baustein für den Wiederaufbau war, und ich spürte, daß die Anerkennung ihrer Fachkompetenz darüber hinaus ein wichtiges Element der Würde der Bosnierinnen und Bosnier darstellte und somit der Würde des Landes. Besonders danken möchte ich an dieser Stelle Valerija Šaula, Professorin für Völkerrecht an der Universität Banja Luka und in der zweiten Hälfte meiner Amtszeit meine erste Stellvertreterin, sowie Biljana Kokeza, zuständig während eines großen |238|Teils meiner Amtszeit für die Administration der Institution. Ihnen beiden danke ich auch für die Vermittlung verschiedener Kontakte anläßlich einer Reise Ende Mai 2002, als ich zum erstenmal nach Abschluß meiner Arbeit wieder Sarajevo und Banja Luka besucht habe.

In den letzten zwei Jahren ermutigten mich verschiedene Freundinnen, Freunde und Bekannte immer wieder, die Arbeit an diesem Buch weiterzuführen und zum Abschluß zu bringen. Ihnen allen bin ich zu großem Dank verpflichtet und anstelle vieler möchte ich Madlen und Willi Schmid-Schmid erwähnen sowie die Schriftstellerin Laure Wyss. Danken möchte ich Robert Antretter, langjähriges Mitglied des Deutschen Bundestages und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, für seine Unterstützung in all diesen Jahren sowie für die Vermittlung der Verbindung zum Aufbau-Verlag. Schließlich danke ich Frau Maria Matschuk für das sachkompetente und sorgfältige Lektorat.

Im Verlauf der Arbeit an diesem Buch ist mir klargeworden, daß es auch meine persönliche Freiheit betrifft. Auf der intuitiven Ebene hatte die Wahrnehmung schon in Bosnien ihren Anfang genommen, als ich noch längst nicht genau formulieren konnte, was es war, daß diese Freiheit in Frage stellte. Das vage und dennoch klare Gefühl stand nicht in direktem Zusammenhang mit meiner konkreten Tätigkeit, denn eine derartige Aufgabe darf man ohnehin nur übernehmen, wenn man von vornherein akzeptiert hat, daß man größtenteils fremdbestimmt agieren wird, weil man nur ein kleines Rädchen in einer immensen Maschinerie darstellt. Ursache war auch nicht das bosnisch-nationale Umfeld, auf das ich gut vorbereitet war und welches normalisieren zu helfen das Kernstück meiner Arbeit ausmachte. Vielmehr war es das internationale Umfeld in Bosnien, das mich plötzlich als Person zu betreffen begann, ich fühlte etwas in Frage gestellt, was mich zutiefst prägte und was ich nicht preiszugeben bereit war. Rückblickend habe ich erkannt, daß ich das internationale Umfeld in Bosnien als durchaus sektiererisch erlebt hatte: Die Bibel hieß »Friedensabkommen von Dayton«, Jerusalem lag in Washington D. C., und als |239|Sektenprediger wirkten vor allem jene gläubigen Amerikanerinnen und Amerikaner, die nicht – zum Beispiel als Diplomaten – gelernt hatten, daß die Welt durch den reinen Glauben nicht vollumfänglich zu verstehen ist, insbesondere nicht durch den reinen Glauben an die eigene Nation. Wahrscheinlich hat der Vergleich mit der Sekte in meiner linken Hirnhälfte in dem Moment Konturen angenommen, als in der rechten der Begriff »Deprogrammierung« aus den Nebeln aufstieg. Dieser Begriff bezeichnet die Therapie, mittels welcher Personen nach Sektenzugehörigkeit wieder zu einem normalen Leben befähigt werden.

Deprogrammiert kam ich mir vor, als ich beim Schreiben dieses Buches plötzlich begriff, was ich nicht preisgeben will: Es ist die Freiheit des rationalen Denkens welches sich jenseits von Glaubens- und Bekenntniskategorien in die politische Diskussion einbringt. Diese Erkenntnis hat mir schließlich auch die Methode bewußt werden lassen, mit welcher – insoweit eine solche stattfindet – die ideengeschichtliche US-Amerikanisierung Europas funktioniert: Die Methode hat an sich etwas Sektiererisches, und dieses zeigt sich darin, daß nicht darüber geredet werden darf: Wer in Europa transatlantische Differenzen im ideengeschichtlichen Bereich anspricht, wird umgehend »amerikanisiert«, das heißt von der »Welt der Vernunft« in die »Welt des Glaubens« versetzt, wo jene andere Moral herrscht, die nicht mehr verhandelt werden kann. Warum ist die Thematisierung der transatlantischen Unterschiede im wirtschaftlichen Bereich viel weniger tabuisiert oder sogar erwünscht? Könnte es daran liegen, daß es eine der wenigen Gemeinsamkeiten von Ultra-Liberalen und strammen Marxisten ist, Politik tendenziell auf das Ökonomische zu reduzieren?

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurde vielerorts darüber gerätselt, ob – und wenn ja, warum – die US-amerikanische Außenpolitik für die islamische Welt etwas Beleidigendes haben könnte. In diesen Diskussionen standen in der Regel drei Dimensionen im Vordergrund, die religiöse, jene von Konsum und Lebensstil sowie die weltwirtschaftliche. |240|Was Europa anbelangt, sollte in diese Diskussion auch die ideengeschichtliche Dimension einbezogen werden, welche über die drei bereits genannten Dimensionen hinaus auch die staatspolitische Ebene betrifft: Nicht nur für Angehörige anderer Kulturkreise, sondern auch für staatspolitisch überzeugte Bewohnerinnen und Bewohner europäischer Staaten und für staatspolitisch überzeugte Europäerinnen und Europäer wirkt die Selbstverständlichkeit beleidigend, mit welcher Regierungsvertreter und regierungsunabhängige Akteure der US-amerikanischen Außenpolitik davon ausgehen, daß ihr Staats-, Nations- und Religionsverständnis auf dem alten Kontinent Einzug halten werde. Dies löst zunächst Aggressionen aus, dann aber auch Hilflosigkeit. Beides verschwindet jedoch wieder, sobald man versteht, daß und warum sich die Vereinigten Staaten als Nation – und nicht etwa die einzelnen US-Amerikanerinnen und Amerikaner – aufgrund ihrer ideengeschichtlichen Entwicklung gar nicht anders verhalten können. Im Moment dieser Erkenntnis weicht sowohl die Aggression als auch die Hilflosigkeit dem einfachen Wunsch, Europa möge in der Umbruchsituation, die das Ende des Kalten Krieges mit sich gebracht hat, die richtigen Antworten finden.

Europäische Identität ist immer in Umbruchsituationen entstanden. Dieser Kontinent hat nie versucht, geschichtslos zu werden und unter Verdrängung alles Bisherigen radikal neu zu beginnen. Gerade in Umbruchsituationen hat es Europa schon einige Male verstanden, richtig zu reagieren, jenseits von Glaubensbekenntnissen, besonnen, umsichtig, geschichtsbewußt und mit Verstand.

 

Im Juni 2002

Gret Haller