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Westeuropa

Westeuropa hat das große Privileg, daß es nun bereits seit mehr als einem halben Jahrhundert an einer Friedensordnung bauen kann, welcher sich anzuschließen die mittelosteuropäischen Staaten erst seit 1989 überhaupt in Betracht ziehen können. Im Vergleich mit Mittelosteuropa leitet sich daraus eine größere Verantwortung Westeuropas ab, mit dem Weitblick des privilegierten Teils für die Identität des endlich wieder zusammenwachsenden Kontinentes einzustehen. Dabei sollte Westeuropa die friedenspolitische – und die das Freiheitsverständnis betreffende – Sprengkraft nicht unterschätzen, welche Mittelosteuropa in die gesamteuropäische Ehe einbrächte, wenn in diesem Teil des Kontinentes US-amerikanische Traditionen der Ideengeschichte rezipiert würden. Dieser Teil Europas ist aufgrund seiner Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für solche Traditionen empfänglicher als Westeuropa. Auch in Westeuropa selbst, und somit auf dem ganzen Kontinent, ist jedoch eine US-Amerikanisierung auszumachen, welche sowohl den Bereich der Wirtschaft als auch den Lebensstil betrifft. Europa hat eine lange Tradition im Umgang mit dem »Anderen«, mit dem »Fremden«, und es wird die Bereicherung zu nutzen wissen, die sich aus der neuen Situation ergibt. Wirtschaft und Lebensstil haben vordergründig keinen Zusammenhang mit der staatspolitischen Identität. Ein solcher Zusammenhang entsteht erst dann, wenn Wirtschaft und Lebensstil nach anderen staatspolitischen Randbedingungen verlangen, als sie die europäische Tradition bisher hat entstehen lassen. Die Beurteilung dieser Entwicklung ist nur möglich aufgrund einer unvoreingenommenen Auseinandersetzung mit den Unterschieden, die zwischen Europa und den Vereinigten Staaten seit jeher bestanden haben. Bemühungen zum vertieften Verständnis |183|dieser Unterschiede gibt es erfreulicherweise sowohl in West- wie auch in Mittelosteuropa.

Die Unterschiede verstehen heißt nicht, ein Werturteil zugunsten der einen oder der anderen Seite des Atlantiks abzugeben. Es geht nicht um eine Wertung, schon gar nicht um eine moralische Wertung. Es geht ganz einfach darum, zu verstehen, worin und inwieweit Europa anders ist als die Vereinigten Staaten oder – um dem historischen Lauf der Geschehnisse zu folgen – warum die Vereinigten Staaten anders geworden sind als Europa. Und gestützt darauf geht es für Europäerinnen und Europäer vor allem darum, zu erkennen, inwieweit in entscheidenden Fragen an den Grundfesten der europäischen Identität im staatspolitischen Bereich gerüttelt werden könnte. Das US-amerikanische Selbstverständnis geht auf eine jahrhundertealte Abgrenzung der Neuen Welt von der Alten Welt zurück. Das heißt nicht, daß in den Vereinigten Staaten niemand auch mit dem europäischen Gedankengut vertraut wäre. Gerade im Geschehen seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 sind verschiedene solche Stimmen an die Öffentlichkeit getreten, weil die Beurteilung diesseits und jenseits des Atlantiks recht unterschiedlich war. In diesem Buch geht es im transatlantischen Verhältnis jedoch nicht um den Unterschied zwischen den einzelnen Individuen, sondern um den gesellschaftliche Rückhalt, in welchem sich die Unterschiede zeigen. Insoweit die europäische Identität von der US-amerikanischen abweicht, betrifft ihr Kernpunkt die Staatlichkeit und das Recht. Auf diese beiden Bereiche soll nun deshalb noch etwas vertiefter eingegangen werden.

Die Rolle der Staatlichkeit

Wenn in Europa über staatliche Funktionen diskutiert wird, so geht es meistens um die ökonomische Fragen: wieviel Sozialstaat der heutigen Zeit angemessen und ob in Europa die Marktwirtschaft weiterhin eine soziale sein solle oder könne. |184|Es wäre eine Illusion anzunehmen, man diskutiere in diesem Zusammenhang ausschließlich über wirtschaftliche Belange. Wenn sich Europa sozialpolitisch dem US-amerikanischen Modell annähern würde, so erfolgte Hand in Hand damit auch eine Annäherung an das US-amerikanische Rechtsverständnis und an den Umgang dieser Nation mit der Gewalt. Dies wäre nicht in erster Linie eine direkte Auswirkung einer derart umgestalteten Sozialpolitik auf diese beiden anderen Bereiche, sondern in einer solchen Annäherung würde sich die europäische Vorstellung des Souveränitätsverzichtes abschwächen, welche allen diesen Bereichen zugrunde liegt. Ohne Zweifel sind die wirtschaftliche und die nichtwirtschaftliche Rolle des Staates direkt voneinander abhängig, und ohne Zweifel trägt ein leistungsfähiger Sozialstaat auch zur staatspolitischen Identität im allgemeinen bei. Staatspolitische Identität kann jedoch bei weitem nicht ausschließlich auf ökonomische Faktoren zurückgeführt werden, eher ist die umgekehrte Variante zutreffend, daß sich nämlich die Erfindung der Sozialen Marktwirtschaft in Europa aus der Philosophie einer existentiellen Zugehörigkeit ableitet, welche auf dem Souveränitätsverzicht beruht. In den wirtschaftlichen Diskussionen, die heute geführt werden, schwingt diese Philosophie zwar mit, sie wird jedoch selten beim Namen genannt, da Politikerinnen und Politiker, die mit Ökonomie vertraut sind, relativ selten auch gerne über Rechts- und Staatsphilosophie sprechen, was nicht heißen soll, daß sie sich dafür nicht interessieren. Die europäische Philosophie existentieller Zugehörigkeit hat durchaus einen starken Einfluß auf die Ökonomie, ihre Begründung und ihre Auswirkung geht aber weit über das Wirtschaftliche hinaus, und wo ökonomische und nichtökonomische Motive zu unterschiedlichen Handlungen führen würden, kann sogar leicht das nichtökonomische Motiv die Oberhand gewinnen. Mit was für einer gewaltigen Irrationalität nichtwirtschaftliche Motive die wirtschaftlichen wegfegen können, haben die Kriege im Balkan wieder in Erinnerung gerufen: Monolithische ethnische Identität schließt europäische staatspolitische Identität grundsätzlich |185|aus, auch bei ökonomisch privilegierten Leuten. Nationalismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind längst nicht nur eine Folge wirtschaftlicher Unterprivilegierung, selbst wenn festgestellt werden kann, daß ökonomische Verunsicherung diese Phänomene fördert.177

Wenn im folgenden – wie schon verschiedentlich in den bisherigen Ausführungen – von »Staatlichkeit« die Rede ist und lediglich in Ausnahmefällen vom »Staat«, so soll dies deutlich machen, daß sich staatspolitische Identität in Europa nach oben und nach unten auszuweiten beginnt. Die hier anzustellenden Überlegungen beziehen sich auf diese zum Teil neuen Ebenen genauso wie auf jene des traditionellen »National«-Staates, so daß diese Wortwahl als zukunftsorientierter erscheint. Daneben bringt sie zum Ausdruck, daß staatspolitische Identität heute schon immer stärker losgelöst von nationaler Identität betrachtet werden kann, auch wenn der diesbezügliche Ablösungsprozeß in Europa teilweise weiter und teilweise weniger weit fortgeschritten ist oder sich sogar noch im Anfangsstadium befindet, was jedoch eine zukunftsorientierte Ausdrucksweise nicht ausschließen soll.

Entstaatlichung als Ideologie

Staatliche Tätigkeit ist heute vor allem insofern im Wandel begriffen, als neue Formen der Zusammenarbeit staatlicher und nichtstaatlicher Instanzen und Institutionen gesucht werden. Auch wenn solche Veränderungen gelegentlich unter dem Titel der »Privatisierung« diskutiert werden, ist an sich dagegen nichts einzuwenden, denn in einem gut konzipierten Zusammenspiel können effektiv Resultate erreicht werden, die der zunehmenden Individualisierung mindestens so gut Rechnung tragen wie bisherige, rein staatliche Lösungen. Bedingung für solche Lösungen bleibt die letztliche Kontrollmöglichkeit durch den Staat, insbesondere auch dessen Garantie für Gleichbehandlung.178 Die Grenzen der Akzeptanz dieses Wandels liegen dort, wo er in eine Ideologie der Entstaatlichung umkippt. |186|Ideologien sind Denkkonstrukte, die nicht mehr rational begründbar sind, sondern an die man einfach glauben muß. Die Suche nach neuen und sinnvollen Formen des Zusammenspiels zwischen öffentlicher Hand und privaten Akteuren, welche die Umsetzung der europäischen Philosophie einer existentiellen Zugehörigkeit effizient gewährleisten kann, trägt an sich keine ideologischen Züge. Es gibt jedoch Privatisierungsbemühungen, die nur um der Privatisierung willen stattfinden und die sich einreihen in eine Art »Ideologie der Entstaatlichung«. In Mittelosteuropa, wo ein Privatisierungsbedarf in bezug auf bisherige Staatswirtschaften durchaus gegeben war, fällt es nicht leicht, die Grenze zu erkennen, an welcher dieser Umschlag vom rational Begründbaren ins Ideologische stattfindet. In Westeuropa sind vor allem Beratungsfirmen am Werk, deren Mutterhäuser oft in den Vereinigten Staaten beheimatet sind. Und deren Mitarbeiter tragen die Idee der Privatisierung mit einer Selbstverständlichkeit an die öffentlichen Verwaltungen heran, die oft einen ideologischen Hintergrund offenbart. Die Konsequenzen der Entstaatlichung im wirtschaftlichen Bereich sind feststellbar und werden in Zahlen diskutiert. Im nichtwirtschaftlichen Bereich ist die Entstaatlichung hingegen eine eher verborgene, welche die Gefahr einer langsamen Verdrängung der europäischen Philosophie existentieller Zugehörigkeit mit sich bringt und deren Ersetzung durch die US-amerikanische Zugehörigkeit, die man sich erstreiten muß. Problematisch für europäische Verhältnisse würde dieser Verdrängungsprozeß, sobald dadurch der Souveränitätsverzicht angetastet wäre, wobei man davon allerdings zunächst wohl nicht viel merken würde, denn so bewußt ist Europäerinnen und Europäern dieser jahrhundertealte Hintergrund gar nicht. Direkt würde sich eine zunehmende Verweigerung des Souveränitätsverzichtes mit der Zeit in einer zunehmenden ideologisch motivierten Ablehnung von Staatlichkeit manifestieren, indirekt jedoch auch in einer zunehmenden Ablehnung des europäischen Integrationsprozesses, denn der individuelle Souveränitätsverzicht ist untrennbar verbunden mit dem staatlichen Souveränitätsverzicht, der die Grundlage bildet für diesen Integrationsprozeß. |187|Mit anderen Worten: Insoweit eine US-Amerikanisierung Europas stattfindet und insoweit diese auf eine Ideologie der Entstaatlichung hinausläuft, tangiert sie längerfristig nicht nur das europäische Freiheitsverständnis, sondern auch die europäische Friedensordnung.

Entstaatlichung als Ideologie hat im nichtökonomischen Bereich aber weitere Konsequenzen, indem sie die Staatlichkeit als öffentliche Ordnungsstruktur schwächt, welche in Europa den gesellschaftlichen Zusammenhalt gewährleistet. Jede Gesellschaft braucht und hat eine öffentliche Ordnungsstruktur. Wenn es nicht die Staatlichkeit ist, so tritt etwas anderes an deren Stelle. Da die Ideologie der Entstaatlichung einen US-amerikanischen Hintergrund hat, liegt es auf der Hand, welche Elemente bereitstehen, um anstelle der Staatlichkeit als öffentliche Ordnungsstruktur zu dienen: Es ist die im letzten Kapitel dargestellte Gemeinschaft, basierend auch auf religiösen Elementen. Im Sinne eines Beispieles sei hier der sprichwörtlich gewordene Begriff eines »clash of civilisations« erwähnt. Der amerikanische Politologe Samuel Huntington bezeichnet damit eine Konfrontation, die durch das Aufeinanderprallen von Kulturen verursacht werde, welche durch verschiedene Religionen geprägt sind. Europa wird von Huntington mit großer Selbstverständlichkeit in ein Lager eingebunden, in welches dieser alte Kontinent vom Verständnis des Staates, der Nation und der Religion her gesehen so gar nicht hineinpassen will, nämlich in ein von den Vereinigten Staaten dominiertes westliches Lager. Daß sich Europa dem »Westen« zurechnet, steht außer Frage, aber innerhalb dieses Westens gibt es grundlegende Differenzen, die sich gerade im Umgang mit anderen Kulturkreisen und Religionen auswirken. »Huntingtons Kulturkonfliktparadigma (…) wirft uns unmittelbar in die Zeit der Religionskriege zurück und spricht sich gegen die gesamte europäische Tradition rationaler Friedenspolitik aus«, stellt Wolfgang Kersting denn auch fest.179 Viele zeitgenössische Entwicklungen im transatlantischen Spannungsfeld können nur im Rückblick auf das Jahr 1648 verstanden werden. Es ist heute nicht etwa so, daß die |188|Entstaatlichung die ganz große Freiheit zur Folge hätte, was immer die Protagonisten einer Ideologie der Entstaatlichung sich unter Freiheit auch vorstellen mögen. An die Stelle der Staatlichkeit tritt etwas, und dieses etwas ist die Religion.180 Sie manifestiert sich entweder direkt in religiösen Kategorien oder in moralischen, deren Berücksichtigung vom Individuum jedoch direkt verlangt wird, ohne daß es geschützt wäre durch den Filter der Rechtssetzung.

Ein von der Staatlichkeit befreites Individuum sucht Bindung. Wenn staatspolitische Identität verblaßt, muß eine andere Bindung auf den Plan treten, denn jeder Mensch braucht ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Freiheit und Bindung, ob er sich dessen nun bewußt ist oder nicht. Entstaatlichung hat deshalb nicht so sehr mit mehr oder weniger Freiheit zu tun, sondern mit der Frage, wie Freiheit definiert wird. Mangels staatspolitischer Identität besteht in den Vereinigten Staaten bis zu einem gewissen Grade die Notwendigkeit, sich zu »freiwilligen Gemeinschaften« zu bekennen, damit sich Freiheit und Bindung die Waage halten, wobei die nationale Identität, verstärkt durch religiöse Elemente, den Zusammenhalt der Gesellschaft garantiert. In Europa wird dieser Zusammenhalt durch die staatspolitische Identität gewährleistet, und umgekehrt besteht die Möglichkeit, das individuelle Leben frei von Bekenntnissen und frei von Bindungen an »Gemeinschaften« zu gestalten sowie nationale Identität zunehmend zurücktreten zu lassen. Entstaatlichung bedeutet somit nichts mehr und nichts weniger als zwei Bewegungen: einerseits die Verschiebung der Freiheit von einem Bereich in einen anderen und andererseits die Verschiebung der Bindung von einem Bereich in einen anderen.

Konkret könnte Entstaatlichung für Europa bedeuten, daß sich der Stellenwert des individuellen Souveränitätsverzichts vom Positiven ins Negative wendet. Entstaatlichung dreht in Europa das Rad der Zeit zurück, letztlich sogar bis an den Scheideweg von 1648, um die Weichen zwischen Staat und Religion in entgegengesetzter Richtung zu stellen. Damit aber nicht genug: Daß in Europa der Nationalismus die Religion |189|abgelöst hat, ist ein historisches Phänomen, das nicht rückgängig gemacht werden kann. Deshalb könnte an die Stelle der Staatlichkeit nicht nur die Religion treten, sondern auch der Nationalismus.

Etwas »Drittes« gibt es in allen Gesellschaften, wann und wo immer sie auf diesem Planeten auch beheimatet sein oder gewesen sein mögen. Dieses Dritte geht über die rein horizontalen Beziehungen zwischen den Individuen hinaus, gibt der Gesellschaft einen Zusammenhalt und ermöglicht es dem Individuum, eine gesellschaftliche Identität zu entwickeln, die ebenfalls über die rein horizontalen Beziehungen zu anderen Individuen hinausgeht. Am Anfang der Menschheit war das Dritte überall die Religion, später konnte das Dritte auch ein Gemisch von Religion und Staat sein. Im Mittelalter traten Staat und Religion immer mehr in Konkurrenz zueinander, und beide beanspruchten, dieses Dritte zu verkörpern. In Europa siegte 1648 der Staat, jenseits des Atlantiks siegte die Religion. Als später die Romantik die Nation erfand, diente diese neue Erfindung auf beiden Seiten des Atlantiks als Mantel für das jeweilige Dritte: Amerika kleidete die Religion in den Mantel der Nation, Europa kleidete den Staat in den Mantel der Nation. In Europa beginnt heute das Dritte – hier also die Staatlichkeit – ganz langsam, den Mantel der Nation wieder abzulegen: Die Blutflecken auf diesem Mantel sind zum Teil neu, zum Teil auch schon recht verblichen, der Mantel ist abgetragen. Erst jetzt wird man gewahr, daß das Dritte diesseits und jenseits des Atlantiks ja gar nicht dasselbe ist, nie dasselbe gewesen ist: Die beiden Mäntel, in welche das Dritte diesseits und jenseits gekleidet worden ist, sehen nämlich ähnlich aus.

Und so ist es kein Zufall, daß jenseits des Atlantiks genau das mit einigem Argwohn betrachtet wird, was hervortritt unter dem Mantel, den Europa vorsichtig abzustreifen beginnt, nämlich Europas Staatlichkeit und die staatspolitische Identität der Europäerinnen und Europäer: Was da zum Vorschein kommt, glaubte man in den Vereinigten Staaten doch definitiv hinter sich gelassen zu haben. Die Religion, die jenseits des Atlantiks das Dritte ausmacht, wird den Mantel der Nation in |190|den nächsten Jahrzehnten nicht ablegen, denn Religion als Drittes ohne den Mantel der Nation ist für die Vereinigten Staaten nicht vorstellbar. Staatlichkeit und Nation haben im Europa der vergangenen 200 Jahre recht gut zusammengepaßt, nur hat sich das Rad der Zeit weitergedreht, und plötzlich nehmen wir wahr, daß sich das Ablegen des Mantels schon seit längerer Zeit vorbereitet. Jede Gesellschaft – auch die europäische – braucht etwas »Drittes«. Dieses Dritte ist in Europa und den Vereinigten Staaten entweder die Staatlichkeit oder die Religion, es ist nie beides, und es ist immer eines von beiden. »Nation« allein kann es nicht sein, denn die Nation ist immer nur der Mantel. Nimmt man den Menschen das »Dritte« weg, so konstruieren sie sich sofort ein anderes »Drittes« als Ersatz für das, was man ihnen weggenommen hat. Staatlichkeit ist in Europa ideengeschichtlich ein sehr kostbares Gut.

Die »Zivilgesellschaft«

Sprache verrät oft viel mehr, als man gemeinhin annehmen möchte. Vorweg sei auf den Bedeutungswandel hingewiesen, den das Wort »zivil« in den letzten Jahren oder Jahrzehnten durchgemacht hat. Bis vor einigen Jahren war »zivil« ein Gegenbegriff zu »militärisch«, er wurde auch im Sinne von »zivilisiert« verwendet, zur Bezeichnung einer gewaltlosen Bewältigung von Konflikten. Insbesondere im humanitären Völkerrecht ist mit »Zivilbevölkerung« die Gesamtheit der nichtmilitärischen Personen gemeint. War die Abgrenzung von militärischen Dingen nicht nötig, so redete man von »Bevölkerung«. Mittlerweile ist das Wort »Bevölkerung« aus dem medialen Wortschatz praktisch verschwunden. Auch der Wirbelsturm X bedroht heute die »Zivilbevölkerung«, und solche Naturkatastrophen machen keinen Unterschied zwischen militärischen und nichtmilitärischen Einrichtungen. Zwar wird »zivil« immer noch als Gegenbegriff zu »militärisch« oder im Sinne von »zivilisiert« verwendet, aber das Wort scheint auch Gegenbegriff zu anderen Domänen geworden zu sein. In der |191|Diskussion über Sanktionen gegen Simbabwe wie auch gegen den Irak war zu vernehmen, die Sanktionen dürften nicht die Zivilbevölkerung treffen, sondern nur die Regierung dieser Staaten. Das Wort »zivil« scheint allmählich in die Nähe der Achse »für/gegen Regierungen« zu gelangen, in die Nähe von »nichtgouvernemental« und damit ins Umfeld der verschiedenen Bemühungen um den Stellenwert der Staatlichkeit.

Ein ähnliches Schicksal wie die »Bevölkerung« erlitt die »Gesellschaft«, die im Sprachgebrauch heute ebenfalls viel seltener auftaucht: »In den letzten Jahrzehnten wurde ein neues Ideal geboren oder wiedergeboren: die Zivilgesellschaft. Früher hatte man davon ausgehen können, daß jemand, der sich für den Begriff der Zivilgesellschaft interessierte, ein Geistesgeschichtler war, der sich etwa mit Locke oder Hegel beschäftigte. Aber der Ausdruck selbst war ohne aktuelle Resonanz und evokative Kraft, er schien vielmehr gänzlich verstaubt zu sein. Jetzt ist er plötzlich hervorgeholt, gründlich abgestaubt und zu einem strahlenden Sinnbild geworden.« So beginnt Ernest Gellner sein Buch über die Zivilgesellschaft, und dieses Zitat findet sich unter dem Titel »Ein Schlagwort wird geboren«.181 Kaum ein Wort wird in so verschiedenen Bedeutungen verwendet wie »Zivilgesellschaft«, wobei sich einige dieser Interpretationen sogar diametral gegenüberstehen können und sich gegenseitig ausschließen.182

Insbesondere in Deutschland hat sich als Übersetzung des englischen Begriffes der civil society auch die »Bürgergesellschaft« durchgesetzt. »Gemeint ist damit der in der Gesellschaft vorhandene Bürgersinn, das heißt die politische Kultur und die ihr zugrundeliegenden vielfältigen Organisationen und Institutionen auch außerhalb des direkten staatlichen Machtapparats, also die Vereine und Selbstverwaltungskörperschaften, die Honoratiorenstruktur, die Zivilcourage usw.«183 In diesem Verständnis der Zivilgesellschaft geht es um die vielfältigen Vereinigungen und Organisationen, in denen sich der einzelne eine Meinung bildet und Aktivitäten ausübt, um der Aktivität selbst willen oder um auf das politische Geschehen Einfluß zu nehmen. Es handelt sich dabei somit um ein gesellschaftliches |192|Geschehen, das mit der europäisch verstandenen staatspolitischen Identität nicht nur vereinbar ist, sondern diese sogar stärkt, auch wenn neue Formen des Zusammenwirkens zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Instanzen und Institutionen angestrebt werden: Möglicherweise erfolgt eine Stärkung dieser Identität zum Teil gerade auf dem Weg über solche neuen Formen, sofern dabei die bereits erwähnten Randbedingungen der Gleichbehandlung und der demokratischen Kontrolle nicht tangiert werden.

Daneben gibt es aber auch ein Verständnis der Zivilgesellschaft, mittels welchem versucht wird, die staatspolitische Identität zu verdrängen und durch eine gemeinschaftsorientierte Identität zu ersetzen, wie sie im letzten Kapitel als eine vor allem US-amerikanisch geprägte dargestellt worden ist. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist die US-amerikanische Publikation »To Empower People: from state to civil society«, erstmals erschienen 1977 und 1996 zusammen mit neueren Kommentaren wieder aufgelegt.184 Mit eindrücklichen Worten wird hier die »Auferstehung der Civil Society« beschworen, um der Staatlichkeit durch ein »Projekt vermittelnder Strukturen« (Mediation structure Project) entgegenzutreten: »No longer understood to be the instrument of high national purpose, the federal government comes to be seen instead as a distant, alienating, bureaucratic monstrosity. In the wake of this development, it was inevitable that the American people would return to the idea of community that finds expression in small participatory groups such as family, neighborhood, and ethnic and voluntary associations – an idea far more natural and easier to sustain.«185 Und zur Titelfrage »What Is the Role of Civil Society?« erfolgt eine bestechend klare Antwort: »The term for all these nonstatist forms of social life – those rooted in human social nature, under the sway of reasons – is civil society. That term includes natural associations such as the family, as well as the churches, and private associations of many sorts; fraternel, ethnic, and patriotic societies; voluntary organizations such as the Boy Scouts, the Red Cross, and Save the Whales; and committees for the arts, the sciences, sports, and |193|education. Human associations come in a multitude of forms. Civil society is normally ›thick‹ with many types of civic association. In free and complex societies such as those of Western Europe and the United States, a single individual is likely to belong to many different associations at once. Some are natural (the family), some are voluntary but enduring across generations, and still others are founded for limited purposes and are quite transitory. In a sense, therefore, the ›mediation structures project‹ is simultaneously a project in the strengthening of civil society, as defined over against the state.« Schließlich holt der Autor dieser Zeilen zur Vision auf das 21. Jahrhundert aus: »The logic of the past sixty years led to an overpromising, underachieving state. A correction, of course, is both essential and healthy. If the twentieth century unfolded under the sign of the state, pictured as a beneficent mother sheltering her children at her bosom, the twenty-first century is likelier to see a rebirth of the idea of freedom, in communities of men and women eager to practice self-government both in their private and in their public lives.«186 Diese Publikation bildet den Ausgangspunkt für den Kernbegriff des »mitfühlenden Konservatismus«, der weit über die Partei des heutigen Präsidenten hinaus auch im Lager der demokratischen Partei seine Anhänger gefunden hat und die Sozialhilfe nicht mehr durch staatliche Stellen, sondern vermehrt durch kirchliche Organisationen lenken will, nicht zuletzt in der erklärten Absicht, zusammen mit der Hilfeleistung auch einen spirituellen Einfluß auf die Bedürftigen auszuüben.187

Bei allen unterschiedlichen Bedeutungen, die dem Begriff der Zivilgesellschaft beigemessen werden, läßt sich somit grundsätzlich unterscheiden zwischen einem »entstaatlichenden« Konzept der Zivilgesellschaft, welches seine Wurzeln jenseits des Atlantiks hat, und einem solchen, das geeignet ist, staatspolitische Identität nach europäischem Muster zu stützen und zu fördern. Diese beiden Konzepte schließen sich gegenseitig aus.188 Vor dem Hintergrund eines US-amerikanischen »Staats«-Verständnisses macht es Sinn, die Zivilgesellschaft wo immer möglich »anstelle« der staatlichen Institutionen treten zu lassen; |194|dies setzt aber voraus, daß sich die öffentliche Ordnungsstruktur aus anderen Rastern ableitet, nämlich aus gemeinschaftlichen, religiösen und nationalen. Anders die europäisch verstandene Zivilgesellschaft, welche nur im Rahmen staatspolitischer Identität gedeiht. Fehlt die staatspolitische Grundstruktur, so bleiben alle Mühen vergebens. Ich habe über Jahre beobachten können, wie in Bosnien zahllose Vertreterinnen und Vertreter von nichtstaatlichen Organisationen, vereinzelt aber auch solche von internationalen oder nationalen Projekten, landauf und landab zogen, in der wohlmeinenden Absicht, die Zivilgesellschaft zum Leben zu erwecken, während das Land zunächst noch viel verzweifelter der staatspolitischen Identität und seine Bewohner der staatsbürgerlichen Identität bedurft hätten, um die monolithische ethnische Identität überhaupt überwinden zu können. Eine europäisch verstandene Zivilgesellschaft kann ohne staatspolitische Identität ihrer Mitglieder nicht zum Tragen kommen. Und die US-amerikanisch verstandene Zivilgesellschaft macht in Europa keinen Sinn.189

In Europa ist der Begriff der »Bürgergesellschaft« schon eine glücklichere Wahl als die »Zivilgesellschaft«, obwohl auch darunter Verschiedenes verstanden werden kann. Bei der Verwendung beider Begriffe, insbesondere aber jenes der »Zivilgesellschaft«, ist es unerläßlich, genauer zu umschreiben, was damit gemeint ist. Wird der Begriff sowohl im europäischen als auch im US-amerikanischen Verständnis verwendet, so kann dies zu recht eigenartigen Situationen führen: Aus der Tätigkeit internationaler Aufbauhelferinnen und -helfer aus aller Welt in Krisengebieten, wo es um den Wiederaufbau staatlicher – oder eben »staatlicher« – Strukturen geht, können an die Bewohnerinnen und Bewohner des betreffenden Landes sehr widersprüchliche Signale ergehen, die in der öffentlichen Diskussion Verwirrung hervorrufen. Und es kann auch zu Aktivitäten kommen, die sich gegenseitig in der Tendenz neutralisieren. Daß sich das US-amerikanisch verstandene »entstaatlichende« Konzept der Zivilgesellschaft auf dem mittelosteuropäischen Markt befindet, kann nicht verwundern, denn es ergibt sich aus dem Ablauf der Revolutionen von 1989, wie sie im letzten Kapitel |195|beschrieben worden sind. Eher schon verwunderlich mutet es an, daß dieses Konzept auch auf dem westeuropäischen Markt anzutreffen ist. Ein Grund dafür kann die relativ kurze Zeitspanne sein, die seit 1989 verstrichen ist und in welcher transatlantische Differenzen – insbesondere jene ideengeschichtlicher Natur – überhaupt erst aus dem Schatten des Kalten Krieges hervorgetreten sind, so daß sie erst nach und nach wahrgenommen werden können.

Angelpunkt »Recht«

Will man das europäische und das US-amerikanische Rechtsverständnis vergleichen, so bietet sich etwas verkürzt eine Formel an, die sowohl auf die Rechtsverhältnisse zwischen den Privaten als auch auf jene zwischen den Staaten angewendet werden kann: Europa braucht die »Stärke des Rechts«, während sich das US-amerikanische Muster auch mit dem »Recht des Stärkeren« begnügen kann.190 Nur wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, kann Europa die konkreten Handlungsspielräume ausnützen, welche im Bereich des Rechts bestehen: Wenn erstens die europäische rechtspolitische Identität klar und ohne Umschweife benannt wird, einschließlich ihrer Hintergründe und ihrer Ziele, und dies insbesondere in jenen Punkten, in denen sie sich von der US-amerikanischen unterscheidet. Wenn zweitens diese Identität in konsistenter Weise erkennbar gemacht wird. Und wenn drittens diese Identität international mit einer absoluten Konsequenz vertreten wird. Geschieht dies nicht, so beißt sich – bildlich gesprochen – die Katze gleichsam in den eigenen Schwanz: Wenn sich nämlich das Konzept »Stärke des Rechts« und das Konzept »Recht des Stärkeren« gegenüberstehen, so heißt das noch lange nicht, daß sich »Recht« und »Unrecht« gegenüberstehen, sondern es sind einfach verschiedene Konzepte. Es hat somit keinen Sinn, daß der Protagonist der »Stärke des Rechts« zum Protagonisten der Gegenposition wörtlich sagt, er trete für die Stärke des Rechts |196|ein, weil nämlich der Protagonist dieser Gegenposition umgehend Zustimmung bekundet, denn er versteht unter Recht eben gerade das »Recht des Stärkeren«, welches der andere nicht gemeint hat. Die Auseinandersetzung kommt erst dadurch in Gang, daß das »Recht« hinterfragt wird und die rechts- und staatspolitische Identität benannt wird, die hinter dem jeweiligen Rechtsverständnis steht. Und da jeder Protagonist des Konzeptes »Recht des Stärkeren« nur auf einen Verhandlungspartner einzugehen bereit ist, den er für stark genug hält, braucht der Protagonist der »Stärke des Rechts« eine Doppelstrategie: Für die Auseinandersetzung mit dem Protagonisten der Gegenposition muß er sich der Methode seines Gegenübers bedienen, sonst erreicht er nichts. Insbesondere erreicht Europa nichts, wenn es die Vereinigten Staaten für ihr Verhalten moralisch kritisiert, denn erstens interessiert dies jenseits des Atlantiks nur sehr wenige Leute, und zweitens wird es gar nicht verstanden, denn zu unterschiedlich sind die moralischen Prämissen, von denen diesseits und jenseits des Atlantiks ausgegangen wird. Jenseits des Atlantiks wird nur eine Sprache verstanden, jene der klaren und konsistenten politischen Haltung, die unnachgiebig vertreten wird.191 Es ist am aussichtsreichsten, wenn Europa klar sagt, was es selbst zu tun gedenkt, auf welche Prinzipien es dabei abstellt, und wenn es sich in der Folge strikt an diese Prinzipien hält.

Vor allem aber hat es keinen Sinn, aus der Gegenüberstellung der beiden Konzepte eine moralische Frage machen zu wollen. Es gibt nun einmal diesseits und jenseits des Atlantiks eine unterschiedliche Ideengeschichte, und sie ist auf beiden Seiten Jahrhunderte alt. Die beiden Konzepte stoßen heute nur deshalb häufiger und intensiver zusammen, weil die Welt so klein geworden ist. Unter dem Titel »Ein Protektorat wird selbständig« hat Egon Bahr im Frühahr 2000 die Zukunft Europas folgendermaßen skizziert: »Gewaltverzicht war die vertragliche Umsetzung einer Erkenntnis: Die Stärke des Schwachen ist das Recht, das auch für Stärkere verbindlich ist. Es erscheint als Königsweg, wenn Europa seine Schwäche zu seiner Stärke macht, indem es durch Verträge, durch kontrollierbare Bindungen, |197|durch Zusammenarbeit, durch präventive Diplomatie eine Stabilität schafft, in der das Gewicht des Militärischen geringer wird.«192 Später hat er diese Idee weitergeführt und eine mögliche »Arbeitsteilung« zwischen den Vereinigten Staaten und Europa vorgeschlagen: »Während Amerika seine militärische Kulisse entwickelt, sollte Europa seine Politische entfalten, damit die Militärische möglichst nicht genutzt werden muss. Es wäre eine Arbeitsteilung, die Amerika nichts von seiner Stärke nimmt, vielleicht einen Krieg erspart, und den Schwächeren, also den meisten Ländern, die Chance gibt, die Stärke des Rechts zu fördern.«193

Das Bestechende an dieser Arbeitsteilung besteht – um das Bild der Kulisse wieder zu verwenden – in der Unterbringung von zwei Bühnen in zwei verschiedenen Bühnenhäusern: Auf der Bühne vor der militärischen Kulisse wird wohl immer die Musik des »Rechts des Stärkeren« mit ihren mächtigen Paukenschlägen gespielt werden, das bringt schon die Kulisse mit sich. Aber auf der anderen Bühne vor der nichtmilitärischen Kulisse kann die Melodie der »Stärke des Rechts« gespielt werden, wenn sich genügend Orchestermitglieder finden, die diese Melodie zu spielen wissen. Und aufgrund der Trennung der beiden Bühnenhäuser kann diese Melodie hier ungestört von den mächtigen Paukenschlägen im andern Bühnenhaus auch wirklich gehört werden. Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 kann wohl kaum mehr jemand die Augen davor verschließen, daß zwischen Europa und den Vereinigten Staaten Differenzen zu Tage getreten sind, die sich alle entlang der Linie »Stärke des Rechts« – »Recht des Stärkeren« bewegen. Sie betreffen vor allem die künftige internationale Rechtsordnung, ob man diese nun als klassisches Völkerrecht oder als Vorstufe zu späterem »Weltrecht« sieht. Die Bestandsaufnahme ist einfach: »Die USA sind derzeit nicht mehr bereit, internationale Rechenschaft zu akzeptieren. So wie sie laufend Vereinbarungen ablehnen, die der Supermacht die gleichen Verpflichtungen auferlegen wie anderen Ländern, wollen sie auch das internationale Recht von ihren Grenzen fern halten«, analysiert Christian Schmidt-Häuer.194 Rein machtpolitisch kann hier nicht erörtert |198|werden, ob Europa in der Auseinandersetzung zwischen den Vereinigten Staaten und dem »Rest der Welt« eine Rolle zukomme und allenfalls welche. Zu stellen ist hier jedoch die Frage nach der Rolle Europas im ideengeschichtlichen Aspekt dieser Auseinandersetzung: Europa ist wie kein anderer Kontinent in der Lage, die ideengeschichtlichen Wurzeln der gegenwärtigen Auseinandersetzung um Entstehen oder Nichtentstehen einer internationalen Rechtsordnung zu analysieren und aus dieser Analyse Handlungsperspektiven abzuleiten. In jenen Belangen der Identität, welche dem Widerstand der Vereinigten Staaten gegen das Heranwachsen einer internationalen Rechtsordnung zugrunde liegen, entstand die Neue Welt jenseits des Atlantiks nämlich seit jeher als Antithese zu Europa.

Im folgenden werden – im Sinne von Beispielen und ohne Anspruch auf irgendwelche Systematik – noch einige Themen aufgegriffen, in welchen ansatzweise eine US-Amerikanisierung im europäischen Rechtsdenken auszumachen ist. Wenn Europa seine Rolle in der ideengeschichtlichen Analyse der transatlantischen Differenzen wahrnehmen will, braucht es diesbezüglich eine große Sensibilität. Die Beispiele beschränken sich auf den Bereich der Menschenrechte und des Völkerrechtes.195 Eine Beeinflussung der US-amerikanischen Rechtstradition durch Europa findet kaum statt. Dennoch soll der Vollständigkeit halber erwähnt werden, daß transatlantische Unterschiede im Rechtsdenken vereinzelt auch in den Vereinigten Staaten thematisiert werden, und dies nicht nur in einem Sinne, der sich gegenüber Europa verschließen würde, im Gegenteil: Das Interesse von US-Amerikanerinnen und Amerikanern an der europäischen Rechtstradition ist häufig in der Suche nach Alternativen begründet.196

Rechtsordnung und »Freiwilligkeit«

Der individuelle Souveränitätsverzicht hat in Europa zur Bildung von Staatlichkeit geführt, in deren Rahmen die Staatsbürger in demokratischen Verfahren eine gemeinsame Rechtsordnung |199|beschließen, der sie sich alle gleicherweise unterstellen. In dieser Rechtsordnung gibt es Bereiche, in welchen alle Rechtsunterworfenen gleich handeln müssen – nämlich »obligatorisch« –, und andere Bereiche, in denen das Handeln »freiwillig« ist. Schulbesuch im Kindesalter ist obligatorisch geregelt, Straßenverkehrsregeln sind obligatorisch, Sicherheitsvorkehrungen generell sind obligatorisch, weil sie ja sonst nichts nützen würden, dies um nur einige Beispiele zu nennen. Alles, was nicht obligatorisch ist, gilt als freiwillig, aber auch dieser Bereich untersteht der gemeinsamen Rechtsordnung, die auf den individuellen Souveränitätsverzicht zurückgeht.197 Das USamerikanische Verständnis der »Freiwilligkeit« ist anders definiert, es bedeutet dasselbe wie »nichtstaatlich«. Die US-amerikanisch verstandene »Freiwilligkeit« ist gleichsam auch der Gegenbegriff zum individuellen Souveränitätsverzicht, der jenseits des Atlantiks negativ besetzt ist. Da eine europäisch verstandene Rechtsordnung den individuellen Souveränitätsverzicht aber voraussetzt, kann der US-amerikanisch verstandene Begriff der »Freiwilligkeit« auch als Gegenbegriff zu einer europäisch verstandenen Rechtsordnung verwendet werden. Zwar existiert eine Bedeutung der »Freiwilligkeit«, welche entsprechend obiger Definition auf beiden Seiten des Atlantiks durchaus zutrifft. Die Formulierung, ein bestimmtes Verhalten solle nicht gesetzlich vorgeschrieben oder gesetzlich verboten werden, sondern man hoffe, die Privaten würden dieses Verhalten von sich aus, eben »freiwillig« einhalten oder »freiwillig« unterlassen, macht auch im europäischen Sprachgebrauch Sinn. Insofern »freiwillig« den Gegenbegriff zur rechtlich verbindlichen Regelung darstellt, ist die Bedeutung dieses Begriffes auf beiden Seiten des Atlantiks dieselbe. Ein Beispiel für die Umsetzung solcher »Freiwilligkeit« ist die Schaffung sogenannter »Labels«: Es werden Richtlinien aufgestellt, bei deren Einhaltung Produzenten ihre Produkte mit dem entsprechenden Label versehen dürfen. Zum Beispiel ökologische Anliegen lassen sich auf diese Weise unter Umständen mittels Marktmechanismen durchsetzen, und dies gelegentlich sogar rascher als über gesetzliche Regelungen. Es ist dies auch ein Beispiel für die |200|Suche nach neuen Formen der Zusammenarbeit staatlicher und nichtstaatlicher Instanzen und Institutionen.

Am »unfreiwilligen« Ende der Skala, welche diesseits des Atlantiks mit »freiwillig – obligatorisch« und jenseits des Atlantiks mit »freiwillig – staatlich« überschrieben wird, findet man somit dieselben Dinge vor, zum Beispiel die Regel des Rechtsfahrens oder Linksfahrens auf der Straße, deren Einhaltung nun einmal nicht freiwillig sein kann. Jedoch ist nur dieses Ende der Skala identisch, am anderen Ende trennen sich die Linien, weil die Gegenbegriffe nicht dieselben sind. Ein Beispiel für diesen transatlantischen Unterschied ist die sogenannte »Freiwilligen-Arbeit«, mit welcher der US-Amerikaner all jene Tätigkeiten bezeichnet, die vom Netzwerk der unzähligen »freiwilligen Vereinigungen« ausgehen und die an die Stelle des Staates treten. Daß die Vereinten Nationen das »Jahr der Freiwilligen-Arbeit« ausgerufen haben, macht zwar inhaltlich auch für Europa durchaus Sinn, und in diesem Jahr haben in vielen europäischen Staaten Diskussionen begonnen über das Verhältnis zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit, über Tätigkeiten in der »Freizeit« neben einer Berufsarbeit, über haupt- und nebenberufliche Arbeit, über Tätigkeiten, die vor allem das Gemeinwohl im Auge haben, über den Begriff des »Ehrenamtes« und andere Bezeichnungen. Vor allem wurde auch diskutiert über die Einbettung dieser Art von Tätigkeiten in ein förderliches Umfeld. Was hingegen für Europa keinen Sinn macht, ist die Bezeichnung solcher Tätigkeiten als »Freiwilligen-Arbeit«. Rein sprachlich betrachtet handelt es sich hier für den Kontinent Europa gewissermaßen um einen Betriebsunfall: Diese Bezeichnung entbehrt in Europa jeglicher Grundlage, weil »freiwillig« in Europa nicht die Bedeutung von »nichtstaatlich« hat, sondern jene von »nichtobligatorisch«. Wird der Begriff in Europa trotzdem verwendet, so trägt er ein hintergründig »entstaatlichendes« Element in den Sprachgebrauch hinein, welches zwar sehr wenigen bewußt, aber um so problematischer ist.

Daß der Begriff der Freiwilligkeit in seiner US-amerikanischen Bedeutung für Europa nicht verwendbar ist, belegt auch die Übertragung dieses Begriffes auf den Bereich des Völkerrechtes, |201|wie sie kürzlich vom US-amerikanischen Verteidigungsministerium vorgenommen worden ist. In einer rückblickenden Analyse des Afghanistan-Krieges und in einem Ausblick wurde die diesbezügliche Strategie der Vereinigten Staaten folgendermaßen charakterisiert: Im 21. Jahrhundert würden Kriege von »Koalitionen von Willigen« geführt werden, und zwar unter US-Führung. Betont wurde, daß die Vereinigten Staaten im Afghanistan-Krieg selbst die Führung der militärischen Aktionen übernommen hätten, jedoch ganz bewußt ohne den Koalitionspartnern zu erlauben, das Kriegsziel mitzubestimmen.198 Mit diesem Konzept der »Koalition der Willigen« wird eine Art Freiwilligen-Ideologie nun auch auf die völkerrechtliche Ebene gehoben. Betreffend den Souveränitätsverzicht ist hier eine vollständige Analogie feststellbar: Genauso wie die US-amerikanische Interpretation von »Freiwilligkeit« im individuellen Bereich bedeutet, daß sich das Individuum keinen rechtlichen und somit für alle gleicherweise geltenden Vorgaben unterziehen will, weil der US-Amerikaner nicht bereit ist, auf seine souveräne Urfreiheit zugunsten einer gemeinsamen Rechtsordnung zu verzichten, genauso wollen sich die Vereinigten Staaten in Zukunft offenbar keinen Vorabsprachen mit ihren Alliierten mehr unterziehen, weil sie jederzeit uneingeschränkte und absolute Souveränität beanspruchen und nicht bereit sind, auch nur den geringsten Verzicht auf diese Souveränität einzugehen. Das Konzept der »Koalition der Willigen« untergräbt die umfassende Einbindung der Völkergemeinschaft und dient dazu, die völkerrechtliche Ordnung zu schwächen. »Freiwilligkeit« nach USamerikanischem Muster ist der Gegenbegriff zum individuellen Souveränitätsverzicht, genauso wie die Freiwilligkeit im Sinne der »Koalition der Willigen« nach US-amerikanischer Vorstellung den Gegenbegriff zum Souveränitätsverzicht der Staaten darstellt. Mit dieser sprachlichen Neuschöpfung soll – im Sinne ihrer US-amerikanischen Erfinder – der Prozeß gefördert werden, in welchem anstelle der »Stärke des Rechts« im europäischen Sinne das »Recht des Stärkeren« tritt.

Es gilt deshalb eine sehr vorsichtige Abgrenzung vorzunehmen, |202|auch zwischen der Ebene der bestehenden staatlichen Gesetzgebung und der internationalen Ebene: Im innerstaatlichen Bereich kann sich Freiwilligkeit in gutem Zusammenspiel mit gesetzlicher Regelung als sinnvoll erweisen. Sofern dies innerstaatlich der Fall ist, spricht nichts gegen ein analoges Vorgehen auf internationaler Ebene. Wo es hingegen um die Schaffung einer künftigen internationalen Rechtsordnung geht, ob man diese nun als klassisches Völkerrecht oder als Vorstufe zu späterem »Weltrecht« sieht, kommt der Ruf nach Freiwilligkeit praktisch immer der Ersetzung der »Stärke des Rechts« durch das »Recht des Stärkeren« gleich. Eines der augenfälligsten Beispiele für eine aus europäischer Sicht negative Umsetzung von »Freiwilligkeit« sind wiederum die Menschenrechte: An sich wäre es erfreulich, wenn sich international tätige Konzerne zur Einhaltung von minimalen Menschenrechtsgarantien verpflichten. Wenn sie aber dafür sorgen, daß Staaten, auf welche sie einen Einfluß haben, die internationalen Menschenrechtsverträge und vor allem die individuellen Beschwerdemöglichkeiten nicht anerkennen, dann hat dies verhängnisvolle Konsequenzen: Es führt zu einer Privatisierung der Menschenrechte. Daß privat vereinbarte Menschenrechtsgarantien in der Absicht anerkannt werden, eine staatliche Normierung zu vermeiden, wird heute von den dafür zuständigen Beauftragten der international tätigen Konzerne zum Teil sogar offen ausgesprochen.199

Aus all diesen Gründen sollte Europa mit dem Begriff der »Freiwilligkeit« zurückhaltend umgehen. Wie im Zusammenhang mit der »Zivilgesellschaft« besteht immer die Möglichkeit, genauer zu umschreiben, was gemeint ist. Für »Freiwilligen-Arbeit« können die bereits erwähnten Begriffe wie »bezahlte und unbezahlte Arbeit«, »Ehrenamtlichkeit«, »Gemeinschaftsarbeit« verwendet werden oder andere, die zu definieren wären. Daß zum Beispiel in Deutschland zum selben Thema durch den Bundestag eine Enquete-Kommission »für die Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements« eingesetzt worden ist und daß diese Bezeichnung nun als Oberbegriff für den ganzen Fragenkomplex verwendet wird, spricht für eine Sensibilität in der |203|hier diskutierten Problematik. Einmal mehr soll aber klargestellt werden, daß eine noch mangelnde europäische Sensibilität in solchen sprachlichen Belangen niemandem angelastet werden kann, denn diese Zusammenhänge können erst seit etwas mehr als einem Jahrzehnt wahrgenommen werden. Soweit zum gegenwärtigen Umgang mit der »Freiwilligkeit« auf der Ebene des Individuums.

Was die Ebene der Staaten und ihrer freiwilligen Teilnahme an allfälligen künftigen »Koalitionen der Willigen« anbelangt, ist das Thema für Europa begreiflicherweise von einiger Brisanz, und möglicherweise ist dazu wieder das Bild von den beiden Bühnenhäusern hilfreich: Der militärische Aspekt wird auf der Bühne vor der militärischen Kulisse und in einem Haus verhandelt, wo die Musik der mächtigen Paukenschläge ertönt, und dort werden einige europäische Staaten möglicherweise noch während einiger Zeit ihre individuellen Rollen spielen wollen. Die Sache hat aber auch einen völkerrechtlichen Aspekt, der auf der Bühne vor der nichtmilitärischen Kulisse und im anderen Bühnenhaus thematisiert wird. Da hier die Melodie von der »Stärke des Rechts« durchaus erklingen kann, ohne daß sie von den mächtigen Paukenschlägen des anderen Hauses erschüttert wird, erscheint es als nicht ganz ausgeschlossen, daß mit der Zeit wenigstens auf dieser Bühne eine gemeinsame europäische Haltung formuliert wird. Verfrüht wäre es zweifellos, schon heute davon zu träumen, daß die beiden Bühnen einer gemeinsamen Direktion und Verwaltung unterstellt würden, denn das Bestechende an diesem Bild liegt ja darin, daß die beiden Bühnen zunächst einmal getrennt werden, damit sich die »Stärke des Rechts« formieren kann, ohne durch das »Recht des Stärkeren« behindert zu werden.

Menschenrechte und internationales Strafrecht

Das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes tritt bereits vier Jahre nach seiner Verabschiedung in Rom in Kraft, weil 60 Staaten diesen völkerrechtlichen Vertrag ratifiziert haben. Dies |204|ist ein großer Fortschritt. Warum die Vereinigten Staaten diesen Strafgerichtshof bekämpfen, wurde bereits dargelegt und soll hier nicht wiederholt werden. Hingegen ist auf einen anderen Aspekt hinzuweisen, den ich zunächst mit einem Erlebnis illustrieren will: Wenn ich während meiner Tätigkeit in Bosnien im Lande selbst, aber vor allem auch auf Konferenzen in West- oder Mittelosteuropa oder im sonstigen Gespräch meine Funktion erwähnte, vermuteten neun von zehn Gesprächspartnern spontan, daß ich in Bosnien Material sammeln würde für die Anklagen vor dem internationalen Tribunal in Den Haag. Erläuterte ich kurz die Aufgabe meiner Institution, Beschwerden wegen Menschenrechtsverletzungen entgegenzunehmen, so war es für viele Gesprächspartner dennoch wichtig zu wissen, ob ich Informationen an die Anklagebehörde weiterleite, wenn ich zufälligerweise darauf stoßen würde. Die Gespräche spielten sich mit einer so großen Regelmäßigkeit auf diese Weise ab, daß ich nicht umhin kam festzustellen, in der Öffentlichkeit herrsche offenbar der Eindruck vor, Verfahren zum Schutze der Menschenrechte bestünden vorwiegend in der strafrechtlichen Verfolgung von Personen, die an Menschenrechtsverletzungen als Straftäter mitbeteiligt waren. Diese öffentliche Meinung hat sich in letzter Zeit noch verstärkt. Bevor das problematische an dieser Sicht dargelegt wird, sei nochmals festgehalten: Die Errichtung des weltweiten Internationalen Strafgerichtshofes, wie er mit dem Statut von Rom am 17. Juli 1998 geschaffen wurde, ist eine ganz große Errungenschaft in der Menschheitsgeschichte.

Diese Errungenschaft hat aber in der Rechtssystematik mit dem klassischen Menschenrechtsschutz nur am Rande zu tun. Strafrecht regelt die Verletzung strafrechtlich geschützter Rechtsgüter, die durch Individuen begangen werden, wobei das innerstaatliche Strafrecht einen langen Katalog von Straftatbeständen formuliert hat, während das internationale Strafrecht sich zur Zeit beschränkt auf Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Menschenrechte hingegen können nur durch Staaten verletzt werden, und diese Staaten handeln durch Behörden sowie durch Individuen |205|in staatlicher Funktion oder allenfalls in Anmaßung einer staatlichen Funktion. Ein kurzes, grausames, aber um so klareres Beispiel soll den Unterschied verdeutlichen: Wenn jemand einen anderen grausam tötet, dann ist das ein Mord, der vom Staat strafrechtlich verfolgt und bestraft wird. Das Leben ist ein vom Staat geschütztes Rechtsgut, und wer ein solches verletzt, wird strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen. Eine Menschenrechtsverletzung liegt im eben genannten Fall jedoch nicht vor. Wenn hingegen jemand einen anderen grausam tötet und ein Polizist steht daneben und unternimmt nichts, dann ist es sowohl ein Mord als auch eine Menschenrechtsverletzung: Der Mord wurde durch den Mörder begangen, die Menschenrechtsverletzung hingegen durch den Polizisten, der im Namen des Staates hätte handeln und das staatliche Gewaltmonopol hätte zur Anwendung bringen sollen, der aber seine staatliche Schutzfunktion nicht wahrgenommen hat. Die Nachkriegssituation in Bosnien wurde im ersten Kapitel eingehend geschildert. Es liegt auf der Hand, daß in dieser »rechts- und staatslos gewordenen« Gesellschaft Situationen, wie die eben geschilderte, absolut im Zentrum unserer Arbeit standen, auch wenn sie sich zum Glück immer seltener ereigneten. Die Konstellation, die dem geschilderten Vergleich zugrunde liegt, war deshalb so zentral, weil viele Behörden und die Polizei in eine monolithische ethnische Identität hinübergeglitten waren, selbst wenn sie nicht zu den nationalistischen Hardlinern gehörten. Handeln im Namen einer Ethnie ist jedoch nicht Handeln im Namen des Staates, so daß »privat« und »öffentlich« durcheinandergeraten: Private schwingen sich zu Hütern der »öffentlichen Ordnung« auf, welche dadurch entstaatlicht wird, also privatisiert.

Für die Bewahrung der Menschenrechte – als wohl größte Errungenschaft der Menschheit im vergangenen Jahrhundert – ist es äußerst wichtig, immer klar zu unterscheiden zwischen den staatlich geschützten Rechtsgütern und ihrer Verletzung durch Privatpersonen einerseits und der Verletzung von menschenrechtlich garantierten Rechtsgütern durch den Staat andererseits. Auch wenn das Rechtsgut dasselbe sein kann, Leben, |206|körperliche Integrität oder Eigentum, so sind die beiden Situationen grundverschieden. In der erstgenannten Situation sind an der Verletzung ausschließlich Private beteiligt, als Opfer und als Täter. Der Staat tritt auf den Plan als Ankläger und Richter im nachfolgenden Strafverfahren, möglicherweise als Richter über Schadenersatzforderungen des Opfers gegenüber dem Täter, und allenfalls wird der Staat auch noch aufgrund einer Opferhilfegesetzgebung aktiv.200 Strafrechtlich konnten Individuen seit jeher zur Rechenschaft gezogen werden. Im Bereich der Menschenrechte hingegen erfolgte der Durchbruch ihrer Kodifizierung erst nach dem zweiten Weltkrieg, und nun wurde es möglich, auch die Staaten zur Rechenschaft zu ziehen, nämlich im Verfahren des klassischen Menschenrechtsschutzes vor internationalen Gremien der Staatengemeinschaft. Das Grundmuster für dieses Verfahren stammt aus dem angelsächsischen Recht, hat sich bezüglich der Menschenrechte weltweit durchgesetzt und in Europa seine bisher weitestgehende Umsetzung erfahren.

Seit den Anfängen der internationalen Kodifizierung der Menschenrechte gab es immer einen zentralen Zusammenhang zwischen diesen und dem Strafrecht, indem nämlich die Rechte von Straftätern, insbesondere von inhaftierten Personen spezifiziert wurden: Haftbedingungen, Schutz vor Folter, Rechte des Angeschuldigten im Verfahren. Hingegen ist die Thematisierung der Opfer von Straftaten im Zusammenhang mit den Menschenrechten eine relativ junge Erscheinung, und diesbezüglich sollte die Diskussion mit großer begrifflicher Klarheit geführt werden. Die Einführung von »Völkerstrafrecht« – und um solches handelt es sich in den Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof – dient ebenfalls dem Schutz der Menschenrechte, aber darin besteht die einzige Gemeinsamkeit zwischen dem Völkerstrafrecht und dem klassischen Menschenrechtsschutz. Die Gesamtheit des Menschenrechtsschutzes besteht aus drei Kategorien: Der klassische Menschenrechtsschutz, das humanitäre Völkerrecht und das Völkerstrafrecht. Dabei stellt der klassische Menschenrechtsschutz die Hauptachse dar, auf welcher sich die Idee der |207|Menschenrechte seit 1948 kontinuierlich weiterentwickelt. Sie taugt für Friedenszeiten und behält auch in Notstandssituationen – also in Zeiten menschenrechtlicher »Rückfälle« – gewisse Funktionen. Das humanitäre Völkerrecht hingegen sowie das Völkerstrafrecht kommen nur in solchen Notstandssituationen zur Anwendung, wenn es nämlich bereits zu massenhaften und besonders schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen gekommen ist. Die Hauptachse des klassischen Menschenrechtsschutzes behält übrigens in diesen Notstandssituationen eine wichtige Funktion, denn es ist definiert, welche Menschenrechte auch dann noch respektiert werden müssen.201 In der Notstandssituation kommt dann aber das humanitäre Völkerrecht sowie das Völkerstrafrecht zu Hilfe. Erst in Ausnahmesituationen wird das Völkerstrafrecht gleichsam zum »›verlängerten Arm‹ des allgemeinen Menschenrechtsschutzes«.202

Wenn nun – wie es zunehmend der Fall zu sein scheint – das Völkerstrafrecht als Hauptachse im Schutz der Menschenrechte gesehen wird, so bedeutet dies eine enorme Schwächung der Idee der Menschenrechte, da sich die Sicht auf den Notstand verengt. Es ist das gleiche, als wenn man erklären würde, das allgemeine Völkerrecht sei nicht so wichtig, denn man verfüge ja für den Notfall über das humanitäre Völkerrecht. Darüber hinaus aber verengt diese Sicht den Blick auf die Individuen und lenkt ab von der Verantwortung der Staaten. Er bewirkt in der öffentlichen Meinung eine »Individualisierung« der Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen, und dies ist ein Punkt, in welchem sich eine US-Amerikanisierung des europäischen Rechtsverständnisses abzeichnen könnte. Um dies erläutern zu können, ist nochmals auf das transatlantisch unterschiedliche Rechts- und »Staats«-verständnis zurückzukommen, welches sich auch im unterschiedlichen Menschenrechtsverständnis wiederfindet und sich diesbezüglich in der geschichtlichen Entwicklung seit dem zweiten Weltkrieg deutlich abzeichnet: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte hatte ihren Ausgangspunkt in der Privatwohnung von Eleanor Roosevelt, der Gattin des Präsidenten der Vereinigten |208|Staaten, welche gleichgesinnte Frauen und Männer im Februar 1947 dahin eingeladen hatte, ein Akt, der die Welt verändert hat und nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.203 Es wurde davon ausgegangen, daß eine bloße Erklärung das Bewußtsein um die Menschenrechte in der Welt stärken würde, es handelte sich gleichsam um die Umsetzung eines moralischen Appells. Praktisch gleichzeitig griff ein Brite zur Feder und entwarf die Europäische Menschenrechtskonvention – samt Durchsetzungsmechanismus und Gerichtshof –, so daß diese Konvention bereits zwei Jahre nach der Allgemeinen Erklärung verabschiedet wurde. Dies geht einerseits auf die besondere Betroffenheit Europas durch die Geschehnisse des zweiten Weltkrieges zurück.

Ein weiterer Grund liegt jedoch darin, daß Europa Moralvorstellungen ins Recht umsetzen muß, wenn es seiner ideengeschichtlichen Tradition treu bleiben will. Und da in Europa der Staat etwas »Drittes« darstellt, das über den rein horizontalen Gesellschaftsvertrag hinausgeht, bestand nicht nur die Möglichkeit, diesem Staat eine aktive Verantwortung für die Durchsetzung der Menschenrechte zu übertragen und ihn der Staatengemeinschaft gegenüber rechenschaftspflichtig zu machen, sondern es war dies vielmehr eine Notwendigkeit, weil sonst im europäischen Staatsverständnis nicht alle Akteure genügend eingebunden gewesen wären. Dem Rechtsverständnis jenseits des Atlantiks genügte eine reine Erklärung vollauf, denn moralische Grundsätze fließen direkt in die Gesellschaft und in die Prozeßführung vor Gerichten ein. Demgegenüber besteht in Europa die Notwendigkeit, menschenrechtliche Grundnormen in die Rechtsordnungen einzufügen.204 Bereits im Jahre 1948 haben somit Europa und die Vereinigten Staaten das Konzept der Menschenrechte unterschiedlich verstanden, beide entsprechend ihrer jahrhundertealten Prägung. Es ist deshalb kein Zufall, daß Europa sofort einen Schritt weiterging. Es ist aber auch kein Zufall, daß die Vereinigten Staaten die Umsetzung in verbindliche und einklagbare Normen immer ablehnten und bekämpften, und es ist schließlich kein Zufall, daß sich die weltweite Staatengemeinschaft im Rahmen |209|der UNO zwischen diesen beiden Eckpunkten bewegt, aber immer in Richtung auf jenen Eckpunkt hin, der die Verrechtlichung will.

Mit der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofes ist entlang derselben Linie eine Diskussion entstanden, die wiederum nicht zufällig ist. Es wurde die These vertreten, das Völkerstrafrecht stelle die höchste Stufe der Garantie der Menschenrechte dar, da die dadurch eröffnete Sanktionsmöglichkeit den Menschenrechtsgarantien die intensivste Form von Rechtsschutz auf internationaler Ebene verleihe. Dieser These sind europäische Juristen sofort entgegengetreten, unter anderem mit der oben umschriebenen Definition der Rolle des Völkerstrafrechtes und seinem Verhältnis zum klassischen Menschenrechtsschutz: »Über seine Abschreckungswirkung verhilft das Völkerstrafrecht dazu, die Friedensbedingungen zu schaffen, die notwendig sind, damit überhaupt Staatsstrukturen bestehen, innerhalb derer die Umsetzung universeller Wertvorstellungen gewährleistet werden kann. Schließlich sind Staaten die klassischen Verpflichteten menschenrechtlicher Schutznormen.«205

Die These, wonach das Völkerstrafrecht der höchste und wirksamste Schutz der Menschenrechte sei, beruht auf dem US-amerikanischen Rechts- und »Staats«-verständnis, welches für Europa nicht nur keinen Sinn macht, sondern die europäische Menschenrechtskultur schwächen kann, unter anderem auch deshalb, weil es durch die Individualisierung einer »Entstaatlichung« der Menschenrechte Vorschub leistet. Daß seit der Verhaftung General Pinochets in Großbritannien – auch dies eine rein strafrechtliche Angelegenheit – Diktatoren nicht mehr nach Belieben in der Welt herumreisen können, ist eine äußerst positive Entwicklung, die aber nur dann eine positive bleibt, wenn sie nicht falsch eingeordnet wird: Es wäre verhängnisvoll, die Menschenrechtsverletzungen in Chile gleichsam so stark zu personifizieren, daß die Angelegenheit mit dem Tod des Diktators als erledigt gilt. Wer immer in Chile gefoltert hat, muß auch nach dem Tode des Diktators noch zur Rechenschaft gezogen werden können. Menschenrechtlich |210|verantwortlich ist und bleibt immer das Staatswesen, und strafrechtlich verantwortlich ist immer der einzelne Täter. Dies ist die Tradition Europas und weitgehend auch jene der Vereinten Nationen.

Völkerrecht und Moral

Als das klassische Völkerrecht 1648 durch den bereits mehrfach erwähnten Westfälischen Frieden begründet wurde, vereinbarten die europäischen Staaten, nie wieder aus moralischen Gründen gegeneinander Krieg zu führen.206 Damals wurde die Souveränität der Staaten statuiert, verbunden mit einem absoluten Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten der einzelnen Staaten. Genau 300 Jahre nach dem ersten Schritt einigte sich die Menschheit 1948 auf die universale Erklärung der Menschenrechte. Seit 1648 steht fest, daß militärische Intervention das falsche Mittel ist zur Durchsetzung von Moral und statt dessen moralische Anliegen in völkerrechtliche Regelungen einfließen sollen. Seit 1948 steht fest, wie man Menschenwürde sichern will, nämlich durch das Völkerrecht, das Individuum als Subjekt dieses Völkerrechtes und durch einklagbare Menschenrechte. Dieser dreieinhalb Jahrhunderte alten Entwicklung droht heute ein Rückschritt, indem es offenbar salonfähig wird, »im Namen der Menschenrechte« in anderen Staaten militärisch zu intervenieren. Soweit sich europäische Staaten an solchen Aktionen beteiligen, wird damit Europa jedenfalls in gewissen Aspekten das US-amerikanische Konzept im Verständnis der Menschenrechte aufgezwungen. Wie im zweiten Kapitel dargelegt wurde, unterscheidet sich das Menschenrechtsverständnis jenseits des Atlantiks vom europäischen unter anderem dadurch, daß es ein politisches und nicht ein rechtliches ist. Die militärische Intervention, die sich auf die Wahrung der Menschenrechte beruft, wischt mit einem einzigen Federstrich die rechtliche Begründung der Menschenrechte vom Tisch und ersetzt sie durch die politische Zielsetzung. In zweifacher Hinsicht stellt die militärische Intervention »im Namen der Menschenrechte« einen Rückfall hinter das Jahr 1648 |211|dar: Einerseits hebt sie das Prinzip der Souveränität des Staates aus den Angeln, welches seit 1648 die Grundlage bildet für jede völkerrechtliche Ordnung.207 Andererseits hält die Moral wieder Einzug ins Recht. In der Folge der Terroranschläge vom 11. September 2001 wurde offensichtlich, wie leicht moralische Kategorien die Menschenrechte außer Kraft setzen: »Gut« und »Böse« – die moralischen Kategorien par excellence – prägten die öffentliche Auseinandersetzung in den Vereinigten Staaten so stark, daß im Zusammenhang mit Untersuchungen gegen vermutliche Terroristen allen Ernstes das Verbot der Folter in Frage gestellt werden konnte.208

Menschenrechte können nur Bestand haben, wenn Recht und Moral getrennt sind: Nicht nur der tugendhafte Mensch hat diese Rechte, sondern auch der Nichttugendhafte – und gerade jener hat sie besonders nötig –, was immer man unter »nichttugendhaft« verstehen mag. Es gibt heute ausgehend von den Vereinigten Staaten eine Tendenz der »Remoralisierung« der Menschenrechte.209 Europa ist davon durchaus mitbetroffen: Der NATO-Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien war der Versuch, »unter Berufung auf die Legitimität einer universalen Moral die Legalität der bestehenden völkerrechtlichen Ordnung zu relativieren«210, so Preuß. Kollektivstrafen, die nicht Schuldige treffen, können – wenn überhaupt – nur moralisch gerechtfertigt werden, niemals durch das Recht. Viele Menschen in Jugoslawien bezahlten mit ihrem Leben dafür, daß sie sich in ihrem Staat aufhielten, der moralisch disqualifiziert worden war. Zwar ist dieser Aspekt nur einer unter vielen zur Beurteilung des Geschehens, aber er ist im Zusammenhang mit den Menschenrechten – und in deren Namen fand dieser Krieg seitens der NATO schließlich statt – ein sehr wichtiger. Natürlich hat die Moral eine Bedeutung für die Menschenrechte, denn die Motivation, welche die Menschheit dazu gebracht hat, diese Rechte im Jahr 1948 zu kodifizieren und ins Völkerrecht umzusetzen, ist durchaus eine moralische. Mit dieser Umsetzung ins positive Recht werden Recht und Moral jedoch getrennt. Der Rückfall hinter 1948 und erst recht jener hinter 1648 führt zu einer Art »Menschenrechtsfundamentalismus«, |212|der letztlich gegen die Menschenrechte arbeitet.211

In letzer Zeit mehren sich die Stimmen, die verlangen, daß bei derartigen Interventionen, wenn überhaupt, dann internationale Polizeikräfte zum Einsatz kommen sollen, was eine vermehrte Betonung der »Stärke des Rechts« bedeutet, denn militärische Einsätze tendieren immer dazu, unverhältnismäßig zu sein und das Recht zu sprengen, während der Polizeieinsatz – auch wenn er massive Mittel zum Einsatz bringt – ins zivile, also nichtmilitärische Recht eingebunden bleiben muß.212 Diese Haltung ist auch von europäischen Staaten eingebracht und vertreten worden, welche oft durch kleine Schritte zum Erstarken der internationalen Rechtsordnung beitragen können.213 Dies ist um so wichtiger, als sie in der Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten durch die Entwicklung der letzten Jahre US-Pragmatismus auch selbst erfahren haben: Der Golfkrieg war noch von einem UNO-Mandat abgedeckt, im Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien erachteten die Vereinigten Staaten das UNO-Mandat bereits nicht mehr als nötig und setzten auf die NATO. Aber schon im Afghanistan-Krieg erschienen den Vereinigten Staaten die NATO-Partner als eine zu große Einschränkung ihrer Souveränität, jedenfalls was die militärische Aktion anbelangt: Zwar beschlossen die NATO-Staaten auf der politischen Ebene ihre Solidarität, für die militärische Aktion selbst erfand die Großmacht dann aber das neue Konzept der »Koalition der Willigen«. Die Entwicklung ist geradezu rasant. Dies alles spielt sich ab auf der Bühne vor der militärischen Kulisse, wo die Vereinigten Staaten den Ton angeben.

Auf der anderen Bühne, vor der nichtmilitärischen Kulisse des Völkerrechts, können die europäischen Staaten ihre Vorstellungen besser einbringen: in der UNO, in der NATO oder im Entscheid, ob sie an »Koalitionen der Willigen« teilnehmen wollen. Europa kann seine Wertordnung im Rahmen des universell geltenden Völkerrechts selbst definieren. Den europäischen Staaten steht es frei, miteinander zu vereinbaren, wie sie mit Menschrechtsverletzungen umgehen wollen. Sie können |213|die Bereitstellung von polizeilichen Mitteln fördern. Oder sie können einen Beitrag zur »Stärke des Rechtes« leisten, indem sie vereinbaren, daß diese Mittel nur noch mit solchen Partnern zusammen zum Einsatz gebracht werden, welche für sich selbst den Tatbeweis größtmöglichen rechtlichen Menschenrechtsschutzes geleistet haben. Dieser Tatbeweis könnte in der Ratifizierung aller völkerrechtlichen Verträge und ihrer Schutzmechanismen bestehen. Die europäischen Staaten können auch miteinander vereinbaren, daß sie an internationalen Missionen, die auf ihrem eigenen Kontinent zum Einsatz kommen, nur dann teilnehmen, wenn alle Teilnehmenden der Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs unterstellt sind. Wenn man solches vereinbart, hält man der Weltöffentlichkeit keine Moralpredigt, sondern man macht lediglich öffentlich bekannt, nach welchen Kriterien man selbst zu handeln gedenkt. Dies hat einzig und allein zur Folge, daß man zu einem berechenbaren, zuverlässigen und prinzipientreuen Partner wird für alle jene, welche solche Eigenschaften an Partnern schätzen. Ein solches Vorgehen, selbst wenn es von außenstehenden Partnern nicht oder anfänglich noch nicht wahrgenommen oder gar darauf eingegangen wird, stellt schon an sich einen Beitrag dar zur »Stärke des Rechts«.

Die Französische Revolution geht weiter

Dieses letzte Kapitel ist mit »Westeuropa« überschrieben, und einleitend dazu wurde auf die besondere Verantwortung dieser Hälfte Europas hingewiesen, mit dem Weitblick des privilegierten Teils für die Identität des endlich wieder zusammenwachsenden Kontinentes einzustehen. Diese besondere Verantwortung bedeutet nicht Alleingang. Bezüglich des Dreiecks »Westeuropa/Mittelosteuropa/Vereinigte Staaten« haben die beiden Teile Europas unterschiedliche Aktionsmöglichkeiten, und vor allem gehen sie von unterschiedlichen historischen Vorbedingungen aus, die im vorangehenden Kapitel dargelegt |214|worden sind. Seine Identität wird Europa nur im Dialog zwischen den beiden Teilen des Kontinentes finden und benennen können, denn Europa ist heute nur noch als Ganzes ein Kontinent. Das war zwar schon immer so, aber in der Zeit des Kalten Krieges betrachtete sich Westeuropa als »Europa« schlechthin. »Osteuropa war niemals so europäisch wie zu jener Zeit, da es so entfernt von Europa war«, schreibt indessen Imre Kertész. Unter dem Titel »Die Welt als Gegensatz begreifen« führt Drago Jančar aus: »Mitteleuropa hat beides erfahren: das Miteinander verschiedener Kulturen und Menschen, immense Kreativität und Toleranz ebenso wie nationalen und sozialen Haß, niederträchtige Intoleranz und Gewalt. Mit so einer Erfahrung zu leben, mit der Erfahrung von beidem, in diese Erfahrung einzutauchen, bedeutet vieles verstehen, bedeutet auch auf die schönen und die bösen Überraschungen gefaßt sein, die uns im paneuropäischen Zusammenhang erwarten.«214 Es gibt jedoch einen Bereich, in welchem der Ausgangspunkt von Westeuropa und Mittelosteuropa so unterschiedlich ist, daß er hier bezüglich Westeuropa nochmals aufgenommen werden soll. Es geht um die Ablösung der kulturellen von der staatspolitischen Identität, wie sie im vorangegangenen Kapitel bereits skizziert worden ist.

Aufklärung und Romantik

Wie die Aufklärung die »Republik« und die Romantik die »Nation« hervorbrachten und wie sich die beiden in der Französischen Revolution verbündeten, ist beschrieben worden, ebenso der geschichtsbedingte Unterschied in der staatspolitischen Identität Frankreichs und Deutschlands. Dieser Unterschied soll nun im Zusammenhang mit der Ablösung dieser Identität von der kulturellen Identität betrachtet werden. Beide Muster der staatspolitischen Identität sind dem Prozeß dieser Ablösung zum Teil förderlich und zum Teil hinderlich, dies aber auf unterschiedliche Weise. Die staatspolitische Identität nach französischem Muster repräsentiert das aufklärerische, europäisch-republikanische |215|Gedankengut am klarsten und ist deshalb der geeignetste Ausgangspunkt für den Ablösungsprozeß. Hinderlich für diesen Prozeß ist am französischen Muster nur, daß die staatspolitische Identität fast untrennbar eingebettet ist in die kulturelle Identität der französischen Nation und mit dieser intensiver und emotionaler verbunden ist als in vielen anderen westeuropäischen Staaten, worin auch heute noch zum Ausdruck kommt, daß das Bündnis zwischen »Republik« und »Nation« in Frankreich geschlossen wurde. Da das Endstadium des Prozesses jedoch die Trennung genau dieser beider Identitäten ist, erweist sich dieses Hindernis eben doch als recht beträchtlich, obschon die französische staatspolitische Identität dafür eigentlich der ideale Ausgangspunkt wäre. Gerade in diesem Punkt erweist sich das deutsche Muster staatspolitischer Identität für den hier angesprochenen Prozeß zunächst einmal als förderlicher, da staatspolitische und kulturelle Identität in Deutschland immer getrennter geblieben sind als in Frankreich. Darüber hinaus gibt es in Deutschland geschichtsbedingt eine gewisse Zurückhaltung in der Ausformulierung nationaler Identität: Die emotionale Einbettung der staatspolitischen Identität ist weniger »national« als – jedenfalls in der mittleren und älteren Generation – getragen von historischer Einsicht.215 Für eine jüngere Generation wird die emotionale Einbettung der staatspolitischen Identität mit der Zeit möglicherweise geringer werden. Dies wären wiederum keine idealen Voraussetzungen für den erwähnten Prozeß, denn die allmähliche Ablösung der staatspolitischen von der kulturellen Identität hat nicht etwa zum Ziel, die erstere zum Verschwinden zu bringen. Ganz im Gegenteil: Der Sinn dieser Ablösung besteht darin, die staatspolitische Identität über verschiedene vertikale Ebenen der Staatlichkeit hinweg zum Tragen zu bringen und sie dadurch zu stärken, daß sie sich allmählich loslöst einerseits aus dem direkten Bezug zur westeuropäisch verstandenen »Nation«, andererseits aber auch aus dem mitunter sehr belastenden Bezug zu den mittelosteuropäisch verstandenen »Nationen« im kulturellen Sinne. Da der Prozeß für die verschiedenen Regionen Europas recht unterschiedlich abläuft, wird in diesem |216|Kapitel nun Westeuropa für sich allein betrachtet. Einmal mehr sei hier betont, daß der Prozeß in seiner Gesamtheit für den Zusammenhalt von West- und Mittelosteuropa sehr bedeutsam werden könnte, für das Zusammenwachsen Europas womöglich gerade deshalb, weil die Ausgangspunkte verschieden sind, die Entwicklungslinie aber in dieselbe Richtung führt.

Die Elemente der staatspolitischen Identität, welche deren Ablösung von der kulturellen Identität fördern können, sind also sowohl im französischen als auch im deutschen Muster vorhanden, jedoch in ganz verschiedenen Bereichen, und immer jeweils verbunden mit ihrem hinderlichen Gegenstück. Im französischen Muster ist die europäisch-republikanische Staatlichkeit immer noch so gut in die Nation eingebettet, daß man die beiden fast nicht trennen kann, und im deutschen Muster lassen sich Staatlichkeit und Nation zwar trennen, aber gerade, daß sie so getrennt sind, könnte die staatspolitische Identität langfristig schwächen. Dieser Vergleich der staatspolitischen Identität in Deutschland und Frankreich und die scheinbare Ausweglosigkeit der Fragestellung erinnert an das Paradox, welches Ernst-Wolfgang Böckenförde formuliert hat: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.«216 Wenn sich dies schon auf der Ebene des traditionellen Nationalstaates so verhält, um wieviel schärfer muß sich dasselbe Problem dann stellen, wenn es um eine staatspolitische Identität geht, die sich vertikal über verschiedene Ebenen auszudehnen beginnt? Gerade in dieser Ausdehnung über verschiedene Ebenen zeichnet sich aber noch eine andere Dimension ab: Vor 200 Jahren mußte sich die Republik als Kind der Aufklärung mit einem Element der Romantik verbinden, wenn sie wirksam werden wollte. Aufklärung ist offenbar vor allem dann nachhaltig wirksam, wenn sie sich mit der Romantik nicht gerade untrennbar verbindet, aber immerhin romantische Elemente einbezieht. Möglicherweise ist es so, daß die Romantik, wenn man sie in aufklärerischem Übereifer aus dem Hause jagt und die Haustüre hinter ihr verschließt, schon bald durch die Hintertüre wieder hereinkommt, und |217|zwar in einer Form, die im aufgeklärten Haus eine viel größere Unordnung veranstaltet, als es der Fall gewesen wäre, hätte man sie zur vorderen Türe nicht hinausgejagt, sondern sich ihrer maßvollen Unterstützung versichert.

Wie sieht nun das romantische Element aus, welches der aufklärerischen Vernunft heute nachhaltige Wirkung verleihen kann? Der nationale Gedanke kann es nicht mehr sein: Wie bereits dargelegt kann die Romantik in der Form der Nation den Weg der staatspolitischen Identität nach oben nicht mitgehen. Den Weg nach unten könnte sie zwar mitgehen, sollte dies aber nicht tun, aus Gründen, die ebenfalls erwähnt worden sind. Vom Philosophen der Aufklärung par excellence, Immanuel Kant, stammt der Satz: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.«217 Wenn ich diese Worte unbefangen auf mich einwirken lasse, so höre ich durchaus romantische Obertöne: aufklärerische Vernunft unterstützt durch romantische Elemente. So lautet denn die Frage: Gibt es eine klare Grenze zwischen der Romantik, welche die Aufklärung zerstört, und jener, welche sie mit zum Tragen bringt? Als generell gestellte soll diese Frage hier offenbleiben. Hinsichtlich der staatspolitischen Identität sei jedoch eine Antwort versucht, zunächst etwas verkürzt, danach differenzierter. Die verkürzte Formel könnte etwa lauten: Inklusive Romantik kann aufklärerische Vernunft unterstützen, exklusive Romantik zerstört die aufklärerische Vernunft. Und etwas differenzierter kann diese Formel – immer beschränkt auf den Anwendungsbereich der staatspolitischen Identität – folgendermaßen begründet werden: Nationalistische Gemeinschaftsvorstellungen beruhen auf exklusiver Romantik, sie basieren auf einer Ausgrenzung des »Anderen«, sie schließen das »Andere« aus: Wir sind gut, die »Anderen« sind weniger gut, wenn nicht gar böse, wir wollen unter uns sein, die »Anderen« werden »ethnisch weggesäubert«, das »Böse« muß ausgerottet werden, und wie immer die Redensarten lauten, welche jeder staatspolitischen Identität |218|entgegenstehen: Identität durch Abgrenzung und durch Zugehörigkeit ausschließlich zum abgegrenzten Teil. Das Gegenstück ist die universelle Sicht, die hier als inklusive Romantik bezeichnet worden ist: Zwar gibt es in dieser Sicht durchaus auch das »Andere«, aber dieses ist nicht gut und nicht böse, es ist einfach anders, und es soll durchaus »anders« bleiben dürfen, ich muß dieses »Andere« weder an meine Lebensumstände angleichen, noch verlangt es so etwas von mir. Ich darf fremd bleiben, wenn ich will, er oder sie dürfen fremd bleiben, wenn sie wollen, und dies alles basiert auf dem unumstößlich universalen Grundsatz, daß jeder Mensch gleich viel wert ist: Identität durch Zugehörigkeit zum Ganzen. Die Idee der Menschenrechte ist eine konkrete Umsetzung dieses Prinzips.

Der entscheidende Punkt liegt aber darin, daß das universelle Prinzip gleichzeitig ein individualistisches ist: Es betont die unverwechselbare Eigenheit jedes einzelnen Menschen, schon deshalb widersetzt es sich der Identitätsfindung über die Gemeinschaft, und erst recht widersetzt es sich einem Gruppenbildungsobligatorium.218 Das universelle Prinzip erachtet es als des Menschen geradezu unwürdig, ihn gegen seinen Willen immer wieder an Grenzen zu stellen, wo er sich entscheiden muß, ob er zu einer bestimmten Gruppe dazugehört oder nicht: Der einzelne Mensch ist so unverwechselbar, daß ihm das nicht zugemutet werden darf. Und gerade deshalb führt das universelle Prinzip zur existentiellen Zugehörigkeit, die keiner Bekenntnisse bedarf. Ich werde das Gespräch nie vergessen, welches ich schon wenige Monate nach dem Beginn meiner Arbeit in Bosnien anläßlich eines Kongresses im Ausland mit einem Intellektuellen führte, der zu Beginn des Krieges aus Bosnien geflüchtet war und der mir auf meine Frage, ob er nicht zurückzukehren gedenke, die Antwort gab, er sei dazu in der gegenwärtigen – also damaligen – Konstellation nicht in der Lage: Es verletze ihn zu sehr, von allen Leuten immer wieder gefragt zu werden, ob er bosnischer Serbe, bosnischer Kroate oder Bosniake sei, denn er sei ein Mensch mit der diesem Menschen zukommenden individuellen Würde. Der Betreffende war durch das Kriegsgeschehen |219|nicht direkt traumatisiert, aber es war für ihn eine Frage der Menschenwürde, daß er nicht bereit war, derartige Fragen zu beantworten.

Romantische Gefühle beruhen auf emotionaler Nähe, auf dem Gefühl für das »Besondere«.219 Dieses Besondere kann auch der einzelne Mensch in seiner Unverwechselbarkeit sein, dem die emotionale Verbundenheit gilt. In dieser Sichtweise ist das Universelle nicht mehr »abstrakt« und »kalt«, wie es Ernest Gellner beschrieben hat, als Ausgangspunkt für die seinerzeitige Erfindung der »Nation« durch die Romantik. Vielleicht liegt es daran, daß die Welt heute so klein geworden ist und wir auch weit entfernt lebende Menschen in Bildern sehen können: Jedenfalls ist emotionale Verbundenheit mit allen Menschen heute denkbar und möglich durchaus als ein Gefühl mit romantischem Anklang der Zuwendung und des Mitgefühls. Möglicherweise ist es dieser Gedanke der Verbundenheit mit dem einzelnen Menschen, die anklingt im zitierten Satz von Kant, der vor mehr als zweihundert Jahren geschrieben worden ist. Um nun auf den Vergleich zwischen dem deutschen und dem französischen Muster staatspolitischer Identität zurückzukommen und zur Frage, was die beiden Muster zum Prozeß der Ablösung staatspolitischer Identität von der kulturellen Identität beitragen können: Das romantische Element, welches die staatspolitische Identität als »République« vor 200 Jahren zu Hilfe nahm, um Wirksamkeit entfalten zu können, nannte sich zwar und nennt sich immer noch »Nation«. Aber von den napoleonischen Kriegen bis heute war diese »Nation« praktisch nie Trägerin von Inhalten, welche hier als »exklusiv romantische« bezeichnet worden sind. Von allem Anfang an stand die französische »Nation« im Zeichen von universalen und individualistischen Prinzipien, die hier als »inklusiv romantische« bezeichnet worden sind. Wenn Frankreich nach der Revolution, beginnend mit den napoleonischen Kriegen, anderen europäischen Staaten oder kolonisierten Gebieten in die Quere kam, so lag Großmachtstreben zugrunde, nicht aber Verklärung der Nation im Sinne ethnisch-romantischen Gemeinschaftsdenkens.

|220|Daß sowohl der Begriff »Nation« als auch der Begriff »Staat« eben letztlich durchaus verschiedene Identitäten benennen können, zeigt ein Vergleich zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten: Hinter dem französische Ausdruck »Etat« steht immer die staatspolitische Identität, sie steht auch hinter dem Ausdruck »République«, aber sie steht ebenfalls hinter dem Ausdruck »Nation«: Auch hinter »La Grande Nation« steht die stolze französische staatspolitische Identität, die das universelle Prinzip zum Tragen bringt und nicht etwa die Nation als romantischer Gemeinschaftsbegriff. Oder anders gesagt, auch »La Grande Nation« meint den Inhalt und nicht das Gefäß, welches vor 200 Jahren für diesen Inhalt gewählt worden ist. Wenn US-Amerikaner »nation« sagen, dann meinen sie ihre Nation. Wenn sie »country« sagen, meinen sie ebenfalls die Nation, und wenn sie einfach »America« sagen, meinen sie noch vielmehr die Nation, basierend auch auf religiösen Komponenten und Gemeinschaftsdenken. Weil US-Amerikaner eine staatspolitische Identität letztlich nicht kennen, sondern nur eine nationale, steht für sie aber – so erstaunlich das klingen mag – auch hinter dem Wort »State« letztlich eine nationale Identität und nicht eine staatspolitische.220 Inhaltlich zeichnet sich für den westeuropäischen Prozeß der Ablösung staatspolitischer Identität von der kulturellen Identität, wenn auch noch undeutlich, eine ungefähre Linie ab: Die staatspolitische Identität, die auch eine europäische sein kann, hat ihre Wurzeln stark in der französischen Tradition.

Zur Einführung des »Euro« führt Helmut Schmidt folgendes aus: »Noch zu Lebzeiten des Generals de Gaulle hatte ich verstanden, daß die Einigung der europäischen Staaten nur möglich ist, wenn und soweit Frankreich diese Einigung will und sie zu seiner eigenen Sache macht. Ich glaube auch heute, nach dem Ende des Kalten Krieges, daß für die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts der Schlüssel immer noch bei Frankreich liegt.«221 Im Zusammenhang mit der Einführung der Einheitswährung will ich das einem ihrer seinerzeitigen Architekten gerne glauben. Ich bin überzeugt, daß dieser Satz auch hinsichtlich der staatspolitischen Identität seine Gültigkeit |221|hat. Frankreich hat vor mehr als 200 Jahren entdeckt, welche romantischen Elemente die aufklärerische Vernunft zu Hilfe nehmen muß, um dem universellen Prinzip der Menschenwürde und der existentiellen Zugehörigkeit durch staatspolitische Identität nachhaltige Wirksamkeit zu verleihen. Das Heranwachsen von staatspolitischer Identität auf europäischer Ebene ist eigentlich nichts anderes als die Fortsetzung der Französischen Revolution. Allerdings gibt es eine Eigenheit des französischen Grundmusters staatspolitischer Identität, welche auf der europäischen Ebene kaum eingebracht werden kann: der ausgeprägte Zentralismus. Es wurde im letzten Kapitel dargelegt, warum dieser Zentralismus beim Bündnis zwischen Republik und Nation vor 200 Jahren notwendigerweise entstehen mußte, wenn es gelingen sollte, das romantische Element einzubeziehen, welches zuvor in Frankreich ebenfalls kleinräumiger verankert gewesen war. Frankreichs staatspolitische Identität wird wohl auch in Zukunft mit dem »Weg nach unten« mehr Mühe haben als andere Staaten. Auf dem »Weg nach oben« hingegen wird sie das zentralistische Element mindestens tendenziell abstreifen müssen, denn es steht als Denkmuster der generellen Richtung des Prozesses entgegen, durch welchen sich staatspolitische Identität über verschiedene vertikale Ebenen der Staatlichkeit hinweg ausdehnt.

In diesem Zusammenhang kommt nun wieder das deutsche Muster staatspolitischer Identität zum Tragen, welches von allem Anfang an die Mehrstufigkeit im Sinne einer inneren Differenzierung beinhaltet hat. Genau diese Mehrstufigkeit der staatspolitischen Identität kann jener nach französischem Muster auf ihrem »Weg nach oben« behilflich sein, ihr Zuviel an zentralistischen Elementen abzustreifen, ohne aber – und dies ist entscheidend – das seinerzeit erfundene tragfähige Amalgam zwischen Aufklärung und Romantik in seinem Kern preiszugeben. Zu dieser Hilfestellung ist das deutsche Muster staatspolitischer Identität aus einem ganz einfachen Grund in der Lage: Die Organisation eines europäischen Staates in Teilstaaten oder noch kleineren Einheiten beruht nicht etwa auf jenem Gruppen- und Gemeinschaftsdenken, welches hier als »exklusiv |222|romantisch« bezeichnet wurde, sondern sie beruht – wie bereits am Ende des vorangegangenen Kapitels dargelegt worden ist – auf dem Individuum als Teil des souveränen Volkes, wobei dieses Individuum über eine staatspolitische Mehrfachidentität verfügt, die sich vertikal aufteilt. Deshalb vermag dieses Muster die Ablösung staatspolitischer von der kulturellen Identität in Westeuropa entscheidend zu befördern. Für viele Muster staatspolitischer Identität anderer westeuropäischer – und längerfristig betrachtet auch mittel- oder osteuropäischer Staaten – sind analoge Überlegungen denkbar, sie alle enthalten zum Teil sogar einzigartige Elemente, welche zu diesem gesamteuropäischen Prozeß beitragen können. Wenn die Betrachtung hier auf das französische und auf das deutsche Muster beschränkt worden ist, so aus zwei Gründen: Zum einen kann sich eine Versöhnung der Aufklärung mit der Romantik vor allem anhand dieser beiden Muster anbahnen. Und zum anderen steht die Beziehung zwischen diesen beiden Staaten am Anfang der europäischen Friedensordnung.

Europäische staatspolitische Identität umfaßt weitere Elemente, die hier nicht erwähnt werden können. Hier ging es nur darum aufzuzeigen, inwiefern Universalismus und die Würde des Individuums sich gegenseitig bedingen. Die Ideologie der Gemeinschaft und Gruppenidentitäten stehen einer auf Universalismus und der Würde des Individuums basierenden staatspolitischen Identität entgegen. Im Vergleich Europas mit den Vereinigten Staaten sind diese Unterschiede von grundlegender Bedeutung. Sie spiegeln auch die verschiedenen Bereiche wider, in welchen diesseits und jenseits des Atlantiks Bindung akzeptiert und wie unterschiedlich dementsprechend Freiheit verstanden wird.

Eurozentrismus?

Kann in einem weltweiten Kontext von europäischen Wertvorstellungen gesprochen werden – hier also nicht von sogenannt »westlichen«, sondern von denen Europas, die mit jenen |223|der Vereinigten Staaten nicht identisch sind –, oder hat dies einen Beigeschmack, der an den jahrhundertelangen Kolonialismus erinnert, den dieser Kontinent als Schuld auf sich geladen hat? In der Frage der Menschenrechte beispielsweise ist einige Zurückhaltung geboten: Diese Rechte sind zwar universal gültig – und ihr gleicher Geltungswert für alle Menschen macht gerade ihren überragenden Stellenwert aus –, aber sie sind ganz bewußt abstrakt formuliert, denn sie sollen in einem absolut geltenden Rahmen auch unterschiedlichen Deutungen zugänglich sein, welche auf kulturelle Gegebenheiten Rücksicht nehmen.222 Im Verhältnis zu jenen Kontinenten, welche nicht zum »Westen« gerechnet werden, erlegt tatsächlich die koloniale Vergangenheit dem alten Kontinent eine gewisse Zurückhaltung auf. Europa ist es durch seine Rechts- und Staatskultur gewohnt, Moralvorstellungen ins Recht einzubinden und international vor allem auf dem Weg der Schaffung und Stärkung einer künftigen weltweiten Rechtsordnung Einfluß zu nehmen, an welche der Kontinent auch selbst gebunden ist. Eine solche Zurückhaltung ist im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten nicht am Platze, denn diese nehmen aufgrund ihrer ideengeschichtlichen Prägung weltweit eben nicht durch die »Stärke des Rechts«, sondern viel eher durch das »Recht des Stärkeren« und durch direktes Einbringen ihrer Moralvorstellungen Einfluß.

Es gibt weltweit Staaten, die klar dem einen dieser Muster folgen, andere wiederum klar dem anderen; es gibt Staaten, welche beiden Mustern zu folgen wissen, je nach Situation. Und es gibt wohl auch Staaten, die gerne das Recht des Stärkeren ausspielen würden, sich aber – weil sie schwach sind – dennoch des anderen Musters bedienen. Welches Muster bevorzugt wird, ist oft – jedenfalls für die beiden Protagonisten Europa und die Vereinigten Staaten – ideengeschichtlich bedingt oder durch die Erfahrung. Zwischen diesen beiden Werthaltungen besteht weltweit ohne Zweifel ein Interessengegensatz, und es findet eine grundlegende Auseinandersetzung statt. Im Chor jener Staaten, welche international die Stärke des Rechts vorantreiben möchten, kann Europa nicht fehlen. Sich dieser |224|Rolle mit dem Hinweis zu entziehen, sie könnte als »eurozentrisch« empfunden werden, wäre widersinnig.223

Ein Problem, das in Europa nur aus einem spezifisch europäischen Blickwinkel angegangen werden kann, ist die immer deutlicher werdende Krise der Demokratie, die sich in ganz unterschiedlichen Phänomenen zeigt. Es ist in gewissen Kreisen Mode geworden, das Politische als solches zu verteufeln, insbesondere die Funktion der Parlamente anzugreifen und sie damit zu schwächen, meist unter Berufung auf »das Volk«, welches aber nicht als der Souverän begriffen wird, vielmehr wird die Meinung einer homogenen Volksgruppe als gegeben vorausgesetzt, und zwar in einer vorausbestimmten gedanklichen Richtung, die von oben festgesetzt worden ist.224 Dieses »Volk« ist dann immer nur ein Teil des Souveräns, und wer die vorgegebene Meinung nicht teilt, sieht sich unversehens ausgegrenzt, weil er oder sie entweder nicht mehr zum »Volk« oder dann offenbar zu einem anderen Volk gehört. Auch in Westeuropa wird darüber hinaus auf die Vorstellung von homogenen, ethnokulturellen Volksgemeinschaften zurückgegriffen, womit versucht wird, staatspolitische Identität durch kulturelle Identität zu ersetzen. Zu erwähnen wäre auch das Phänomen, daß ein Staat plötzlich als private Firma verstanden wird, so daß sich der Bürger unversehens als »Betriebsangehöriger« wiederfindet, was mit dem europäischen Muster staatspolitischer Identität unvereinbar ist.225 Zum Phänomen rechtsextremer Gewalt wurde ausgeführt, daß die jungen Leute, welche sie ausüben, nicht unaufgeklärt seien, sondern sie würden die Aufklärung aggressiv verwerfen. Tatsächlich finden sich sowohl in der Identität rechtsextremer Gewalt wie auch in den erwähnten neuen oder wiederaufgenommenen Vorstellungen vom »Volk« genau jene exklusiv romantischen Vorstellungen – »Wir« und die »Anderen« –, welche die europäische staatspolitische Identität und ihre Basis der existentiellen Zugehörigkeit zerstören.

Auf diese Phänomene kann Europa nur spezifisch europäische Antworten geben, und es wäre verfehlt, diese als eurozentrisch zu bezeichnen. Dabei spielt nämlich auch das Wissen |225|um transatlantische Unterschiede eine gewisse Rolle, denn in den Vereinigten Staaten muß solchen Erscheinungen in ganz anderen Formen begegnet werden. Wie im zweiten Kapitel dargelegt worden ist, wird unter Demokratie in Europa und in den Vereinigten Staaten nicht in allen Teilen dasselbe verstanden. Demokratie ist in Europa ein politisches Geschehen, das auf der politischen Kultur des Streites zwischen verschiedenen Ideen in der Öffentlichkeit beruht, sich in ausgeprägtester Form in den Parlamenten abspielt, und an welchem das Individuum in seiner Funktion als Staatsbürger teilhat. Diese Mechanismen sind in den Vereinigten Staaten mindestens zum Teil ersetzt worden – oder vielmehr etwa gleichzeitig anders konzipiert und dann kontinuierlich weiterentwickelt worden – durch die Streitkultur im Recht, die von Individuen, allenfalls von Gruppen geführt wird, und an welcher das Individuum als Rechtsperson teilhat.226 Weil alle oben angesprochenen Phänomene die staatspolitische Identität schwächen, wird Europa durch sie rascher und empfindlicher getroffen als eine Gesellschaft nach US-amerikanischem Muster, in welcher staatspolitische Identität praktisch nicht existiert. Europa sieht sich heute vor einer schwierigen Aufgabe: »Wie kann (die liberale Gesellschaft) eine absolute Feinderklärung annehmen, ohne ihre eigene Prämisse – daß es grundsätzlich kein nichtintegrierbares Anderes in der Gesellschaft gebe – zu verraten? Wie kann sie dabei der Mystik von einem ›absolut Bösen‹ entgehen, das man auf die Dauer aus der Gesellschaft ausgrenzen könne? Auch die Gefahr, daß die offene Gesellschaft im Abwehrkampf gegen ihre Antipoden ihre eigene Rechtsstaatlichkeit aushöhlt und bei der Anwendung des staatlichen Gewaltmonopols die Grenze der Gesinnungskontrolle überschreitet, darf nicht unterschätzt werden.«227

Schließlich ist noch ein Aspekt zu erwähnen, der es sinnvoll macht, staatspolitische Identität nach europäischem Muster auch über den europäischen Kontinent hinaus wirksam werden zu lassen. Europäisch verstandene staatspolitische Identität beinhaltet wenigstens in minimalem Ausmaß die Mitberücksichtigung von Interessen, die nicht lautstark eingebracht |226|werden, jenen aber bewußt sein müssen, welche über Lösungsmöglichkeiten für anstehende Probleme diskutieren. Zum ersten betrifft dies die Menschen auf diesem Planeten, die nicht über die Mittel verfügen, ihre Interessen selber geltend zu machen, seien diese Mittel nun finanzieller oder anderer Art, und für die sich auch keine mächtigen Fürsprecher finden lassen. Transponiert man eine staatspolitische Identität nach europäischem Muster – und insbesondere ihr Element der existentiellen Zugehörigkeit – auf die weltweite Ebene, was durchaus möglich ist, obschon auf dieser Ebene keine eigentlichen supra-»nationalen« Strukturen existieren, so führt diese Identität dazu, daß die Lebensumstände und Bedürfnisse auch dieser Menschen in irgendeiner Weise mitberücksichtigt werden. Zum zweiten besteht noch eine andere Notwendigkeit, nicht artikulierte »Interessen« einzubeziehen, nämlich jene künftiger Generationen. In beiden Bereichen erfolgt die Mitberücksichtigung nicht artikulierter Interessen nach europäischer Lesart aufgrund der sehr handfesten geschichtlichen Erfahrung, daß ein örtlich begrenztes und/oder kurzfristiges Denken leicht in Katastrophen führt. Es gilt nicht nur das geographisch entfernt liegende »Andere«, sondern auch das zeitlich entfernt liegende »Andere« einzubeziehen, welches später einmal mit den Konsequenzen des heutigen Handelns konfrontiert sein wird. Wahrscheinlich wird sich mit zunehmender Bedeutung der Nachhaltigkeit auch dieser grundlegendste aller transatlantischen Unterschiede in den kommenden Jahren immer häufiger manifestieren.

Die unterschiedliche Haltung Europas und der Vereinigten Staaten zum Klimaschutz dürfte diesbezüglich nur einen Anfangspunkt darstellen, einen Anfangspunkt im übrigen in einer Geschichte, die schon sehr lange andauert. Die Auseinandersetzungen über die Frage, ob auch nicht artikulierte »Interessen« einbezogen werden sollen oder nicht, ist nämlich keineswegs neu: »(Die) noch heute kühn anmutende Feststellung (Meister) Eckeharts, wer Gott mehr liebe als auch den entferntesten und ärmsten unter den Menschen, der liebe Gott nicht vollkommen, diesen Kernsatz hat die Christenheit |227|nicht in seiner Sprengkraft gegen jede Form fundamentalistischen religiösen Eifers genutzt; Papst Johannes XXII verurteilte in seiner Bulle vom 27. März 1329 eine entsprechende Äußerung des Dominikaners als der Häresie verdächtig. Sind wir heute eher bereit, die Enge der eigenen Weltsicht zu überschreiten und das unbedingt Verpflichtende nicht außerhalb des Mitmenschen, auch wo er fremd und fern ist, sondern in ihm und durch ihn zu sehen?« fragt Jörg Paul Müller.228 Soll diese Frage auch im Sinne der Interessen zukünftiger Generationen positiv beantwortet werden, so darf das europäische Denkangebot der staatspolitischen Identität nicht mit dem Vorwurf abgewertet und verworfen werden, es sei »eurozentrisch«. Es ist unumgänglich, daß sich dieses europäische Denken mit anderen, ihm verwandten Beurteilungsweisen anderer Kontinente verbindet, die ebenfalls von der existentiellen Zugehörigkeit aller Menschen – und je nach Blickwinkel auch der Natur – ausgehen.

Denkangebote, Sendungsbewußtsein und nationales Interesse

Das Einbringen der europäischen Sicht in die weltweite Diskussion ist eben als »Denkangebot« bezeichnet worden. Europa hat eine so lange und schuldbeladene Geschichte, nicht nur innerhalb des eigenen Kontinentes, sondern auch in den kolonisierten Gebieten anderer Kontinente, daß es – definitiv nach dem zweiten Weltkrieg – hat neu beginnen müssen und keinen Anspruch mehr stellt, bei anderen für die eigene Überzeugung zu missionieren. Wenn sich Europäerinnen und Europäer an Aufbauhilfeprojekten beteiligen, hält sie noch etwas anderes davon ab, nur einen einzigen und den eigenen Denkansatz für möglich und richtig zu erachten. Es ist die Erfahrung der innereuropäischen Vielfalt. Nicht so US-Amerikaner, die über ein ausgeprägtes Sendungsbewußtsein verfügen, welches ihnen von Kindesbeinen an mit auf den Weg gegeben wird. Dieses |228|Sendungsbewußtsein ist nur auf dem Hintergrund der USamerikanischen religiösen Identität zu verstehen, wobei sich die religiösen Kategorien heute vor allem in moralischen ausdrücken.229 »Die Wirkung religiöser Vorstellungen gegenüber dem Staat ist (…) auch und vor allem in der Außenpolitik der USA zu suchen. Weil die Amerikaner zutiefst von der Richtigkeit und Gültigkeit ihrer Ideologie überzeugt sind und weil sie ihr Wertkonzept als normative Idee mit universalem Anspruch verstehen, sind sie zugleich davon überzeugt, daß dieses Konzept weltweit verwirklicht werden müsse«, schreibt Klaus Stüwe.230 Eine breite US-amerikanische Öffentlichkeit nimmt die eigene Überzeugung nicht als eine unter weltweit verschiedenen Möglichkeiten wahr, sondern geht von einer absoluten Wahrheit aus: »Alle sollen dieser ›ganzen‹ Wahrheit teilhaftig werden. In der Moralisierung politischer Optionen in den USA manifestiert sich diese Tiefendimension der göttlichen Rechtfertigung des eigenen Weges.«231 In einer öffentlichen Diskussion zu den politischen Entwicklungen seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und den diesbezüglichen Auseinandersetzungen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten äußerte ein Europäer die Vermutung, viele US-Amerikaner würden davon ausgehen, daß Gott über die US-amerikanische Staatsbürgerschaft verfüge. Damit wollte er offensichtlich ein Bild zeichnen für die religiösen Wurzeln des US-Nationalgefühls. Die in den Vereinigten Staaten relativ einseitig selbstbezogene Wahrnehmung – die nur für eine breite Öffentlichkeit gilt und nicht für ein besonders interessiertes Publikum und Fachleute – ist auch darauf zurückzuführen, daß das Medieninteresse an Vorgängen im Ausland viel geringer ist als an Ereignissen im Inland, und dies in einem Verhältnis zugunsten inländischer Themen, wie es in Europa nie denkbar wäre.232

Der Unterschied zwischen europäischen Denkangeboten und dem US-amerikanischen Sendungsbewußtsein geht im weiteren auf die transatlantische Weggabelung des Jahres 1648 zurück. Weil damals jenseits des Atlantiks und anders als in Europa für die Religion und gegen den Staat entschieden worden ist, und weil die Nation als Gefäß für die Religion dient, |229|kommt der US-amerikanischen Nation eine alles andere überragende Bedeutung zu. Es gibt in der US-Außenpolitik praktisch nichts, was innenpolitisch nicht mit dem Argument gerechtfertigt werden könnte, es diene dem Interesse der Nation, und dies erscheint einer erdrückenden Mehrheit der Bevölkerung als absolut selbstverständlich. Umgekehrt können außenpolitische Aktionen, die diesem wichtigsten aller Kriterien nicht genügen, innenpolitisch kaum zur Akzeptanz gebracht werden: Das Argument, etwas liege nicht im nationalen Interesse, ist immer das zielsicherste »Killer«-Argument.233 Wenn die Vereinigten Staaten das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes zunächst unterzeichneten, weil sie an der Ausarbeitung der Detailregelungen beteiligt sein wollten, um das neue Instrumentarium möglichst zu schwächen, so geschah dies im nationalen Interesse. Wenn sie nach Abschluß dieser Arbeit ihre Unterschrift zurückgezogen haben, so geschah dies wiederum im nationalen Interesse. Und wenn sie ein Gesetz vorbereiten, wonach kleineren Staaten die US-Militärhilfe entzogen werden soll, sobald sie das Statut ratifizieren, so geschieht dies ebenfalls im nationalen Interesse. Für europäische Beobachter wirkt dieser Ablauf prinzipienlos oder gar amoralisch, aber Europäer würden einen großen Fehler machen, wenn sie solche Beurteilungskriterien ins Spiel bringen würden.

Es geht nicht um Moral, sondern um eine rationale Erkenntnis: Das US-amerikanische nationale Interesse ist nicht zu vergleichen mit einem französischen oder deutschen nationalen Interesse und auch nicht mit einem britischen, denn die Formel »nationales Interesse« bezeichnet in den Vereinigten Staaten nicht nur quantitativ, sondern vor allem qualitativ etwas grundlegend anderes als alles, was unter derselben Formel in europäischen Staaten überhaupt verstanden werden kann. Wenn mit dem US-amerikanischen nationalen Interesse argumentiert wird, so ist implizit auch immer davon die Rede, daß es sich bei dieser Nation um das auserwählte Volk Gottes handelt. Nur so ist die unauflösliche Verbindung des US-amerikanischen Nationalbewußtseins mit einem Sendungsbewußtsein |230|verständlich, welches andere ideengeschichtliche Sichtweisen neben sich nicht aufkommen lassen kann. Das USamerikanische »nationale Interesse« ist die immer neue Bestätigung des Bundes mit Gott. Es kann nicht mit europäischen Maßstäben der Moral gemessen werden, denn es stellt selbst einen moralischen Maßstab dar, über den nicht verhandelt werden kann. Dieser Maßstab kommt von höherer Warte, er steht für sich allein. Es ist für Außenstehende unerläßlich, diesen Maßstab zu kennen, ihn zu verstehen und ihn rational einzuordnen. Geschieht dies nicht, so greift unter Umständen ein hilfloser »Anti-Amerikanismus« Platz, der zwar als Reaktion auf den Absolutheitsanspruch des US-amerikanischen Sendungsbewußtseins verständlich ist, insbesondere das säkularisierte Europa jedoch nicht weiterbringt. Gestützt auf diese Erkenntnis wird für Außenstehende vor allem der Nahtstellenbereich wichtig, an welchem die verschiedenen Moralkonzepte aufeinandertreffen. Hier kommen dann Worte wie beispielsweise »pragmatisch« ins Spiel und ihre Bedeutung, die eben durchaus abhängig ist vom jeweiligen Konzept der Moral. Die verschiedenen bereits erwähnten Bedeutungen dieses Begriffes nach US-amerikanischer Lesart haben einen direkten Zusammenhang mit dem »nationalen Interesse«. Das Vorgehen der Vereinigten Staaten im Zusammenhang mit dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofes würden deren Vertreter wahrscheinlich »pragmatisch« nennen.234

Die Auswirkungen der unterschiedlichen Ausgangspunkte je nach Herkunftsland wurden in Bosnien sehr deutlich. Ein in der sozialen Arbeit Tätiger asiatischer Herkunft, der lange im Lande gearbeitet hatte, berichtete, im Unterschied zu allen anderen hätten die Sozialhelfer aus den Vereinigten Staaten jeden neuen Kontakt mit dem Hinweis eröffnet »Wir haben Euch befreit«, wonach man dann zur Sache gekommen sei. Tatsächlich können sich auch viele Angehörige der US-Streitkräfte nichts anderes vorstellen, als in allen Teilen der Welt als Helfer freudig begrüßt zu werden, weil sie eben in dieser Überzeugung aufgewachsen und erzogen worden sind. Es gibt aber auch ganz handfeste Kulturimporte von jenseits des |231|Atlantiks. So begegnet man in Bosnien Polizistinnen und Polizisten, welche praktisch dieselben Uniformen und vor allem genau dieselben achteckigen Hüte tragen, welche seit dem 11. September 2001 als Kopfbedeckung der New Yorker Polizei ihre traurige Berühmtheit erlangt haben, und die man sonst in ganz Europa wohl kaum antrifft – zweifellos ein großzügiges Geschenk von jenseits des Atlantiks. Ob es wirklich der Weisheit letzter Schluß ist, angesichts des transatlantisch unterschiedlichen Verständnisses von Staatlichkeit in einer noch vor wenigen Jahren praktisch »rechts- und staatslos gewordenen« Gesellschaft just jene Personen nach US-Manier einzukleiden, welche am sichtbarsten diese Staatlichkeit und ihr Gewaltmonopol repräsentieren, mag dahingestellt bleiben. Wenn Kulturimport zu Kulturimperialismus zu werden droht, scheinen bosnische Behörden allerdings auch Widerstand zu leisten, so beispielsweise, als eine US-amerikanische Organisation dem Erziehungsministerium die Einführung eines bestimmten Ausbildungsprogramms für Schulen aufdrängen wollte.235

Ein Bild mag abschließend den erwähnten qualitativen Unterschied im nationalen Selbstverständnis illustrieren, und damit auch den qualitativen Unterschied im »nationalen Interesse«. Wer sich einstellt in die lange Schlange der Besucher vor dem Berliner Reichstag, wer das Parlamentsgebäude in London besucht und auch wer die Assemblée nationale in Paris besichtigt oder den Sitz des Senates, erlebt zwar emotional keineswegs überall dasselbe, aber eine Gemeinsamkeit ist dennoch gegeben: Es sind Örtlichkeiten, an denen Menschen, die man gemeinsam dazu bestimmt hat, rational das öffentliche Leben organisieren sollen, und man hofft, daß sie dies verantwortungsbewußt tun werden. Desgleichen im Anblick der großen Gebäude des entstehenden Europas in Straßburg und Brüssel, wobei sich hier verständlicherweise auch einige bange Fragen hinzugesellen, ob und wie es wohl gelingen werde, dieses Europa zu bauen. Letztlich sind dies alles Gebäude, in denen vor allem gedacht wird, verhandelt, gehandelt, gelegentlich wohl auch intrigiert, aber es sind definitiv keine Häuser |232|des religiösen Glaubens. Auch die monumentalen Bauten, durch welche sich die »République« stolz in Szene setzt, sind offensichtlich keine Häuser des religiösen Glaubens. Natürlich können bei solchen Besuchen in verschiedenen Städten Europas auch »erhabene« Gefühle aufkommen, je nach Persönlichkeit des Besuchers und seiner oder ihrer Geschichte, unterschiedlich möglicherweise für Generationen, die vor oder nach dem zweiten Weltkrieg geboren sind, unterschiedlich je nach Herkunft oder Staatsangehörigkeit. Aber in allen diesen Häusern weht letztlich der Geist der Aufklärung, denn nach allen geschichtlichen Verirrungen der Unvernunft ist Europa zu einer Sache der Vernunft geworden.

Ganz anders die Vereinigten Staaten, was ein Zitat von Klaus Stüwe illustrieren kann: »Entsprechend (den) religiösen Analogien hat sich die amerikanische Nation auch ihre sakralen Stätten und Heiligtümer geschaffen. Insbesondere die Bundeshauptstadt Washington D. C. (…) wurde im Lauf der Zeit mit so vielen Denkmalen ausgestattet, daß man sie durchaus als Wallfahrtsort der Zivilreligion Amerikas bezeichnen könnte. Jeder Amerikaner, der es sich leisten kann, reist mindestens einmal in seinem Leben in die Hauptstadt, um die Stätten nationaler Größe, die er aus dem Fernsehen kennt, auch einmal persönlich zu sehen. In Sightseeing-Bussen werden im Sommer täglich Tausende von Besuchern durch den District of Columbia zu den wichtigsten Altären der amerikanischen Zivilreligion transportiert: zum ›Washington Monument‹ im Zentrum der Bundeshauptstadt, einem steinernen Obelisken von immenser Höhe. Nicht weit davon ist Abraham Lincoln ein griechischer Tempel errichtet worden, in dem er als überlebensgroße Marmorstatue auf den staunenden Besucher herunterblickt. An den Ufern des Potomac erhebt sich der kuppelförmige Schrein für Thomas Jefferson, dem Pantheon in Rom nachgebildet, aber nicht wie dieses allen Göttern geweiht, sondern nur dem Verfasser der Unabhängigkeitserklärung. Im Nationalarchiv, das im Innern eher an einen Dom erinnert, befindet sich der Schrein für die Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung der USA auf einem |233|mit Panzerglas geschützten Altar, dem täglich Tausende Besucher die Ehre erweisen. Die Stelle, an der die Verfassung aufbewahrt wird, ist der Ort, an dem der religiöse Verfassungskult der Amerikaner fast mit Händen zu greifen ist. Der Besucher reiht sich ehrfürchtig in die wartende Schlange ein und spricht mit gedämpfter Stimme.«236 Amerika ist offensichtlich eine Frage des Glaubens.

Auch in dem Land, das wir gelegentlich scherzhaft als den einundfünfzigsten Staat der Vereinigten Staaten bezeichneten, waren Pilgerfahrten sehr beliebt. Sie blieben allerdings hohen bosnischen Politikern vorbehalten, die in regelmäßigen Abständen nach Washington eingeladen wurden. Verschiedentlich ärgerten sich Internationale, die mit bosnischen Behörden etwas hätten bereinigen wollen, darüber, daß man manchmal schlecht an diese Leute herankomme, denn sie seien immer gerade auf Dienstreise in den Vereinigten Staaten. Wenn ich mich daran erinnere und mir die Struktur des Abkommens von Dayton vergegenwärtige, wie sie im vorangegangenen Kapitel analysiert worden ist, so will es mir fast scheinen, man habe Bosnierinnen und Bosniern einen ethnischen Käfig gebaut – oder wohl besser ausgedrückt, man habe die Stäbe des ethnischen Käfigs vergoldet, den einige von ihnen über Jahre geschmiedet hatten –, und dann gab man ihnen indirekt zu verstehen, daß die Befreiung aus dieser ausweglosen Situation eigentlich nur einen Namen haben könne: »America« oder »Werdet so wie wir, dann geht es Euch besser«. In einem Vergleich mit dem alten Rom meint Peter Bender: »(Wenn) Madeleine Albright (…) fast überall, wohin sie kommt, öffentlich mahnt, warnt, zensiert, belehrt und zu verstehen gibt, daß Unfolgsamkeit Konsequenzen haben werde, dann erinnert sie wie manch anderer amerikanischer Politiker an die antike Imperialmacht. (…) Amerikaner handeln in der unerschütterlichen Überzeugung, ihr Land habe eine Mission in der Welt – was gut ist für Amerika, sei daher auch gut für die Welt.«237

Belehrungen dieser Art waren in Bosnien an der Tagesordnung. Wenn es hieß, so und so viele Millionen würden nur |234|dann fließen, wenn sich die Leute in den Wahlen anständig aufführen und nicht nationalistisch wählen würden, habe ich mich jeweils geärgert und stellte mir ernsthaft die Frage, ob ich als bosnische Serbin in der bosnisch Serbischen Republik gerade als Reaktion auf eine solche Belehrung nicht trotzdem nationalistisch wählen würde, denn auf stolze Bosnierinnen und Bosnier – und Bosnier sind stolze Leute! – mußte das beleidigend wirken. Ich habe mich geniert für das Demokratieverständnis, das hier zum Ausdruck kam, denn ich gehörte ja zu der Internationalen Gemeinschaft, die solche Devisen ausgab. Heute würde ich mich über das US-amerikanische Vorgehen nicht mehr ärgern. Auf seinem ideengeschichtlichen Hintergrund ist es absolut konsistent und logisch. Erstaunlich war für mich zunächst nur noch, daß sich in Bosnien viele Internationale europäischer Herkunft den US-amerikanischen Verhaltensmustern anpaßten. Heute kann ich mir aber auch dies ideengeschichtlich erklären: Immer noch sind wir stark den Denkmustern des Kalten Krieges verhaftet. Ideengeschichte entwickelt sich nicht binnen Monaten, wohl auch nicht binnen Jahren, sondern eher binnen Jahrzehnten.