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Das Dreieck »Westeuropa / Mittelosteuropa / Vereinigte Staaten«

Seit 1989 ist Mittelosteuropa in einem raschen Wandel begriffen, wie man ihn sich noch Mitte der achtziger Jahre sowohl im Westen wie im Osten Europas nie zu erträumen gewagt hätte. Die mittelosteuropäischen Länder haben sich Westeuropa zugewandt, und vielerorts lautete die einhellige Meinung unmittelbar nach dem Umbruch: »So rasch als möglich Beitritt zur Europäischen Union und zur NATO«. Daß dabei nicht unterschieden wurde zwischen Europa und den Vereinigten Staaten, versteht sich von selbst, denn beide zusammen bildeten den »Westen«, der den Mittelosteuropäerinnen und -europäern so lange gewaltsam vorenthalten worden war. Wie hätte man in dieser Region Europas differenzieren wollen, da eine Differenzierung ja auch in Westeuropa nicht gemacht wurde, weil die Konstellation des Kalten Krieges es nicht erlaubt hatte, transatlantische Unterschiede zu thematisieren oder gar überhaupt wahrzunehmen? Insoweit solche Unterschiede aber bestehen, setzte schon sehr bald eine Art Konkurrenz europäischer und US-amerikanischer Wertvorstellungen ein, welche indessen von beiden Konkurrenten nicht als solche wahrgenommen wurde. Mit dem Begriff des Dreiecks ist hier keine geographische Dimension gemeint, sondern die Auseinandersetzung Mittelosteuropas mit den verschiedenen Wertvorstellungen des »Westens«, die Aktivität Europas und der Vereinigten Staaten bei der Aufbauhilfe in Mittelosteuropa und als zentrale Frage, inwieweit hier europäische beziehungsweise US-amerikanische Wertvorstellungen einfließen und in Mittelosteuropa übernommen werden.

Im folgenden ist generalisierend von Mittelosteuropa die Rede, dies aber durchaus im Bewußtsein, daß sich in den Staaten dieser Region, die sich vom Norden bis ans Mittelmeer erstreckt, |106|die Situation unterschiedlich darstellt, eine Folge der unterschiedlichen Geschichte dieser Staaten. In einigen ist die Frage der Übernahme neuer Wertvorstellungen weniger aktuell, weil während der Zeit der totalitären Diktaturen eine Identität erhalten blieb und sich weiterentwickelte, in anderen wiederum ist diese Frage wichtiger. Einige Staaten werden schon bald Mitglieder der Europäischen Union sein, für andere ist diese Perspektive eine längerfristige. Wenn der generalisierende Begriff »Mittelosteuropa« dennoch verwendet wird, so deshalb, weil in Fragen der Wertvorstellungen gar nicht nach Staaten unterschieden werden kann. Auch wenn sich in einem bestimmten Land Mittelosteuropas gewisse Fragestellungen nicht konkret manifestieren, so erfolgt in der Regel dennoch eine Meinungsbildung zu diesen Problemen, und dies anhand von Geschehnissen in anderen Staaten. Darüber hinaus bildet die Diskussion über alte und neue Wertvorstellungen sowie die Übernahme von solchen eine wichtige Basis der Zusammenarbeit der Europäischen Union mit den beitrittswilligen Ländern, an welcher diese alle in gleicher Weise partizipieren. Die mittelosteuropäischen Staaten sind mit den transatlantischen Differenzen im Verständnis von Staat, Nation, Religion, Moral, Recht und Demokratie auf sehr unterschiedliche Weise konfrontiert. Am spürbarsten ist – oder vielmehr war – das Phänomen in Bosnien, und dies vor allem in den Jahren unmittelbar nach Inkrafttreten des Friedensabkommens von Dayton, als die amerikanische Einflußnahme die europäische klar dominierte. Dennoch betrifft dieses Phänomen ganz Mittelosteuropa, denn Bosnien war lediglich das Land, in welchem sich das Dreiecksverhältnis am deutlichsten manifestierte. Die Denkmuster, die in Bosnien Eingang fanden, beeinflussen auch die Meinungsbildung in anderen Staaten Mittelosteuropas, seien diese Denkmuster nun europäisch oder US-amerikanisch geprägt. Europäische und US-amerikanische Wertvorstellungen konkurrieren in ganz Mittelosteuropa, und dies aus dem einfachen Grund, weil durch die kommunistischen Diktaturen die Staatlichkeit in dieser gesamten Region in Mißkredit gebracht worden ist |107|und weil gerade diese Staatlichkeit einen Angelpunkt der transatlantischen Unterschiede ausmacht. Mittelosteuropa steht als Ganzes vor der Frage, ob zumindest in der Tendenz europäische oder amerikanische Muster übernommen werden sollen. Im Dreieck »Westeuropa/Mittelosteuropa/Vereinigte Staaten« gibt es keine mittelosteuropäischen Inseln mehr.

Bosnien im transatlantischen Spannungsfeld

Mit großer Wahrscheinlichkeit hätte die verzweifelte Lage in Bosnien und Herzegowina im Jahre 1996 unmittelbar nach dem Krieg, wie sie im ersten Kapitel beschrieben worden ist, durch ein Vorgehen mit klar europäischen Prämissen betreffend Staat und Nation rascher und nachhaltiger angegangen werden können. Diese Feststellung betrifft lediglich den zivilen Bereich. Daß eine starke militärische Präsenz nötig war, soll hier keineswegs bestritten werden, im Gegenteil: Staatsaufbau und Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit können erst beginnen, wenn die Waffen zum Schweigen gebracht worden sind, und ohne die starke internationale Militärpräsenz wären diese Ziele nie so gründlich erreicht worden, wie dies dann der Fall war. Die militärische Aktion fand im Rahmen des nordatlantischen Verteidigungsbündnisses statt, und daß die Vereinigten Staaten hier eine verhältnismäßig starke Stellung hatten, ist auf die NATOinternen Strukturen zurückzuführen. Dieser Bereich wird hier nicht diskutiert, und die diesbezüglichen Verhältnisse in Bosnien sollen auch gar nicht in Frage gestellt werden. Die Situation der NATO hat sich seit 1996 ohnehin stark verändert.

Das Abkommen von Dayton

Wer sich in Bosnien während einer gewissen Zeit mit dem Aufbau staatlicher Strukturen befaßte, mit der Wiederherstellung von Rechtsstaatlichkeit, mit Menschenrechten oder anderen |108|Bereichen des Rechts, kam an der Feststellung nicht vorbei, daß das Abkommen von Dayton jedenfalls im Bereich der Menschenrechte Widersprüche enthielt, die dem Land hätten erspart werden sollen. So kreierte das Abkommen nicht weniger als drei Instanzen, welche alle befugt waren, in Fällen bestimmter Menschenrechtsverletzungen endgültige und verbindliche Entscheidungen zu fällen. Dadurch entstand nicht nur die Gefahr sich widersprechender Entscheide, sondern es konnte durchaus vorkommen, daß Beschwerdeführer ihren Fall kurzerhand bei einer anderen Instanz anhängig machten, wenn eine Instanz einen vorangehenden ähnlichen Fall nicht in ihrem Sinne entschieden hatte. In diesen Fällen war es äußerst unklar, was nun gelten sollte und wer letztlich zu entscheiden hatte. Eine solche Konstellation ist nicht gerade geeignet, in einer »rechts- und staatslos gewordenen« Gesellschaft die Rechtsstaatlichkeit wieder zur Geltung zu bringen. Umgekehrt gab es auch fehlende Instanzen: Zwar hatte man die Europäische Menschenrechtskonvention zum direkt anwendbaren Landesrecht erklärt, doch war man offenbar mit deren Inhalt nicht genügend vertraut gewesen, um auf der Ebene des bosnischen Gesamtstaates die oberste Gerichtsbarkeit in »Zivil- und Strafsachen« einzurichten, welche diese Konvention zwingend vorschreibt. Es war der »Europäischen Kommission für die Demokratie durch das Recht«, der sogenannten »Venedig-Kommission«, die im Rahmen des Europarates tätig ist, vorbehalten, in einem Gutachten zu diesem Punkt die baldige Schaffung eines solchen Gerichtes dringend zu empfehlen.82 Eine internationale gerichtliche Kontrolle über solche Fragen gab es nicht, abgesehen von den verschiedenen Internationalen, welche als Personen eine richterliche Funktion in Institutionen des bosnischen Staates versahen: Wie eingangs erwähnt war die Europäische Menschenrechtskonvention zwar Landesrecht, aber sie war völkerrechtlich nicht ratifiziert worden, und sie konnte auch nicht ratifiziert werden, solange Bosnien nicht Mitglied des Europarates wurde. Ohne völkerrechtliche Ratifizierung der Konvention aber war der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in |109|Straßburg für Bosnien nicht zuständig. Unter anderem mit der Begründung, diese Zuständigkeit könnte der Entwicklung Bosniens hinderlich sein, haben die Vereinigten Staaten beim Europarat wiederholt gegen einen raschen Beitritt interveniert.83

In den Anfängen meiner Arbeit nahm ich die Unstimmigkeiten im Abkommen von Dayton als wohl unvermeidlich hin. Die große Erleichterung meiner bosnischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter darüber, daß die NATO – endlich! – eingegriffen hatte, daß das Abkommen von Dayton überhaupt abgeschlossen worden und die Internationale Gemeinschaft in Bosnien nun so zahlreich präsent war, übertrug sich auch auf mich. Offensichtlich war es ungemein schwierig gewesen, die verfeindeten Parteien zum Vertragsabschluß zu bewegen, die noch jahrelangen Versuche, die dahin gingen, die Umsetzung des Abkommens zu hintertreiben, mit denen auch wir konfrontiert waren, redeten eine deutliche Sprache. Was den militärischen Bereich anbelangte und andere Teile des Abkommens, mit denen ich nicht befaßt war, blieb es bei dieser Beurteilung. Die strukturellen Widersprüche und rechtlichen Unstimmigkeiten hingegen kosteten uns schon bald recht viel Zeit, die wir besser dafür verwendet hätten, Beschwerdefälle zu bearbeiten. So bedurfte es vieler Sitzungen mit anderen Institutionen, um in gegenseitigen Vereinbarungen überlappende Kompetenzen und sonstige strukturelle Unstimmigkeiten zu bereinigen. Glücklicherweise wurde schon relativ früh die bereits erwähnte Venedig-Kommission mit einer Studie beauftragt, die etwas Ordnung bringen sollte in das Durcheinander der verschiedenen Institutionen. In den ersten Jahren führte ich die Unstimmigkeiten im Abkommen von Dayton darauf zurück, daß bei der Aushandlung ein großer Druck bestanden haben mußte. Wie man der später vom Deutschen Auswärtigen Amt publizierten Dokumentation entnehmen kann, war die Annahme zwar durchaus zutreffend, doch dieses Element erklärte längstens nicht alles. Für die US-Amerikaner stand in Dayton der militärische Teil so sehr im Vordergrund, daß nach Ansicht der dort anwesenden |110|deutschen Delegation die Vorarbeiten für die zivile Umsetzung des Abkommens nicht genügend vorangetrieben worden waren. Auch scheinen die zivilen Teile des Abkommens ebenfalls maßgeblich durch militärische Akteure bestimmt worden zu sein.84 Es ist somit nicht erstaunlich, daß das Abkommen in diesem Teil Widersprüche und Unstimmigkeiten enthielt, man hatte ihn von seiten der Vereinigten Staaten nicht wichtig genug genommen. Auf die Idee, daß, und auf die Frage, warum ein solches Vorgehen jenseits des Atlantiks durchaus üblich sein könnte, kam ich anfänglich nicht.

Zunächst nochmals zur Grundstruktur des Staates Bosnien und Herzegowina, so wie sie in Dayton konstruiert worden war: Im Prinzip hatten die bosnischen Serben und die mittlerweile wenigstens notdürftig miteinander verbündeten bosnischen Kroaten und Bosniaken so lange gegeneinander gekämpft, bis die Serben auf ein Gebiet zurückgedrängt worden waren, welches 49% des Gesamtstaates ausmachte. Dann wurde in Dayton eine innerstaatliche Grenze festgelegt, die mit geringfügigen Korrekturen der Linie zwischen den verfeindeten Truppen entsprach. Auf der einen Seite dieser Grenze befand sich die »Föderation Bosnien und Herzegowina«, auf der anderen Seite die »Serbische Republik«, und diese beiden Teilstaaten bildeten zusammen den Staat »Bosnien und Herzegowina«. Die »ethnischen Säuberungen« hatten dazu geführt, daß die Serbische Republik weitgehend von bosnischen Serben, die Föderation weitgehend durch Bosniaken und bosnische Kroaten bewohnt waren, die beiden letztgenannten Gruppen ebenfalls gebietsmäßig weitgehend getrennt. Dazu hätte es nicht kommen müssen: Im Januar 1993 war ein Friedensplan vorgelegt worden, der sogenannte Vance/Owen-Plan. Dieser Plan wollte das nationale Denken durch die Schaffung von ethnisch gemischten Regionen überwinden. Er scheiterte wie die späteren Pläne auch, und zwar vor allem daran, daß nicht alle wichtigen internationalen Mächte dahinterstanden und die Kriegsparteien dies wußten. Insbesondere waren die Vereinigten Staaten nicht bereit gewesen, Truppen für die Durchsetzung der Pläne nach Bosnien |111|zu entsenden.85 Dies änderte sich erst, als die Vereinigten Staaten durch die Konzeption der Verhandlungen in Dayton sicher sein konnten, daß sie den Geschehnissen weitgehend ihren eigenen Stempel würden aufdrücken können.86 Sicher haben auch einzelne europäische Staaten die Kämpfe in Bosnien verlängert oder gefördert, in dem sie »in alte Schützengräben (stiegen) und die Verbündeten aus dem ersten oder zweiten Weltkrieg (…) hätschelten«.87 Spätere Ereignisse im Balkan haben allerdings gezeigt, daß die europäischen Staaten aus diesen Vorfällen sehr rasch die Konsequenzen gezogen und ähnliche Rückfälle in die Geschichte später vermieden haben.

Diese Zeilen werden nicht geschrieben, um die Schuldfrage aufzuwerfen; solches wäre nicht nur eine Anmaßung, sondern es macht auch keinen Sinn. Hier geht es vielmehr darum, die Dinge so weit zu verstehen oder zu verstehen zu versuchen, daß allenfalls daraus Hinweise für künftige Situationen gewonnen werden können. Für das hier zur Diskussion stehende Thema kann festgehalten werden, daß in der ganzen Balkankrise die militärischen Randbedingungen jene des zivilen Bereiches sowie das politisch überhaupt Mögliche vorbestimmten. Im militärischen Bereich dominierten offensichtlich die Vereinigten Staaten das Geschehen, die Unterordnung der anderen Bereiche unter den militärischen führte jedoch dazu, daß sich Europa auch politisch und im zivilen Bereich anpassen mußte. Die starke US-amerikanische Prägung des letzteren hat die Friedensbemühungen in Bosnien nicht vereinfacht. Rückblickend erscheint das »Unternehmen Dayton« für Europa als »eine bittere Lehre in internationalem Krisenmanagement wie in Bündnispolitik«.88 Diese bittere Lehre allein auf die internationalen Machtverhältnisse zurückführen zu wollen, das heißt auf das wenigstens gedanklich nachvollziehbare Verhalten der aus dem Kalten Krieg hervorgegangenen alleinigen Großmacht, wäre zu kurz gegriffen. Die Erfahrung, welche Europa hier machen mußte, liegt auch in verschiedenen transatlantischen Unterschieden begründet, wie sie im vorangegangenen Kapitel dargestellt worden sind. Europa hat |112|ein Interesse daran, sich mit dieser Seite der bitteren Lehre zu befassen, denn die transatlantischen Unterschiede im ideengeschichtlichen Bereich werden auch dann noch vorhanden sein, wenn sich die große Machtballung der Vereinigten Staaten – aus was für Gründen auch immer – jemals abschwächen sollte. Auf einige Elemente in diesem Kontext soll im folgenden noch etwas vertiefter eingegangen werden.

Das Verhältnis von Recht und Politik

Die Widersprüche und Unstimmigkeiten im zivilen Bereich des Friedensabkommens von Dayton sind nicht zufällig. Sie spiegeln die US-amerikanische Sicht des Verhältnisses zwischen Recht und Politik wider, wie sie im letzten Kapitel dargestellt worden ist. Die Widersprüche und Unstimmigkeiten kamen den Interessen des Gastgeberlandes in Dayton entgegen und schufen in Bosnien die Grundlage für ein Vorgehen, welches US-amerikanischerseits wahrscheinlich als »pragmatisch« bezeichnet würde. Aus der Dokumentation des deutschen Auswärtigen Amtes geht hervor, wie lange und offenbar zeitaufwendig zwischen den Vereinigten Staaten und Europa über den Status und die Kompetenzen des obersten zivilen Vertreters der Internationalen Gemeinschaft im Lande selbst gestritten wurde, ob er dem militärischen Bereich zu unterstellen sei, ob er Europäer sein dürfte – den Posten des »Hohen Repräsentanten« hat dann schließlich immer ein Europäer innegehabt – und welche Positionen in seinem Büro europäisch beziehungsweise amerikanisch zu besetzen seien. Um solche Fragen ging es den Vereinigten Staaten vor allem und nicht um ein bißchen mehr oder weniger Unstimmigkeiten in den Rechtsgrundlagen. Die Methode, mittels welcher die Vereinigten Staaten offenbar bereits während der Verhandlungen in Dayton das Geschehen in Bosnien zu dominieren im Sinne hatten und derer sie sich dann auch ausgiebig bedienten, hat ein Journalist nach eingehender Recherche folgendermaßen umschrieben: »Die Europäer haben bisher den Löwenanteil |113|des Wiederaufbaus in Bosnien bezahlt, aber die Amerikaner hatten überall das Sagen. In jedem Büro gibt es – so nehmen es die Europäer wahr – ›den Amerikaner‹, ohne den nichts geht; er ist der Chef oder hat als dessen Stellvertreter eine Schlüsselposition«.89

Daß viele dieser US-Amerikaner sich eben nicht vorwiegend als Teil der Internationalen Gemeinschaft – zum Beispiel in der Funktion als Mitarbeiter einer internationalen Organisation – betrachteten, sondern vielmehr als Vertreter Washingtons, die dahin auch regelmäßig Bericht erstatteten und von da instruiert wurden, zeigt das Beispiel eines hohen Funktionärs in ebendiesem »Büro des Hohen Repräsentanten«. Er ging offenbar davon aus, als Mitarbeiter des Büros ein Briefpapier benützen zu können, auf welchem nicht nur der Briefkopf dieses Büros figurierte, sondern an prominenter Stelle auch das Ministerium in Washington, welches ihn dem Büro in Sarajevo für einige Zeit zur Verfügung gestellt hatte … se non è vero, è ben trovato. Mit den Jahren kursierten in Bosnien mehrere derartige Anekdoten, die auf realen Vorkommnissen basierten und unter Europäerinnen und Europäern in der Internationalen Gemeinschaft genüßlich herumgereicht wurden. Der Missionschef einer internationalen Organisation, die besonderes Gewicht auf Unabhängigkeit von den sie finanziell unterstützenden Staaten legt, erzählte mir einmal, er habe vom State Department in Washington einen Anruf mit der erfreulichen Mitteilung erhalten, man stelle ihm einen Mitarbeiter zur Verfügung und der Betreffende sei bereits unterwegs. Der Missionschef bedankte sich freundlich für die Unterstützung, mietete binnen Stunden ein Büro in der Nachbarschaft, empfing den Neuankömmling sehr herzlich und machte ihm die erfreuliche Mitteilung, man begrüße externe Beobachter aus den Hauptstädten immer gerne und hätte keine Mühe gescheut, für solche Fälle neuerdings auch nahegelegene Räumlichkeiten anbieten zu können …

Je weniger die Dinge von vornherein in eine bestimmte Ordnung gebracht worden sind, desto mehr besteht ein Spielraum für die Gestaltung der Dinge vor Ort und damit für die |114|Einflußnahme einzelner Staaten durch einen Großeinsatz an Personal und sonstigen Ressourcen, die nach eigenem Gutdünken und Interesse zielgerichtet zur Verfügung gestellt werden. Für ein europäisches Verständnis von Recht und Politik entsteht so ein Ungleichgewicht, da die Ordnung der Dinge erstens zu wenig klar in Erscheinung tritt und man sich zweitens auf die Ordnung nie richtig verlassen kann. Mit anderen Worten: Die Politik ersetzt das Recht. Dabei wird ein zunächst nebensächlich scheinender Umstand bedeutsam, der heute in Regionen mit internationalem Krisenmanagement offenbar üblich ist und darin besteht, daß viele Internationale, die sich auf »Mission« schicken lassen, in einer bestimmten Region nicht sehr lange anwesend sind. Vor allem in der ersten Zeit nach Abschluß des Abkommens von Dayton hielten sich viele Internationale in Bosnien drei Monate auf, vielleicht auch sechs Monate, und nur wenige blieben jedenfalls anfänglich länger als ein Jahr im Lande. Mit den negativen Konsequenzen dieses ständigen Kommens und Gehens waren wir vor allem bei der Bereinigung von strukturellen Widersprüchen und rechtlichen Unstimmigkeiten konfrontiert. Häufig stellten wir fest, daß an Sitzungen mit anderen Institutionen, in denen es um überlappende Kompetenzen und die Klärung sonstiger struktureller Unstimmigkeiten ging, plötzlich neue Gesichter auftauchten, und Internationale, die Bescheid gewußt hätten über das bisher Vereinbarte oder die bisherige Handhabung, waren nicht mehr in der Institution tätig. Wer »immer wieder neu beginnen« will und Wert legt auf Pragmatismus im USamerikanischen Sinne, stößt sich nicht an solchen Verhältnissen, im Gegenteil. Es ist jedoch äußerst schwierig, eine »rechts- und staatslos gewordene« Gesellschaft unter solchen Umständen sorgfältig und behutsam wieder vertraut zu machen mit dem Phänomen einer europäisch verstandenen Rechtsstaatlichkeit und der Berechenbarkeit, die staatliche Strukturen unabdingbar brauchen. In der zweiten Hälfte meiner Arbeit in Bosnien verging kaum ein Gespräch mit Vertretern des bosnischen Staates, der Teilstaaten oder anderer öffentlicher Stellen, ohne daß einer dieser Bosnier mir gegenüber den ständigen |115|Wechsel bei den internationalen Gesprächspartnern beklagt hätte, wofür man mich aufgrund meiner langen Präsenz verständlicherweise für eine geeignete Ansprechpartnerin hielt. Daß diese Situation von jenen im Lande gezielt ausgenützt wurde, die kein Interesse am Vorankommen des Friedensprozesses hatten, weil er ihre bisherige ethnonationalistische Machtbasis schmälerte, versteht sich von selbst.

Mit kurzfristig ausgerichteten politischen Aktionen, welche der langfristigen Etablierung von rechtsstaatlichen Strukturen nicht genügend Rechnung trugen, waren wir gelegentlich auch direkt als Institution konfrontiert. Ich erinnere mich eines Beispiels im ersten Jahr unserer Tätigkeit, als die Rückkehr der Vertriebenen vor allem über die Grenze zwischen den beiden Teilstaaten hinweg noch praktisch unmöglich war, weil Rückkehrwillige oft von jenen gewaltsam an der Heimkehr in ihre Dörfer gehindert wurden, die von den leerstehenden Häusern Besitz ergriffen hatten. Irgend jemand hatte die Idee gehabt, es sei ein Gremium zu schaffen, das sich mit solchen Fällen befassen und kurzfristig darüber entscheiden solle. Die Zielsetzung des Verfahrens bestand darin, die Bewegung der Rückkehr in Gang zu bringen. Dies war eine für den Friedensprozeß äußerst wichtige Angelegenheit, nur hatten die Promotoren dieses Verfahrens auch die Idee gehabt, daß ich als Mitglied dieses Gremiums figurieren sollte. Meine damals US-amerikanische Stellvertreterin – sie hatte einen Großteil ihrer beruflichen Laufbahn in Europa absolviert und war mit der europäischen Menschenrechtskultur sehr gut vertraut – befaßte sich als erste mit diesem Ansinnen und war mehr als erstaunt: Genau solche Fälle konnten in einem späteren Beschwerdeverfahren an uns herangetragen werden, wenn behauptet wurde, es liege eine Menschenrechtsverletzung vor – was damals leider überhaupt nicht ausgeschlossen werden konnte –, und wie hätten wir uns mit solchen Fällen noch befassen können, wenn ich als Beschwerdeadressatin schon vorher in einer ganz anderen Funktion über ein Gremium, dem ich angehören sollte, in den Fall involviert gewesen wäre? Das Unterfangen hätte meine Institution, die damals noch um ein Minimum an Ansehen kämpfte, |116|praktisch aus den Angeln gehoben. Wir lehnten also die Anfrage mit der Begründung ab, es bestehe eine Unvereinbarkeit mit der im Abkommen von Dayton enthaltenen Rechtsgrundlage unserer Institution. Derartige kurzfristige Aktionen, die sich wenig um längerfristige Auswirkungen auch negativer Art kümmerten, zeigten auf, wie groß in der Internationalen Gemeinschaft der Druck war, kurzfristige Erfolge ausweisen zu können. Dieser Druck kam vor allem von seiten der Vereinigten Staaten.90

Der Druck wirkte sich auch dahingehend aus, daß sich mit »berühmten« – »berüchtigt« wäre hier wohl die adäquatere Umschreibung – Fällen von Menschenrechtsverletzungen immer viele Organisationen zugleich befaßten. Wie bereits erwähnt waren zahlreiche internationale und nichtstaatliche Organisationen im Bereiche des Menschenrechts-»Monitorings« tätig, wobei Doppelgleisigkeiten verständlicherweise nicht vermieden werden konnten.91 Hatten wir mit einem Fall zu tun, der einige Publizität erreichte, so kümmerten sich in der Regel auch internationale und nichtstaatliche Organisationen um den Fall, was für uns in konstruktiver Zusammenarbeit nur hilfreich sein konnte. Veröffentlichte ich schließlich meinen Schlußbericht, der in der Regel Empfehlungen enthielt, wie die festgestellten Verletzungen der Menschenrechte behoben oder kompensiert und durch welche Maßnahmen künftige analoge Verletzungen vermieden werden könnten, so kam es in Fällen mit einiger Publizität gelegentlich vor, daß Missionen von internationalen Organisation presseöffentlich ihre Unterstützung meiner Schlußfolgerungen bekundeten. In diese Phase kamen wir in der zweiten Hälfte meiner Amtszeit, als die Institution bereits über ein gewisses Ansehen verfügte. Zur selben Zeit begann ich zu differenzieren: In meiner eigenen Tätigkeit und in der Strategie meiner Institution stand einerseits sehr klar immer die Promotion der Rechtsstaatlichkeit an oberster Stelle. Die alle Personen gleichermaßen schützende Rechtsstaatlichkeit – und erst in zweiter Linie die Fähigkeit des Individuums, sich gegen Verletzungen zu wehren – ist der wirksamste Schutz vor Menschenrechtsverletzungen |117|und bildet deshalb eine wichtige Grundlage der Menschenrechtskultur. In der Zusammenarbeit mit der Internationalen Gemeinschaft brachte ich aber andererseits diese Überzeugung nur noch relativ zurückhaltend ein, denn ich hatte mich damit abgefunden, daß Bosnien zunächst durch eine Phase hindurchging, in welcher ein Menschenrechtsverständnis im Vordergrund stand, das sich an US-amerikanischen Rechts-, Staats- und Politikvorstellungen orientierte und später durch ein mehr europäisch geprägtes abgelöst werden würde. Meine Tätigkeit in diesem Land betrachtete ich deshalb immer mehr als Vorarbeit auf jenen späteren Zeitpunkt hin. Für eine medienöffentliche Unterstützung meiner Empfehlungen bedankte ich mich jeweils, wenn ich in der Folge auf einem Empfang den betreffenden Missionschef oder die zuständigen Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter traf, und soweit meinte ich es auch ehrlich. Was ich nicht erwähnte und auch in meinen Gedanken möglichst zu verdrängen suchte, war die Tatsache, daß ich solche Aktionen eigentlich für problematisch hielt, weil sie das Ansehen und die Wirksamkeit meiner Empfehlungen insgesamt schwächten, indem sie ein Ungleichgewicht bewirkten. Wie verhielt es sich denn mit den übrigen 99% der Fälle, in welchen eine öffentliche Unterstützung durch die Internationale Gemeinschaft unterblieb? Hatten wir in diesen Fällen weniger gute Abklärungen getroffen, waren meine Empfehlungen in jenen Fällen weniger wichtig oder gar falsch? Zweifellos dachte bei den Internationalen kein Mensch an eine solche Interpretation. Aber in der Öffentlichkeit und bei potentiellen Beschwerdeführern mußte der Eindruck entstehen, meine Empfehlungen seien nur dann wirksam oder ernstzunehmen, wenn sie von all jenen öffentlich mitunterstützt würden, die international Rang und Namen hatten, und da lag der Schluß nahe, es habe womöglich keinen Sinn, sich mit einer Beschwerde an unsere Institution zu wenden, wenn man nicht von vornherein über eine gewisse Publizität und internationale Unterstützung verfüge – Rechtsdurchsetzung also politisch verstanden. Dabei war es in der Realität gerade umgekehrt: Je mehr Publizität ein Fall hatte, desto weniger konnten es sich |118|die verantwortlichen Behördenmitglieder leisten, auf meine Empfehlung hin eine Menschenrechtsverletzung rückgängig zu machen oder zu kompensieren, vor allem wenn es eine ethnisch bedingte gewesen war, und ein solcher Hintergrund war fast immer vorhanden. In Fällen ohne große Publizität fiel es erheblich leichter, fehlbare Behörden von einem rechtsstaatlichen Verhalten zu überzeugen, weil sie weniger die Reaktion jener zu befürchten brauchten, welche immer noch die »ethnische Brille« trugen.

Recht und Macht

Die Erfahrung der negativen Konsequenzen einer Verpolitisierung des Rechtes, die im letzten Beispiel zum Ausdruck kommen, begleiteten meine Arbeit in Bosnien mit einiger Konstanz. Daß die bosnischen Behörden von einem ethnischen Rechtsverständnis – welches dort letztlich identisch war mit einem ethnonationalistisch durchtränkten politischen Rechtsverständnis – weggeführt und in geduldiger Kleinarbeit vom Nutzen der Rechtsstaatlichkeit überzeugt werden mußten, war mir von Anfang an klar, denn darin bestand meine Arbeit und dafür war ich in dieses Land gekommen. Daß ein Teil der Internationalen Gemeinschaft ebenfalls von einem politischen Rechtsverständnis ausging, welches im Rechtsdenken letztlich gar keine Alternative zu den lokalen Verhältnissen bot, ärgerte mich hingegen zunehmend. Viele der in Bosnien zu beobachtenden Phänomene betrafen das Verhältnis zwischen Recht und Politik sowie den Umstand, daß sich dieses Verhältnis leicht in ein solches zwischen Recht und Macht verwandelt, sobald die Politik in die Hände übermächtiger Akteure gerät, sei diese Übermacht nun durch Großmachtverhalten oder durch Waffengewalt oder durch beides bedingt. Die bosnische Seite dieses Zusammenhanges wurde im ersten Kapitel ausführlich dargestellt. Was die transatlantische Seite dieses Zusammenhanges betrifft, wäre es verhängnisvoll, wenn dieser nur unter dem Aspekt des Verhaltens einer Großmacht betrachtet würde: Im transatlantischen Verhältnis |119|liegt das Hauptproblem nicht vor allem in der Machtverteilung, sondern viel grundsätzlicher in der Rolle des Rechts zur Eingrenzung der Macht. Selbst wenn sich die transatlantische Machtverteilung einem Gleichgewicht annähern würde, bliebe dieser grundlegende, ideengeschichtlich bedingte Unterschied bestehen.

Die Situation in Bosnien unter dem Friedensabkommen von Dayton erscheint mir rückblickend als eine Widerspiegelung der Situation, in welcher sich seit dem 11. September 2001 das Völkerrecht befindet.92 Seit den Terroranschlägen sind die Vereinigten Staaten mit einer großen Gruppe von Staaten konfrontiert, welche beinahe den »Rest der Welt« umfaßt. Washington macht heute unumwunden klar, daß es nicht bereit ist, eine internationale Rechtsordnung aufkommen zu lassen, an welche sich auch diese Großmacht binden ließe.93 Wenn es internationale Absprachen geben soll, dann nur im Sinne eines »provisorischen Rechtszustandes«, der sich immer wieder abändern läßt, zum Beispiel durch Einbeziehen von neuen »willigen« Koalitionspartnern.94 Genauso provisorisch kam mir bisweilen die rechtliche Situation in Bosnien vor, sie war sehr abhängig von der Politik der Internationalen Gemeinschaft, erst durch deren Aktivität wurde sie greifbar. Ein Stück weit war ein solches Vorgehen unvermeidlich, und anfänglich hatte ich dafür großes Verständnis. Erst als die Verhältnisse über Monate und Jahre hinweg »provisorisch« blieben, kamen in mir Zweifel auf und begann ich mich zu fragen, ob ein Konzept auch hinter jenen Dingen stecken könnte, die mir zunächst als konzeptlos erschienen waren.

Meine persönlichen Wahrnehmungen zu diesem Thema waren damals – außer für einen kleinen Kreis von Spezialistinnen und Spezialisten – von nicht sehr großem Interesse. In der Folge des 11. September 2001 ist das Verhältnis zwischen Macht und Recht jedoch in eine größere Aktualität gerückt, die aber wiederum Rückwirkungen auf Bosnien hat, welche die damaligen Wahrnehmungen bestätigen. Ulrich Ladurner hat eine solche Situation folgendermaßen beschrieben: »Erinnern Sie sich an Bosnien? Das ist der kleine Balkanstaat, in |120|dem vor nicht allzu langer Zeit das Morden an der Tagesordnung war. Der Westen hat dem jahrelang untätig zugesehen. Als er sich 1995 schließlich doch entschloß, mittels Bomben das Töten zu beenden, tat er es im Namen seiner Werte: Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaat. Milliarden Euro sind seitdem nach Bosnien geflossen. Die dienten dem Wiederaufbau eines funktionierenden Staates. Recht sollte in Bosnien wieder von unabhängigen Gerichten gesprochen werden – das war die Botschaft des Westens. Recht ist in Bosnien nun gesprochen worden. Ein Gericht hatte am vergangenen Freitag sechs Araber, die im Verdacht standen, mit Al-Qaida zusammenzuarbeiten, freigelassen. Die Beweise reichten nicht aus, um die seit Oktober Inhaftierten weiter festzuhalten. Die US-Behörden sagten zwar, sie verfügten über Beweise, aber sie wollten sie dem Gericht in Sarajevo nicht übergeben. Die Richter taten daraufhin das einzig Mögliche: Sie entließen die sechs Araber. Trotzdem befanden sich die Verdächtigen wenige Stunden später hinter Schloß und Riegel. US-Soldaten hatten sie geschnappt und vermutlich nach Guantánamo ausgeflogen. Hunderte Menschen demonstrierten in Sarajevo gegen dieses Vorgehen. Selbst die höchste rechtliche Autorität des Landes, die Menschenrechtskammer, protestierte. Es half nichts. Die bosnischen Behörden drückten bei dem fragwürdigen Vorgehen beide Augen zu. Vor die Wahl zwischen Recht und Macht gestellt, entschieden sie sich für die Macht. Der USA. Das ist eine verheerende Lektion für Bosnien. Denn der Westen wollte den kleinen Staat genau das Gegenteil lehren: Recht geht vor Macht.«95

Ethnisierung und Individualisierung

Eine andere Folge des Friedensabkommens von Dayton bestand in einer eigentlichen Ethnisierung des Landes. Es ist nicht ausgeschlossen, daß diese Ethnisierung im geschichtlichen Rückblick als eine der Hauptursachen für die schleppende Normalisierung des öffentlichen Lebens in Bosnien |121|ausgemacht werden wird, trotz massiven Einsatzes personeller und finanzieller Mittel. Die Konstruktion des bosnischen Staates trägt einen Kern der Ethnisierung bereits in sich, sie stellt die Zementierung des Resultates »ethnischer Säuberungen« dar. Dabei blieb es aber nicht, sondern das ethnische Denkmodell fand Eingang in die verfassungsrechtliche Grundstruktur des bosnischen Gesamtstaates, durch welche sich die Ethnisierung wie ein roter Faden zieht. Als Beispiel seien hier die kleine Kammer des bosnischen Parlamentes sowie das Staatspräsidium erwähnt. Das »Haus der Völker« besteht gemäß dem Abkommen von Dayton aus 15 Abgeordneten, zehn aus der Föderation und fünf aus der Serbischen Republik. Die Verfassung schreibt vor, daß die fünf Vertreter aus der Serbischen Republik bosnische Serben sein müssen, jene aus der Föderation zur Hälfte Bosniaken und zur Hälfte bosnische Kroaten. Nach dem gleichen Muster wird das dreiköpfige Staatspräsidium bestellt, nämlich ein bosnischer Serbe aus der Serbischen Republik, sowie je ein Bosniake und ein bosnischer Kroate aus der Föderation. Ein bosnischer Serbe, der in der Föderation wohnt, oder ein in der Serbischen Republik wohnhafter Bosniake oder bosnischer Kroate können gar nicht für diese Ämter kandidieren, sie sind hinsichtlich beider Gremien vom passiven Wahlrecht ausgeschlossen.96 Als Gegengewicht zu dieser Ethnisierung wurden in die Verfassung des Gesamtstaates umfassende Menschenrechtsgarantien aufgenommen, ergänzt durch die bereits erwähnten völkerrechtlichen Instrumente, die ins Landesrecht integriert worden waren. Praktisch wurde der ausgeprägte Diskriminierungsschutz im Rahmen dieser Garantien vor allem in den Bestimmungen zugunsten von Flüchtlingen und Vertriebenen wirksam, indem diesen ausdrücklich das Recht zugesichert war, an ihren ursprünglichen Wohnort zurückzukehren. Die menschenrechtlichen Garantien waren offensichtlich als Ausgleich zur ethnischen Grundstruktur gedacht. In den Verfassungen der beiden Teilstaaten setzte sich die ethnisch orientierte Grundstruktur fort.97

Diese Konstruktion erschwerte die Promotion der Menschenrechte massiv. Wie bereits erwähnt waren wir unermüdlich |122|damit beschäftigt zu erklären, Menschenrechte würden einer Person allein aufgrund dessen zustehen, daß sie als Mensch geboren worden sei, und nie aufgrund irgendeines besonderen Merkmals wie beispielsweise der ethnischen Herkunft. Dies erwies sich als so wichtig, weil wir immer wieder konfrontiert waren mit der Argumentation, jemand betrachte seine Menschenrechte »als bosnischer Kroate« verletzt, »als Bosniake« oder »als bosnischer Serbe«. Einerseits war diese Sicht auf die monolithische ethnische Identität zurückzuführen, wie sie im ersten Kapitel dargestellt worden ist. Andererseits aber zwang auch die ethnisierende Grundstruktur des Abkommens von Dayton der bosnischen Bevölkerung diese Sicht der Dinge geradezu auf. Es waren vorwiegend die Menschenrechtsgarantien, welche ein Gegengewicht zu dieser Grundstruktur schufen. Dies mußte die bosnische Bevölkerung, die in ihrem diesbezüglichen Urteilsvermögen durch die Geschehnisse der Kriegsjahre ohnehin geschwächt und traumatisiert war, notwendigerweise überfordern.

Zwar fanden schon bald nach der Unterzeichnung des Abkommens von Dayton Wahlen statt, es fanden immer wieder Wahlen statt, und sie beeinflußten unsere Arbeit in nicht sehr erfreulicher Weise. In den Monaten vor Wahlen war es noch schwieriger als sonst, Behörden oder Behördenmitglieder vom Sinn der Rechtsstaatlichkeit zu überzeugen. Gehörten sie einer nationalistisch gesinnten Partei an, so mußten sie in diesen Monaten besonders unter Beweis stellen, daß sie nicht im Sinn hatten, die »ethnische Brille« abzulegen. Und die Vertreter dieser Parteien waren unter unseren Ansprechpartnern jene, bei denen wir ohnehin auf mehr Widerstand stießen. Natürlich mußte die Demokratie wieder Einzug halten in Bosnien, aber es wäre besser gewesen, wenn dies unter anderen Bedingungen stattgefunden hätte. Präsidial- und Parlamentswahlen auf den verschiedenen Ebenen mußten gerade wegen der ethnisierenden Grundstruktur jedenfalls in den ersten Jahren fast zwangsläufig zum Obsiegen der ethnonationalistisch ausgerichteten Parteien führen. Dem wollten die Vereinigten Staaten mit gezielter Einflußnahme entgegenwirken, und dies mag |123|mit ein Grund dafür sein, daß so häufig Wahlen stattfanden und über die internationalen Medien der unzutreffende Eindruck entstand, Bosnien sei lediglich eine Frage der richtigen Wahlresultate. In Dayton waren die US-amerikanischen Architekten offensichtlich davon ausgegangen, die Identifikation mit den »Befreiern« werde so groß sein, daß die Bevölkerung von selbst »richtig« wählen würde oder dieses richtige Verhalten durch Einflußnahme herbeigeführt werden könne.98 Dies erwies sich als Illusion, denn die Probleme dieser »rechts- und staatslos gewordenen« Gesellschaft lagen tiefer.99

Im Grunde genommen brachte das Abkommen von Dayton eine Individualisierung der Verantwortung für das interethnische Zusammenleben mit sich. Dies ergibt sich aus der Kombination der beiden genannten Elemente: Der einzelne hatte nicht die Möglichkeit, durch seine Mitwirkung als Staatsbürger Einfluß darauf zu nehmen, daß bessere Chancen für dieses Zusammenleben geschaffen wurden. Im Gegenteil mußte er feststellen, daß in der staatlichen Organisation gewisse Strukturen säuberlich entlang ethnischer Trennlinien geschaffen worden waren. Als »Rechtspersonen« hingegen verfügten die Individuen über alle Garantien und Rechte, welche es ihnen ermöglichen sollten, der Einengung durch die ethnisierende Grundstruktur zu entgehen und sich an ihrem ursprünglichen Wohnort niederzulassen, selbst wenn dort inzwischen ausschließlich oder mehrheitlich Angehörige einer anderen Volksgruppe ansässig waren, die sich gegen ihre Rückkehr zur Wehr setzten.100 Man erwartete von den Bewohnern dieses Landes, daß sie auf der individuellen Ebene – nämlich durch die Rückkehr an ihre früheren Wohnorte – genau das fertigbringen sollten, was das Abkommen von Dayton auf der strukturellen – und kollektiven – Ebene des Staates selber verhinderte: die Wiederherstellung des interethnischen Zusammenlebens im Ausmaß der Verhältnisse vor dem Krieg. Man stattete einerseits das Individuum durch vielfältige menschenrechtliche Garantien mit den besten Voraussetzungen aus, damit es das interethnische Zusammenleben wieder sollte durchsetzen können, aber man hatte andererseits eine stark ethnisierende gesamtstaatliche |124|Struktur geschaffen, die dieses Ansinnen trotzdem zur Illusion werden ließ, jedenfalls in den ersten Jahren nach Ende des Krieges. Mit diesem Vorgehen überforderte man jedoch nicht nur die Bevölkerung, sondern die Menschenrechtskultur als Ganzes wurde in Mitleidenschaft gezogen. Jede verhinderte Rückkehr erschien nun vor allem oder gar ausschließlich als eine Verletzung der Menschenrechte. Das war sie zwar tatsächlich, insofern sie eine Verweigerung der Bewegungsfreiheit darstellte. Aber sie war auch und vor allem eine Folge der staatlichen Organisation. Menschenrechtskultur kann auch dadurch geschwächt werden, daß die Menschenrechte instrumentalisiert werden – um nicht zu sagen mißbraucht –, indem gleichsam eine Inflation von Menschenrechtsverletzungen inszeniert wird.

Wird die Ethnisierung Bosniens durch das Abkommen von Dayton im Lichte der transatlantischen Unterschiede betrachtet, so ist einige Vorsicht geboten: Zu einfach wäre es, diese Ethnisierung direkt und vor allem dem mangelnden Verständnis der Vereinigten Staaten für das zuzuschreiben, was in Europa unter Staatlichkeit verstanden wird. Die in Dayton anwesenden Verhandlungsführer selbst waren es ja gewesen, welche ihre Völker – zum Teil aus Überzeugung, zum Teil aus Gründen des Überlebenswillens, zum Teil aber sogar wider besseres Wissen und aus reinem Machtkalkül – aktiv in die monolithische ethnische Identität hineingetrieben hatten. Unter diesen Umständen wäre es nicht denkbar gewesen, ethnische Kriterien in den Verhandlungen völlig auszublenden. Dennoch ist es sinnvoll, im Rahmen dieses Kapitels über das Dreieck »Westeuropa/Mittelosteuropa/Vereinigte Staaten« den transatlantisch unterschiedlichen Blickwinkel kurz einzublenden, wobei lediglich drei Aspekte erwähnt werden sollen: Zum einen der rein horizontal verstandene US-amerikanische Gesellschaftsvertrag und demgegenüber der europäische Staat als etwas »Drittes«, das über den horizontalen Gesellschaftsvertrag hinausgeht. Zum zweiten die vielfältigen Minderheiten als Akteure in der amerikanischen Politik, deren Zusammenwirken das Entstehen von Mehrheiten vermeiden |125|soll, während in Europa die politische Auseinandersetzung zu Mehrheiten führt, die Minderheitsinteressen letztlich mit berücksichtigen müssen, damit sie überhaupt zustande kommen können. Schließlich zum dritten die europäische Politik, die als Streit um Gesetze stattfindet und die in den Vereinigten Staaten teilweise durch den Streit um Rechte ersetzt ist. Es liegt auf der Hand, daß ein europäisches Verständnis in den erwähnten Bereichen für die »rechts- und staatslos gewordene« Gesellschaft, die aus dem Krieg in Bosnien hervorgegangen war, eine wirksamere Alternative dargestellt hätte als das US-amerikanische, ging es doch darum, den Leuten zu helfen, die »ethnische Brille« abzulegen und die Identität als Mitglied ihrer ethnischen Gruppe zu ersetzen durch eine staatsbürgerliche Identität. Die Gegenüberstellung der Interessen verschiedener Gruppen – insbesondere der ethnischen Volksgruppen – konnte schon deshalb nicht als erfolgversprechend betrachtet werden, weil sie genau das Muster des vorangegangenen Krieges wiederholte. Leider basierte das Abkommen von Dayton jedoch in viel größerem Ausmaß auf US-amerikanischen Denkmustern als auf europäischen. So versagte die Kombination von einerseits einer ethnisierenden Grundstruktur im Aufbau des Gesamtstaates und andererseits umfassender Garantien für Rückkehrwillige den Menschen im Grunde genommen die Möglichkeit des staatsbürgerlichen Bemühens um das multiethnische Zusammenleben, und sie verwies sie statt dessen auf den Kampf um ihr individuelles Recht, wenn sie das multiethnische Zusammenleben durchsetzen wollten. Europäische Denkmuster wären zwar auch in der Lage gewesen, zunächst von Gruppeninteressen auszugehen. Sie hätten jedoch darüber hinaus von diesen Gruppeninteressen wieder abstrahieren können, weil sie mit dem Souveränitätsverzicht umzugehen wissen und das »Dritte« kennen, das letztlich den Staat oder die »Staatlichkeit« ausmacht. Von seiten der Internationalen Gemeinschaft hätte es als Alternative zu den Denkmustern während des Krieges eines klaren und einhellig vorgetragenen Konzeptes für eine öffentliche Ordnungsstruktur bedurft, an der man sich zuverlässig |126|hätte orientieren können. Über solche Zusammenhänge dachte aber damals wohl kaum jemand nach: »Dayton« war damals für viele Menschen in Bosnien identisch mit dem »Schweigen der Waffen«, was Ende 1995 das größte Geschenk des Himmels bedeutete, das man sich überhaupt vorstellen konnte. Die Dankbarkeit für dieses Geschenk war vor allem in den ersten Monaten des Jahres 1996 deutlich zu spüren. In der Zielsetzung, daß die Waffen endlich schweigen sollten, war die Internationale Gemeinschaft zweifellos einhellig, und dies zu Recht.

Die transatlantischen Unterschiede im Verständnis von Staat, Recht, Politik und Demokratie haben bereits beim Zustandekommen des Friedensabkommens von Dayton eine Rolle gespielt. Die europäischen Delegationen willigten letztlich in eine Konstruktion ein, die sich stark am US-amerikanischen Verständnis in diesen Bereichen orientierte, und dies notabene im Hinblick auf den Wiederaufbau eines Landes in Europa. Hätte die Friedenskonferenz auf dem europäischen Kontinent stattgefunden, so wären die Dinge mindestens in dieser Hinsicht anders abgelaufen. Betrachtet man das Geschehen aus der zeitlichen Distanz und vor allem aus der Perspektive der Verhältnisse nach dem 11. September 2001, so entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, daß die Europäer, für welche ein Konferenzort in den Vereinigten Staaten zunächst völlig undenkbar war, in diesem Punkt vor allem deshalb nachgeben mußten, weil nur so die Beteiligung von US-Streitkräften am militärischen Einsatz in Bosnien sichergestellt werden konnte.101

Gemeinschaft und Staatlichkeit

Was das Dreieck »Westeuropa/Mittelosteuropa/Vereinigte Staaten« anbelangt, ist Bosnien glücklicherweise in genau dem Zusammenhang nicht repräsentativ, der das Interesse der Weltöffentlichkeit am meisten auf dieses Land konzentriert |127|hat: Nirgendwo sonst im Balkan führte das Zerbrechen der alten Ordnung, die seit 1945 gegolten hatte, zu einem so langen Krieg zwischen den ethnischen Volksgruppen. In einer anderen Hinsicht jedoch kann Bosnien gleichsam als Spitze eines Eisberges gelten, welcher sich über ganz Mittelosteuropa erstreckt: Die europäischen und US-amerikanischen Denkmuster, die in Bosnien aufeinandertrafen, konkurrieren auch in den anderen mittelosteuropäischen Staaten miteinander. In Bosnien hat sich das Dreiecksverhältnis nur am deutlichsten manifestiert. Im folgenden sollen verschiedene Kräfte in diesem Dreieck zur Darstellung kommen, die Mittelosteuropa als Ganzes betreffen.

Auch wenn sich die Revolutionen in den mittelosteuropäischen Staaten, die 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer einsetzen, als weiche oder »samtene« auszeichnen, so sind es doch eigentliche Revolutionen. Will man sie ins erwähnte Dreieck einordnen, sind sie einerseits der Französischen und andererseits der Amerikanischen Revolution gegenüberzustellen. Der Unterschied zwischen diesen beiden Ereignissen ist im zweiten Kapitel dargestellt worden und liegt im wesentlichen darin, daß die amerikanischen Revolutionäre die Freiheit dadurch errangen, daß sie den Staat in der von den Mutterländern repräsentierten Form so weit wie möglich reduzierten, während sich in der Französischen Revolution das Volk des Staates bemächtigte und seine neugewonnene Freiheit darauf abstützte. Die kommunistische Herrschaft, welche durch die Revolutionen von 1989 beendet wurde, hatte sich eines parteidominierten staatlichen Instrumentariums bedient, welches die Freiheit des Individuums massiv einschränkte. Dadurch kam der Staat auch im Sinne der »Staatlichkeit an sich« in ganz Mittelosteuropa in Verruf, und es ergab sich als logische Konsequenz, daß die Revolutionen von 1989 als »Revolutionen gegen den Staat« verstanden wurden.102 Soweit diese Revolutionen überhaupt mit historischen Ereignissen verglichen werden können, weisen sie deshalb eher eine Verwandtschaft mit der Amerikanischen als mit der Französischen Revolution auf.103

Die Revolutionen von 1989 wurden auch durch die vielfältigen |128|Dissidentenbewegungen in den mittelosteuropäischen Staaten vorbereitet. Diese Bewegungen haben nicht das europäische Urerlebnis des Erringens von Freiheit nachvollzogen, welches darin besteht, daß das souveräne Volk die Herrschaft übernimmt, sich kollektiv der Staatlichkeit bemächtigt und sie zur Garantin seiner Freiheit macht. Angesichts der real existierenden Herrschaftsverhältnisse und der Allgegenwart von Staat und Partei gab es diese Perspektive gar nicht. Vielmehr ging es darum, die Widerstandskräfte der einzelnen Menschen zu stärken, damit sie sich gegen die verständlicherweise verhaßte Staatlichkeit zur Wehr setzen konnten, was denn auch schließlich gelang. Dieser Vorgang ist dem Urerlebnis des individuellen Aktes nach amerikanischem Muster viel ähnlicher, welcher die europäische Staatlichkeit hinter sich gelassen hat. Im Moment des revolutionären Durchbruchs kam dann allerdings das Kollektive des europäischen Urmusters ebenfalls klar zum Ausdruck, so zum Beispiel im Ruf »Wir sind das Volk«, in dessen Folge die damals Herrschenden abtreten mußten. Dennoch konnte sich das europäische Muster – genau 200 Jahre nach den Anfängen seiner Entstehung – nicht durchsetzen, denn der kollektive Gedanke war über Jahrzehnte hinweg negativ strapaziert worden. Oder um es in den Kategorien von Freiheit und Bindung auszudrücken: Individuelle Bindungen zur Familie, zur Religion und zu selbstgewählten staats- und parteiunabhängigen Gemeinschaften waren über Jahrzehnte hinweg so stark und gewaltsam unterdrückt worden oder das individuelle Bekenntnis zu solchen Gemeinschaften war mit so großen Nachteilen verbunden, daß solche Bindungen vielen Menschen in Mittelosteuropa geradezu als Inbegriff von Freiheit und Demokratie erschienen.

Gemeinschaft und Nationalismus

Die Geburtsstunde des Individualismus findet sich im ausgehenden Mittelalter, als die Freiheit des einzelnen der vorgegebenen und »gottgewollten« Ordnung gegenübergestellt |129|wurde. Dieser Individualismus prägt seit Jahrhunderten alle westlichen Gesellschaften, insbesondere alle jene, die das hier zur Diskussion stehende Dreieck bilden: Westeuropa, Mittelosteuropa und die Vereinigten Staaten verfügen im Individualismus über eine identische Grundstruktur. Unterschiede bestehen jedoch in der Art und Weise, in welcher der individuellen Freiheit eine Bindung gegenübergestellt wurde, nachdem die bindungslose neue Freiheit in den Religionskriegen ins Chaos geführt hatte. Etwas verkürzt könnte man sagen, Europa habe damals als gesellschaftliche Einbindung die Staatlichkeit gewählt, die Vereinigten Staaten hingegen die »Gemeinschaft«.104 Zwar wurde auch jenseits des Atlantiks ein Nationalstaat geschaffen, nachdem man sich von den Mutterländern in Europa losgesagt hatte, aber die Einbindung des einzelnen erfolgte weiterhin durch die selbstgewählten Gemeinschaften. Hans Joas weist auf einen Unterschied zwischen Europa und den USA hin, der darin besteht, daß in Europa der Übergang von der »Gemeinschaft« zur »Gesellschaft« in der Theorie zweiphasig gedacht werde, während die entsprechenden Theorien in den Vereinigten Staaten dreiphasig gedacht würden: An die Stelle der naturwüchsigen mittelalterlichen Dorfgemeinschaft, in die man hineingeboren war, tritt zunächst die künstlich erzeugte »bessere« Gemeinschaft der individuell eingewanderten Menschen, zum Beispiel in den »ethnischen ›Ghettos‹ amerikanischer Großstädte«.105 Als Beispiel für die nach wie vor ungebrochene Orientierung der öffentlichen Ordnungsstruktur auf die Gemeinschaften hin sei hier der »Kommunitarismus« erwähnt, eine politische und philosophische Denkrichtung, die in den Vereinigten Staaten vor allem seit den achtziger Jahren dem ungebremsten Individualismus die Forderung nach mehr Gemeinsinn gegenüberstellt. Die Kommunitarier sehen die Alternative zur modernen Atomisierung des Individuums in den Gemeinschaften, die sie zum Teil als Inbegriff der Tugendhaftigkeit romantisch verklären.106

Die öffentliche Ordnungsstruktur, welche den Zusammenhalt der Gesellschaft sicherstellt, ist in Westeuropa eine staatliche, |130|in den Vereinigten Staaten hingegen eine primär gemeinschaftliche. In Mittelosteuropa überlagern sich verschiedene Schichten historischer Wirkungsmacht: Einer älteren europäischen Geschichte steht die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gegenüber, in welcher der Staat stark in Verruf geriet. Das gemeinschaftliche Denkmuster wird deshalb nicht nur im westeuropäischen Sinne als eine von verschiedenen Möglichkeiten privater gesellschaftlicher Bindungsmöglichkeiten rezipiert, sondern auch im US-amerikanischen Sinne als öffentliche Ordnungsstruktur, die an die Stelle des Staates tritt. Die historisch bedingte Ambivalenz wird vor allem dann bedeutsam, wenn sie im Zusammenhang mit dem Phänomen des Nationalismus betrachtet wird, so wie es der bereits erwähnte Philosoph und Kulturanthropologe Ernest Gellner umschreibt. Seine Definition lautet zunächst folgendermaßen: »Nationalismus ist eine Form des politischen Denkens, die auf der Annahme beruht, daß soziale Bindung von kultureller Übereinstimmung abhängt.« Deshalb seien Nationalisten bestrebt, die politischen Grenzen der Nationalstaaten mit den von ihnen definierten kulturellen Grenzen in Übereinstimmung zu bringen. Dabei entstehe Nationalismus immer dort, »wo sich eine Gesellschaft die Sprache einer Gemeinschaft aneignet; das heißt, eine sozial mobile, anonyme Gesellschaft tut plötzlich so, als sei sie eine nach außen geschlossene traute Gemeinschaft«107. Da hier vom Dreieck »Westeuropa/Mittelosteuropa/Vereinigte Staaten« die Rede ist, muß sogleich eine Klarstellung erfolgen: Nationalismus ist kein mittelosteuropäisches Phänomen. Westeuropa war von dieser Erscheinung genauso heimgesucht und kann sich auch heute noch nicht seiner definitiven Bewältigung rühmen. Allerdings glaubte man nach dem zweiten Weltkrieg in ganz Europa, das Problem des Nationalismus in den Griff bekommen zu haben, und um so größer war das Entsetzen, als das Ungeheuer im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts wieder auftauchte und vor allem in Südosteuropa seine schrecklichen Opfer forderte.

Wer die Mechanismen der nationalistischen Stimmungsmache |131|in dieser Gegend beobachtet hat, weiß, daß Gellners Analyse genau ins Zentrum des Phänomens trifft. In diesen Zusammenhängen mag nun nachträglich einer der Erklärungsansätze dafür aufscheinen, warum die US-Amerikaner zur Befriedung oder »Heilung« der kriegstraumatisierten Gesellschaft in Bosnien möglicherweise schon »von Haus aus« nicht die richtigen Ärzte waren: Aus europäischem Blickwinkel – und sagen wir einmal rein staatsphilosophisch betrachtet – litten sie wenigstens ansatzweise unter derselben Krankheit, die es zu behandeln galt.108 Aus amerikanischem Blickwinkel waren sie selbstverständlich kerngesund, und objektiv betrachtet sind sie es natürlich auch, denn sie gehen von der öffentlichen Ordnungsstruktur aus, welche sie wiederum »von Haus aus« kennen und die nun einmal viel mehr eine gemeinschaftliche als eine staatliche ist. Deshalb kann auch keine Schuldfrage gestellt werden. Was heute not tut, ist keineswegs eine Frage der Moral, sondern eine Frage der Rationalität: Es geht darum, zu verstehen, daß Westeuropa und die Vereinigten Staaten in verschiedenen Bereichen von viel unterschiedlicheren Prämissen ausgehen, als man während des Kalten Krieges anzunehmen vermochte. An dieser Stelle soll aber nicht auf Bosnien zurückgekommen werden, sondern es geht um das ganze Dreieck »Westeuropa/Mittelosteuropa/Vereinigte Staaten«: Nicht nur für Mittelosteuropa wäre es problematisch, wenn in dieser Region der Begriff der Gemeinschaft auch im US-amerikanischen Sinne als öffentliche Ordnungsstruktur rezipiert würde, die an die Stelle des Staates tritt. Eine solche Rezeption hätte zweifellos auch ihre Rückwirkungen auf Westeuropa und somit auf die Entwicklung des ganzen Kontinentes. Es gibt verschiedene Gründe, warum Europa auf die Staatlichkeit als primäre öffentliche Ordnungsstruktur, welche den Zusammenhalt der Gesellschaft sicherstellt, nicht verzichten kann. Zunächst kann hier zusammenfassend festgehalten werden, daß es nur auf dieser Grundlage möglich ist, nationalistischen Tendenzen wirksam zu begegnen.

|132|Die Rückkehr der Religion

Im Zusammenhang mit der Religion auch hier zunächst eine Klarstellung: Die Balkankriege – und insbesondere auch der Krieg in Bosnien – waren keine Religionskriege, auch wenn der letztere durch die Weltöffentlichkeit gelegentlich als das wahrgenommen wurde, weil die drei ethnischen Volksgruppen, die gegeneinander kämpften, verschiedenen Religionsgemeinschaften angehörten. Hingegen wurde Religion zur ethnonationalen Stimmungsmache gezielt eingesetzt, um die kulturell-gemeinschaftlich ererbte Identität zusätzlich durch die religiös-gemeinschaftlich ererbte Identität zu verstärken.109 Der Eindruck, es handle sich in Bosnien um einen Religionskrieg, wurde auch dadurch verstärkt, daß bevorzugte erste Ziele von bewaffneten Angriffen Moscheen sowie orthodoxe und katholische Kirchen waren. Dies erklärt sich aber nicht etwa durch eine besondere Affinität der Bevölkerung zum Religiösen, sondern viel einfacher dadurch, daß angesichts der Zuordnung der ethnischen Volksgruppen zu verschiedenen Religionen mit der Zerstörung eines Gotteshauses am schnellsten, am unmißverständlichsten und am symbolischsten klargemacht werden sollte und auch konnte, daß die betreffende ethnische Gruppe in der Gegend nichts mehr zu suchen hätte. Die bosnische Bevölkerung war nie sehr religiös, wie im ersten Kapitel im Zusammenhang mit der ethnischen Durchmischung vor allem in städtischen Verhältnissen gezeigt worden ist. Angesichts der Entwicklung seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 soll darauf hingewiesen werden, daß der Islam der bosniakischen Bevölkerung immer ein ausgesprochen säkularisierter war und auch immer noch ist.110 Es handelt sich dabei um eine typisch europäische, aufgeklärte Variante des Islam, und daß es diese seit Jahrhunderten gegeben hat, ist für die weitere Entwicklung dieses Kontinentes wichtig. Sarajevo war schon immer das Symbol dieses europäischen Reichtums.

Im Zusammenhang mit der »Rückkehr der Religionen« muß differenziert werden zwischen der Religion als Privatangelegenheit |133|und der Religion als öffentliche Ordnungsstruktur, welche die gesellschaftliche Integration gewährleistet. In Europa müssen Wertvorstellungen, die das Individuum im privaten Bereich aus der Religion ableitet, durch einen speziellen Vorgang ihren Weg in die öffentliche Ordnungsstruktur finden, die primär eine staatliche ist: Der Vorgang ist der gleiche wie für moralische Werturteile oder andere Überzeugungen, auf was auch immer diese basieren mögen, auf Glauben, auf Erfahrung oder auf Vernunftgründen. Das Individuum muß seine Überzeugung in die öffentliche Diskussion einbringen, es muß sie gleichsam »übersetzen« in eine Sprache, die auch von Leuten akzeptiert werden kann, welche Religion als solche ablehnen.111 Damit gelangen diese Wertvorstellungen auf die Ebene der öffentlichen Ordnungsstruktur, wo sie aber konfrontiert sind mit anderen Wertvorstellungen, welche ebenfalls aus ihren jeweiligen Bereichen in eine allgemeine Sprache übersetzt worden sind, so daß sie sich im Recht niederschlagen können. Es gibt in Europa keinen Weg, religiöse, moralische oder andere Werturteile für andere Personen direkt verbindlich zu machen, es sei denn über den Weg des Rechts. Die Rechtssetzung dient gleichsam als Filter für die Ansprüche, die an den einzelnen gestellt werden: Bindend können diese Ansprüche für das Individuum in seiner Eigenschaft als Rechtsunterworfener nur dann werden, wenn sie durch das Verfahren hindurchgegangen sind, an welchem sich dasselbe Individuum in seiner Eigenschaft als Staatsbürger beteiligen konnte.112 Dies ist dann wiederum die Voraussetzung dafür, daß von der individuellen Rechtsperson die Einhaltung auch jener Rechtsvorschriften verlangt werden kann, die sie als Staatsbürger zwar ablehnte, in dieser Ablehnung jedoch in die Minderheit versetzt wurde und unterlegen ist. Und aufgrund dieses Vorganges ist die Verpflichtung zur Einhaltung der Rechtsvorschriften keine moralische mehr oder gar eine religiöse, sondern lediglich eine rechtliche. Im Grunde genommen ist genau das der Vorgang der »Säkularisierung«: Daß Europa sich so organisiert hat, ist auf den seit Jahrhunderten im Gange befindlichen Prozeß der »Säkularisierung« |134|zurückzuführen, in welchem sich die staatliche Ordnung von der Religion abgelöst und festgehalten hat, daß sich einerseits religiöse Strukturen den staatlichen unterzuordnen haben, andererseits das Individuum über die Religionsfreiheit verfügt. Man kann aber im übertragenen Sinne auch den Vorgang der Übersetzung von religiösen Werthaltungen auf die öffentliche Ebene als eine Art »Säkularisierung« bezeichnen, die immer wieder im Einzelfall geleistet werden muß, um die Wertvorstellung auf der Ebene der öffentlichen Diskussion einbringen zu können.113

Die Verhältnisse jenseits des Atlantiks wurden bereits im letzten Kapitel aufgezeigt: Genauso wie in den Vereinigten Staaten Moralvorstellungen direkt in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen einfließen, geschieht dies auch mit religiösen Wertvorstellungen. Dadurch erhält auch die Religion den Stellenwert einer öffentlichen Ordnungsstruktur, wofür jenseits des Atlantiks durchaus ein Bedürfnis besteht, da die öffentliche Ordnungsstruktur nicht wie in Europa eine primär staatliche, sondern eine gemeinschaftliche ist, die sich mit der religiösen noch so gern verbindet, denn die beiden haben denselben historischen Ursprung in den Glaubensgemeinschaften. Darin liegt nun auch der Grund, warum in Mittelosteuropa eine gewisse Empfänglichkeit für das US-amerikanische Muster besteht: Religion war in den kommunistischen Diktaturen verpönt, und wer sie dennoch ausüben wollte, hatte mit Benachteiligungen und Schikanen zu rechnen. So ist denn eine relative Empfänglichkeit für Religion als öffentliche Ordnungsstruktur im Grunde genommen auch die Kehrseite einer relativen Rezeptionshemmung für die Staatlichkeit als primäre öffentliche Ordnungsstruktur. Diese beiden Phänomene in Mittelosteuropa haben historische Wurzeln: Eine ältere und jahrhundertealte Prägung Mittelosteuropas ist eine völlig europäische, aber sie wird zur Zeit noch überdeckt durch die Verarbeitung der Erlebnisse des letzten halben Jahrhunderts.

Diese Überlegungen führen nun zurück zur ideengeschichtlichen Weggabelung des Jahres 1648, als sich Europa für die |135|Freiheit zum Staat entschied, um die Freiheit von der Religion durchsetzen zu können, während sich die Vereinigten Staaten umgekehrt zur Freiheit vom Staat bekannten, um die Freiheit zur Religion durchsetzen zu können. Religionsfreiheit ist der Bereich, in welchem die Vereinigten Staaten, was die Ideengeschichte anbelangt, auch weltweit am intensivsten versuchen, ihre Sicht zu einer allgemeingültigen zu machen. So werden im Außenministerium regelmäßig Berichte erarbeitet, in welchen Mängel in der freien Religionsausübung in allen Ländern der Welt aufgelistet werden. Auch europäische Staaten erscheinen immer wieder in diesen Mängellisten. Im Dreieck »Westeuropa/Mittelosteuropa/Vereinigte Staaten« stellt das Verhältnis von Kirche und Staat möglicherweise das Aktionsfeld par excellence dar, in welchem die Vereinigten Staaten heute politisch sowohl in Mittelosteuropa wie auch ganz direkt in Westeuropa intervenieren. Als Beispiel sei das Gesetz zum Sektenwesen erwähnt, welches im Juni 2001 vom französischen Parlament erlassen worden ist und das es ermöglicht, gegen religiöse Vereinigungen vorzugehen, welche die Menschenrechte und Grundfreiheiten in Frage stellen. Vor seinem Erlaß führte der Gesetzesentwurf sogar zu einer Debatte im US-amerikanischen Senat, in der die Befürchtung zum Ausdruck kam, das Gesetz tangiere die Religionsfreiheit, also ebenfalls ein Menschenrecht. Es ist auch kein Zufall, daß gerade Frankreich in der Sektenfrage besonders sensibel ist und die Dinge klar geregelt haben will: Dieses Land ist bedingt durch die Französische Revolution geprägt durch eine äußerst klare, staatspolitische Identität, welche keine Halbheiten zuläßt. In der Kontroverse um die Sektenfrage wird auch das unterschiedliche Menschenrechtsverständnis beiderseits des Atlantiks deutlich. In der Tat trifft die Sektenfrage die transatlantischen Unterschiede im ideengeschichtlichen Bereich in ihrem Kerngehalt: Europa erlaubt Kirchen, Freikirchen und Sekten die Betätigung nur im Rahmen der vom Staat geschützten öffentlichen Ordnung und ist in der Trennung von Kirche und Staat ganz bewußt nicht so weit gegangen wie die Vereinigten Staaten, weil es die Kirchen in einen staatlichen Ordnungsrahmen |136|eingebunden behalten will, was längst nicht heißt, daß die europäischen Kirchen allesamt Staatskirchen sein müßten. In der Frage der Trennung von Kirche und Staat unterscheiden sich die europäischen und die US-amerikanischen Wunschvorstellungen für Mittelosteuropa genau besehen denn auch diametral. Die US-amerikanischen Methoden der Einflußnahme auf Mittelosteuropa sind zum Teil recht aggressiv. Mit großer Selbstverständlichkeit gehen US-amerikanische Religionssoziologen davon aus, daß in Europa mit den Ereignissen von 1989 nun endlich die Voraussetzungen geschaffen worden seien, die Trennung von Kirche und Staat à l’Américaine definitiv zu verwirklichen: »Obgleich es einige Zeit dauern könnte, bevor sich das amerikanische Modell allgemein in Europa durchsetzt, zeigt sich zunehmend, daß es seiner historischen ›Ausnahmestellung‹ zum Trotz mit seiner Trennung von Kirche und Staat, seiner freien Religionsausübung, seinen freiwilligen Denominationen und seinem religiösen Pluralismus am besten mit den differenzierten Strukturen der Moderne übereinstimmt«, läßt sich einem Sammelband entnehmen, der auf einen internationalen Kongreß zur Religion in Europa zurückgeht.114

Zunächst soll die Bedeutung von Religion betreffend etwas klargestellt werden: »Re-ligio« heißt Rückbindung, Verankerung des Individuums in Wertvorstellungen. Viele positive Impulse auch für die ideengeschichtliche Entwicklung stammen weltweit aus dem religiösen Bereich, und zwar aus praktisch allen Religionen. So hat die katholische Soziallehre Impulse gegeben, die sich neben anderen wichtigen Einflüssen in den europäischen Modellen der sozialen Marktwirtschaft niedergeschlagen haben, oder Impulse für einen pfleglichen Umgang mit der Natur gehen auf die Prozesse zurück, die sich im Rahmen der Ökumene mit der »Schöpfung« befassen, aber auch im Islam finden sich bemerkenswerte Ansätze, ebenso in den asiatischen Religionen.115 Daß in der privaten Religionsausübung derartige Impulse aufgenommen werden, ist eine begrüßenswerte Erscheinung, und in diesem Sinne hat eine Rückkehr der Religionen durchaus positive Auswirkung.116 |137|Die positive Auswirkung verkehrt sich für Europa hingegen in ihr Gegenteil, wollten sich solche Impulse direkt einbringen – ohne die Übersetzungsleistung, welche den Impuls gleichsam vom privaten in den öffentlichen Bereich transportiert –, denn dies kommt einer Aufforderung gleich, sich der betreffenden Wertvorstellung als religiöse anzuschließen. Religion als öffentliche Ordnungsstruktur, welche den Zusammenhalt der Gesellschaft sicherstellt, kann dieser Kontinent nicht akzeptieren. Betreffend die Religion wird hier also dieselbe Schlußfolgerung gezogen wie oben im Zusammenhang mit den »Gemeinschaften« als Ersatz für die staatliche Ordnungsstruktur: Daß es nämlich nicht nur für Mittelosteuropa problematisch wäre, wenn hier Religion im US-amerikanischen Sinne als öffentliche Ordnungsstruktur rezipiert würde, die an die Stelle des Staates tritt. Eine solche Rezeption hätte zweifellos auch Rückwirkungen auf Westeuropa und somit auf die Entwicklung des ganzen Kontinentes.

Wie bereits dargestellt, gibt es eine Affinität zwischen der öffentlichen Ordnungsstruktur, die auf dem Gemeinschaftsdenken beruht, und dem Nationalismus. Vor diesem Hintergrund ist die Parallele zwischen Nationalismus und Religion nicht zufällig, denn der Nationalismus ist in Europa seinerzeit an die Stelle der Religion getreten.117 Zwischen bestimmten Erscheinungsformen von Religion und dem Entstehen nationalistischer Bewegungen bestehen Parallelen: Diese äußern sich zum einen darin, daß der Nationalismus »mit ähnlichen Mitteln wie die Kirchen arbeitet und sakral-liturgische Formen besitzt. Die Menschen grüßen die Nationalfahne wie das Allerheiligste, sie singen die Landeshymne wie das Te Deum, sie versammeln sich zu Massenmeetings wie bei religiösen Festtagen, sie veranstalten Prozessionen zu nationalen Heiligtümern wie die Gläubigen zu Wallfahrtsorten.«118 Ein anderes Element, das den Nationalismus vor allem mit den sogenannten »Erweckungsreligionen« verbindet, ist das nationale Erwachen, welches Ernest Gellner folgendermaßen umschreibt: »Jenen, für die menschliche Erfüllung an das Erreichen eines nationalen Bewußtseins sowie dessen erfolgreiche politische Ausprägung geknüpft ist, |138|bedeutet ein nationales Erwachen weit mehr als ein geistiges Erwachen; tatsächlich ist es für sie eine Art geistiges Erwachen, vielleicht sogar seine höchste Form.«119 In genau diesem Phänomen sind die Wurzeln dafür zu suchen, daß es überhaupt zu monolithischer ethnischer Identität kommen kann, wie sie im ersten Kapitel dargestellt worden ist. Das »Erwachen«, das plötzliche Wahrnehmen dessen, was man selbst ist und offenbar immer gewesen ist – ohne dies aber früher in dieser Klarheit realisiert zu haben –, und die erlösende Einfachheit, welche diese Einsicht plötzlich mit sich bringt, weil es jetzt nur noch einen einzigen Maßstab gibt und einen einzigen Auftrag, um den man sich zu kümmern hat, dies ist dem Nationalismus und den Erweckungsreligionen gemeinsam.

Jenseits des Atlantiks spielen die Erweckungsreligionen eine in Europa unbekannte und bedeutsame Rolle.120 Dazu sei nochmals der Autor mit dem US-amerikanischen Blick auf mögliche religiöse Entwicklungen in Mittelosteuropa erwähnt, und dies mit zwei Zitaten: »Angesichts der allgemeinen Demoralisierung und des moralischen Verfalls wie auch der säkularisierten Einöde, wie sie von der jahrzehntelangen kommunistischen Herrschaft produziert wurde, sollten wir nicht unterschätzen, welche Bedeutung die Wiederbelebung der traditionellen theologischen Tugenden (Glaube, Liebe, Hoffnung) und der Kardinaltugenden (Gerechtigkeit, Klugheit, Mäßigung und Tapferkeit) haben kann. Würde eine religiöse Wiedererweckung zu einer moralischen Erweckung im Privatbereich führen, könnte dies nur günstige Folgen für den öffentlichen Bereich haben.« Und weiter: »Unter den Bedingungen der Moderne beinhaltet das religiöse Bekenntnis eines Individuums, selbst wenn es einer orthodox religiösen Tradition anhängt, immer auch, daß es sich dabei um eine reflektierte, persönliche und freie Wahl handelt. So gesehen ist die moderne individuelle Religiosität zumindest ihrer Struktur nach implizit immer eine Wiedergeburt, eine Bekehrung im Erwachsenenalter. Das pietistische Erweckungserlebnis des evangelischen Protestantismus ist daher für alle modernen Formen der Religion in gewisser Weise paradigmatisch. Auch hier lautet |139|die entscheidende Frage, ob die osteuropäischen Religionen einen derart evangelischen Wandel durchmachen.«121 So unangemessen derartige Erwartungen von jenseits des Atlantiks für Europa auch sind, als nützlich erweisen sie sich dennoch, und zwar zum Verständnis verschiedener Elemente der Entwicklungen seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001.

Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt

Es ist nun noch ein Bereich anzusprechen, in welchem sich Westeuropa keineswegs rühmen kann, von sehr viel günstigeren Voraussetzungen ausgehen zu können als Mittelosteuropa. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus sind miteinander verwandte Phänomene. Ihr Ausgangspunkt ist ansatzweise derselbe, nämlich die Entwurzelung des einzelnen Menschen durch die zunehmende Individualisierung, die seit dem 16. Jahrhundert unaufhaltsam voranschreitet. Dem großen initialen Verlust der Geborgenheit in der »gottgewollten« mittelalterlichen Ordnung folgten bis heute unzählige weitere Geborgenheitsverluste. Individualisierung heißt Befreiung des Individuums, aber die gewonnene individuelle Freiheit hat immer zwei Seiten, weshalb sie bereits im vorangegangenen Kapitel in Bezug gesetzt worden ist zur Bindung, die sich das befreite Individuum dann wiederum organisiert oder organisieren läßt und die ihm eine Identität verschaffen. Identitätsverlust kann nicht nur zu Nationalismus führen, sondern auch zu Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Im Moment, da der einzelne durch die Maschen des sozialen Netzes zu fallen beginnt, oder auch bereits vorher, sobald er befürchtet, daß so etwas eintreten könnte, sucht er nach Schuldigen und findet sie in Personen, die »anders« sind als er selber: Angehörige einer anderen Nation, einer anderen Religion oder einer anderen Hautfarbe, und zu nennen ist hier zweifellos auch die Frauenfeindlichkeit. Fehlende oder wegfallende soziale Integration schafft den Nährboden für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit mit, es ist ein häufiger Grund, aber nicht der einzige. Nationalismus, dem |140|auch durchaus gut situierte und sozial integrierte Menschen anhängen können, bringt Fremdenfeindlichkeit immer und Rassismus meistens als Begleiterscheinungen mit sich. Generell läßt sich sagen, daß eine Identität desto weniger zu Rassismus und Fremdenfeindlichkeit neigt, je breiter sie abgestützt ist.122 Monolithische Identität, wie sie eingangs dargestellt worden ist, muß diese beiden Erscheinungen geradezu hervorbringen.

Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gibt es diesseits und jenseits des Atlantiks, doch bedeuten die beiden Phänomene in der europäischen und in der US-amerikanischen Gesellschaft nicht genau dasselbe. In diesem Zusammenhang ist nochmals auf die generellen Mechanismen zurückzukommen, mittels deren »Fremdheit« integriert oder eben nicht unbedingt integriert wird. Der traditionelle US-amerikanische Integrationsmechanismus ist der »melting pot«, der Schmelztiegel. Nach dieser Idee sollen die Einwanderer ihre bisherige Identität hinter sich lassen und zu einer US-amerikanischen Identität verschmelzen. Auf die oft sehr rasche Übernahme des »American way of life« durch Einwanderer ist bereits hingewiesen worden, die darauf zurückgeht, daß sich Einwanderer nach außen sichtbar zu Amerika bekennen wollen, um möglichst rasche Zugehörigkeit zu erlangen.123 Ebenfalls bereits erwähnt wurde die »Fremdheit«, welche es in Europa in vielen Formen gibt. In Europa mit seiner kulturellen Kleinräumigkeit und Vielgestaltigkeit wurde eine solche Verschmelzung nie verlangt, zwischen den europäischen Ländern hat das »Fremdbleiben« in einem anderen Land eine jahrhundertelange Tradition. Im vergangenen Jahrzehnt wurde von Einwanderern aus Ost- und Südosteuropa wie auch aus anderen Kontinenten zwar eine größere Integrationsleistung erwartet, und dies vor allem dann, wenn ihre Einwanderungsgruppe eine gewisse Größe erreichte. Diese Tendenz wird aber bereits wieder in Frage gestellt, weil sich vor allem die zweite Generation solcher Einwanderungsgruppen offensichtlich häufig in einer Art organisiert, die eine fremde Identität durchaus beibehält, sie aber gesellschaftlich ins europäische Zielland zu »integrieren« und mit einem örtlichen Zugehörigkeitsgefühl |141|zu verbinden weiß.124 Umgekehrt wird die US-amerikanische melting-pot-Idee zunehmend durchkreuzt von der bewußten Beibehaltung ethnischer Identitäten, die über die bisherige ebenfalls traditionelle, aber kleinräumige Nachbarschaftskultur der Stadtviertel – etwa im Sinne von »china town« oder »little Italy« – hinausgehen und ethnisch definierte Gruppenansprüche im sozialen Verteilungskampf geltend machen.125 Es handelt sich dabei aber nicht um gelebte, sondern eher um instrumentalisierte Ethno-Identitäten. Ungeachtet dessen sind zwischen Europa und den Vereinigten Staaten nach wie vor große Unterschiede in der Erscheinungsform von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit festzustellen.

Ein wichtiger transatlantischer Unterschied zeigt sich im Hinblick auf die Gewalt, welche im Zusammenhang mit rassistischen und fremdenfeindlichen Aktivitäten immer wieder auftritt. Daß die Gewalt-Akzeptanz in den Vereinigten Staaten viel größer ist als in Europa, hat historische Wurzeln und läßt sich in verschiedener Hinsicht durch die bereits erläuterten transatlantischen Unterschiede erklären.126 Der illustrativste ist in diesem Zusammenhang der individuelle Souveränitätsverzicht, welcher in Europa zur Garantie der individuellen Freiheit führt, während die US-amerikanische Freiheit primär in einem individuellen Akt erlangt wird, der dem individuellen Souveränitätsverzicht letztlich entgegengesetzt ist. Ein nicht zu unterschätzendes Element in der US-amerikanischen Identität ist die seinerzeitige Eroberung des Kontinentes von Osten nach Westen, welche einerseits individuelle Mobilität – damals mit Roß und Wagen – und andererseits individuelle Verteidigungsbereitschaft voraussetzte. Diese Nation wurde gleichsam in »individueller Anstrengung und individueller Entbehrung« geschaffen. Auch wenn diesem historischen Aspekt heute überhaupt keine Bedeutung mehr zukommt, weil sich die Lebensverhältnisse inzwischen bis zur Unkenntlichkeit verändert haben, so haben sich doch gewisse Elemente erhalten, die in der nationalen Identität nach wie vor eine große Rolle spielen.127 Der unverzichtbare Anspruch der US-Amerikaner auf individuelle Mobilität geht darauf zurück, genauso wie das |142|Recht auf persönlichen Waffenbesitz. Beides wird in den Vereinigten Staaten gleichsam als religiös-nationale Wertvorstellung geheiligt und kann nur vor diesem Hintergrund verstanden werden. Was die Mobilität anbelangt, hat die religiös-nationale Wertvorstellung vor allem außenpolitische Konsequenzen, zum Beispiel im Umgang mit erdölproduzierenden Staaten. Was den persönlichen Waffenbesitz anbelangt, sind die Auswirkungen zunächst vor allem innenpolitische: Die US-Waffen-Lobby sorgt dafür, daß die Gesetze nicht geändert werden, obwohl die entsprechende Diskussion immer dann aufkommt, wenn sich irgendwo ein Exzeß privater Waffengewalt ereignet hat. Nicht nur greifen US-Amerikaner leichter zur persönlichen Waffe, die generell größere Akzeptanz von Gewalt geht ebenfalls auf diese Zusammenhänge zurück. Eine außenpolitische Auswirkung dieser Grundhaltung ist allerdings ebenfalls festzustellen, vermehrt wiederum seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001.128

Das US-amerikanische Modell sozialer Integration wird sich auf Europa nicht anwenden lassen, zunächst schon deshalb, weil sich nirgends in Europa eine reine Einwanderungsgesellschaft vorfindet oder – was in den Vereinigten Staaten gegeben ist – eine Gesellschaft auf einem Territorium, in welchem die indigene Bevölkerung so weit zurückgedrängt worden ist, daß ihre Geschichte und Eigenart praktisch nur noch unter dem Titel der Kultur in die gesellschaftliche Auseinandersetzung einfließt. Europas Völker leben mit jahrhundertealter Geschichte auf voneinander abgegrenzten Territorien. Ihre nationale Identität entsteht nicht durch Verschmelzung der Nationalitäten, sondern durch mehr oder weniger gelungene Versuche der Einbindung der Nationalitäten in eigene Nationalstaaten und in eine staatsbürgerliche Identität. Die europäische Erscheinungsform von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit kann nicht getrennt von der Entwicklung der Nationen in Europa betrachtet werden, wovon im nächsten Abschnitt die Rede sein wird.

|143|Westeuropa nach dem Kalten Krieg

Wenn die Konkurrenz westeuropäischer und US-amerikanischer Denkmuster in Mittelosteuropa in der Öffentlichkeit diskutiert wird, so geschieht dies meistens im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Strukturen. Oft dient als Beispiel dafür die Russische Föderation und deren abrupter Übergang von der Staatswirtschaft zu einer stark deregulierten Wirtschaftsordnung, welche vor allem mit Hilfe US-amerikanischer Berater und ohne großen europäischen Einfluß erfolgt sei. Die hier diskutierte Dimension hat zwar ebenfalls einen wirtschaftlichen Bezug, insoweit – wie gerade das Beispiel Rußlands aufzeigt – gewisse staatliche Rahmenbedingungen nötig sind, damit sich wirtschaftliche Beziehungen erfolgreich entwickeln können, sie geht aber über das rein wirtschaftliche hinaus und betrifft das Verhältnis von Individualismus und Staatlichkeit ganz generell. Im Kalten Krieg waren die Vereinigten Staaten der Inbegriff der »Freiheit gegen den Staat«, die Sowjetunion stand in der westlichen Wahrnehmung für den »Staat gegen die Freiheit«. Viele Beobachter und Kommentatoren deuten heute die westeuropäische Entwicklung während des Kalten Krieges als auferlegt durch äußeren Zwang, der durch das Lavieren zwischen den beiden Blöcken unvermeidbar gewesen sei. In Wirklichkeit profitierte Westeuropa davon, daß es im Schatten der beiden großen Protagonisten des Kalten Krieges seine nun bereits jahrhundertealte ideengeschichtliche Linie getreulich weiterführen konnte, relativ unbeachtet von der Weltöffentlichkeit: Das europäische 16. Jahrhundert hatte den Individualismus geboren, die individuelle Freiheit. Im europäischen 17. Jahrhundert machte der Individualismus zunächst die obligaten Kinderkrankheiten durch, indem er vor allem in den Religionskriegen zunächst zu einer fast vollständigen Entbindung von der öffentlichen Ordnung führte, zum Chaos und dadurch zu Bedrohung und Unfreiheit des Individuums. Europa reagierte durch die Unterwerfung der Religion unter die Staatlichkeit, verbunden aber mit der individuellen Gewissensfreiheit. Staatlichkeit und Individualismus wurden so zum |144|Ausgleich gebracht. Entscheidend in dieser Staatlichkeit war auch das Element der »Inklusivität«: Jede Person genoß die Freiheit des Gewissens, und jede Person war in die staatliche Sicherheitsgarantie eingeschlossen. Auf dieser Basis fand später denn auch die Französische Revolution statt. In dieser Phase erlebte Europa zum erstenmal eine Antithese, die nicht von fremden oder gar »wilden« Völkern kam, sondern von »eigenen Leuten«, die allerdings nach Amerika ausgewandert waren, wobei diese Antithese in den ersten Jahrzehnten oder fast einem Jahrhundert gar nicht unbedingt als eine solche wahrgenommen wurde: In den Vereinigten Staaten hatte man einen Nationalstaat ins Leben gerufen, in welchem das Verhältnis zwischen Staatlichkeit und Individualismus anders gehandhabt wurde: Staatlichkeit wurde auf ein absolutes Minimum beschränkt, Individualismus war alles. So konnte es Europa kaum erschüttern, als etwas mehr als ein Jahrhundert später genau die umgekehrte Antithese das Licht der Welt erblickte, und dies im Jahre 1917 mit der Russischen Revolution. Hier wurde das Verhältnis zwischen Staatlichkeit und Individualismus auch anders gehandhabt, aber unter umgekehrtem Vorzeichen: Staatlichkeit war alles, Individualismus hatte sich dem unterzuordnen. Der Kalte Krieg erlaubte es Westeuropa, unter diesen Umständen seine eigene Linie weiterzuverfolgen, nämlich die gleichgewichtige Verbindung von Individualismus und Staatlichkeit, die sich gegenseitig geradezu bedingen, indem einerseits der Staat die individuelle Freiheit garantiert und andererseits die individuelle Freiheit den so verstandenen Staat erst ermöglicht. Die Entwicklung der sozialen Marktwirtschaft in weiten Teilen Westeuropas geht auf diesen ideengeschichtlichen Hintergrund zurück. Sie ist der wirtschaftliche Ausdruck einer Philosophie, deren Auswirkungen jedoch weit über den wirtschaftlichen Bereich hinausreichen.

Sicherheitspolitisch, wirtschaftspolitisch und in der politischen Wahrnehmung der Weltöffentlichkeit gehörte Westeuropa im Kalten Krieg vorbehaltlos zur westlichen Kriegspartei. In diesem Rahmen spielte sich denn auch dessen ideengeschichtliche Abgrenzung zu Mittelosteuropa ab, in welcher die |145|westeuropäische »freiheitliche Inklusivität« einer »unfreiheitlichen Inklusivität« gegenüberstand. Neben der ideengeschichtlichen Antithese im Osten bestand aber für Westeuropa auch während des Kalten Krieges jene andere Antithese im Westen durchaus weiter, welche viel älter ist und in der die westeuropäische »freiheitliche Inklusivität« einer »freiheitlichen Exklusivität« gegenübersteht. Ideengeschichtlich existierte das hier diskutierte »Dreieck« also eigentlich schon während des Kalten Krieges, nur stellte es damals eine Linie mit westöstlicher Ausrichtung dar, auf welcher man von Osten nach Westen die Konzepte in folgender Reihenfolge vorfand: »Unfreiheitliche Inklusivität«, »Freiheitliche Inklusivität«, »Freiheitliche Exklusivität«. Die Unterschiede zwischen den beiden erstgenannten Konzepten interessieren hier nicht mehr, sie sind seit 1989 Geschichte geworden. Die Unterschiede zwischen den beiden letztgenannten Konzepten basieren einmal mehr auf den Kategorien »Zugehörigkeit« und »Verantwortung«, wie sie im letzten Kapitel dargestellt worden sind. In den Vereinigten Staaten werden Zughörigkeit und damit verbundene Verantwortung für Dinge abgelehnt, für die sich das Individuum im einzelnen Falle nicht entschieden hat; das Korrelat zur fehlenden Zugehörigkeit stellt der aktive Zutritt dar, den sich der einzelne individuell verschafft. In Europa gibt es – neben der ebenfalls vorhandenen Möglichkeit des aktiven individuellen Zutritts, aber über diesen hinausgehend – die existentielle Zugehörigkeit und als Gegenstück dazu die Verantwortung auch für Situationen, für die man sich nicht aktiv entschieden hat, sondern in die man durch geschichtliche und aktuelle Randbedingungen hineingestellt worden ist und welche letztlich etwas mit dem Kollektiv zu tun haben.

Mit dem Ende des Kalten Krieges ist die Antithese im Osten verschwunden, und dies bringt für die ideengeschichtliche Entwicklung Europas eine Veränderung. Die Auseinandersetzung mit der viel älteren und noch bestehenden Antithese im Westen kann nicht mehr gleichsam in jenem Schatten stattfinden, welchen die Auseinandersetzung mit der Antithese im Osten warf. Deshalb wird die Auseinandersetzung |146|mit der Antithese im Westen nicht nur sichtbarer, sondern sie verlangt eine andere und neue Art der Aufmerksamkeit in Europa selbst. Was die Entwicklung Europas in der sicherheits- und sonstigen Zusammenarbeit im transatlantischen Bereich anbelangt, sollen hier keine Spekulationen angestellt werden. Im Hinblick auf die ideengeschichtliche Entwicklung ist hingegen eine Antwort möglich: Es hat sich gezeigt, daß und warum Europa mit dem Ende des Kalten Krieges zum natürlichen Gegenspieler der Vereinigten Staaten geworden ist, und es ist nicht auszuschließen, daß diese ideengeschichtliche Dimension dereinst für die Entwicklung der sicherheits- und sonstigen Zusammenarbeit im transatlantischen Verhältnis ebenfalls zu einem bestimmenden Faktor werden könnte.

Die Zukunft der Nation in Europa

Die Kriege im Balkan haben nicht nur Mittelost-, sondern auch Westeuropa in einer Weise mit der eigenen Geschichte konfrontiert, die sehr viel von dem in Frage stellt, was man über Jahrzehnte als gesichert betrachtete. An der Nahtstelle zwischen den beiden Teilen Europas, die so lange voneinander getrennt waren, zeigen sich Brüche aus der Geschichte, die aber die Identität dieses Kontinentes immer mitbestimmt haben.129 Die Chance liegt heute darin, Geschichte und Identität aller Beteiligten neu und besser zu verstehen, und sie vor allem auch aufeinander zu beziehen. Im folgenden soll die transatlantische Dimension zunächst außer Betracht bleiben, und es soll nochmals auf die europäische Geschichte eingegangen werden.

Das Bündnis zwischen »Republik« und »Nation«

Der moderne europäische Nationalstaat geht auf die Französische Revolution zurück. Wie bereits erwähnt, haben in dieser Revolution zwei Elemente miteinander ein Bündnis geschlossen, |147|die historisch durchaus verschiedene Wurzeln haben, nämlich einerseits die Republik und andererseits die Nation. Die beiden recht ungleichen Bündnispartner sollen zunächst kurz charakterisiert werden. Die europäische »Republik« ist eine Staatsform. Im Mittelalter war die Stellung der Menschen von ihrem gesellschaftlichen Status abhängig gewesen, der als durchaus »gottgegeben« betrachtet worden war und aus dem es praktisch kein Ausbrechen gab. Dem stellte die Aufklärung eine Philosophie gegenüber, die individualistisch, universalistisch und egalitär war: »Die Pflichten beziehungsweise die Erfüllung des Menschen wurden nicht mehr vom gesellschaftlichen Status abgeleitet, sondern vielmehr von der allen gemeinsamen Menschlichkeit«, wie es Ernest Gellner umschreibt.130 Aufgrund dieser Philosophie sollte der Staat eine Sache aller werden, eine Sache der Öffentlichkeit, umschrieben mit dem lateinischen Ausdruck »res publica«, und dies war die Geburtsstunde des republikanischen Gedankens. Die Französische Revolution setzte diesen Gedanken in die Praxis um – allerdings vorerst lediglich für die männliche Hälfte der Bevölkerung. Der Begriff der Nation – der andere Bündnispartner – existierte bereits bei den Römern, und im Lauf der Geschichte bezeichnete »Nation« in verschiedenen Gegenden ganz unterschiedliche Dinge.131 Für die hier interessierenden Zusammenhänge beginnt die entscheidende Entwicklung im 18. Jahrhundert, und zwar in der Romantik, die auf die von ihr als »kalt« empfundenen Vernunftargumente der Aufklärung reagierte und den Begriff der Nation mit kulturellem Inhalt füllte.

Unter dem Titel »›Wurzeln‹ kontra Vernunft« beschreibt Ernest Gellner dies folgendermaßen: »(Es) sind die beiden zentralen Punkte, in denen die Romantik den Ideen der Aufklärung widerspricht; während letztere noch Vernunft und menschliche Universalität betonte, war erstere darum bemüht, gerade das Gefühl und das Besondere, sprich die kulturellen Eigenarten in den Vordergrund zu stellen. Die beiden Negationen waren natürlich eng miteinander verbunden. Während die Vernunft in ihren Vorschriften universell ist (was |148|sie für gültig erklärt, ist für jeden immer und überall gültig), werden Emotionen bestimmten Gemeinschaften (Kulturen) zugeschrieben; es handelt sich hierbei also um Vereinigungen, die auf der Grundlage gemeinsamen Empfindens zustande kommen und aufrechterhalten werden; dieses Empfinden teilen nur die Mitglieder, nicht jedoch die Außenseiter.«132 In dem von der Romantik geprägten Begriff der Nation gibt es anfänglich weder eine ethnische noch eine politische Interpretation dieses Begriffes, er wird lediglich kulturell definiert. Es ist wichtig, dies festzuhalten, um die damalige Entwicklung richtig zu verstehen. So schrieb Friedrich Schiller in einem Brief: »Deutsches Reich und deutsche Nation sind zweierlei Dinge (…) Abgesondert von dem Politischen hat der Deutsche sich seinen eigenen Wert gegründet, und auch wenn das Imperium unterginge, bliebe doch die deutsche Würde unangefochten. Sie ist eine sittliche Größe, sie wohnt in der Kultur und dem Charakter der Nation, der von ihren politischen Schicksalen unabhängig ist.«133 Nationalismus ist also in seinen Anfängen alles andere als aggressiv. Dazu nochmals Ernest Gellner: »(Der) frühe Nationalismus (neigte) zu Bescheidenheit und Schüchternheit, so etwa bei Herders Verteidigung der Reize von Volkskulturen gegen den arroganten und anmaßenden Imperialismus des französischen Hofes oder des englischen Kommerzialismus oder des blutleeren Universalismus der Aufklärung. Die anfängliche Rückkehr zum Totempfahl oder vielmehr zum Dorfanger war defensiv, fast kleinlaut sich entschuldigend.«134

So wie die Aufklärung den einen der beiden Bündnispartner hervorgebracht hat, nämlich die Republik, so hat die Romantik den anderen Bündnispartner kreiert, nämlich die kulturell definierte Nation. »Republik« umschreibt eine Staatsform, während die kulturell verstandene Nation im Prinzip eine Identität umschreibt. Die beiden Dinge haben nichts gemeinsam, sie haben – und hatten vor allem Ende des 18. Jahrhunderts – auch wenig Berührungspunkte. Trotzdem kam es zum Bündnis zwischen den beiden. Dieses Bündnis wurde in Frankreich geschlossen, wo in einem revolutionären Akt die |149|bisherigen Machtträger – König, Adel und Klerus – gestürzt und durch den »dritten Stand«, das Volk mit seinen demokratischen Rechten, ersetzt worden waren.

Land und Volk waren somit gegeben. Das reichte aber offensichtlich noch nicht, denn mit dem gestürzten König war auch die bisherige Repräsentationsfigur des Staates verschwunden, mit dem man sich hatte identifizieren können. Staat und König waren eins gewesen, nicht nur durch den König, sondern sogar »im« König war der Staat repräsentiert.135 Deshalb hatte der stürzende König den Staat gleichsam mit sich vom Sockel gerissen, auch wenn dies die Revolutionäre sicher nicht beabsichtigt hatten. Die aufklärerischen Ideen waren jedoch zu abstrakt, um als Identifikation zu dienen: An die Stelle der früheren Stände war das Individuum getreten, und die neuen Vernunftgedanken beanspruchten Universalität, beides taugte nicht als Identifikationsmöglichkeit mit dem in neuer Form entstandenen Frankreich. Es mußte eine Identität geschaffen werden, und diese fand man nun in der »nationalen« Identität. Oder anders gesagt: Die Nation diente dem republikanischen Gedanken gewissermaßen als Gefäß, und zwar zur Ermöglichung einer Identität.136 Dazu mußte dieses Gefäß jedoch umgebildet werden, und zwar von der Kulturnation zur Staatsnation, wobei es genau besehen zur »Staatsbürgernation« wurde.137 Auf dieses Bündnis ist es zurückzuführen, daß die damaligen Demokratiebewegungen auch zu nationalistischen Bewegungen werden konnten.

Obwohl die Romantik zunächst gewissermaßen nur das identitätsstiftende Gefäß zum Nationalstaat beigesteuert hatte, kam es später zu einem substantielleren Beitrag. Dies geschah vor allem in der Folge der napoleonischen Kriege, welche zwar die aufklärerischen Ideen der Französischen Revolution über ganz Europa verbreiteten, aber umgekehrt dafür sorgten, daß sich der kulturelle Nationenbegriff im Widerstand gegen die französische Fremdherrschaft politisch auflud.138 Der Historiker Hagen Schulze umschreibt das Zusammenwirken von Aufklärung und Romantik in der nationalen Idee folgendermaßen: »(Die) zwei Nationalideen, die subjektiv-politische der französischen |150|Revolution und die objektiv-kulturelle der deutschen Romantik, befruchteten sich gegenseitig, überkreuzten einander und verliehen dem tausendstimmigen Chor der europäischen Moderne den kontinuierlichen Grundton. In einer Zeit der immer neuen Entwurzelung und Sinnkrise, des Vergangenheitsverlusts und der Zukunftseuphorie bot die Idee der Nation dreierlei: Orientierung, Gemeinschaft und Transzendenz.«139 Der Nationalstaat war als Kind der Aufklärung geboren worden, er machte dieser Philosophie in der Folge aber keine große Ehre. Durch Exzesse des Nationalismus haben auch europäische Nationalstaaten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts andere Völker weit über den eigenen Kontinent hinaus ins Verderben gerissen. Westeuropa hat auf die Katastrophen der beiden Weltkriege mit der Errichtung einer neuen Friedensordnung reagiert, die wiederum stark aufklärerisch abgestützt ist. Mit den Revolutionen von 1989 ist Europa zu einem Ganzen geworden, die im Wachsen begriffene Friedensordnung erfährt eine neue Herausforderung. Möglicherweise hat Europa heute nochmals die Chance, aufklärerisches und romantisches Gedankengut – endlich – miteinander zu versöhnen. Selbst wenn dies gelingen sollte, so können darüber die Opfer der jüngsten Balkankriege nicht in Vergessenheit geraten, welche auch Westeuropäerinnen und -europäern wieder abrupt und schrecklich ins Bewußtsein gerufen haben, daß diese Versöhnung eine Voraussetzung ist für die Weiterarbeit an der europäischen Friedensordnung.

Staat und Nation in West- und Mittelosteuropa

Mit dem Begriff »Nationalität« wird in Mittelosteuropa noch heute die Volkszugehörigkeit umschrieben, während in Westeuropa dieser Begriff dazu dient, die formale Staatsangehörigkeit einer Person zu bezeichnen. Diese Differenz ist auf den unterschiedlichen Verlauf der Geschichte in den beiden Teilen Europas zurückzuführen. Nach der Entdeckung des Begriffes der »Nation« als ideengeschichtliches Denkmodell und nachdem »|151|Republik« und »Nation« zum Nationalstaat verbunden worden waren, erfuhr der Begriff der »Nation« eine unterschiedliche Entwicklung, je nach dem, ob sich die Bewohner eines bereits bestehenden Staates ihre »Nation« schufen oder ob sich ein »staatsloses« Volk auf eine gemeinsame Herkunft berief. In Westeuropa erfolgte die Nationenbildung entweder im Rahmen bereits bestehender Staaten wie in England und Frankreich oder dann später im Rahmen des Zusammenschlusses verschiedener Fürstentümer oder anderer territorialer Einheiten zu einem neuen Staat wie in Deutschland und Italien. Beide Entwicklungen führten zu Nationalstaaten, in denen ein Staatsvolk auf einem bestimmten Territorium lebte, in weitaus den meisten Fällen verbunden durch eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Kultur. In Frankreich und England fand die Idee der Nation einen seit Jahrhunderten bestehenden Staat in mehr oder weniger gegebenen Grenzen vor, so daß die bereits im letzten Kapitel erwähnten »Staatsnationen« direkt entstanden. Vor allem in Deutschland, aber auch anderswo blieb es demgegenüber bei »Kulturnationen«, indem sich die nationale Identität mangels bereits bestehender Staaten zunächst an der als national verstandenen Dichtung, Malerei, generell der Bildung und der Kunst festmachte. Erst ein Jahrhundert später wurden auch aus diesen Kulturnationen Staatsnationen.140 Resultat waren aber schließlich dennoch in ganz Westeuropa Nationalstaaten nach dem Muster von England und Frankreich, wobei der Begriff »Nation« heute territorial gesehen dasselbe bezeichnet wie der Begriff »Staat«. Staaten und Nationen waren in Übereinstimmung gebracht worden. Im Adjektiv »international«, welches heute weltweit einheitlich verstanden wird, zeigt sich dieses westeuropäische Verständnis der Nation mit identischer Verwendung der Begriffe »Staat« und »Nation«: »International« ist ein Phänomen dann, wenn es mehrere Staaten betrifft, der Begriff hat die Bedeutung von »interstaatlich«.

Obschon in Westeuropa Nationen und Staaten im Prinzip territorial übereinstimmen, ruft der Begriff »Nation« auch in westeuropäischen Köpfen und Herzen zum Teil unterschiedliche Assoziationen hervor. So versteht man beispielsweise in |152|Frankreich und in Deutschland unter »Nation« nicht genau dasselbe, obwohl der Nationalstaat für diese beiden Länder formal dieselbe Bedeutung hat. Dies hängt vor allem damit zusammen, daß zwischen den Gründungen dieser beiden Nationalstaaten praktisch ein ganzes Jahrhundert liegt. Im Grunde genommen bildet das ursprüngliche deutsche Verständnis der Nation die Basis für die auch heute noch in Mittelosteuropa geltende Bedeutung dieses Begriffes, da die deutsche Nationenbildung in einem »staatslosen« Zustand, d. h. zunächst als Kulturnation erfolgte, und der Übergang zur »Staatsnation« erst später formal eine Angleichung an das heutige westeuropäische Verständnis brachte. In Mittelosteuropa war die Entstehung von »Kulturnationen« der Normalfall, denn hier bestanden noch lange über die Entstehungszeit westeuropäischer Nationalstaaten hinaus die großen Reiche der türkischen Osmanen, der österreichischen Habsburger und der russischen Romanows. Diese Reiche waren alle multikulturell, multisprachlich und größtenteils auch multireligiös, sie schafften den Zusammenhalt der verschiedenen Völker mit ganz anderen Mitteln als mit gemeinsamer Kultur: von der Gewährung größerer oder kleinerer Autonomie auf der einen Seite bis zu gewaltsamer Unterdrückung auf der anderen. Da Staatsgründungen, also die Bildung von Staatsnationen in diesem Umfeld nicht möglich waren, kam es zu romantischen Vorstellungen, in denen die Grenzen der erträumten Staatsnation ohne Probleme so gedacht werden konnten, daß sie auch noch den am weitesten entfernten Angehörigen des eigenen Volkes mit einschlossen. Da solche Träume in den bestehenden Reichen ohnehin nicht konkretisiert werden konnten, stießen solche erträumten Grenzen auf keinen Widerstand, und so wurden unzählige Territorien durch verschiedene Völker und Volksgruppen in Gedanken mehrfach »besetzt«. Dies hatte zum Teil verheerende Folgen, als nämlich zu einem späteren Zeitpunkt versucht wurde, solche Träume in die Tat umzusetzen, wofür die jüngsten Kriege im Balkan erschreckendes Zeugnis sind.

Mangels der Bildung von Staatsnationen existierte die Nation in Mittelosteuropa als Kulturnation weiter, und dies während |153|einer so langen Periode, daß der Begriff der Nation noch heute nicht staatlich, sondern kulturell zugeordnet wird. Das Beispiel eines kroatischen Studenten serbischer Abstammung an der Universität Zagreb illustriert diese Situation anschaulich: Da er in seinem Studienbuch anzugeben hat, welcher Staatsbürgerschaft und welcher Nationalität er angehört, wird er als heute kroatischer Staatsbürger unter Nationalität dennoch seine serbische Herkunft nennen.141 Heute orientieren sich die mittelosteuropäischen Staaten grundsätzlich am westeuropäischen Verständnis des Nationalstaates. Dennoch ist festzuhalten, daß in diesem Teil Europas die Begriffe »Staat« und »Nation« nicht zusammengewachsen sind. In Mittelosteuropa ist »Nation« nach wie vor ein kultureller Begriff. Dies hindert jedoch nicht, das Adjektiv »international« im Sinne seiner weltweiten Bedeutung zu verwenden. In Gesprächen zwischen mittelost- und westeuropäischen Diskussionsteilnehmern stellt dies manchmal einige Anforderungen, wobei eine rechtzeitige Begriffsklärung von beiden Seiten mitunter hilfreich ist.142 Kulturelle Identität erstreckt sich auf ein viel breiteres Feld als nur die ethnische Herkunft. Umgekehrt ist gelegentlich mit »ethnisch« auch ein viel breiteres Spektrum an Herkunftskriterien gemeint, welche nicht selbstgewählt sind, aber auch nicht nur die Abstammung einer Person von einem bestimmten Volk betreffen. In Mittelosteuropa klingen im Begriff der Nation auch heute noch viele Töne mit, die letztlich dem romantischen Gedankengut entstammen. In Westeuropa ist der Begriff der Nation stärker von Elementen geprägt, die der Aufklärung entstammen.

Wie steht es nun heute mit dem Bündnis zwischen Republik und Nation, also 200 Jahre nach seinem Entstehen in Europa? Beide Bündnispartner sind heute ganz anders eingebettet als noch vor einigen Jahrzehnten. Zunächst soll vom Bündnispartner »Republik« die Rede sein. Als solche wurde eine besondere Staatsform bezeichnet, die sich durch die demokratische Mitwirkung der Bürgerschaft auszeichnet, sie ist also eine Kategorie im Rahmen der »Staatlichkeit«. Der westeuropäische Nationalstaat ist heute in seiner Ordnungsfunktion in |154|Frage gestellt, und dies in zweierlei Hinsichten: Einerseits entzieht ihm die Globalisierung die Möglichkeit, Dinge zu regeln, die er bislang geregelt hat, andererseits tritt er im Rahmen der Europäischen Union Kompetenzen ab. Diese beiden Phänomene unterscheiden sich allerdings insoweit, als die Globalisierung bisherige nationale Regelungen aus den Angeln hebt, um sie häufig einem ungeregelten oder ausschließlich durch Marktmechanismen geregelten Raum zu überlassen, während dies für die Kompetenzübertragungen an die EU nicht der Fall ist. Im weiteren ist eine Verschiebung von Staatlichkeit »nach unten« zu beobachten, unter die Ebene des Nationalstaates, indem Kompetenzen an Teilstrukturen von Nationalstaaten delegiert werden. Oft ist dies eine Folge des »Subsidiaritätsprinzipes«, wonach öffentliche Funktionen immer auf der untersten Ebene wahrgenommen werden sollen, auf welcher sie sinnvollerweise noch wahrgenommen werden können.143 Diese Phänomene sind auch in Mittelosteuropa zu beobachten oder bereiten sich im Hinblick auf die Osterweiterung der Europäischen Union ebenfalls vor. Daneben aber wurden und werden in diesem Teil Europas immer noch Schritte nachgeholt, die in Westeuropa zum größten Teil früher stattgefunden haben. Vielerorts wurde das Bündnis zwischen »Nation« und »Republik« erst 1989 geschlossen, indem in bestehenden »National«-Staaten demokratische Formen Einzug hielten. Es werden neue Nationalstaaten gegründet, wobei eine Tendenz nicht zu verkennen ist, politische und kulturelle Grenzen miteinander in Übereinstimmung zu bringen. Der andere Bündnispartner, die »Nation«, befindet sich heute über den ganzen europäischen Raum hinweg betrachtet also gleichzeitig in verschiedenen Stadien, und dies nicht nur hinsichtlich seiner eigenen Entwicklung, sondern auch hinsichtlich seiner Beziehung zum Bündnispartner »Republik« im Sinne der Staatlichkeit.

Wenn Staatlichkeit und damit die »republikanische« Teilnahme der Bürgerschaft die Tendenz hat, sich teils über die Ebene des Nationalstaates und teils unterhalb dieser Ebene auszudehnen, so führt dies zu einer langsamen Ablösung der Staatlichkeit von der Nation oder umgekehrt ausgedrückt zu |155|einer langsamen Ablösung der Nation von der Staatlichkeit. Der republikanische Gedanke bricht das Gefäß der Nation gleichsam auf, das er seit 200 Jahren mehr oder weniger erfolgreich benutzt hat, er dringt nach oben und nach unten, und dies einfach deshalb, weil die Staatlichkeit dabei ist, sich nach oben und nach unten auszubreiten. Insoweit die Bewegung »nach oben« geht, auf die supra-»nationale« Ebene der Europäischen Union, müssen neue Formen der republikanischen Mitwirkung erfunden werden, eine der Aufgaben des Konvents, der durch die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union eingesetzt worden ist. Im Gegensatz zu den Vorgängen vor mehr als 200 Jahren ist dieser »republikanische Akt« jedoch nicht mehr emotional eingebettet in eine nationale Identität, denn Europa ist keine Nation und wird auch nicht dazu werden, selbst wenn der republikanische Akt dereinst gelungen und vollendet sein wird. Dies liegt nicht etwa an der geographischen Dimension der Union in ihren künftigen Grenzen – die Vereinigten Staaten zeigen ja eindrücklich, daß nationale Identität in dieser geographischen Größenordnung durchaus möglich ist –, sondern es ist in der europäischen Geschichte begründet: Die nationale Identität der Europäerinnen und Europäer wird weiterhin mehr oder weniger dort verankert bleiben, wo sie es bisher war, nämlich auf der Ebene der bisherigen Nationalstaaten oder sogar in kleinräumigeren Einheiten. Auf europäischer Ebene eine Art romantischer »Heimat«-Identität postulieren zu wollen wäre aber auch aus anderen Gründen verfehlt, auf welche im letzten Kapitel im Rahmen des Verhältnisses zwischen Aufklärung und Romantik zurückzukommen ist.144

Etwas anders liegen die Dinge hinsichtlich der anderen Bewegung, nämlich jener »nach unten«. Diese erscheint zunächst als etwas einfacher, weil auf den Ebenen unterhalb des Nationalstaates eine gemeinsame kulturelle Identität durchaus vorhanden sein kann, denn nationale Identität als kulturelles Phänomen ist aus ihrer Entstehung heraus gemeinschaftsorientiert und kleinräumig. Man könnte also auf die Idee kommen, wenn sich der republikanische Gedanke nach unten ausbreite, brauche |156|er das Bündnis mit der Nation nicht aufzugeben. Genau da aber liegt das Problem: Wenn Dezentralisierungsbestrebungen dadurch motiviert sind, daß sie dem Prinzip der Subsidiarität zum Durchbruch verhelfen sollten, entspringen sie dem republikanischen Gedanken und fördern die staatsbürgerliche Identität. Sind solche Bestrebungen hingegen dadurch motiviert, daß die politischen und die kulturellen Grenzen in Übereinstimmung gebracht werden sollen, so tragen sie bereits das Umkippen in nationalistische Sezessionsbestrebungen in sich und stehen somit der staatsbürgerlichen Identität entgegen.145 Soll diese zweite Variante vermieden werden, so ist es auch für die Bewegung »nach unten« unumgänglich, sich vom Bündnis zwischen »Republik« und »Nation« zu verabschieden.

»Säkularisierung« der Nation?

Gemeinsam ist diesen verschiedenen Entwicklungssituationen – so zeitungleich sie auf dem ganzen Kontinent auch ablaufen und so unterschiedlich sie auch wahrgenommen werden mögen – eine langsam ablaufende Trennung von staatspolitischer und kultureller Identität, wobei die Nation allmählich wieder zu einer rein kulturellen Kategorie wird, wie sie es ursprünglich gewesen ist.146 Es liegt auf der Hand, daß dieser Prozeß nur dann und nur dort voranschreiten kann, wo Nationalismus kein Thema ist. Wenn in »heiligem Eifer« versucht wird, kulturelle und politische Grenzen in Übereinstimmung zu bringen, kommt es in diesem Prozeß zu Rückschritten. Nehmen solche nationalistischen Exzesse mörderische Formen an, wie dies im zweiten Weltkrieg der Fall war oder – wenn auch in quantitativ kleinerem Rahmen, aber qualitativ nicht minder schrecklich – in den Kriegen auf dem Balkan, so kann dies später zur Einsicht führen, daß der Prozeß eben doch unumgänglich ist. Schreitet die Trennung von staatspolitischer und kultureller Identität voran, kann der Prozeß nach einer gewissen Zeit durchaus einen Schutz vor nationalistischen Rückfällen bewirken. Hat die Trennung einmal eingesetzt, so können staatspolitische |157|und kulturelle Identität durchaus verschiedene Wege gehen. Die staatspolitische Identität des Individuums findet sich schließlich auf sämtlichen Ebenen, auf welchen dieses überhaupt mit Staatlichkeit konfrontiert sein kann: Gemeinden, Städte oder Kommunen, mit denen man durch Wohnen, Arbeiten oder anderweitig begründetem temporärem Aufenthalt verbunden ist, eventuell existierende Teilstaaten der »National«-Staaten sowie die »National«-Staaten selbst, in welchen diese Kommunen liegen, über deren Staatsbürgerschaft man verfügt oder auf deren Gebiet man sich vorübergehend oder dauernd aufhält, ohne aber (noch) über die Staatsbürgerschaft zu verfügen, und schließlich die Europäische Union. So unterschiedlich die republikanischen Mitwirkungsrechte auf diesen Ebenen geregelt sein mögen – auf der kommunalen Ebene mögen sie zum Beispiel völlig fehlen, auf EU-Ebene müssen sie erst noch definiert werden –, auf allen diesen Ebenen kann sich für das Individuum eine staatspolitische Identität entwickeln, was gleichbedeutend ist einerseits mit Zugehörigkeit und andererseits mit Verantwortung. Man könnte diese Identität auch als eine staatsbürgerliche bezeichnen, weil sie sich auf die Staatlichkeit im allgemeinen bezieht – vorläufig soll hier aber dieser Begriff vermieden werden, weil er erstens als bezogen nur auf den »National«-Staat verstanden und zweitens mit der Staatsangehörigkeit verwechselt werden könnte, womit er direkt nichts zu tun hat. Mit der nationalstaatlichen Ebene ist die staatspolitische Identität in dieser Konzeption zwar auch noch verbunden, aber einfach deshalb, weil diese Ebene in der oben aufgeführten Kaskade der verschiedenen Ebenen auch ihren Platz einnimmt, und nicht etwa, weil diese Identität langfristig gesehen noch irgendwelcher Elemente aus dem Bereich der »Nation« bedürfte. Zu ergänzen wäre die Frage, inwieweit sich in der erwähnten Stufenfolge der Ebenen am oberen Ende eine staatspolitische Identität auf globaler Ebene anfügt. Sie soll jedoch hier offengelassen werden, da es um die Entwicklung in Europa geht.

Die beschriebene Auffächerung der staatspolitischen Identität auf verschiedene Ebenen geht parallel mit der entsprechenden |158|Bewegung der nationalen Identität, welche langsam und fast unmerklich zu einer rein kulturellen wird – oder vielmehr wieder zu einer kulturellen wird. Diese beiden Bewegungen haben zur Folge, daß die kulturelle Identität nach und nach davon absieht, eine Umsetzung in staatspolitische Kategorien zu beanspruchen. Es ist auch denkbar, daß es sich dabei um einen zweistufigen Prozeß handelt: Nationalismus – die intensivste und virulenteste Verbindung von Kultur und Politik – wird zunächst zurückbuchstabiert auf eine nationale Identität, die nach außen weder physisch noch ideologisch erobern und im Innern das Fremde nicht mehr auslöschen will. Die Umwandlung der nationalen Identität in eine kulturelle Kategorie würde dann erst den zweiten Schritt darstellen. Wie langsam solche Entwicklungen vor sich gehen, zeigt die westeuropäische Geschichte. Geht man von der zweistufigen Variante aus, so bahnte sich der erste Schritt Mitte des 20. Jahrhunderts an, und der zweite ist ein halbes Jahrhundert später in vollem Gange, wie es im Rahmen der Europäischen Union beobachtet werden kann. Mittelosteuropa befindet sich auf genau derselben Entwicklungslinie. Die Beitrittskandidaten zur Europäischen Union sind bereits mit dem zweiten Schritt konfrontiert, gleichzeitig aber auch noch mit dem ersten, und dies vor allem im Zusammenhang mit Fragen der Minderheiten, auf welche noch zurückzukommen ist. Südosteuropa war in aller Grausamkeit mit einem Geschehen konfrontiert, das die verzweifelte Notwendigkeit des ersten Schrittes in diesem Prozeß aufzeigte oder hätte aufzeigen müssen. Deshalb bestand unsere Arbeit in Bosnien genau darin, den Leuten zu helfen, die ethnische Brille weglegen zu können: Es war in einem ersten Schritt die Rückführung von nationalistischem Denken auf eine westeuropäisch verstandene nationale Identität, die im Inneren nicht mehr »ethnisch säubern« – um dieses entsetzliche Wort nun doch zu verwenden – und nach außen nicht mehr erobern muß. Aber eigentlich war unsere Arbeit Teil einer längerfristigen Entwicklungslinie, jener der langsamen Trennung von staatspolitischer und kultureller Identität.

Heute weiß ich, daß es diese vorerst nur intuitive Wahrnehmung |159|war, die mich jedesmal bei der Fahrt um die zerstörte Nationalbibliothek in Sarajevo ein wenig erschauern ließ. Anfänglich schrieb ich es meinem generellen Gefühl des Grauens über das Kriegsgeschehen zu, daß ich den Blick von diesem Gebäude nie abwenden konnte. Jedoch auch später, als mich die anderen zerstörten Gebäude nicht mehr besonders beeindruckten, behielt dieses Gebäude für mich etwas Schauerliches. Ich spürte, daß hier eine tiefere Bedeutung verborgen lag. Immer und überall, wo Bücher verbrannt werden und Feuer in Bibliotheken gelegt wird, verbindet sich Politik und Kultur auf das Schauerlichste. Die Bibliothek war bei der Belagerung Sarajevos ganz bewußt eines der ersten Angriffsziele gewesen, und sie wurde gezielt in Schutt und Asche gelegt, weil sie für die Belagerer eine Provokation darstellte: Wenn es aber einen Ort gibt in Europa, wo sich kulturelle Vielfalt und Toleranz unbeschadet staatspolitischer Geschehnisse immer wieder hat halten können, und wenn es einen Ort gibt in Europa, wo diese Vielfalt und Toleranz einen so großen Reichtum von Kulturen einschloß, wie nirgendwo sonst, dann ist es Sarajevo, und seine Nationalbibliothek ist nach wie vor ein Symbol für diese Tradition. Konrad Paul Liessmann schrieb 1994: »So wie das alte Europa des Fin de Siècle mit den Schüssen von Sarajewo unterging, wird das Neue Europa angesichts des belagerten und zerschossenen Sarajewo geboren. Dieses aber mußte in diesem Konflikt erkennen, daß es das alte noch in sich trägt und es noch lange nicht weiß, was eigentlich das Neue an ihm sein soll.«147 Das kurze 20. Jahrhundert, wie es Eric J. Hobsbawm genannt hat, und das zwischen den beiden genannten Ereignissen liegt, dauerte fast achtzig Jahre.148 Dies sind die Größenordnungen, in welchen derartige Entwicklungsprozesse ablaufen. Letztlich ist es aber diese langsame Trennung von staatspolitischer und kultureller Identität, welche heute die Klammer zwischen Mittelosteuropa und Westeuropa ausmacht. Beide Teile Europas befinden sich auf derselben Entwicklungslinie, die zwar nicht linear verläuft, sondern manchmal verschlungene Formen zeichnet, schließlich aber doch immer wieder eine generelle und konstante Richtung erkennen läßt. In beiden Teilen Europas sind die einzelnen Staaten |160|in diesem Prozeß recht unterschiedlich vorangeschritten, und manchmal geht es auch einen Schritt zurück, wobei es sich gelegentlich später herausstellt, daß gerade dies der Anfang der nächsten Schritte nach vorne war. Dies ist in mittelosteuropäischen Staaten genauso zu beobachten wie in der Europäischen Union, denn anders können derartige Entwicklungen möglicherweise gar nicht vorankommen.

Die eben beschriebene Entwicklung – so langsam und so zeitungleich sie über den ganzen europäischen Raum hinweg betrachtet auch ablaufen mag – zeigt verschiedene Perspektiven auf. Hat der Prozeß einmal eine bestimmte Wegmarke erreicht, so kann sich nationale Identität im kulturellen Bereich voll einbringen, ohne daß ein Umkippen in nationalistische Bestrebungen befürchtet werden muß, denn sie hat sich vom politischen Bereich so weit abgelöst, daß sie keine politische Umsetzung in territoriale Grenzen mehr verlangt.149 Ein Keim zum Umkippen in Nationalismus wird zwar in jeder nationalen Identität immer enthalten bleiben, aber das Wissen um die Geschichte macht es möglich, zu verhindern, daß er zum »schlafenden« Ungeheuer werden kann, das sich »erwecken« läßt.150 Eine andere Perspektive der beschriebenen Entwicklung sind kulturelle Mehrfachidentitäten, was unter anderem auch einwanderungspolitisch von Interesse ist. So wie die staatspolitische Identität vertikal alle Ebenen der möglichen Staatlichkeit betrifft, kann die kulturelle Identität auf der geographischen Karte – also gleichsam horizontal – gleichzeitig ganz unterschiedliche Anknüpfungspunkte aufweisen, herkunftsabhängig, frei gewählt oder durch die Lebensumstände bedingt. Solche kulturellen Identitäten können nebeneinander bestehen und durchaus intensiv gelebt werden.151

Auf zwei Bereiche ist noch näher einzugehen, in welchen Berührungspunkte zwischen der staatspolitischen und der kulturellen Identität bestehen. Es gibt einen Teil der »Kultur« im weitesten Sinne, welcher der staatspolitischen Identität zuzurechnen ist, nämlich die politische Kultur, Staatskultur und Rechtskultur. Diese Elemente sollten von all jenen mitgetragen und geteilt werden, welche derselben staatspolitischen |161|Ebene zugehören und deshalb die entsprechende Verantwortung mittragen.152 Abzugrenzen ist die staatspolitische Identität umgekehrt von der Staatsangehörigkeit, durch welche die »National«-Staaten ein Verhältnis besonderer Rechte und Pflichten zu bestimmten Personen festlegen, das aber nicht zu verwechseln ist mit der staatspolitischen Zugehörigkeit und Verantwortung.153 Die Regelung der Staatsangehörigkeit ist eines der wenigen Gebiete, in welchen aus geschichtlichen Gründen Politik und Kultur heute noch nicht oder jedenfalls noch nicht so bald getrennt betrachtet und gehandhabt werden können. Die Art und Weise, wie europäische Nationalstaaten die Staatsangehörigkeit zuerkennen, ist sehr unterschiedlich, was nur mit der gewachsenen nationalen Identität erklärt werden kann.154 Dennoch begründet dieser Status des Individuums seine demokratische Mitwirkungsmöglichkeit auf der Ebene des »National«-Staates, also ein sehr entscheidendes »republikanisches« Element. Dies verhindert jedoch nicht, daß der Entwicklungsprozeß um diese Insel herum dennoch vorangeht. Im Rahmen der Ablösung der Staatlichkeit von der Nation und der Ausdehnung republikanischer Mitwirkung auch unter und über die Ebene des traditionellen »National«-Staates werden heute tendenziell auch zunehmend Nicht- oder Noch-nicht-Staatsbürger ins öffentliche Leben einbezogen, auch wenn es sich dabei nicht um das formelle Wahlrecht für »nationale« Parlamente handelt.155 Dies fördert auch in diesem Bereich eine Entwicklung, die – wenn auch etwas langsamer – in Richtung der Trennung von staatspolitischer und kultureller Identität führt.

Wenn sich staatspolitische und nationale Identität langsam voneinander trennen, so kommt dies einer Art »Säkularisierung« der Nation gleich, wobei der Begriff »Säkularisierung« im übertragenen Sinne gebraucht wird. Säkularisierung bedeutet die Ablösung immer umfassenderer Lebensbereiche von der Religion. Der europäische Staat ist letztlich durch Säkularisierung entstanden, wie bereits dargelegt wurde. Nachdem Religion seit Beginn der Menschheitsgeschichte dazu gedient hatte, den Zusammenhalt zwischen den Individuen zu sichern, |162|wurde diese Aufgabe später von der Religion abgelöst und vom Staat übernommen. In Europa müssen sich Wertvorstellungen, die das Individuum in der privaten Auseinandersetzung mit »seiner« Religion aufnimmt, durch die bereits erwähnte Übersetzungsleistung auf die Ebene der öffentlichen Auseinandersetzung transferiert werden, wo sie konfrontiert sind mit anderen Wertvorstellungen, welche aus dem Bereich der Moral, der Kultur oder aus anderen Zusammenhängen stammen mögen. Nichts anderes geschieht nun einige Jahrhunderte später mit der Nation, wenn sich staatspolitische und nationale Identität voneinander trennen: Der Säkularisierungsprozeß erfaßt nun auch die nationale Identität, welche in die kulturelle Dimension zurückkehrt, wo sie ursprünglich entstanden ist. Nationale Impulse können nach Ablauf dieses Prozesses durchaus die Ebene der Diskussion im Rahmen der öffentlichen, staatlichen Ordnungsstruktur erreichen, aber sie müssen auf diese Ebene übersetzt werden. So kann vermieden werden, daß gleichsam eine Aufforderung entsteht, sich den betreffenden Impulsen als nationale oder im schlimmeren Falle als nationalistische anzuschließen, genauso wie die Säkularisierung dazu geführt hat, daß Impulse aus der privaten Religionsausübung nicht mehr als religiöse Wertvorstellungen in die öffentliche Diskussion eingebracht werden.156 Da die Nation den gleichen Weg geht wie seinerzeit die Religion, darf von »Säkularisierung« durchaus gesprochen werden.157 Wenn man bedenkt, daß der Nationalismus in Europa seinerzeit an die Stelle der Religion getreten ist und daß es zwischen bestimmten Erscheinungsformen von Religion und dem Entstehen nationalistischer Bewegungen gewisse Parallelen gibt, ist diese Umschreibung durchaus sinnvoll.

Verschiedene Wege nach Europa

Wie bereits erwähnt befindet sich die Nation über den gesamten europäischen Raum hinweg betrachtet in ganz verschiedenen Stadien. Zwar ging sie 1989 und geht sie noch heute in |163|Mittelosteuropa neue Bündnisse mit ihrem traditionellen Partner, der »Republik«, ein, wodurch neue Nationalstaaten entstehen oder bereits bestehende Nationalstaaten republikanische Formen übernehmen. Trotzdem kann nun folgendes gefragt werden: Gibt es für jene Länder, in welchen »Nation« eine kulturelle Kategorie geblieben ist, eine Möglichkeit, auf das Bündnis zwischen »Republik« und »Nation« zu verzichten, die 200 Jahre dauernde Reise nicht anzutreten und gleichsam den Direktsprung durch die Geschichte zu schaffen? Diese Fragestellung ist nicht nur eine zeitliche, sondern auch eine inhaltliche. In Mittelosteuropa stimmen die Grenzen der – als kulturelle Kategorie verstandenen – Nationen und jene der Staaten längst nicht überall überein. Die verhängnisvolle nationalistische Vorstellung, daß diese Grenzen in Übereinstimmung gebracht werden sollten, führt notwendigerweise zu »ethnischen Säuberungen« mit allem, was in diesem schrecklichen Begriff angelegt ist. Nirgends ist es demnach so wichtig, kulturelle und politische Identität zu trennen, wie in jenen Ländern, wo derartige nationalistische Vorstellungen leicht wieder aufbrechen können. Im Zusammenhang mit der Minderheitenfrage können solche Emotionen wach werden, wenn kulturell verstandene Nationen in mehreren Staaten beheimatet sind oder wenn Staaten mehrere kulturell verstandene Nationen umfassen. Zwischen Westeuropa und Mittelosteuropa bestehen im Verhältnis zwischen der staatspolitischen und der kulturellen Identität nicht nur zeitliche Unterschiede, sondern auch inhaltliche. Obwohl die Zielrichtung der Entwicklung dieselbe ist, unterscheidet sich die Ausgangslage recht erheblich: Während der westeuropäische »Nationalstaat« in Richtung eines Staates jenseits der Nation geht, entwickelt sich der mittelosteuropäische »Staat der Nationen« zum Staat jenseits der Nationen. Dies führt zu einer Feststellung, die in westeuropäischen Ohren zunächst etwas eigenartig klingen mag: Im Verständnis der Nation als kulturelle Kategorie ist einerseits Mittelosteuropa näher beim Ziel dieses Prozesses als Westeuropa. In der Virulenz der verhängnisvollen Bemühungen, Kultur und Politik in Übereinstimmung bringen zu wollen, |164|ist andererseits Mittelosteuropa weiter vom angestrebten Ziel entfernt als Westeuropa. Deshalb wird Westeuropa auch diesbezüglich vorangehen müssen. Und dennoch ist – erstaunlicherweise – der Weg Westeuropas zu diesem Ziel ein längerer als jener Mittelosteuropas zum selben Ziel, sofern Mittelosteuropa sich nicht auf die 200 Jahre dauernde Reise des Bündnisses zwischen »Republik« und »Nation« begibt.

Aber auch innerhalb Westeuropas werden verschiedene Wege beschritten. Als die Französische Revolution für ihre »Republik« zum Gefäß der »Nation« griff, wandelte sie dieses von der Kulturnation zur Staatsnation oder besser zur Staatsbürgernation. Die Nation wurde zur Trägerin und Verkünderin all der aufklärerischen und universell gültigen Ideale, wobei die Schulbildung eine wichtige Funktion hatte: Schule war nun immer auch »Schule der Nation«. Über die französische Sprache wurde eine allgemeine französisch-»nationale« Rechts- und Staatskultur vermittelt, regionale Sprachen, die vorher durchaus bestanden hatten, verschwanden und wurden durch die Einheitssprache ersetzt – über deren Reinheit wacht noch heute die »Académie française« –, und in diesem Prozeß wurden regionale oder sonstwie kleinräumige kulturelle Identitäten zurückgedrängt. Dies war nur deshalb möglich, weil eine durchaus auch kulturell verstandene Ersatzidentität angeboten wurde, nämlich jene auf der »nationalen« Ebene. So hatte jedes Individuum Anteil an der »Grande Nation«. Mit anderen Worten hatte sich die politische Identität kulturell aufgeladen: Kultur war für Französinnen und Franzosen hinfort alles, was diese »Grande Nation« jemals hervorgebracht hatte, einerseits die Werke der Kulturschaffenden, andererseits aber auch die universell gültigen Errungenschaften der Aufklärung, Demokratie, Menschenrechte oder genereller gesagt der »Republikanismus«, so wie ihn die Französische Revolution geschaffen hatte. In dieser Kombination eroberte das neue Gedankengut nicht nur Europa, sondern im folgenden Jahrhundert auch andere Teile der Welt. Für den hier interessierenden Zusammenhang ist vor allem wichtig, daß in Frankreich die staatspolitische Identität auch heute noch kulturelle Elemente einschließt, |165|welche über die politische Kultur, die Staatskultur und die Rechtskultur hinausgehen. Diese drei Elemente sind auch bei einer allmählichen Trennung von kultureller und staatspolitischer Identität der letzteren zuzurechnen. Das französische Filmschaffen ist durchaus eines der »Grande Nation«, und dessen Verteidigung gegen Hollywood ist auch ein Akt des republikanischen Stolzes. In Frankreich ist geschichtsbedingt die staatspolitische und die kulturelle Identität nach wie vor intensiver und emotionaler verbunden als in vielen anderen westeuropäischen Staaten.

Wie bereits dargestellt verlief der Prozeß in Deutschland annähernd umgekehrt. Kulturelle und politische Identität blieben lange getrennt. Jean-Marc Ferry hat den Prozeß der Bildung der deutschen Nation – im Vergleich zur französischen – folgendermaßen umschrieben: »Etwas idealisierend könnte man sagen, daß dem dogmatischen Verfahren der bestimmenden Bewegung, mit dessen Hilfe der französische Staat sich bemühte, auf dem Weg über die Schule die Universalie (das heißt die universell gültigen Errungenschaften der Aufklärung) in den kulturellen und politischen Corpus der Nation einzupflanzen, das kritische Verfahren der reflektierenden Bewegung gegenübersteht, mit dessen Hilfe sich die deutsche Nation in Gestalt ihrer zahlreichen Staaten bemühte, über ihre Universitäten ihre ureigene Kultur in Richtung auf die Universalie zu entwickeln.«158 Die deutschen Intellektuellen übernahmen die philosophischen Vorstellungen der Französischen Revolution, ohne sie zunächst in einen politischen Rahmen einbringen zu können oder einbringen zu wollen, so daß diese Vorstellungen nicht in Widerspruch gerieten zu kleinräumigeren kulturellen Identitäten. Als der Nationalstaat schließlich geschaffen wurde, hielten ihm diese kleinräumigeren kulturellen Identitäten weiterhin stand, staatspolitische und kulturelle Identität blieben getrennter als in Frankreich, wo die staatspolitische Identität die kulturelle gleichsam in sich aufnahm. Für die gesamteuropäische Entwicklung der allmählichen Trennung von staatspolitischer und kultureller Identität gelangt man somit innerhalb Westeuropas zu einer ähnlich erstaunlichen Feststellung wie vorhin in der |166|Gegenüberstellung von West- und Mittelosteuropa: Bei an sich gleicher Zielsetzung erscheint der Weg zu diesem Ziel etwas länger, wenn man von der französischen staatspolitischen Identität ausgeht, als jener, den die Erreichung des Ziels ausgehend von der deutschen staatspolitischen Identität beansprucht. Erstaunlich ist dies vor allem deshalb, weil inhaltlich im französischen Staatsverständnis genau das am klarsten verwirklicht ist, was – und damit sei nun wieder Bezug genommen auf den Gegenstand dieses ganzen Kapitels, nämlich das Dreieck »Westeuropa/Mittelosteuropa/Vereinigte Staaten« – die europäische »Staatlichkeit« ausmacht und sich damit so diametral von den ebenfalls historisch gewachsenen Verhältnissen jenseits des Atlantiks unterscheidet. Auf diese Dimension soll im folgenden noch näher eingegangen werden, und zwar zunächst anhand einer Gegenüberstellung von Gruppendenken und Individuum.

Minderheiten, Gruppenrechte und Individuum

In Westeuropa treten Minderheitenprobleme meist innerhalb der bestehenden Staaten auf, denn oft wurde seinerzeit bei der Nationalstaatenbildung mit verschiedenen Methoden etwas nachgeholfen, die neue »Nation« zusammenzuschweißen und womöglich einen gemeinsamen Herkunftsmythos zu präsentieren. Geschah es nicht mir der nötigen Umsicht und Behutsamkeit – vor allem, wenn Minderheitsgruppen gewaltsam integriert wurden –, so kann sich dies noch nach Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten rächen, und zwar genau nach dem bereits geschilderten Muster der schlummernden nationalen Identität, welche politisch »erweckt« werden kann.159 Mittelosteuropa unterliegt denselben Mechanismen, doch ist die Minderheitensituation komplizierter, was wiederum auf die geschichtliche Entwicklung und auf das kulturelle Verständnis der Nation zurückgeht. Wenn die Angehörigen einer kulturell verstandenen »Nation« in mehreren Staaten wohnen und wenn in einem dieser Staaten die betreffende Nation klar in der Mehrheit ist, so liegt die klassische Ausgangssituation vor für |167|das Entstehen von nationalistischen Träumen zur Verschiebung der politischen Grenzen, um sie mit den kulturellen in Übereinstimmung zu bringen. Kann dies vermieden werden, so entsteht oft trotzdem der Wunsch, die Beziehungen zwischen den Angehörigen der kulturell verstandenen »Nation« und dem Staat, in welchem diese Personen zwar nicht selber wohnen, in welchem aber die Angehörigen derselben »Nation« in der Mehrheit sind, rechtlich zu regeln. Dagegen ist nichts einzuwenden, falls es sich um Personen handelt, die über die Staatsangehörigkeit dieses Staates verfügen, denn die Staatsangehörigkeit begründet ein staatspolitisch besonderes Band zwischen Staat und Individuum, auch wenn das Individuum nicht im Staat seiner Staatsangehörigkeit wohnt. Verfügen hingegen Angehörige der kulturell verstandenen »Nation« nicht über die Staatsangehörigkeit jenes anderen »Heimat«-Staates, so wird die rechtlich festgehaltene Beziehung dieses Staates zu ihnen problematisch. Ein staatspolitisch definiertes Band zu ihnen existiert in solchen Fällen nämlich nicht, sondern die Beziehung ist ausschließlich eine rein kulturell definierte »nationale«.160 Mit der langsamen Trennung von staatspolitischer und kultureller Identität wird die Rechtsbeziehung zum Staat des Wohnens zu einer rein staatspolitischen und damit rechtlich geregelten Angelegenheit, jene zum Staat, welcher die eigene kulturell verstandene »Nation« verkörpert, hingegen zu einer rein kulturellen. In Westeuropa ist dieser Zustand faktisch mehr oder weniger erreicht, auch wenn die Trennung von staatspolitischer und kultureller Identität noch längst nicht abgeschlossen ist. Dieser Teil Europas verdankt das frühere Erreichen dieses Zustandes der früheren Nationalstaatenbildung. Davon ist nicht Mittelosteuropa als Ganzes, aber es sind einige Staaten, insbesondere solche in Südosteuropa noch ein längeres Stück Weg entfernt. Das folgende Beispiel, welches allerdings schon einige Jahre zurückliegt, mag dies illustrieren: In Bosnien nach dem Krieg war die Bezeichnung »bosnische Serben« und »bosnische Kroaten« bereits eine Errungenschaft, denn sie löste die Bezeichnung »Serben« und »Kroaten« ab, welche nationalistisch orientierte, in Bosnien lebende Personen |168|serbischer oder kroatischer Herkunft verwendeten. Darin kam zunächst die kulturell verstandene Nation zum Ausdruck, wobei aber die Bedeutung des Nachbarstaates Serbien – also die Bundesrepublik Jugoslawien – oder Kroatien stark mitklang, weshalb man durch die Verwendung dieser Bezeichnung zum Ausdruck bringen konnte, daß man einen Anschluß der von anderen »Nationen« »befreiten« Landstriche Bosniens an diesen Nachbarstaat durchaus befürworte. Redete man von »bosnischen Serben« oder »bosnischen Kroaten«, so war das dementsprechend ein Signal in umgekehrter Richtung. Die Bezeichnung »Serben« oder »Kroaten« wurde im Nachkriegs-Bosnien als Symbol für die Verschmelzung von politischer und kultureller Identität bewußt eingesetzt. So konnte es durchaus geschehen, daß ein Adressat einen von mir unterzeichneten Brief entrüstet zurücksandte mit der Bemerkung, er verbitte sich die Verwendung des Ausdruckes »bosnische Serben« oder »bosnische Kroaten«, was mich nicht davon abhielt, bei diesem Sprachgebrauch zu bleiben und das folgende Schreiben an denselben Adressaten auch zu einer Erklärung zu benützen, warum ich dies für richtig hielt. In dieser zweiten Variante zeigen sich das kulturelle und das staatspolitische Element bereits nebeneinander, indem das Adjektiv »bosnisch« die staatspolitische Komponente darstellt, die für beide identisch ist, während sich im Substantiv die kulturelle Komponente zeigt, welche in Bosnien wie in ganz Mittelosteuropa als die »nationale« bezeichnet wird.

Für den hier interessierenden Zusammenhang ist aber vor allem wichtig, wie Guppenrechte und Rechte des Individuums gehandhabt werden. Nationale Identität verlangt eher nach Gruppenrechten, staatspolitische Identität hingegen eher nach individuellen Rechten. Nachdem für die Darstellung der langfristigen Entwicklungslinie innerhalb Europas das Dreieck »Westeuropa/Mittelosteuropa/Vereinigte Staaten« vorübergehend ausgeblendet worden ist, soll der Gesamtkontext dieses Kapitels hier nun wieder einbezogen werden. Zwei bereits wiederholt erwähnte transatlantische Unterschiede bilden dabei den Ausgangspunkt: Zum einen hat Europa als Antwort |169|auf die Individualisierung für die gesellschaftliche Einbindung die Staatlichkeit gewählt, die Vereinigten Staaten hingegen die »Gemeinschaft«. Zum andern ist Politik jenseits des Atlantiks vorwiegend ein Kampf um Rechte, in Europa demgegenüber ein Kampf um Gesetze. Recht und Politik greifen diesseits und jenseits des Atlantiks unterschiedlich ineinander, Gruppe und Individuum haben einen unterschiedlichen Stellenwert.

Nach der verhaßten Einbindung in die allgegenwärtige Partei- und Staatsstruktur, die auf bescheidenem Niveau auch eine ökonomische Sicherheit beinhaltete, erlangten die Menschen in Mittelosteuropa 1989 abrupt eine Freiheit, die mit einem ebenso abrupten Individualisierungsschub verbunden war, begleitet vom allmählichen Verlust der vorherigen Versorgungssicherheit. Auch eine verhaßte Bindung ist aber letztlich eine Bindung. Nehmen mittelosteuropäische Staaten in dieser sowohl ökonomisch als auch staatspolitisch nicht sehr einfachen Situation den Gedanken auf, zum Ausgleich der abrupt zunehmenden Individualisierung vor allem auf das Element der »Gemeinschaften« zu setzen, so durchläuft der gesamteuropäische Prozeß der langsamen Trennung von staatspolitischer und kultureller Identität eine Phase des Rückschrittes. Dasselbe geschieht, wenn Politik vorwiegend als Kampf um die Rechte verschiedener Minderheitsgruppen verstanden wird. Die verschiedenen Entwicklungen können nämlich nicht getrennt voneinander betrachtet werden: Die drei Fragenkreise, wie erstens Politik funktionieren soll, worin zweitens Bindungen als Ausgleich zur Individualisierung bestehen sollen, und inwieweit drittens staatspolitische Identität mit der kulturellen – sprich in Mittelosteuropa »nationalen« – Identität verbunden bleiben soll, rücken unversehens auf dieselbe Entscheidungslinie zwischen Gruppe und Individuum. Damit werden die drei Fragenkreise so interdependent, daß es auf sie gar keine voneinander unabhängigen Antworten mehr gibt. Im Klartext gesprochen: Wenn in Mittelosteuropa zum Ausgleich von Individualisierung Bindung im US-amerikanischen Sinne vor allem in der Gemeinschaft – anstelle der europäisch |170|verstandenen Staatlichkeit – gesucht wird, so fördert dies die Ansprüche »nationaler« Minderheiten als Gruppen auf rechtliche und damit staatliche Anerkennung. Und wenn in Mittelosteuropa »Politik« nach US-amerikanischem Muster verstanden wird als ständiger Widerstreit von Minderheitsgruppen – darauf angelegt, einen Mehrheitskonsens zu vermeiden –, so wird dies zum rechtlichen Kampf um die Durchsetzung von Ansprüchen »nationaler« Minderheiten als Gruppen führen. Wie das funktioniert, zeigt ein Blick über den Atlantik, wo sich ethnisch definierende Minderheiten zunehmend in den sozialen Verteilungskampf einschalten.161 Solche Erscheinungen werden sich nie ganz vermeiden lassen. Sicher ist jedoch, daß sie sich nur im Rahmen einer europäisch verstandenen staatspolitischen Kultur, die auf der Mitwirkung des Individuums in seiner Eigenschaft als Teil des Volkssouveräns beruht, bändigen lassen und nicht in einer Politik der widerstreitenden Minderheitsgruppen nach dem Muster der Vereinigten Staaten, denn diese Form der »Politik« fördert unausweichlich die ethnische Gruppenbildung, was sich für Staaten verheerend auswirkt, in denen nationalistische Strömungen nach wie vor vorhanden sind.162

Hier ist nun nochmals zurückzukommen auf die subtilen Differenzen im Verständnis der Nation innerhalb Westeuropas. Wenn sich transatlantische Differenzen zeigen, dann ist auf der europäischen Seite fast immer Frankreich an vorderster Front. Man könnte nun annehmen, dies sei in irgendwelchen Hegemonieansprüchen begründet und darin, daß Frankreich auf die Hegemonieansprüche der Vereinigten Staaten deshalb am schärfsten reagiere. Die Annahme ist jedoch nicht richtig, denn der Grund liegt viel tiefer, nämlich in einer äußerst klaren, staatspolitischen Identität, die bereits im Zusammenhang mit dem Sektenwesen erwähnt worden ist. Diese Identität zeigt sich auch in der Minderheitenfrage. Frankreich hat immer die Haltung vertreten, in diesem Land gebe es keine »nationalen« Minderheiten, eine konsistente Haltung, die historisch begründet ist.163 Der ungeheure Kraftakt der Französischen Revolution hat die »Grande Nation« |171|so stark geprägt, daß sie sich nach wie vor als Hüterin der damals geschaffenen aufklärerischen Inhalte sieht. Durch die »Schule der Nation« und über die französische Sprache wurde im 19. Jahrhundert eine »nationale« Identität geschaffen, welche Trägerin war für die aufklärerischen Ideen und welche kleinräumigere kulturelle Identitäten ersetzte. Die Beheimatung in Gemeinschaft und Gruppe, welche diese früheren Identitäten geprägt haben mag, wurde ersetzt durch jene in den aufklärerischen Ideen, und diese fanden auf der »nationalen« Ebene auch einen emotionalen Rahmen. Durchbruch zur Aufklärung war identisch mit der Überwindung der kleinräumigeren kulturellen Identität und mit der Ersetzung von Gemeinschaft und Gruppe durch das Individuum. Deshalb ist für Frankreich noch heute die Vorstellung der Existenz von Minderheiten ein Verrat am republikanischen Gedankengut und an der Französischen Revolution. Die »gemeinschaftliche« Ordnungsstruktur, die in den Vereinigten Staaten dem individualisierten Individuum als Bindung dient und den Zusammenhalt der Gesellschaft sicherstellt, wie auch das Verständnis von »Politik« als Kampf um Rechte durch Minderheitsgruppen bilden deshalb zu der in Frankreich entstandenen staatspolitischen Identität einen noch schärferen Gegensatz als zu jenen Identitäten, welche andere europäische Staaten prägen. Staatspolitische Identität nach französischem Muster ist somit die in reinster Form auftretende Antithese zur amerikanischen Identität. Dies ist der eigentliche Grund dafür, daß in transatlantischen Auseinandersetzungen Frankreich oft an vorderster Front steht.

Die Minderheitenfrage kann hier nicht ausdiskutiert werden. Abschließend sei indessen noch auf einen Aspekt hingewiesen, in welchem die kulturelle und die staatspolitische Dimension einmal mehr zu verschiedenen Lösungsansätzen führten. Sucht man nach einer Möglichkeit, Kleinräumigkeit im Rahmen einer staatspolitischen Dimension mitzuberücksichtigen, so bietet sich die föderative Organisation des Nationalstaates an. Die Organisation eines Staates in Teilstaaten oder noch kleineren Einheiten beruht nicht auf Gruppenrechten, sondern genauso |172|auf dem Individuum als Teil des souveränen Volkes, wobei dieses Individuum über eine staatspolitische Mehrfachidentität verfügt, die sich vertikal aufteilt. Steht hingegen die kulturelle Dimension im Vordergrund – nach mittelosteuropäischem Verständnis also die »nationale« –, so ergibt sich daraus notwendigerweise ein Denken in Gruppenrechten, welches zur Folge hat, daß Personen mit gleichem kulturellem Hintergrund als Gruppe nach Anerkennung und besonderer Behandlung verlangen. Der erstgenannte Ansatz ist durchaus vereinbar mit der gesamteuropäischen Entwicklung, staatspolitische und kulturelle Identität allmählich voneinander abzulösen. Der zweitgenannte Ansatz läuft dieser Entwicklung entgegen.164

Freiheit durch Souveränitätsverzicht

Im vorangegangenen Kapitel wurde dargelegt, warum die Amerikanische Revolution im Unterschied zur Französischen nicht zu einer Staatsgründung, sondern genau besehen nur zur Gründung einer Nation geführt habe. Außenpolitisch agieren die Vereinigten Staaten ohne Zweifel als Nationalstaat. Und ohne Zweifel fand in der Amerikanischen Revolution formal gesehen dasselbe statt wie in der Französischen Revolution, nämlich die Gründung eines Nationalstaates. Die Differenzen liegen im Bereich der Identitäten. Identität entsteht durch die Bindungen, welche die individualisierte Person akzeptiert. Die Französische Revolution offerierte dem Individuum Freiheit in der Form staatspolitischer Identität. Die Amerikanische Revolution offerierte hingegen Freiheit in der Form der nationalen Identität. Um ein Angebot staatspolitischer Identität handelte es sich dabei nicht, denn dafür bestand in Amerika kein Bedürfnis: Das bereits durch den individuellen Auswanderungsakt befreite Individuum suchte nach Bindung, aber nicht nach Bindung durch Staatlichkeit, denn just von der kollektiven Bindung durch die Staatlichkeit hatte es sich ja befreit. Deshalb haben US-Amerikaner auch heute noch keine staatspolitische |173|Identität. Für Europäerinnen und Europäer ist die staatspolitische Identität hingegen nicht nur die Grundlage der Freiheit des Individuums, sondern auch die Grundlage der Friedensordnung seit 1945. Beides beruht auf Souveränitätsverzicht: Historisch gesehen verzichtete das Individuum auf seine Urfreiheit, trat diese dem Staat ab und erhielt im Gegenzug eine Freiheit, die nun nicht mehr die »Freiheit des Stärkeren« ist, sondern eine Freiheit, welche allen dem Staat Unterworfenen in gleichem Maße zusteht, und diese Freiheit manifestiert sich auch in der Volkssouveränität, die darin besteht, die staatspolitische Grundordnung gemeinsam festzulegen. Gleichheit ist im europäischen Freiheitsverständnis immer untrennbar mitenthalten. Darin liegt ein grundlegender Unterschied zu den Vereinigten Staaten, wo Freiheit zwar auch allen zusteht, aber praktisch genießt derjenige mehr Freiheit, der sie sich erkämpft. Und analog sind auf der nächsthöheren Ebene die europäischen Staaten im Rahmen der Europäischen Union zunehmend bereit, auf ihre Souveränität teilweise zu verzichten, wodurch sie im Gegenzug eine Friedensordnung erhalten, die sich bisher als stabil erwiesen hat. Wohl haben größere Staaten in der Union einen größeren Einfluß als kleinere, doch von einem plumpen »Recht der stärkeren Staaten« kann nicht die Rede sein, denn gerade für größere Staaten ist der Souveränitätsverzicht ja eigentlich einschneidender als für kleinere, welche ohne den Souveränitätsverzicht im Zusammenspiel der Staaten weniger zu sagen hätten.

Der grundlegende Unterschied zu den Vereinigten Staaten ist beim Souveränitätsverzicht durch Staaten derselbe wie beim individuellen Souveränitätsverzicht: Die Vorstellung der Freiheit des eigenen Nationalstaates ist jenseits des Atlantiks nicht verbunden mit der Vorstellung der Gleichheit aller Nationalstaaten, sondern mit der Vorstellung des Rechtes des stärkeren Staates. Das Recht des Stärkeren ist in den Vereinigten Staaten nicht nur ein Argument, welches je nach Interessenlage gerade dann in Anspruch genommen wird, wenn es einem nützt, weil man gerade der Stärkste ist, sondern es ist ein eigentliches Grundprinzip, das ideengeschichtlich jahrhundertelang gewachsen |174|ist. Es handelt sich um eines der wenigen dauerhaften Prinzipien im US-amerikanischen Denken und dient als Grundmuster zur Ordnung sehr vieler Lebensbereiche. Es wäre deshalb falsch, die US-Mentalität nur auf die heutige Stellung der allein übriggebliebenen Weltmacht zurückzuführen. Machtdenken mag die Haltung der Vereinigten Staaten zwar fördern, aber deren Wurzeln liegen viel tiefer, und sie wären auch dann noch wirksam, wenn sich die Machtposition dieses Landes abschwächen würde.

Auf das Vorhandensein einer staatspolitischen Identität in Europa und deren Nichtvorhandensein in den Vereinigten Staaten können praktisch alle transatlantischen Differenzen zurückgeführt werden: das Fehlen des Souveränitätsbegriffes in der US-amerikanischen Verfassung, der immer wieder gelungene Versuch, zu verhindern, daß sich eine politische Gewalt überhaupt anmaßen kann, im Namen des Volkes zu sprechen, und die negativ bewertete Vorstellung vom Souveränitätsverzicht des Individuums zugunsten des Staates. Diese grundlegend andere Einstellung zum Souveränitätsverzicht hat verschiedene Wurzeln. Es sollte nicht vergessen werden, daß eine dieser Wurzeln religiöser Natur ist. In der US-amerikanischen Tradition ist der Mensch mit seinem Gott allein, und niemand soll in diese Beziehung intervenieren können. Der bereits verschiedentlich zitierte Politologe Otto Kallscheuer umschreibt den Hintergrund dieser Einsamkeit mit Gott folgendermaßen: »(…) eine mögliche Deutung dieser ›innern Fülle‹ der amerikanischen Einsamkeit (…) [hat], wie schon der Bund des auserwählten Volkes, mit der symbolischen Geschichte der Wanderschaft, mit dem Überschreiten der offenen frontier zu tun (…): ›Amerika‹, so sahen wir, gründete in einer Auswanderung in die Demokratie. Diese Wanderung setzte sich beim Zug nach Westen fort und nötigte den Wanderern die Erfahrung von Grenze und Einsamkeit auf. Der kalifornische Philosoph Josiah Royce, ein idealistischer ›Kommunitarist‹ der Jahrhundertwende, beschreibt Gottes Anwesenheit als Kehrseite der Wüstenerfahrung auf den großen Wagenzügen der den Westen des Kontinents besiedelnden |175|Trecks: Wem anders als Gott konnte man in der Wüste begegnen? (…) Der Gott der Bibel konnte auf dem großen Zug gar nicht durch institutionelle Stellvertreter sprechen, auch der Text des Buches der Bücher mußte in persönlicher Erfahrung erlebt werden.«165 Einmaligkeit des Individuums wird in der US-amerikanischen Tradition auch über die religiöse Identität erlebt, in der Tradition der Französischen Revolution hingegen vor allem über die staatspolitische Identität. Darauf wird im nächsten Kapitel im Zusammenhang mit Aufklärung und Romantik zurückzukommen sein. So erstaunlich es zunächst anmutet, findet sich aber auch hier wieder ein Bezug zur Weggabelung des Jahres 1648.

Eine andere Wurzel des mangelnden Zuganges der US-Amerikaner zum Souveränitätsverzicht wurde bereits erwähnt. Volkssouveränität neigt dazu, immer mehr Kategorien von Personen einzuschließen, und zwar unabhängig von irgendwelchen Beitrittshandlungen oder Bekenntnissen.166 Volkssouveränität tendiert mit anderen Worten langfristig immer zur Gleichheit, die zwar für Europäerinnen und Europäer, nicht aber für US-Amerikaner zum Freiheitsverständnis gehört.

Europäische staatspolitische Identität basiert auf der existentiellen Zugehörigkeit, europäische Staatlichkeit bedarf keines Bekenntnisses, keines Beitrittes, keiner Mitgliedschaft, sie unterscheidet sich von der Tätigkeit eines Vereins oder eines Wirtschaftsunternehmens ganz diametral. Es geht letztlich nie nur darum, Lösungen zu finden, die akzeptierbar sind lediglich für einen selber oder für eine Gruppe, der man angehört, sondern es geht immer darum, Lösungen zu finden, die in der Akzeptanz niemandes Interessen völlig ausschließen, auch wenn die Akzeptanz für einige immer kleiner sein wird als für andere. Und dies alles wohlverstanden nicht aus Philanthropie oder Nächstenliebe, sondern aufgrund des sehr rationalen Souveränitätsverzichtes, den das Individuum geleistet hat, in der durchaus auch egoistischen Güterabwägung, daß es dadurch mehr gewinnt, als es verliert. Die große Freiheit, die sich das Individuum dadurch einhandelt, besteht in der Gewißheit, |176|daß die Entscheidungen anderer, an denen es nicht direkt mitbeteiligt ist, seine Interessen wenigstens in einem Mindestmaß ebenfalls mitberücksichtigen werden. Europa hat sich auf den Souveränitätsverzicht geeinigt. Dies war nur möglich aufgrund einer langen leidvollen Geschichte. Die uneingeschränkte Souveränität muß zu so massiver und/oder so lange andauernder Gewaltanwendung geführt haben, daß entweder der Souveränitätsverzicht erfunden wird oder daß man sich in späteren Zeiten darauf zurückbesinnt und ihn der Gesellschaftsordnung definitiv zugrunde legt. Die europäische Geschichte ist Zeugnis für diese Vorgänge.167

Souveränitätsverzicht bedeutet somit auch die Ersetzung der Gewaltanwendung durch das Recht: Der individuelle Souveränitätsverzicht führt zur staatlichen Rechtsordnung, welche das Faustrecht unter den Individuen ablöst. Der Souveränitätsverzicht der Staaten führt entweder zur Ordnung durch Völkerrecht oder kann – wie in Europa – sogar zu supranationalem Recht führen, und beides löst die Gewaltanwendung zwischen den Staaten ab.168 Jenseits des Atlantiks wird der Souveränitätsverzicht negativ bewertet. Sowohl im außenpolitischen als auch im innenpolitischen Bereich führt dies zu einem bestimmten Konzept der Handhabung von Gewalt. Von der tendenziell größeren Gewaltakzeptanz sowie der tendenziell größeren individuellen Gewaltbereitschaft in den Vereinigten Staaten war bereits die Rede. Das Gegenstück dazu bildet das staatliche Gewaltmonopol. Die Polizei übt die legale Gewalt im Staat aus, wohingegen die Gewaltausübung durch Private illegal und strafbar ist, vorbehaltlich einiger im Gesetz ausdrücklich vorgesehener Ausnahmen. In den Vereinigten Staaten beginnt das staatliche Gewaltmonopol abzubröckeln, und dies sowohl am »unteren« wie auch am »oberen« Ende der gesellschaftlichen Skala zwischen »arm« und »reich«. Es gibt städtische Viertel, in welchen wieder das Faustrecht herrscht und wo sich die Polizei nicht mehr hineinwagt. Private Banden halten hier eine Ordnung aufrecht, wie sie ihnen behagt. Am anderen Ende der Skala finden sich die bereits erwähnten geschützten Bezirke, welche von hohen Mauern umgeben |177|sind. Diese werden von privaten Sicherheitsdiensten bewacht, welche auch die Ordnung im Inneren gewährleisten. Eine staatliche Polizei brauchen solche Bezirke nicht mehr, sie brauchen nur noch eine militärische Landesverteidigung sowie die Sicherung des Staates durch die Geheimdienste, um zu verhindern, daß ihr geschützter Bezirk als Ganzes plötzlich von der geographischen Karte verschwindet. Die Bewohner solcher Bezirke befürworten dementsprechend eher Militärausgaben als die Stärkung der polizeilichen Sicherheit. Sowohl für die ganz armen wie auch für die ganz reichen Individuen privatisiert sich die Gewaltanwendung wiederum, es handelt sich gewissermaßen um die Abschaffung des Staates in Teilbereichen. Daß das Abbröckeln des staatlichen Gewaltmonopols in den Vereinigten Staaten viel leichter akzeptiert wird als in Europa, ergibt sich ebenfalls aus der jenseits des Atlantiks nicht geläufigen Vorstellung des Souveränitätsverzichtes und der fehlenden staatspolitischen Identität. Und eben diese ist es, welche analoge Phänomene in Europa undenkbar macht: Wo sie dennoch auftreten, muß Europa viel rascher handeln.169

Der Souveränitätsverzicht tangiert aber auch das Recht als solches. Im vorangegangenen Kapitel wurde dargelegt, daß das europäische Recht eher eine Friedensordnung anstrebt, das US-amerikanische Recht hingegen eher eine Streitkultur. Auch diese Aussage kann nun in einen weiteren Zusammenhang eingeordnet werden, nämlich in jenen des vorangegangenen oder eben nicht vorangegangenen Souveränitätsverzichtes. Je nach dem, ob sich Recht auf oder außerhalb der Grundlage einer Vorstellung von Souveränitätsverzicht entwickelt, basiert es logischerweise auf unterschiedlichen Grundelementen. Die staatspolitische Identität, welche der Souveränitätsverzicht mit sich bringt, ermöglicht die Etablierung einer objektiv gültigen Rechtsordnung, die einen Ordnungsrahmen setzt und eine gewisse rechtliche Stabilität. Genauer besehen wird die staatspolitische Identität damit zu einer rechts- und staatspolitischen Identität, denn im Rahmen der so geschaffenen Staatlichkeit entsteht die Rechtsordnung. Hat ein Souveränitiätsverzicht |178|nicht stattgefunden, so entwickelt sich Recht auf der Basis der subjektiven Rechte des Individuums, die immer wieder aufeinandertreffen, wobei »Recht« einem ständigen Wandel unterworfen ist. Eine rechts- und staatspolitische Identität im europäischen Sinne entsteht dabei nicht. Hingegen entsteht anstelle der staatspolitischen Identität eine Art direkte rechtspolitische Identität, die aber ganz anders ausgestaltet ist als die europäische: Mangels Souveränitätsverzicht überspringt sie gleichsam die staatliche Ebene und die Phase der Einigung auf eine Rechtsordnung, und das Individuum stürzt sich direkt in den Kampf um die subjektiven Rechte. Daß unter diesen Umständen die Auseinandersetzung vor den Gerichten zu der Arena wird, welche viel mehr die Funktion des europäisch definierten »Politischen« übernimmt als der Geschäftsgang in Parlament und Regierung, ergibt sich daraus als eine logische Folge. Dies ist eine der Grundlinien des US-amerikanischen Rechtsverständnisses, welches sich auch im Umgang der Vereinigten Staaten mit dem internationalen Recht manifestiert. Undemokratisch kann dieses Rechtsverständnis nicht genannt werden, aber es beruht auf einem anderen Demokratieverständnis als jenem, das in Europa entstanden ist. Europäisch verstandene Rechtsstaatlichkeit basiert demgegenüber auf Souveränitätsverzicht.170 Nach Immanuel Kant kennzeichnet »die privatrechtliche Souveränität des Individuums und die daraus resultierende objektive Rechtslosigkeit« den »Naturzustand«, also die Zeitspanne, bevor das Individuum den Souveränitätsverzicht geleistet hat.171 Subjektive Rechte gibt es in diesem Naturzustand sehr wohl, aber die Individuen haben sich noch nicht darauf geeinigt, was objektives Recht sein soll, also die »Rechtsordnung«. Den analogen europäischen Vorgang auf staatlicher Ebene soll ein Zitat des früheren Präsidenten der Europäischen Kommission Jacques Delors illustrieren: »Dieses gemeinsame, unter Wahrung der Identität der Beteiligten unternommene Projekt ist dank der Erfindung eines neuen politischen Raums möglich geworden, in dem der Nationalstaat keineswegs verschwindet, sondern in dem er akzeptiert, einen Teil der Souveränitätselemente zu delegieren, wenn er darin ein |179|Erfordernis der Macht, aber auch des Großmuts sieht. Dieser Raum, in dem die Souveränitäten je nach Fall eingeschränkt sind, konkurrieren oder zusammenwirken, in dem sich etwas abzeichnet, was kein Supernationalstaat mit erweiterten Grenzen ist (mit dem ja wieder ein Hegemoniezentrum geschaffen würde), sondern ein ausdifferenziertes Netz von Zuständigkeiten und Rechten – das ist die Europäische Gemeinschaft.«172

Zu Beginn dieses Kapitels wurde auf das Friedensabkommen von Dayton eingegangen, wobei einige seiner strukturellen Mängel zur Sprache kamen. Diese Mängel stellten im Nachkriegs-Bosnien nur eine Seite des Problems dar, die andere Seite bestand in der praktischen Umsetzung und in der täglichen Arbeit, in der sich die fehlende staatspolitische Identität von US-Amerikanern praktisch auswirkte: Über was man nicht verfügt, das kann man auch nicht anbieten. Dies war einer der Gründe, weshalb staatsbürgerliche Identität in Bosnien nicht in dem Ausmaß zum Thema wurde, wie es für die Normalisierung der Situation nötig gewesen wäre. Schade ist nur, daß sich gelegentlich auch Europäer so verhielten, als verfügten sie ebenfalls kaum über eine staatspolitische Identität. Hier soll nun im Zusammenhang mit der Volkssouveränität nochmals kurz auf dieses Friedensabkommen eingegangen werden, weil es sich auch in dieser Hinsicht als sehr US-amerikanisch geprägt erweist. Aus Anlaß ihres fünfjährigen Bestehens hat Edin Šarčević die bosnische Verfassung analysiert, die als ein Annex dieses Abkommens auf völkerrechtlichem Weg erlassen worden ist. Neben verschiedenen anderen Aspekten kritisiert er, daß die Volkssouveränität in diesem Erlaß nicht nur nicht abgesichert, sondern nicht einmal in Ansätzen entfaltet werde. Von einem Verfassungsverständnis, das der Volkssouveränität Rechnung trägt, ist man heute weiter entfernt denn je: »Das Daytoner Verfassungssystem ethnisiert die bosnisch-herzegovinische pouvoir constituant mit der Folge, daß das bosnische Staatsvolk (verstanden als demos) durch die drei ›Nationen‹ (verstanden als ethnos) ersetzt wurde. Statt einen Staat zu bilden, schuf das Abkommen die drei Ethnien, die sich aufgrund einer völkerrechtlichen Vereinbarung im latenten Konflikt befinden«, |180|schreibt Šarčević.173 Den Vereinigten Staaten ging es darum, in Bosnien geordnete Verhältnisse herbeizuführen, und es war für sie nicht wichtig, auf welche Weise dies erreicht wurde. Einerseits setzten sie auf den Druck der internationalen Gemeinschaft: »Vor allem gegen Stimmen aus den Vereinigten Staaten hielt ich daran fest, daß sich die Demokratie Schritt um Schritt entwickeln muß und nicht durch die Machtvollkommenheit eines Hohen Repräsentanten erzwungen werden kann«, sagt Wolfgang Petritsch zum Abschluß seiner Tätigkeit als Hoher Repräsentant in Bosnien.174 Andererseits vertrauten die Architekten in Dayton offenbar darauf, daß die Auseinandersetzungen zwischen den ethnischen Gruppen zu den von ihnen gewünschten Resultaten führen würden. Zu diesem Zweck erfanden sie auch Dinge wie zum Beispiel das »Vetorecht«, mittels welchem jede ethnische Gruppe im Parlament Entscheidungen blockieren kann, wenn sie ihr »vitales Interesse« für verletzt hält. Dieses Instrument führte während langer Zeit zu einer weitgehenden Blockade der Legislative, jedenfalls in wichtigen Staatsgeschäften. Carsten Stahn weist auf die verhängnisvollen Folgen dieses Konzepts für den bosnischen Staat hin und verwendet den Begriff der »ethnischen Demokratie«, die offensichtlich aufgrund dieses Konzeptes an die Stelle der auf Volkssouveränität basierenden Demokratie getreten sei.175 In verschiedener Hinsicht erinnert das Muster an die Geschichte der Vereinigten Staaten: ein Spiel zwischen Minderheitsinteressen, auf der Grundlage einer Verfassung, die gleichsam über dem Volk steht, wenn sie einmal in Kraft gesetzt ist. Die bosnische Verfassung kann zwar geändert werden, aber das »Vetorecht« macht Verfassungsänderungen sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich.176

Was das Dreieck »Westeuropa/Mittelosteuropa/Vereinigte Staaten« anbelangt, kann zusammenfassend für dieses Kapitel festgehalten werden, daß das Wachsen staatspolitischer Identität auch in Mittelosteuropa unerläßlich ist. Würde anstelle der staatspolitischen Identität eine »Identität der Gemeinschaft« entwickelt, so wäre es kaum möglich, die nationalistischen Kräfte in ein Ganzes zu integrieren, die sich in diesem |181|Teil Europas geschichtsbedingt noch virulenter manifestieren als in Westeuropa, wo sie aber durchaus auch noch vorhanden sind. Grundlage der europäischen staatspolitischen Identität ist der Souveränitätsverzicht. Dieser ist auf der individuellen Ebene für die Freiheit des Individuums und auf der Ebene der Staaten für die Erhaltung des Friedens von so zentraler Bedeutung, daß staatspolitische Identität und die damit verbundene Rechtsstaatlichkeit die Grundlagen Europas darstellen, um deren Verteidigung dieser Kontinent nicht herumkommen wird. In den Vereinigten Staaten basiert die gesellschaftliche Ordnung auf anderen Elementen, auf einer nationalen Identität, die auch religiös begründet ist und die schon vor Jahrhunderten an die Stelle der staatspolitischen Identität nach europäischem Muster getreten ist. Die USA beurteilen den individuellen Souveränitätsverzicht als etwas Negatives und lehnen den völkerrechtlichen Souveränitätsverzicht weitgehend ab. Daraus ergibt sich die Schlußfolgerung, daß es in den kommenden Jahren in beiden Teilen Europas, die jetzt wieder aufeinander zugehen, notwendig ist, die transatlantischen Differenzen im ideengeschichtlichen Bereich und deren jahrhundertealte Wurzeln zu kennen, die europäische Identität im staatspolitischen Bereich zu benennen und sie im Auge zu behalten.