8.
Endspurt

Nie machen wir was Schönes!

Jetzt kommen sie wieder gehäuft, die drei H-Wörter: Hurensohn, Hitzefrei und Heidepark.

In der zweiten Stunde spricht mich eine mir unbekannte Schülerin an: »Frau Freitag, Sie fahren Wandertag Heidepark mit Ihre Klasse?«

»Auf Keinen! Wie kommst du denn darauf?«

»Ihre Klasse, alle sagen, Sie fahren Heidepark.«

Der Heidepark Soltau ist ein riesiger Vergnügungspark in der Nähe von Hamburg. Der Wunsch, dieses Spaßparadies einmal im Leben zu besuchen, wird genetisch von Schülergeneration zu Schülergeneration weitergegeben. Das so vererbte Bedürfnis äußert sich dann in Intervallen, sobald das Wetter besser wird.

In der fünften Stunde steht Samira vor der Tür. Sie macht ein besorgtes Gesicht. Oh Gott, denke ich, jetzt ist sie schon wieder aus dem Unterricht geflogen.

»Was ist denn, Samira? Komm mal rein.«

Sie schleicht zu mir und fragt: »Frau Freitag, stimmt es, dass wir nicht Heidepark fahren?« Für sie scheint die bloße Vorstellung, unsere Klasse könnte in den nächsten Wochen NICHT in den Heidepark fahren, dass Ende ihrer Existenz zu bedeuten.

»Nein, Samira, wir fahren nicht in den Heidepark.« Ich sehe ihre kleine Welt in sich zusammenbrechen. Sie dreht sich um und zieht beleidigt ab.

In der Pause laufe ich über den Gang in Richtung Lehrerzimmer. Plötzlich höre ich ein vorwurfsvolles »Frau Freitag!« hinter mir. Ich drehe mich um und blicke in die entsetzten Gesichter von Ayla und Marcella: »Frau Freitag, was heißt das, wir fahren nicht Heidepark?«

»Ich verstehe die Frage nicht. Wer hat denn jemals gesagt, dass wir fahren?«

»Na, die anderen fahren doch auch. Alle fahren. Warum wir nicht?«

»Also, Ayla, es fährt nur die 9c.«

»Aber warum fahren wir nicht?«

»So was muss man doch organisieren. Habt ihr da was gebucht?«

Ayla und Marcella sehen mich überrascht an. »Nö.«

»Seht ihr, und ich habe auch keinen Bus organisiert. Und warum sollten wir überhaupt fahren? Ich höre von allen Lehrern immer nur, wie anstrengend ihr seid, ihr kommt immer zu spät. Und wenn ihr nicht zu spät kommt, dann schwänzt ihr.«

»Frau Freitag, ich schwöre Ihnen, wenn wir Heidepark fahren, niemand wird zu spät kommen.«

»Ach, Marcella, darum geht es doch gar nicht. Nur irgendwie habt ihr so eine Belohnung gar nicht verdient. Mit euren schlechten Noten und so. Vielleicht fahren wir nächstes Jahr.«

»Nächstes Jahr geht nicht«, sagt Ayla.

»Wieso?«

»Frau Freitag, nächstes Jahr machen wir doch Klassenfahrt.«

»Klassenfahrt? Wer macht Klassenfahrt? Wir machen doch keine Klassenfahrt!«, sage ich.

Jetzt können sie nicht mehr. Mit einem »Was, keine Klassenfahrt?« drehen sie sich eingeschnappt um und gehen auf den Hof. Im Lehrerzimmer erzähle ich den Kollegen von meiner verpeilten Klasse. »Heidepark, Klassenfahrt – aber sonst geht es denen noch gut, oder was?«

Schon am Nachmittag sitze ich allerdings im Reisebüro: »Und könnte man da vielleicht auch mit dem Zug hinfahren? Ja genau, Soltau, da mit dem Heidepark und so …«

Am nächsten Morgen will ich nur kurz in den Unterricht einer Kollegin gehen, um meiner Klasse etwas Organisatorisches anzusagen. Aus kurz wird schon mal nichts. Und zu der Ansage komme ich auch nicht. Bereits als ich die Tür aufmache, werde ich von allen Seiten bombardiert: »Wieso gehen wir nicht HEIDEPARK?« – »Ja, ALLE gehen, nur wir WIEDER nicht!« Ronnie scheint innerlich zu explodieren, weil er die Ungerechtigkeit, an der allein ICH schuld bin, nicht länger erträgt: »Nie machen wir was SCHÖNES!«

Ich versuche, ruhig zu bleiben: »Wir reden morgen über den Heidepark. Ich will kurz mal was ansagen.«

»Jaja, morgen. Wahrscheinlich fliegen wir auch nicht nach Italien«, schreit Sabine von hinten. Nach Italien fliegen – wann war davon jemals die Rede? »Überhaupt versprechen Sie IMMER Sachen, und dann machen wir das NIIIEEE.«

Langsam reicht es mir. »Ja, ich bin ganz schrecklich. Wechselt doch alle die Schule.« Undankbares Pack! Ohne Verabschiedung stürze ich aus der Klasse.

Draußen rauche ich und lasse mich von den Kollegen beruhigen: »Das hat nichts mit dir zu tun. Du musst das von dir ablösen.« Leicht gesagt, dieser scheiß Heidepark klebt!

Als ich nach Hause gehen will, sehe ich einige Schüler meiner Klasse auf der Straße. Ronnie schmollt noch immer: »Aber warum gehen wir nicht Heidepark?«

»Ronnie, woher soll ich denn wissen, dass ihr da hin wollt? Ihr hättet mir das mal sagen müssen!«

Er bleibt stehen und sieht mich völlig entgeistert an: »DAS HABEN WIR IHNEN DOCH IN DER 7. KLASSE GESAGT UND DA HABEN SIE GESAGT, WIR MACHEN DAS IN DER NEUNTEN!«

»In der Siebten, tja, Ronnie, tut mir leid, dass ich mir das nicht gemerkt habe. Weißt du, so wichtig ist mir persönlich der Heidepark wohl nicht. Ihr hättet mich einfach mal daran erinnern müssen.«

Von hinten nähert sich die entspannte Esra. »Frau Freitag, wir sind zwar laut und nervig, aber wir können gut organisieren, das wissen Sie. Wir planen das jetzt einfach alleine. Ich gehe nachher ins Reisebüro und frage, was das kostet, und morgen in Deutsch frage ich, wer mitkommen möchte.«

»Super! Macht das! Wenn ihr wirklich fahrt, dann komme ich gerne mit.«

Ich versuche begeistert zu klingen, aber ich befürchte fast, dass meine Klasse das hinkriegt und uns einen Trip in diesen Park des Grauens organisiert. Vor meinem inneren Auge visualisiere und antizipiere ich bereits, wie das werden könnte:

Wir müssen ganz früh zum Bus. Um sechs Uhr soll der abfahren. Ich habe mir neue Sandalen angezogen und schon zwei fette Blasen an den Füßen, als ich an der Schule ankomme.

Um zehn vor sechs sind nur Samira, Sabine und ein schlechtgelaunter Ronnie da.

»Die anderen kommen gleich, die treffen sich vorher«, sagt Samira. Warum müssen die sich eigentlich vor jedem Treffen immer erst treffen? Um sechs Uhr fehlen immer noch fünf Schüler. Der Busfahrer hat aufgeraucht und will jetzt losfahren. Yeah, denke ich, endlich bekommen sie mal die Konsequenzen zu spüren, wenn sie perfekt geschminkt und mit aufwendig ondulierten Haaren den Rücklichtern des Busses nachwinken. Ich steige ein: »Herr Busfahrer, wir können dann los.«

»Nein«, brüllt Samira. »Esra, Marcella, Abdul, Antonia und Ayla fehlen noch. Ich ruf die mal auf dem Handy an.« Sie telefoniert und flirtet dann mit dem Busfahrer. Sie dreht und wendet sich auf der Stelle, legt den Kopf schief und redet und redet. Scheiße, der Busfahrer lächelt und steckt sich noch eine Zigarette an.

Kurz vor 6.30 Uhr fährt der Bus los – mit allen Schülern. Ich bin jetzt schon bedient. Es sollen 35 Grad werden. Niemand außer mir hat eine Mütze dabei. Nicht mal Mehmet und Abdul, die in jeder Unterrichtsstunde eine tragen. Es werden alle Arten von Süßigkeiten durch den Bus gereicht. Abdul hat Boxen für seinen MP3-Player dabei. Schlechte, billige Boxen. Die Musik scheppert. Die Kinder versuchen die Musik zu übertönen und schreien durch den Bus. Der Fahrer ermahnt sie mehrfach, sich hinzusetzen. Mir ist alles unglaublich peinlich, und ich bereue es, Lehrerin geworden zu sein. Ich könnte jetzt gemütlich die Kaiser’s-Filiale putzen, öffnen und einen netten Tag an der Kasse verbringen.

Chips. Alle haben Chips dabei. Überall liegen Chips. Ich werde bald wahnsinnig. In der ersten Pause fragt mich der Busfahrer, ob wir eine Sonderschulklasse sind. Ich sage: »Nein, wir sind Gymnasiumschule.«

Nach gefühlten hundert Stunden im stickigen Bus erreichen wir den Heidepark. Mittlerweile sind es bereits 32 Grad. Die Kinder sind ganz rot im Gesicht. Niemand hat was zu Trinken mit. Ich gehe zu einem Kiosk und kaufe siebenundzwanzig Flaschen Wasser. Die kosten ein Vermögen. Mit mütterlichen Gefühlen überreiche ich jedem Schüler eine Flasche: »Hier, ihr müsst was trinken!«

»Wie? Wasser? Warum nicht Cola?«, ranzt Ronnie mich an. Mehmet gießt Abdul seine Flasche über den Kopf. Der wird sauer. Ich auch: »Ihr sollt das TRINKEN, nicht damit rum sauen!«

»Was trinken? Ich trinke doch kein Wasser!«

»Das war voll teuer«, sage ich schon etwas kraftloser.

»Jaja, Frau Freitag, Geiz is geil.«

Genau so wird die Anreise. Mein Gehirn weigert sich, sich den weiteren Verlauf unseres Ausflugs vorzustellen. Eine psychische Präventivmaßnahme, damit ich nicht verrückt werde. Jetzt kann ich nur hoffen, dass die Busfahrt und der Eintritt hundert Euro kosten und die ganze Sache damit gestorben ist.

Ich hasse den Heidepark

Oh, welch Überraschung: Auch zwei Tage später sind weder Esra noch meine anderen Schüler im Reisebüro gewesen. Kein Grund für meine Klasse, nicht sofort wieder loszuzetern: »Sie haben es aber versprochen!«

»NIE machen Sie, IMMER sagen Sie nur. NIE … IMMER … NIE … IMMER!«

Ronnie hat sich in die ganze Heideparksache so reingesteigert, dass er heute gleich zu Hause geblieben ist. Der Rest der Klasse hasst mich. Ich bin die Böse, die ihnen den einzig schönen Tag in ihrem ganzen Leben ruiniert. Einigen kommt das Heidedrama wahrscheinlich ziemlich gelegen, denn wenn man sich über die fiese Frau Freitag aufregen kann, muss man sich ja nicht damit auseinandersetzen, dass man wahrscheinlich sitzenbleibt.

Während ich die Inhalte der nächsten Klassenarbeit ansage, unterhalten sich Esra und Sabine darüber, dass man doch in Soltau noch eine Nachtwanderung machen sollte, damit wir am nächsten Tag gleich wieder in den Heidepark gehen können. Die haben irgendwie jeglichen Bezug zur Realität verloren.

»Sabine«, sage ich, »stell dir mal vor, du möchtest zu Weihnachten unbedingt ein Fahrrad geschenkt bekommen. Du sagst es aber niemandem. Und dann bekommst du an Heiligabend KEIN Fahrrad. Ist es da gerecht, deine Eltern dafür verantwortlich zu machen?«

Sabine guckt mich an: »Ich will kein Fahrrad. Ich will in den Heidepark.«

»Ja, schon, aber genau das macht ihr gerade mit mir. Ich bin doch nicht dafür verantwortlich, dass ihr mir nicht gesagt habt, dass ihr da hin wollt. Und sorry, dass ich es mir nicht drei Jahre lang gemerkt habe. Ihr habt euch auch nicht unbedingt so verhalten, dass man permanent denkt, was könnte ich denn mit der tollen Klasse Schönes unternehmen.«

»Aber ich schwöre, wir würden uns gut benehmen im Heidepark.« Es nützt alles nichts, sie wollen es nicht einsehen. Muss ich wohl bis zu den Ferien die Böse sein, und sie sind die armen, betrogenen Kinder.

Mittags gucke ich dann doch, ob es irgendwo ein bescheuertes Busunternehmen gibt, das achtundzwanzig Leute nach Soltau transportiert. Das Leben als Schülerschleimer ist echt anstrengend.

Am nächsten Tag bekomme ich allerdings einen Anflug von Panik: Ich kann doch nicht mit meiner Klasse alleine fahren. Schon aus rechtlichen Gründen nicht, wegen der Aufsicht, und dann ist da noch die Busfahrt und überhaupt. Am Vorabend habe ich noch ein Busunternehmen im Internet gefunden, das mir ein Angebot zuschicken will. Ich habe schon mal überschlagen: Wir müssen mindestens vierzig Leute sein, sonst wird das Ganze zu teuer. Ich muss jetzt auch noch einen Lehrer finden, der den Wert eines Heideparkbesuchs erkennt – für sich und für die Glückseligkeit seiner Klasse. Heidepark, oh, Heidepark – das artet alles langsam in Stress aus. Die Schüler haben das H-Wort am heutigen Tag überhaupt noch nicht erwähnt. Dafür spreche ich über nichts anderes:

»Frau Hinrich, fährst du Heidepark mit mir? Am Wandertag? Alles bezahlt.«

»Heidepark? Bist du noch zu retten, auf keinen Fall!«

»Herr Werner, komm, lass uns Heidepark gehen, dann hast du das hinter dir.«

»Heidepark. Bin ich lebensmüde? Wir gehen schön in eine Ausstellung, und das war’s dann.«

»Anita, was ist mit dir, kommst du mit deiner Klasse, mir und meiner Klasse mit nach Soltau? Du weißt schon – Heidepark.«

»Frau Freitag, das tut mir ja nun leid, hättest du mich mal gestern gefragt, jetzt fahre ich mit Willy und seiner Klasse. Wir fahren aber erst einen Tag nach dem Wandertag, am Wandertag selbst, da haben wir einen anderen Termin. Ich wollte ja eigentlich gar nicht fahren, aber meine Klasse sagt, dass ALLE fahren.«

»Ach, ist ja interessant, meine Klasse sagte mir gestern schon, dass ihr auf jeden Fall fahrt …«

Ausgetrickst.

Okay, letzte Chance, da kommt Frau Kriechbaum, die hat noch keine Klassenfahrt oder sonst was »Schönes« mit ihrer Klasse gemacht. »Gisela, ich sag nur ein Wort: Heidepark.« Sie guckt mich ruhig an. Sie rennt nicht schreiend weg. Ein sehr gutes Zeichen. »Hmmm.« Sie überlegt. »Komm mit! Für uns ist alles umsonst. Und du musst keinen zusätzlichen Wandertag organisieren. Und ich rufe überall an und plane alles!«

»Tja, ja, könnte ich eigentlich machen. Ich muss mal meine Klasse fragen, ob sie das wollen.« Zwei Stunden später unterrichte ich eine Schülerin ihrer Klasse, die mich freudig anstrahlt: »Frau Freitag – HEIDEPARK?« Super, die kommen mit. Bin ich erleichtert.

Jetzt brauche ich nur noch einen Bus. Ich checke meine E-Mails im Lehrerzimmer. Kein Angebot. Plötzlich kommt Kollegin Anita: »Du, Frau Freitag, wir fahren jetzt doch am Wandertag in den Heidepark, kannst du mir mal die Nummer des Busunternehmens geben?«

»Oh Mann, Anita, jetzt sind wir vier Klassen. Deine, Willys, meine … und ich habe gerade noch Frau Kriechbaum über redet. Mit drei Klassen hätten wir einen großen Bus nehmen können. Auch wegen Öko und so. Aber mit über hundert Leuten, ich weiß nicht. Jetzt brauchen wir bestimmt zwei Busse.«

Noch immer kein Angebot. Ich rufe wie wild bei anderen Busunternehmen an: »Sorry, keine Busse an diesem Tag.« – »An dem Tag? Nein, alles ausgebucht.« So geht das eine Stunde lang. Ich telefoniere mich von Busvermietung zu Busvermietung, ohne Erfolg. Sollte alles daran scheitern, dass wir keinen Bus bekommen? Ich bin mittlerweile so heiß auf diesen scheiß Heidepark, dass ich glatt dorthin laufen würde. Auf meine E-Mail-Anfragen hat sich auch noch niemand gemeldet. Dabei hatten die doch geschrieben, dass sie mir ein Angebot schicken.

Aber ich gebe nicht auf. Wir müssen in den Heidepark! Und ich werde das organisieren! Und wenn es das Letzte ist, was ich in meinem Leben mache. Mandela hat auch nicht aufgegeben. Meine Klasse muss diesen Tag erleben. Ich will sie strahlen sehen. Ich will Sprechchöre, die meinen Namen chanten. Ich will Vuvuzelas im Bus!

So schlimm wird die Anreise schon nicht werden. Ein bisschen Warten und ein paar Chips, und wer von uns hätte sich denn als Kind über Wasser gefreut. Ich muss meinen Schülern diesen Spaß ermöglichen. Die haben doch sonst nichts in ihrem armseligen Leben. Die müssen bei ihren Eltern wohnen. Immer sind da Erwachsene, die ihnen sagen, was sie tun und vor allem was sie lassen sollen. Sie dürfen nicht trinken und rauchen und müssen den Müll runterbringen, ihre einzige Freude ist Schminken und Chatten. Na ja, zumindest die einzige Freude der Mädchen: »Findest du ihn echt süß?« – »Vallah, ich schwöre, er ist übertrieben süß. I love ihn.«

Aber ER beachtet SIE gar nicht, obwohl SIE ihn übertrieben liebt. Damit verbringt SIE dann ihre Zeit. SIE leidet und leidet, und ER weiß noch nicht mal davon. SIE schreibt auf ein Karoblatt I LOVE YOU in jede Zeile. Als SIE fast fertig ist, reißt IHR diese blöde Frau Freitag das Blatt weg und verlangt von IHR, die Klassenarbeit zu schreiben, für die SIE sowieso nicht gelernt hat. Das Blatt zerknittert. Scheiß Frau Freitag. Scheiß Arbeit. Scheiß Schule. Scheiß Leben. Würde es IHN nicht geben, SIE wäre lieber tot. SIE ist jetzt Emo, nicht mal das hat ER bemerkt. Und die Eltern stressen auch nur noch. Wegen Ausbildung und so. SIE will aber keine AUSBILDUNG und so. IHR ist alles egal. SIE will nur IHN. SIE bekommt sowieso keine Ausbildung. Dann braucht SIE doch auch keinen Schulabschluss. Ihre Eltern haben auch keinen. Warum soll SIE dann einen machen? SIE will doch heiraten und Kinder bekommen. Dazu braucht man doch keinen Abschluss.

Wenn diese hässliche Frau Freitag wenigstens in den Heidepark fahren würde. Dann könnte SIE versuchen, im Bus in seiner Nähe zu sitzen. SIE könnte Süßigkeiten mitnehmen. ER liebt Chips. Und dann könnten sie zusammen mit diesem Turmdings fahren. Da wo man so schnell runterfällt, und SIE könnte seine Hand halten und flüstern: »Ich hab Angst.« Und ER würde sagen: »Ich nicht. Ich find’s mies geil.« Sie hätten ein gemeinsames Erlebnis, und SIE könnte ihren Kindern später erzählen: »Und auf der dritten Achterbahnfahrt im Heidepark Soltau hat euer Vater sich in mich verliebt. War mit Looping.«

Frau Dienstag sagt zu der ganzen Thematik nur: »Heidepark? Iiihhh, mach nicht!« Aber ich muss! Wie soll SIE IHM denn sonst näherkommen? In Mathe geht das nicht. »Ich hab Angst vor Dezimal.« – »Komm, ich halte deine Hand!« Das klappt nie. Und kann irgendein Busunternehmen verantworten, dass wir nicht fahren? Sind die denn alle gegen die Liebe?

Diese Heideparkplanung ist eine Gefühlsachterbahn mit Dreifachlooping. Erst will ich auf keinen Fall fahren, dann unbedingt und jetzt, nachdem ich mich übermüdet, heiser und schlecht gelaunt durch mehrere Stunden mit meiner Klasse gemeckert habe, müsste sich mir schon ein Busunternehmen aufdrängen, damit ich überhaupt nur in Richtung Soltau denke.

In der Pause checke ich meine E-Mails und – Bingo – wie könnte es anders sein, wenn man keinen Bus mehr haben will: »Sehr geehrte Frau Freitag, hier unser Angebot: Insgesamt können 56 Personen mitfahren, zum Preis von …« Für die genannte Summe könnte ich auf die Malediven fliegen. Soll ich vielleicht einfach das Geld von den Kindern einsammeln und mir davon einen schönen Urlaub gönnen? Verdient hätte ich es.

Komatös liege ich auf der Couch. Heidepark ja – Heidepark nein, das ist hier die Frage. Ich könnte meiner Klasse einfach gar nichts sagen, und wir machen einen ganz normalen Wandertag. Langweilig für mich, aber irgendwie trotzdem aufregend für die Kinder – schließlich beschränkt sich ihr Bewegungsradius überwiegend auf Zuhause-Schule-Zuhause. Ich habe ihnen auch nicht gesagt, dass ich heimlich nach einem Bus gesucht habe. So erfahren bin ich mittlerweile in meinem Beruf. Du kannst eine gute Nachricht ruhig erst sehr spät übermitteln. Aber du darfst nie sagen: Ja, wir fahren, wenn auch nur ein noch so winziger Zweifel daran besteht.

Hätte sich kein Unternehmen gemeldet, hätte ich das unter höherer Gewalt verbuchen können. Aber jetzt, mit diesem Angebot … Was soll ich nur tun? Momentan möchte ich so dermaßen gar nicht in den Heidepark, und ich will rein gar nichts mit meiner nervigen Klasse zu tun haben. Aber der Klasse von Frau Kriechbaum kann ich es ja eigentlich nicht antun, nicht zu fahren. Der Freund weiß auch keinen richtigen Rat – nur: »Schlaf mal drüber.«

Okay, ich habe darüber geschlafen und einen Brief aufgesetzt: »Ich bin damit einverstanden, dass mein Kind ______ mit in den Heidepark Soltau fahren darf.« Und so weiter.

Den Brief habe ich 27-mal kopiert und mich dabei gefragt: Warum mache ich das? Ich muss das doch gar nicht tun. Obwohl ich keine Antwort finde, stapfe ich am Ende der Stunde in den Geschichtsunterricht meiner Klasse und höre mir ihre chaotische Diskussion an. Alle schreien durcheinander, einige spielen mit dem Handy, andere unterhalten sich. Die nette Geschichtslehrerin Frau Frenssen versucht, für Ruhe zu sorgen. Meine bekloppte Klasse bleibt einfach laut.

»Marcella, jetzt sei doch mal leise!«, zische ich.

Sofort blökt sie in ihrer typisch nervigen Art los: »Frau Freitag, wenn Sie was gegen uns haben, dann sagen Sie es doch!«

»Ich habe gar nichts gegen EUCH, ich will nur, dass DU leise bist.« Noch in diesem Moment denke ich: Lass die Zettel einfach in deiner Tasche. Frag sie nur nach den Entschuldigungen für die letzten Tage und dann geh einfach. Du brauchst das H-Wort gar nicht zu erwähnen.

Eine Minute später stehe ich vor meiner Klasse und erkläre, wann ich das Geld haben muss und die Einverständniserklärung der Eltern, dass wir nur fahren können, wenn ALLE bezahlen und mindestens zweiundzwanzig Leute mitkommen und außerdem aus der Kriechbaum-Klasse auch mindestens zweiundzwanzig Schüler bezahlen müssen, dass jeder noch zwei Euro mehr zahlen muss, wenn wir pro Klasse nur zwanzig Schüler zusammenbekommen, aber unter zwanzig geht nicht – und so weiter.

Und – sind sie begeistert? Na ja, zumindest aufgeregt sind sie und reißen mir die Zettel aus der Hand. Beim Rausgehen diskutieren sie darüber, wann sie aufstehen müssen und was sie mitbringen. Einige verabschieden sich sogar von mir. Ja, ich denke, für ihre Verhältnisse sind sie begeistert.

Aber wie viel Begeisterung braucht ein Schüler, um sich daran zu erinnern, seine Eltern einen Zettel unterschreiben zu lassen und ihnen 40 Euro aus den Rippen zu leiern? Ich habe keine Ahnung, was mich erwartet. Von »Hier sind 50 Euro – behalten Sie den Rest« bis »Ach, Heidepark ist doch schwul, ich will da doch nicht hin« rechne ich mit allem.

Ansonsten bin ich gut gerüstet für diesen Donnerstag – da werden nämlich alle Klassenstufen, die das Glück haben, von mir unterrichtet zu werden, die Flaggen der WM-Teilnehmer ausmalen. Dank der innovativen Frau Dienstag retten wir uns nun schon über diverse WMs und EMs mit dem gleichen Arbeitsblatt. Ich bin mal wieder der Klassenstreber und übertrieben pünktlich. Zehn Minuten vor dem Klingeln schlendert Ronnie rein. Grinsend. Gar nicht schlecht gelaunt, wie in den letzten Monaten. Der wird doch nicht etwa Geld dabei haben?

»Was ist mit dir, Ronnie, jetzt sag nicht, dass du die 40 Euro mit hast.«

»Hier«, sagt er stolz und knallt mir zwei Zwanziger aufs Pult. Kramt in seiner Hosentasche und legt die Einverständniserklärung dazu. Ich bin platt und lege gleich eine Liste an: Name / Geld / Brief.

Ordentlich schreibe ich: Ronnie / 40 Euro / Brief: ja.

Dann kommt Samira: »Hier, Frau Freitag, das Geld und der Brief.« Dann Marcella: Geld, Brief und sogar Jobcenter-Zettel. Die Jobcenter-Zettel brauchen die Schüler, um nachzuweisen, dass ihre Familien Hartz IV beziehen und sie deshalb vom Schulbuchkauf befreit sind. Diesen Bescheinigungen rennt der Klassenlehrer normalerweise wochenlang hinterher. Die Zettel haben gar nichts mit dem Heidepark zu tun – ich habe sie als reine Erpressungsmaßnahme mitgefordert.

Ich komme aus dem Schreiben gar nicht mehr raus. Gegen 8.20 Uhr trudeln die restlichen Schüler meiner Klasse ein. Sie drängen sich um mich und halten mir Einverständniserklärungen und 50-Euro-Scheine unter die Nase. Ich mache Peter zu meinem Assistenten. Er kontrolliert die Briefe der Eltern. Neben mir steht Ayla und überwacht, ob ich auch alles richtig aufschreibe: »Wie viele haben wir jetzt, Frau Freitag?«

»Im Moment sind es dreizehn. Wir brauchen zweiundzwanzig. Wenn wir nur zwanzig sind, dann muss jeder noch zwei Euro zahlen. Aber unter zwanzig geht nicht! Und dann muss ja noch die Klasse von Frau Kriechbaum bezahlen.«

Mehmet hat schon sehr früh bezahlt und wollte dann noch schnell zu Frau Frenssen, was wegen der Note regeln. Jetzt fällt mir auf, dass er gar nicht mehr wiederkommt. Er kommt auch nicht zu den nächsten beiden Stunden. Aber bezahlt hat er. Um

8.05 Uhr. Abdul kommt. Alle schreien: »Abdul, los, gib Frau Freitag das Geld!«

»Ich hab kein Geld.«

Alle denken, Abdul scherzt, und er wird von allen Seiten bedrängt. »Ich habe mich gestern mit meinem Vater gestritten. Ich kann das Geld erst am Montag mitbringen.«

Ich sage: »Montag ist zu spät. Ich brauche es heute. Du kannst das doch erst mal von deinem Taschengeld bezahlen. Du hast doch Geld. Ihr bekommt doch an den Feiertagen immer so viel Kohle. Leih dir das doch heute zusammen.«

»Nein, ich hab kein Geld. Ich hab mein Geld in Gold angelegt.« Dieser Abdul, jedes Jahr drei oder vier Ausfälle, aber in Gold investieren.

Am Ende der Stunde habe ich von achtzehn Schülern Geld und Briefe bekommen und sogar überproportional viele Job-center-Zettel.

Ich bin sehr stolz auf meine Klasse und auch auf mich. Wenn ich mich für deren Danebenheit verantwortlich fühle, dann kann ich jetzt auch mal stolz sein. Aber achtzehn ist nicht zwanzig und schon gar nicht zweiundzwanzig.

Ich gehe ins Lehrerzimmer und erzähle stolz, dass meine Klasse zum ersten Mal zuverlässig war. Dann hänge ich mich ans Telefon und storniere die Busreservierung.

Einen Tag später haben noch drei weitere Schüler bezahlt. Abdul ist schwer krank, lässt aber ausrichten, dass er ganz bestimmt am Montag bezahlt. Tja. Ich hätte also zweiundzwanzig zahlende Schüler gehabt, aber jetzt habe ich keinen Bus mehr. Fiese Frau Freitag! Meine kleine Rache für all die Scheiße, die sich meine Klasse das ganze Jahr, ach, was sag ich, die letzten drei Jahre geleistet hat. Und wenn jetzt einer von denen, wie zu erwarten ist, seine Schulbücher nicht bis Ende nächster Woche abgibt, dann habe ich ja von jedem noch 40 Euro. Ich schreibe auch gerne eine Quittung und werde das Restgeld ordentlich an die Eltern überweisen. Ja, so kennt man Frau Freitag gar nicht. Frau Freitag kann auch hart und gemein sein. Aber nennen wir’s doch einfach KONSEQUENT!

Okay, hier also die ganze Geschichte: Ich habe den Bus storniert, aber erst, als ich erfahren habe, dass es in der Klasse von Frau Kriechbaum nur zehn interessierte Schüler gab, von denen keiner Geld mithatte. Ich hätte dem Busunternehmen am Donnerstag fest zusagen müssen, aber ich will doch nicht auf tausend Euro sitzen bleiben. Das war mir einfach zu heikel.

Aber ich bin nicht völlig herzlos, denn ich spekuliere noch auf Plan B. Die Kollegen Anita und Willy haben ja auch einen Bus gechartert, und wer weiß, vielleicht können wir uns einfach bei denen dranhängen. Ich gehe also gleich zu Anita: »Duhuuu, sag mal, wann sollen deine Schüler eigentlich bezahlen?« Anita ist voll gestresst, weil bei uns so ganz nebenbei noch die Notenabgabe ansteht. Sie schaut auf und sagt: »Äh, heute.«

»Und wie viele haben schon gezahlt?«

»Keiner.«

Bei Willy das Gleiche. Er meint, dass seine gesamte Klasse mitkomme und ganz bestimmt alle noch bezahlen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn in ihren Klassen jeweils nur die Hälfte bezahlen würde. Und dann komme ich und fülle die leeren Sitzplätze mit meinen zahlenden Schülern. So weit der herrliche Plan.

Einen Tag später dann die herbe Ernüchterung. Bei Anita haben schon sechzehn Schüler bezahlt, bei Willy achtzehn. Mist, jetzt passt meine Klasse nicht mehr mit in den Bus. Ich bettele: »Willy, guck mal, wir MÜSSEN auch Heidepark gehen. Könntest du versuchen einen größeren Bus zu bekommen?«

Während Willy telefoniert, sitze ich neben dem Telefon und bete. Nach der zweiten großen Pause erfahre ich endlich, dass es einen größeren Bus für uns gibt – größer, aber trotzdem nur mit 72 Plätzen. Ich werde also wahrscheinlich gar nicht alle Schüler mitnehmen können, die bezahlt haben. Ich muss eine Schindler-Liste erstellen. Als Erster würde Abdul raus fliegen, der hat bisher immer noch nicht bezahlt und kann die 40 Euro dann ja in Gold anlegen.

Außerdem würde ich Mehmet streichen, weil ich ihn seit der Geldübergabe nicht mehr gesehen habe. Nein, ich habe ihn gesehen, am Freitag. Vor der Schule. Rauchend.

»Sag mal, Mehmet, was soll denn die Scheiße jetzt?« Ich war echt sauer, und wenn ich sauer bin, dann habe ich manchmal ein leichtes Tourette-Syndrom. »Du hast gesagt, du gehst mal kurz zur Geschichtslehrerin, und dann tauchst du gar nicht mehr auf. Den ganzen Tag nicht!« Mehmet stammelte, überlegte. Man sah Dampfwolken aus seinem Kopf aufsteigen.

»Ich war, ich war …« Er guckte zu seinem Freund Mustafa, der mit einem Zettel neben ihm stand. »Ich war OSZ.«

»Ach ja? Wo denn?«

»Na, OSZ.« Als gäbe es nur ein Oberstufenzentrum in ganz Deutschland. »Wo war das denn genau?« Mehmet nahm den Zettel von Mustafa und suchte nach einer Adresse. Ich hatte die Faxen dicke: »Ach, lass, Mehmet, verarschen kann ich mich alleine.«

Der kommt jedenfalls nicht mit. Dann werde ich noch die Schüler bestrafen, die nicht am Donnerstag, sondern erst später bezahlt haben, ganz nach dem Motto: »Was soll sein, morgen ist doch auch noch ein Tag!« Ich werde denen schon noch die deutschen Tugenden beibringen!

Um zwei Uhr nachts wache ich auf und überlege, ob ich überhaupt fahren soll. Ich hätte die einmalige Chance, alle vermissten Bücher bezahlt zu bekommen, denn ich habe ja fast von jedem Schüler 40 Euro. Jedes Jahr heißt es: »Ich schwöre, ich hab mein Buch hier bei Sie gelassen. Ich zahl das nicht!« – »Ich hab keins bekommen!« – »Frau Freitag, Sie haben es geklaut!«. Dass sie dann nur eine Kopie von ihrem Zeugnis erhalten, juckt die Schüler wenig. Wenn ich ihnen 20 Euro abziehe und sie nicht mit in den Heidepark dürfen, weil sie mir wahrscheinlich nicht noch mal 20 Euro mitbringen können, das würde sie alle ziemlich jucken.

Am Montag knüpfe ich die Buchabgabe als Bedingung an die Mitfahrt in den Heidepark. Als Lehrer hat man selten eine so wirksame Möglichkeit der Erpressung, das muss man richtig auskosten. Die zwei Euro zusätzlich werde ich auch noch einsammeln. Was man hat, hat man. Falls wir das Geld dann doch nicht brauchen, kann ich es im Bus zurückgeben.

In meiner nächsten Klasse werde ich gleich am Anfang Geld für eine Klassenfahrt einsammeln und davon dann in den folgenden Jahren die verschollenen Schulbücher bezahlen. Oder ich gebe die nur gegen Pfand raus. Ich glaube, so was nennt man fächerübergreifendes Lernen. Und ich find’s ganz großartig.

Emotionslos haben mir alle Kinder noch mal zwei Euro und die Hälfte der ausgegebenen Schulbücher mitgebracht. Morgen verlange ich den kleinen Finger der linken Hand. Finanziell steht die Sache. Selbst Abdul hat noch Cash gebracht. Eigentlich hätte er mir auch einen Klumpen Gold geben können.

Jetzt allerdings macht das Busunternehmen Zicken. Die wollen UNBEDINGT die genaue Anzahl der mitkommenden Personen wissen. Die kann ich ihnen aber nicht geben, da die anderen Klassen mit dem Bezahlen nicht so vorbildlich sind wie meine. Und dann der Hammer: Der Bus, den ich ursprünglich gebucht hatte, der wollte einen Pauschalpreis. Wenn man dann zwei Klassen mit je zweiundzwanzig Schülern beisammen gehabt hätte, dann wären pro Klasse zwei Lehrer kostenlos kutschiert worden. Die Halsabschneider von unserem jetzigen Busunternehmen verlangen aber plötzlich einen Festpreis pro Person. Ich frage die Tante am Telefon zur Sicherheit noch einmal: »Okay, ich verstehe, die Schüler zahlen also pro Sitzplatz. Und ab wie vielen Schülern fährt der Lehrer umsonst mit?«

»Äh, die Lehrer müssen auch bezahlen.«

»Echt? Wie viel denn?«

»Ähh, hihi«, sie kichert leise und peinlich berührt, »äh, den gleichen Preis.«

»Ist das Ihr ERNST? Ich setze mich stundenlang in einen Bus und soll dafür auch noch BEZAHLEN?«

»Ja, äh, ja.«

In versöhnlichem Ton sage ich: »Okay, jetzt mal angenommen, ich liefere Ihnen noch eine Klasse, dann haben Sie noch mal über zwanzig zahlende Schüler mehr. Da MUSS sich doch was machen lassen! Das andere Busunternehmen wollte nur einen Pauschalpreis. Wie viel kostet denn Ihr Bus?«

»Äh, äh, hihi, ich frag noch mal nach, vielleicht kann ja, äh, äh …«

Die Tante spinnt doch wohl. Ich zahle doch nicht dafür, dass ich um fünf Uhr aufstehen muss, mich dann in einen Bus mit siebzig lärmenden Jugendlichen setze und an einen Ort fahre, an den ich gar nicht will. Ich gebe doch den Autofahrern, die mir beim Fahrradfahren die Vorfahrt nehmen, auch kein Geld. Wo kommen wir denn da hin. Also, die ist auf keinen Fall Lehrerin und noch nicht mal mit einem Lehrer verheiratet.

Dann kommt der Tag der Entscheidung. Das denken zumindest die Schüler. In der ersten Stunde sage ich ihnen, dass ich erst in der fünften Stunde genau sagen kann, ob wir nun HP gehen oder nicht. Nur so kann ich sicher sein, dass sie nicht schon früher nach Hause abhauen. Inzwischen weiß ich jedoch bereits, dass wir einen Doppeldeckerbus bekommen haben, in den alle Schüler passen, und alles schon gebucht ist. Wir erhalten allerdings nur drei Freiplätze für die Lehrer. Jede der drei Klassen wird aber natürlich von jeweils zwei Lehrern begleitet, neben mir fahren Anita, Willi und zur Unterstützung drei Junglehrer mit. Wir müssen demnach also die Hälfte selbst zahlen. Unverschämt.

Irgendwas in mir möchte aber die endgültige Zusage noch hinauszögern, weil ich echt keinen Bock auf diesen Höllentrip habe. Meine Schüler sind ganz aufgeregt, als ich ihnen sage, dass ich das Busunternehmen gegen Mittag anrufen werde und sich dann entscheidet, ob alles klappt. Sie können sich gar nicht vorstellen, dass ich nicht in den Heidepark möchte und fragen ganz aufgeregt: »Frau Freitag, was glauben Sie? Meinen Sie, wir fahren? Oder nicht?«

»Keine Ahnung, kann ich echt nicht sagen. Aber einige haben ihre Bücher noch nicht abgegeben. Ich lese noch mal die Namen vor.«

In der vierten Stunde dann der Schock! Ich putze mit einigen Schülern meiner Klasse fröhlich meinen Raum. Alle machen mit und wir sind bester Dinge, als sie mir plötzlich erzählen, dass Abdul geplant hat, Alkohol zu besorgen, damit sie sich VOR der Busfahrt noch besaufen können. Ich bin sprachlos: »WAS?« Ich erfahre unglaubliche Details und die Namen der Partizipierenden. Alle Anwesenden distanzieren sich natürlich. Auch Abdul versucht, sich von sich selbst zu distanzieren: »Hab ich doch gar nicht gesagt!« Chancenlos – die anderen brüllen ihn sofort nieder. Nach der Stunde bin ich meinen ehrlichen Schülern zwar dankbar, habe aber absolut keine Lust mehr auf die Fahrt. Ich sehe schon jetzt mehrere besoffene Schüler im Rotes-Kreuz-Zelt, Elterngespräche am Handy, missmutige Kollegen, die meinetwegen warten müssen, Untergang und Verdammnis, den Tod einzelner Schülerinnen, Disziplinarverfahren, Arbeitslosigkeit, Wohnungsverlust, Messietum und ein ewiges Mietnomadendasein.

Kurz vor der fünften Stunde bündele ich meine letzten Kraftreserven und trete vor meine gespannte Klasse. Ich verkünde, dass wir fahren und zische hinterher, dass ich beim kleinsten Vergehen in Richtung Zigaretten und Alkohol sofort die Eltern anrufe und die Kinder kostenpflichtig von den Vätern abholen lasse, dass sie dann eine fette Jahrgangsausschusssitzung mit Eltern und allen Lehrern der Klasse – also so eine Art Gerichtsverhandlung – erwartet und sie sich jegliches Vergnügen im nächsten Schuljahr von der Backe putzen können. Die verdächtigen Kandidaten spreche ich vor allen anderen noch mal ganz persönlich an und male ihnen jeweils ihre düstere Zukunft aus, sollten sie sich nicht an meine Gebote halten. Dann schließe ich mit einer etwas milderen Moral: »Wer sich im Heidepark nicht ohne Alkohol amüsiert, der schafft das auch nicht mit.« Innerlich grummle ich: »Es wird Taschenkontrollen geben, Atemproben und ich werde jedes Getränk vorkosten …«

Wir waren Heidepark!

Es ist endlich vollbracht. I did it. Ich bin Heidepark-entjungfert. Und wie war’s, Frau Freitag? Na ja, ich sag mal, jeden Tag brauche ich das nicht. Und ich wurde nicht enttäuscht, war alles dabei:

  • Taschenkontrolle
  • Grölende Schüler im Bus: »Wieso, wir müssen doch Party machen!«
  • Hitzschlag: »Ich habe nichts gefrühstückt und auch nichts zu essen oder zu trinken dabei.«
  • Kotzende Kinder: »Esra hat sich einmal dort und einmal da hinten übergeben.« – »Vallah, Emre hat beim Looping gekotzt. Das hätten Sie sehen müssen!« – Emre: »Frau Freitag, mir ist schlecht von der Achterbahn. Haben Sie Tüte?«
  • Klitschnasse Schüler: »Wir waren alle in dem See bei der Freiheitsstatue und dann war da so was Grünes im Wasser und Samira ist voll ausgerutscht. Wir haben uns weggeschmissen!«
  • Belehrungsresistenter Abdul mit verdächtiger Plastiktüte. »Abdul, komm her. Gib mir mal die Tüte.« Zwei halbvolle Colaflaschen und Kaffeebecher. »Mach mal auf, hier gieß mir mal was ein. Iiih, was ist das – Weinbrand?« Kollege Willy: »Und hier ist Wodka drin …« Endlose Inquisition und Abduls Versuche, seinen Kopf zu retten: »Ich habe die Tüte nur gehalten, für diesen einen Jungen. Nein, Namen kenne ich nicht. Aussehen? Vergessen. Getrunken hab ich nicht. Ich bin doch Moslem, ich bete fünf Mal am Tag. Wenn ich trinke, dann darf ich vierzig Tage nicht mehr beten.«
    Abdul nennt Namen. Nach einer Stunde sieht es so aus, als hätten alle Schüler getrunken und gekifft. Die Beschuldigten werden befragt. Jeder ist empört und nennt wieder neue Namen. Fehlt nur noch, dass sie sagen, dass sie den Alkohol von mir haben und ihnen der Schulleiter das Gras zugesteckt hat. Abdul soll uns den Jungen zeigen. Der ist plötzlich weg: »Irgendwie ist der gar nicht im Bus.«
    Ich schleppe den ganzen Nachmittag zwei gepanschte Colaflaschen in einer abgeranzten Rewe-Tüte durch den Park: Beweismittel. Kurz vor der Ankunft zu Hause bestelle ich Abduls Mutter für den nächsten Tag in die Schule. Dann geht die Beweisaufnahme weiter. Abdul muss bluten. Sorry, Dummheit muss bestraft werden. Vor allem, weil er auf der Rückfahrt entgegenkommende LKW-Fahrer auf der Autobahn mit einem Laserpointer geblendet hat.
  • Nette Busfahrer gab es auch: »Möchten Sie nicht mindestens zehn Schüler hier auf dem Rastplatz lassen?« – »Ich möchte ja nicht mit Ihnen tauschen.« Da hatten wir mal was gemein. Frage des Busfahrers an Emre: »Verstehst du Deutsch? Bist du der deutschen Sprache mächtig?« Emres Mutter ist »Bio-Deutsche« und wir sind eine 9. Klasse einer deutschen Schule.
  • »Frau Freitag, haben Sie nicht gemerkt, dass Emre im Klo gekifft hat?«
  • Klassendifferenzen: »Frau Freitag, also mit deiner Klasse geht das gar nicht, die sind oben so laut.« (Wir hatten voll Doppeldeckerbus. Samira und ihre Bande oben in der ersten Reihe: »Voll gemütlich hier.« – »Ja, vallah, voll schööön.«)
  • Dubioses Vertrauen: »Mir fehlen 50 Euro. Ich hatte ihm meine Tasche gegeben, da war das Geld noch drin. Dann war es weg. Aber er sagt, er hat es nicht genommen. Und ich glaube ihm.« Tja …

Aber es gab auch:

»Die Holzbahn ist bombastisch!« – »Frau Freitag, hier ist sooo Hammer!« – »Das war der schönste Wandertag jemals.« – »Hier ist sooo schööön!« – »Wir sind alles dreimal gefahren!« – »Hat sooo Spaß gemacht!« – »Morgen bin ich krank. Wenn ich die Augen zumache – ich denke, ich bin Holzachterbahn.« – »Perfekter Tag!« – »Und jetzt noch der Sonnenuntergang, voll schön …«

Und Frau Freitag? Die hat sich fast in die Hosen gemacht, als sie mit der Wasserbahn fahren musste. Um Mitternacht bin ich wieder auf meiner Couch, glücklich, alles überlebt zu haben. Der Freund gibt mir Wasser und sagt: »Das hast du super gemacht. So was erleben die sonst nie.«

Abduls Verhör

Am nächsten Vormittag kommt Abdul mit seiner Mutter und zu meiner Freude auch wieder mit der Übersetzer-Tanten-Kusine in die Schule. Schuldbewusst sitzt er zwischen den beiden Frauen.

»Also, Abdul, nun erzähl mal.«

»Frau Freitag, ich will jetzt alles sagen.«

»Aha, gut. Machen wir Kronzeugenregelung. Dann schieß mal los!«

Abdul packt aus. Wer hat getrunken, wer hat gekifft. Wer hatte was mit. Er unterscheidet penibel zwischen »Das habe ich gesehen, das habe ich gehört und das hat der mir direkt erzählt.« Abdul nennt Namen, die ich nicht kenne. Ich denke: Ha, die sind alle aus den PERFEKTEN anderen Klassen, super. Und da geht es nicht nur um Gras und Alk, sondern auch um Speed, und plötzlich kommen auch noch die Hells Angels ins Spiel.

Ich bin ganz gerührt davon, wie Abdul versucht, sich aus der Scheiße zu ziehen. Dabei finde ich alles gar nicht mehr so schlimm. Ein bisschen Alkohol bei einem Schulausflug gehört in dem Alter doch dazu. Sonst wären das doch keine Jugendlichen. Abduls Mutter betont immer wieder, wie religiös ihre Familie ist und dass es bei ihnen genauso schlimm ist, Alkohol zu tragen, wie Alkohol zu trinken. Mitten im Satz stockt sie und ich greife über den Tisch nach ihrem Arm: »Bitte, bitte, nicht weinen, Mama Abdul, ist alles nicht so schlimm. Abdul ist ein guter Junge. Wird alles wieder gut. Bitte, nicht weinen!«

Am Ende des Gesprächs verspricht mir Abdul wieder mal, dass er nächstes Jahr ein anderer Mensch wird. Ich ziehe demonstrativ einen dicken Strich durch meine Notizen und sage, dass sich für mich jetzt alles erledigt hat. Abduls Mama küsst mich zum Abschied und wir gehen glücklich auseinander. Ich bin hochzufrieden. Beim nächsten Gemecker der anderen Lehrer über meine Klasse ziehe ich die Gras- und Speed-Trümpfe.

Fertig

Zensuren eintragen: fertig.

Zeugnisse machen: fertig.

H-Park: fertig. Klassenzimmer aufräumen: fertig.

Unterrichten: fertig.

So tun, als unterrichte man: fertig.

Unfreundlich und gestresst sein: fertig

Suchen und sortieren: fertig

Schuljahr: fertig.

Ab jetzt dümpele ich durch die letzten Schultage und warte auf die Ferien. Und dann wird gefeiert! Kann ich mir irgendetwas Schöneres vorstellen als diesen herrlichen Beruf? Kaum.

img