2.
Den Sommerferien entgegen

Frau Freitag, Sie haben mein Leben gefickt
(Mitte Juni, noch fünf Wochen)

Wann sind eigentlich Sommerferien? Jetzt blicke ich gar nicht mehr durch. Sollte nicht bald die Zeit der Filme und des Aufden-Hof-Gehens beginnen? Die Tage, an denen eigentlich kein geregelter Unterricht mehr stattfindet, nur noch Eis essen, Schränke ausmisten, Hitzefrei, Tische schrubben und Kunstarbeiten aufhängen mit drei immer noch artig kommenden Zehntklässlerinnen. Ach, aber vorher kommt ja noch die schöne Zeit des Zensurenmachens und der Zeugniskonferenzen. Die Zeit, in der wir wieder zu hören bekommen: »Bitte, ich brauch nur noch den einen Punkt. Sonst fehlt mir nichts mehr. Nur der eine Punkt bei Ihnen.« – »Wie, jetzt ist es zu spät für ein Referat? Kann ich nicht noch einen Vortrag oder ein Plakat oder so … Aber ich brauche doch unbedingt eine Vier!«

Die Kollegen jedoch sind auch nicht besser: »Ach, Frau Freitag, kannste der Rebecca nicht noch zwei Punkte mehr geben, die ist doch immer da gewesen und die braucht doch den Abschluss.« – »Kann ich dir die Noten nächsten Montag geben? Ich muss heute noch eine Arbeit schreiben.« – »Wie, die Zensuren werden zusammengerechnet? Das erste und das zweite Halbjahr? Echt? Seit wann das denn?«

Kurz vor den Ferien kommen komischerweise auch die Dauerschwänzer wieder in den Unterricht, Schüler, die man nur von der Kursliste kennt und noch nie gesehen hat. Scheinbar wagen sie sich erst nach den Konferenzen in die Schule, wenn der Druck weg ist. Wenigstens fragen die nicht nach besseren Noten.

Vor den Konferenzen sitze ich stundenlang am Schreibtisch und rechne. Ich habe die Angewohnheit, jede Zensur aus tausend Kleinstnoten, die ich für alles Mögliche gegeben habe, zusammenzubasteln. Ganz am Anfang meiner Karriere kam es vor, dass ich am Ende eines Schuljahres zu wenige Einzelnoten hatte, deshalb gibt es bei mir jetzt pro Stunde mindestens eine, meistens aber wesentlich mehr Noten zu ergattern. Die mache ich im Bus, andere lesen, ich schreibe Mitarbeitsnoten in Zensurenhefte:

»War super, unglaublich, noch nie gesehen« = 1

»War auch super und toll, aber du hast Pech, dass der Soundso in deinem Kurs ist, und der ist besser« = 2

»Ach, was soll’s, du bemühst dich, bist immer pünktlich und nett, und manchmal sagst du auch was Richtiges« = 3

»Tut mir leid, von dem Fach hast du so gar keine Peilung, aber wenn ich dir jetzt eine Fünf gebe, muss ich am Ende noch Förderpläne schreiben, oder noch schlimmer: Du bleibst sitzen und kommst dann in meine Klasse, das muss verhindert werden« = 4

»Keine Ahnung haben und dann auch noch frech werden. Ständig zu spät, ohne Arbeitsmaterial und immer störende Bemerkungen, alles Schriftliche ein Griff ins Klo, dazu noch eine total schlechte Handschrift und die Blätter grundsätzlich zerknittert« = 5

»Stand zwar auf meiner Kursliste, kam aber nie, oder: Kam ab und zu und hat es dann gewagt, sich richtig doll mit mir anzulegen« = 6

Ich bin ja Schülerschleimer, ich gebe eigentlich keine Sechsen, nur den Karteileichen. Wer nett lächelt, bekommt bei mir schon eine Vier. Wer dazu noch gut aussieht und mir Komplimente macht, der kann sich schon über eine Drei freuen. So einfach ist das.

Aber trotzdem mache ich jedes Jahr den gleichen Fehler – ich lasse mich vor der Zensurenkonferenz dazu hinreißen, den Schülern ihre Noten zu sagen. Und dann startet der Basar: »Üff, mach nicht so, Frau Freitag! Warum nur sechs Punkte? Geben Sie eine Punkt mehr, dann hab ich ein Drei auf Zeugnis.«

»Ja, ich weiß. Leider waren deine Leistungen aber nur ausreichend. Und nicht befriedigend

»Wenn ich Ihnen noch ein Bild male, kann ich dann nicht in Kunst zwölf Punkte haben?«

»Die Notenabgabe war vorgestern. Du hast zu oft unentschuldigt gefehlt.«

Wer als Lehrer die Nähe zur Schülerschaft sucht, der sollte am Ende der Stunde die Zeugnisnoten vorlesen. Die Pause kann man dann getrost vergessen: »Wieso eine Fünf? Ich war doch fast immer da. Ich brauche doch eine Vier!« – »Der Ronnie war aber nicht besser als ich. Ich hab doch immer Zweien geschrieben. Echt, der wieder, nur weil er Deutscher ist …«

Auch auf dem Hof erfreut man sich allgemeiner Aufmerksamkeit: »Frau Freitag, geben Sie mir acht Punkte, biiittteee«, schreit man dir entgegen. Besonders schön auch: »Sie versauen meine gesamte Zukunft!« Oder, kombiniert mit einem Gesicht, als säße man in der Todeszelle: »Frau Freitag, Sie haben mein Leben gefickt.«

Und was macht der Lehrer? Der bleibt hart. »Ich muss jetzt zur Aufsicht.« – »Diese Note hast du dir selber eingebrockt.« – »Seit Monaten sage ich dir, du sollst dich anstrengen.«

Aber dann kommt der Lieblingsschüler. Du willst nicht, dass er dich vor den anderen nach seiner Note fragt. Du hast ihm nur elf Punkte gegeben, weil du sauer warst, dass er die letzte Hausaufgabe einfach nicht nachgereicht hat, du wolltest auch mal konsequent sein.

»Und ich?«

»Ja, nun …« Jetzt bloß nicht weich werden. Nicht vor den anderen Schülern!

»Was kriege ich in Englisch?«

»Also, du bekommst … also, warte mal …«, im Notenheft blättern, Zeit schinden. »Also, bei dir leider nur elf Punkte.«

»ELF Punkte?«

Der Lieblingsschüler ist ehrgeizig. Erst guckt er mich grimmig an, dann hellen sich seine Gesichtszüge sofort wieder auf: »Frau Freitag, elf Punkte! Elf Punkte hab ich in Musik. Und ich hasse Musik. Geben Sie mir zwölf!«

Hart bleiben, hart bleiben, nicht hingucken, hart bleiben.

»Aber du hast die eine Hausaufgabe …«

Der Lieblingsschüler lässt nicht locker: »Frau Freitag, is doch nur ein Punkt. Kommen Sie! Seien Sie nicht so! Wir gehen mal schick essen.«

Tja. Was sagt man dazu? Ich frage mich selbst, was der Lieblingsschüler letztendlich auf dem Zeugnis stehen haben wird. Eigentlich hat er die zwölf Punkte nicht verdient. Aber wenn er sie doch so gerne hätte? Und wenn ich dafür bei allen anderen hart bleibe? Wahrscheinlich wird der Lieblingsschüler einen Punkt mehr auf seinem Zeugnis haben. Wenn er das bei allen Kollegen schafft, dann hat er ein ziemlich gutes Zeugnis.

Was macht einen Schüler eigentlich zum Lieblingsschüler? Und warum ist mein Lieblingsschüler nicht jedermanns Lieblingsschüler? Das Phänomen, einen Schüler besonders zu mögen, kennt wohl jeder Lehrer. Aber es sind nicht immer die leistungsstarken, gut angepassten Alles-richtig-Macher. Und es sind auch nicht immer nur Jungs! Wie wird man also Frau Freitags Lieblingsschüler? Wer Interesse hat, muss sich nur an folgende Punkte halten:

1. Öfter mal in Frau Freitags Unterricht vorbeikommen
Regelmäßige Anwesenheit hilft. Allerdings war mein erster richtiger Lieblingsschüler ein »Schuldistanzierter« allererster Güte. Aber es freut Frau Freitag schon, wenn er oder sie sich oft blicken lässt.

2. So tun, als interessiere man sich für Frau Freitags Unterricht
Es ist natürlich toll, wenn sich jemand für meinen Unterricht interessiert, kommt aber so selten vor, dass ich eigentlich schon gar nicht mehr damit rechne. Was ich allerdings überhaupt nicht mag, sind Schüler, die in einer offensichtlich langweiligen Stunde übermäßiges Interesse heucheln. Verarschen kann ich mich alleine und durch Schleimerei wird man bei Frau Freitag gar nichts, sondern läuft nur Gefahr, am Ende weniger Punkte zu bekommen, als man eigentlich verdient hätte. Es in schlecht vorbereiteten Stunden mit der Mitarbeit zu übertreiben und zu denken, ich freue mich darüber, beleidigt mich sehr. Dieser Schwachsinn, der teilweise in den Lehrbüchern steht, geht mir mitunter auch auf die Nerven. »Meint ihr vielleicht, mich interessiert, was britische Schüler zum Frühstück essen? Was werden die schon essen? Ungesunden Scheiß oder gar nichts. Hallo: England, Schulkinder, Frühstück …« Aber auf meiner Begeisterungswelle mitzuschwimmen und völlig aus dem Häuschen zu geraten über Randphänomene der englischen Sprache oder Absonderheiten in der Kunst, das kommt bei Frau Freitag immer gut an. »Ist doch voll geil, dass man die Adverbien meistens an dem -ly erkennt, ist ja im Deutschen nicht so. Great!«

3. Auch mal was Lustiges sagen
Ganz wichtig: Humor! Alle meine Lieblingsschüler machen ausgezeichnete Witze. Gerne auch über mich, damit hab ich kein Problem – wenn sie gut sind. Aber auf keinen Fall dürfen sie nur über Slapstick-Einlagen meinerseits lachen. Irgendwann ist es einfach nicht mehr komisch, dass Frau Freitag immer wieder über die Kabel vom Overheadprojektor stolpert. Lieblingsschüler haben also Humor und schaffen es, eine gute Stimmung in der Gruppe zu erzeugen.

4. Bitte nicht völlig überangepasst sein
Das Schulsystem in seiner jetzigen Form ist nicht perfekt. Deshalb kann selbst Fräulein Krise, die für mich die beste Lehrerin der Welt ist, nicht immer optimal tollen Unterricht machen. Jeder halbwegs engagierte und intelligente Lehrer hadert täglich mit den Umständen: Räume, Ausstattung, Gruppengröße, Zeit, Rahmenpläne und so weiter. Da wäre es doch komisch, wenn man ausgerechnet den Schüler toll fände, der nirgendwo mehr aneckt. Eine Portion gesunde Skepsis und Ablehnung der Schule gegenüber gehört unbedingt zu einem Lieblingsschüler.

5. Und last but not least …
Schön, wenn der Schüler auch noch gut aussieht!

Also wie man sieht, ist es doch gar nicht so schwer, Frau Freitags Lieblingsschüler zu werden. Man hat auch gewisse Vorteile: Man darf öfter aufs Klo, Verspätungen werden nicht so streng geahndet, vergessene Hausaufgaben, ach, na ja … Und am Ende gibt es dann die gewünschte Punktzahl. Ist doch eigentlich gar nicht schlecht. Ich frage mich nur immer wieder: Warum sind es trotzdem nur so wenig?

»Aber es ist schon durchgekommen!«
(Ende Juni, noch drei Wochen)

Wer hat eigentlich Sportfeste erfunden? Bestimmt die Griechen – schönen Dank auch! Und wer kam eigentlich auf die Idee, auch in Schulen ständig Sportveranstaltungen zu organisieren? Da jagt das Leichtathletikfest das Fußballturnier, und wir armen Klassenlehrer werden dauernd zur Aufsicht eingesetzt. Gerade jetzt, in der Schuljahresendzeit, häufen sich diese Events. Dabei könnte ich so schönen halbgaren, schlecht vorbereiteten Unterricht machen, anstatt hinter einer Meute lustloser Schüler her zu rennen.

Gerade neulich hatten wir wieder so ein Die-Schüler-müssen-mehrere-Disziplinen-durchlaufen-und-das-schlägt-sich-dann-noch-ganz-groß-in-der-Sportnote-nieder-Ding. Ich sammle meine Schüler am Eingang des Sportplatzes ein und werde natürlich gleich mit: »Ich hab mein Asthmaspray zu Hause vergessen« – »Ich bin umgeknickt« – »Ich habe Halsschmerzen« begrüßt.

Einige Mädchen sagen nicht mal Hallo, sie sitzen schon auf der Wiese, wo sie sich nicht mehr wegbewegen werden, bis mittags alles vorbei ist. Wie konnte ich auch annehmen, dass sie an diesem Scheiß teilnehmen würden. Und weiß denn keiner der Verantwortlichen, dass es das Phänomen der Blitzperiode gibt? Schlagartig haben alle anwesenden Mädchen ihre Tage. Eine bekommt sie zwischen zwei Weitsprungversuchen. Diese Information wird der Klassenlehrerin ganz konspirativ ins Ohr geflüstert.

»Ich hab, na, Sie wissen schon.«

Ich: »Na und?« Weit aufgerissene Mädchenaugen blicken mich an: »Aber, aber … es ist schon durchgekommen, und ich hab weiße Hose an.«

Warum muss das eigentlich IMMER durchkommen? Bei jeder Sportstunde, vor jeder Mathearbeit und gerne auch in der achten Stunde. Und was kann eigentlich die beste Freundin da tun? Warum muss die unbedingt immer mit aufs Klo und dann mit nach Hause. Reicht denn nicht der Pulli um die Hüften? Übrigens weiß bei dem Look sowieso jeder sofort, was los ist.

Meine menstruierenden Mädchen dezimieren sich jedenfalls zusehends. Zuerst probieren sich noch alle beim Weitsprung, dann gehen schon deutlich weniger beim 100-Meter-Lauf an den Start, eine noch kleinere Gruppe krepelt sich mit den Bällen ab (sollte man gleich abschaffen, dieses Werfen) und beim 800-Meter-Lauf verblutet mir der klägliche Rest. Die drei Mädchen, die sich an den Start gewagt haben und von mir vor lauter Dankbarkeit abgeknutscht wurden, brechen im Ziel völlig entkräftet zusammen, eine kotzt sogar.

Schnell verabschiede ich mich von meiner Klasse und mache mich unauffällig aus dem Staub. Bei der nächsten Veranstaltung dieser Art melde ich mich krank: »Frau Freitag kann wegen starker Unterleibsschmerzen leider nicht am Sportfest teilnehmen.«

Vielleicht bin ich ja die Einzige in meiner Schule, die ihre Klasse nicht gerne zu Sportwettkämpfen begleitet. Die Sportlehrer sehe ich immer begeistert die Sprunggruben harken, und es gibt immer wieder Klassenlehrer, die ihre Schüler trainieren, als veranstalteten wir die Olympischen Spiele. Lehrer ist eben nicht gleich Lehrer. Die Heterogenität des Lehrerkollegiums ist sowieso eine Sache für sich. Da hat man eine Schule mit einer recht homogenen Schülerschaft und dann diese vielen sehr verschiedenen Kollegen.

Hat eigentlich jedes Kollegium die gleichen Lehrertypen? Sind an jeder Schule alle Variationen unserer Spezies vertreten?

Garantiert gibt es überall die antiquierte Ausgabe des Lehrmeisters, den Pauker, den »harten Hund«. Den kennen wir alle aus unserer eigenen Schulzeit, und ich treffe diesen Typ Lehrer in jeder Schule wieder. Der harte Hund lässt sich auf gar nichts ein. Er ist gefestigt in seinen Prinzipien, genießt bei der Schulleitung großes Ansehen und ist davon überzeugt, dass sein pädagogisches System das einzig Wahre ist. Natürlich gibt es den harten Hund auch in weiblicher Ausführung.

Gerne schildert er im Lehrerzimmer, »wie man es macht«. Eine neue Klasse – kein Problem, die wird erst mal drei Tage lang so zusammengebrüllt, bis alle weinen und sich eingeschüchtert die nächsten sechs Jahre durch Augenbrauenhochziehen dirigieren lassen. Soziales Lernen, demokratische Strukturen und Evaluation sind für den harten Hund »so ’n Schnulli-Kram«, mit dem er sich nicht abgibt. Er ist von seiner Alleinherrschaft überzeugt. In der Klasse eines solchen Diktators haben es Kollegen schwer, die anders sind, in seinen Augen »weicheieriger«. Die Schüler drehen durch, wenn sie plötzlich mit milderem Auftreten konfrontiert werden. Der harte Hund weiß dann: Na, die haben es einfach nicht drauf.

Denn sein eigenes System wird ja, wie gesagt, nie von ihm angezweifelt.

Schüler fürchten diesen Lehrertyp, verwechseln Angst mit Respekt. Oft hört man von ihnen: »Der ist zwar voll streng, aber wir haben viel von ihm gelernt.«

Klar, beim harten Hund ist jede Klasse erst mal ruhig. Unterrichtsstörungen kommen so gut wie nie vor. Traut sich ja auch niemand. Aber nur weil es im Unterricht ruhig ist, heißt das nicht automatisch, dass jeder viel lernt. Methodisch und pädagogisch bewegt sich der harte Hund nämlich nicht nur im Mittelalter, sondern gerne auch im gefährlichen Sumpfgebiet der gesetzlichen Grauzone: Demütigungen, Beleidigungen und sogar Gewalt gehören zu seinem täglichen Repertoire. Bestraft wird er allerdings nie.

Der Kollege harter Hund kotzt mich an in seiner Selbstherrlichkeit. Nie will er was Neues hören, geschweige denn lernen. Weiterbildung – wozu? Teamarbeit – was soll das sein? Kritik – wieso? Bei mir läuft’s doch. Nicht nur in meiner eigenen Schulzeit, auch heute noch ecke ich immer an, wenn mir dieser Lehrertyp begegnet. Sie sagen immer das Gleiche und in jedem Statement versteckt sich Kritik am Gegenüber:

»Wenn es nicht leise ist, fang ich gar nicht erst an.«

»Echt, das hat er gemacht? Das traut der sich bei mir nicht.«

»Den hab ich so gegrillt, der hat nicht mal mehr gezuckt.«

Da wird »auf den Topf gesetzt«, »gar nicht lange gefackelt«, »kurzer Prozess gemacht«, »erst mal ganz hart durchgegriffen« und grundsätzlich »gesagt, wo es langgeht«, ständig werden »mal ganz andere Töne angeschlagen«. Andere Lehrertypen werden verunsichert oder belächelt. Harte Hunde sonnen sich in ihrem schlechten Ruf. Schüler fürchten, hassen oder verehren sie. Kollegen ärgern sich über sie, trauen sich aber nicht, sie zu kritisieren.

Ich finde, die harten Hunde gehören ins Museum. Bei der nächsten Schulinspektion sollten sie aufgespürt und suspendiert werden: »In fast siebzig Jahren nichts dazugelernt. Dieser Lehrer wird leider nicht in die nächsthöhere Klassenstufe versetzt.«

Schuljahresendzeit
(4. Juli, noch 11 Tage)

Aber Lehrer bleiben ja nicht sitzen. Schüler dagegen schon. Den Sitzenbleibern aus meiner Klasse habe ich gesagt, dass sie wiederholen müssen. Schrecklich war das. Wie verkauft man denn einem Teenager, dass er das gesamte vergangene Jahr noch mal machen muss. Nur mit anderen Leuten, und er selbst ist ein Jahr älter. Schrecklich. Und wie müssen die sich ärgern, dass sie sich nicht ein wenig mehr angestrengt haben. Unter uns – bei uns müsste man nicht sitzenbleiben. Wir sind nicht gerade eine Eliteschule.

Ich war ganz gerührt davon, wie stoisch sie das aufgenommen haben. Es gab weder Gemecker noch wurde irgendjemandem die Schuld für ihr Scheitern zugeschoben. Sie taten mir total leid, und ich wäre am liebsten zur Zeugnisliste gerannt und hätte ihre Noten geändert.

Schön war allerdings, den übrigen Schülern der Klasse nach und nach mitzuteilen, dass sie versetzt werden. Fast alle haben damit gerechnet, zu viele Fünfen und Sechsen auf dem Zeugnis zu haben. Ich war die perfekte Heidi Klum.

Sehr ernstes Gesicht: »Tja. Kennst du die Klassenlehrer der jetzigen 7. Klassen? Wen findest du davon nett?«

»Wie, äh, nee, kenn ich nicht. Muss ich denn?«

»Du warst ja leider nicht besonders fleißig im ersten Halbjahr. Dadurch sind deine Noten im zweiten … Du hättest, du solltest und hast nicht, ich hab doch die ganze Zeit gesagt, dass …«

Schüler leichenblass, zum ersten Mal in zwei Jahren sprachlos.

»Also in welche Klasse möchtest du denn gerne?«, frage ich.

»Ich will in die Neunte!«

»Na gut, dann kommst du in die Neunte.«

Typische Lehrersprüche in diesem Moment: »Aber nächstes Jahr musst du! Und von Anfang an und nicht wieder erst! Und fast hättest du nicht …«

Kann man sich eigentlich sparen, gegen die Freudenschreie kommt man sowieso nicht an. Und man kann solche Momente ruhig auch einmal verstreichen lassen, ohne gleich zu denken: Ah, jetzt die pädagogische Botschaft einstreuen, jetzt fällt sie auf fruchtbarsten Boden,

Nur bei einer Schülerin funktionierte meine Heidi-Masche nicht. Hodda, die nun schon zum zweiten Mal die achte Klasse besucht hat, einmal bei Frau Hinrich und einmal bei mir, flehte gleich verzweifelt: »Oh bitte, Frau Freitag, mach nicht so!« Und dann hat Frau Freitag auch nicht so gemacht, dafür habe ich sie allerdings gezwungen, sich wieder mein Lehrer-Mantra anzuhören – das sie glücklich strahlend über sich ergehen ließ.

»Aber wenn ich ihnen ihre Noten gesagt habe, dann machen die ja gar nichts mehr«, sagt der gebeutelte Referendar Herr Rau in der großen Pause. Er erwartet jetzt brauchbare Tipps. Ich fühle mich geschmeichelt. Anscheinend denkt er, ich habe alles im Griff. Herr Rau hat nichts im Griff. Am ersten Tag stand er noch am Kopierer und sagte lässig: »Na, ich lass das alles mal auf mich zukommen. Ich stress mich nicht.« Und alles kam auf ihn zu, es überrollte ihn förmlich. Nach ein paar Wochen war er stark abgemagert und hatte ziemlich schlechte Haut. Jetzt lechzt er geradezu nach jeglicher Art von Hilfe. Die gebe ich gerne: »Na ja, dann sag ihnen doch die Zensuren noch nicht. Oder sag, dass die Zensuren noch bis zum letzten Tag geändert werden können.«

In meiner Klasse werden sie ihm das nicht abnehmen, denn ich habe bereits letztes Jahr genau erklärt, wie das mit der Zensurenabgabe und der Zeugniskonferenz funktioniert. Bin isch für Transparenz? Vallah, ja, isch schwöre.

»Also, ich mach mit denen noch bis zum bitteren Ende Unterricht. Ich werde nachher ein neues Kapitel anfangen und vielleicht schreibe ich nächste Woche noch einen Vokabeltest«, höre ich mich plötzlich sagen. Was erzähle ich denn da? Hört sich auf jeden Fall gut an. Gestern hatte ich zwar die Bücher ausgeteilt, dann habe ich mich aber sehr schnell überreden lassen, Futurama zu gucken. Ich mache eigentlich schon seit Wochen keinen normalen Unterricht mehr. Der Beamer wird bei mir gar nicht mehr abgebaut. Entweder lasse ich meine Schüler mit einander quatschen, Kartenspielen oder irgend einen Horrorfilm sehen: »Nein, der ist ab zwölf. Wirklich! Das ist alles Verarschung, der Film macht sich über richtige Horrorfilme lustig. Ich schwöre, Frau Freitag.«

Irgendwie scheinen sich meine Unterrichtsmethoden in der Schule rumgesprochen zu haben, denn es kommen vermehrt fremde Schüler zu mir: »Frau Freitag, haben Sie Ihre DVDs mit? Können wir die für Geschichte ausleihen?« Beruhigend, dass mittlerweile fast alle in der Kinozeit angekommen sind. Meine Mutation zur Videothek rettet so manchem Lehrer eine langweilige und kräftezehrende Vorferienstunde.

Früher, als ich noch keinen Beamer hatte, versuchte ich vor den Ferien dem Schülerwunsch nachzukommen, endlich mal was Schönes zu machen. Eine besonders beliebte Schülerfrage ist ja definitiv: »Können wir heute mal was spielen?« Nachdem ich allerdings mehrere dieser Spielstunden meisterhaft ins Chaos gesteuert und irgendwann gemerkt habe, dass ich nicht ein Spiel zu Ende bringen konnte, habe ich es aufgegeben. Nun gehe ich den Weg des geringsten Widerstandes: »Okay, schließt schon mal den Beamer an.« Irgendwann muss ich ja schließlich meinen Schreibtisch und die Schränke aufräumen, das Klassenbuch nachtragen und die Schulbücher putzen. Warum schaffe ich es eigentlich nicht, meine Klasse zum Kauf von Buchschutzhüllen zu bewegen? Zeit genug hätten sie dazu gehabt.

Der meiste Unterricht spielt sich vor den Sommerferien auf dem Hof ab. »Was macht ihr hier draußen? Ihr habt doch jetzt Erdkunde!«, frage ich meine Klasse während meiner Aufsicht. »Wir dürfen!«

Wenn die Schüler nicht Hof oder Filmegucken haben, spielen sie oder helfen den harten Hunden beim Aufräumen. Unterricht gibt es meines Wissens nicht mehr. Aber wehe, wehe, wenn ein Schüler zu mir kommt und darum bittet, drei Tage früher in den Urlaub fahren zu dürfen. Das geht gar nicht! Anweisung von ganz oben! Diese unglaubliche Dreistigkeit wird von uns geahndet wie ein Kapitalverbrechen.

Freudig kommen sie zu mir: »Frau Freitag, wir gehen schon Donnerstag Türkei!«

»Schön. Hast du es gut. Aber du darfst mir das nicht sagen, also sag mir so was nie wieder.«

Mein Vorschlag wäre, das Früher-in-die-Ferien-zu-fahren-weil-die-Flüge-viel-billiger-sind zu erlauben und den Wir-machen-irgendeinen-Firlefanz-damit-die-Zeit-bis-zu-den-Zeugnissen-schnell-rum-ist-Unterricht abzuschaffen und zwei Wochen vor den Ferien nur noch hammermäßig geile Sachen mit den Schülern zu unternehmen.

Dann heißt es: »Na und, dann fahr doch in dein Libanon-Dorf zu Oma und Opa, wir gehen Montag mit Frau Freitag Fallschirmspringen, Dienstag Kartfahren, Mittwoch Heidepark, mit Übernachtung, Donnerstag Konzert von 50 Cent und Freitag wissen wir noch nicht.«

Und was ist mit uns Lehrern? Haben wir uns nach dem Überleben eines anstrengenden Schuljahres nicht auch was verdient? Ich denke, von uns legen nur wenige Wert auf einen Heideparkbesuch, aber belohnen wollen wir uns auch. Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps, sagt man doch so schön. Aber was ist mit Schnaps im Dienst?

Diese Frage stellt sich für uns jährlich in der Schuljahresendzeit, denn da häufen sich für uns Lehrer die Feierlichkeiten in der Schule. Da wird geplant, gesammelt, mitgebracht, aufgebaut, gegrillt, gegessen, gequatscht und gesoffen.

Den Aufbau übernimmt immer die gleiche Person: die Seele des Kollegiums. Man soll ihr schon irgendwie helfen, aber nicht zu viel, denn die Verantwortung will die Person auf keinen Fall abgeben. Passt man nicht auf, wird man mit niederen Arbeiten überschüttet: Tische schleppen, Gläser spülen, Gabeln aus dem anderen Gebäude holen und so weiter. Wie ein Kind wirst du von der Ober-Mutti oder dem Ober-Vati (es sind meiner Meinung nach öfter Frauen) herumgeschickt: »Deck doch schon mal die Tische ein, Frau Freitag! Kannst du mal zum Hausmeister gehen, wir brauchen noch einen Dreifachstecker. Und wenn du schon dabei bist: Such doch schnell mal einen Korkenzieher!« Wenn die Verantwortliche dann von der Schulleitung vor dem versammelten Kollegium gelobt wird, dann tut sie ganz bescheiden: »Ach, lasst doch, das ist mir jetzt aber peinlich.«

Es sind immer die gleichen Leute, die helfen, und es gehen immer die gleichen zuerst nach Hause. Ich habe die Schonlehrer oft essen, aber nie aufräumen sehen. Ich mache immer irgendwie mit, aber gelobt wurde ich noch nie.

Nach dem Essen geht dann die Sauferei los: »Komm, nimm noch mal einen Schluck.« – »Wir haben noch gar nicht angestoßen!« – »Dein Glas ist ja leer! Auf einem Bein kann man nicht stehen.« – »Los, noch einen Absacker.«

Und dann wird völlig losgelöst abgesackt. Wie tief darf denn gesackt werden? Und wer bunkert diesen unerschöpflichen Schnapsvorrat, in den verschiedenen Fachbereichen?

»Hier ist noch ein Fläschchen!« – »Ich hab hier noch was ganz Feines!« – »Komm, die Buddel hauen wir noch weg. Was weg muss, muss weg.«

Je später der Abend, desto schwieriger wird es für mich, mich dem Mitmachzwang der harten Hunde zu entziehen, und irgendwann gehen mir die Abstinenzgründe aus.

»Frau Freitag, bist du schwanger? Oder warum trinkst du Cola?«

Sie werden dann ganz kuschelig und wollen dich unbedingt auf ihren Ausgelassenheitspegel bringen. Ich fülle mich stets mit Cola, Sprite und Apfelschorle ab. Unter ihrem Alkohol-Einfluss werde ich zu »unsere Kleine«: »Ach, die Frau Freitag, die hat’s auch nicht leicht, die nimmt sich alles immer so zu Herzen …«

Ich mache bei diesen Gelagen nie mit. Keine Lust auf Verbrüderung, Privates und die späteren Weißt-du-noch-bei-der-Weihnachtsfeier-Stories: »Na, Frau Schwalle war ja ganz schön dicht. Ist denn Herr Johann noch nach Hause gekommen?« Wie kommen manche Kollegen dazu, sich bei Betriebsfeiern so dermaßen gehen zu lassen? Haben die keine Freunde, mit denen sie es sich mal so richtig geben können?

Allerdings muss ich zugeben, dass die Feiern ohne die besoffenen Kollegen ganz schön langweilig wären, denn es ist herrlich, ihren Niveauverfall zu beobachten. Man muss aber unbedingt den perfekten »Ich geh jetzt«-Moment finden. Der liegt kurz vor dem Aufräumen. Und kurz nachdem sich der harte Hund dazu hat hinreißen lassen, mal so richtig über die Kollegen abzulästern. Mit glasigem Blick sitzt er dann in sich zusammengesunken am Tisch: »Also, die Frau Soundso, na die isss doch auch ein wenig …« Wenn du Pech hast, erwischt er dich, legt seinen schweren Arm um dich und lallt dir ins Ohr: »Suerss als ich dich sah, dachtisch du biss auch dooof, aba jesss bisss du doch eine ganzzz lieebe Pessson …« Nicken, nett grinsen und dann nichts wie weg.

Das sind mir die Richtigen: Den ganzen Abend laut grölend Scheiße labern und eine Woche später eine Klassenkonferenz ansetzen, weil ein Schüler hinterm Haus geraucht hat.

Let’s dance!
(Noch vier Tage)

»Es ist leicht, ein geiler 18-Jähriger zu sein, wenn du 18 bist. Ich war auch ein geiler 18-Jähriger«, sagt mein Freund und will damit wohl verhindern, dass ich noch weiter über den Lieblingsschüler spreche. »Aber er kann auch Beatbox.« Keine Chance, es interessiert keinen mehr.

Wir hatten am Vortag die Abschlussfeier der 10. Klassen. Eine Riesensache. Stundenlanges Gestyle. Nachdem ich jahrelang underdressed erschienen bin und mich zwischen reif- oder miniberöckten Mädchen und Smoking tragenden Jungen unwohl gefühlt habe, bin ich diesmal schlauer und mache schon einen Woche im Voraus einen Friseurtermin.

Ja, es soll eine Hochsteckfrisur werden. »Kann ich dann auch so’n Glitzer reinkriegen? So Strasszeug? Oder kleine Blumen?« Eine Stunde sitze ich beim Friseur und beobachte die Verwandlung von der Lehrerin zur Lehrerin mit Debütantinnenfrisur. Dabei denke ich: Oh Gott, das wird bestimmt furchtbar, ob ich noch genügend Zeit haben werde, die ganzen Klammern wieder rauszukriegen, und dann muss ich die Haare bestimmt noch mal waschen.

Wider Erwarten sieht die Endfrisur super aus. Original türkische Hochzeit. Ich bin begeistert, schmeiße mich in Schwarz, Rücken frei, Beine verlängernde Hose, Strassgürtel und Silber-schmuck. Mein Freund schminkt mich, und im Bus fühle ich mich wie sechzehn.

Auftritt der Schüler: Anzüge in allen erdenklichen Pastell tönen, aber auch schwarz und natürlich weiß mit schwarzem Hemd und weißer Krawatte. Die Jungs mit Zigarre und Sonnenbrillen, die Mädchen mit noch höheren Hochsteckfrisuren als ich, und nicht nur kleine Strassdinger, sondern riesige Blüten in den Haaren. Pink, Pailletten, Glitzer hier, Glitzer da. Die Jungs mit glänzenden Hemden und gegelten Haaren. Du erwartest, dass sie alle Pistolen im Hosenbund haben. Sie verschwinden in Gruppen in den Büschen und kommen gut gelaunt zurück.

Alle wollen sich fotografieren lassen. Ich filme. Das lieben sie, geben mir bereitwillig auch Interviews. »Ich bin Tony Montana auf der Abschlussfeier. Hier, Zigarre, wollen Sie mal ziehen, Frau Freitag?«

Der Lieblingsschüler kommt. Schöner Anzug, Sonnenbrille. »Hallo, Frau Freitag. Ihre Haare, sieht top aus. Selbst gemacht?«

»Nee, nee. Friseur, aber du siehst auch gut aus«, sage ich.

»Danke schön.«

Und dann wird getanzt, vom ersten Moment an bis zum Ende. Dafür liebe ich die Schüler meiner Schule. Die tanzen so super. Alle. Die Jungen und die Mädchen und jeder mit jedem. Egal, was für Musik gespielt wird. Läuft ein arabisches oder türkisches Lied, dann bilden sich endlose Schülerreihen, die sich an den Schultern festhalten und sich mit synchronen Schrittfolgen im Kreis bewegen. Sofort sieht alles aus wie muslimische Hochzeit. Vor allem die schwitzenden Jungen, die im Anzug und durch ihr wiederholtes Sitzenbleiben stark über altert bereits wie ihre eigenen Väter wirken.

Und Breakdance, in all seinen Auswüchsen, kann sowieso jeder Schüler unserer Schule. Ich denke: Wo lernen die diese Moves? Jetzt können die sogar den Moonwalk. Wahrscheinlich üben die das, wenn sie gerade mal wieder keine Hausaufgaben machen. Ich tanze auch, fast den ganzen Abend. Einen Tanz sogar mit dem Lieblingsschüler. »Frau Freitag, Sie tanzen gut, Sie gehen bestimmt immer in Clubs und tanzen voll ab.« Wenn der wüsste. Ich wackle vielleicht mal auf meiner Couch mit dem Kopf zu einem uralten Michael-Jackson-Video auf MTV.

Glücklicherweise ist eine neue Kollegin dabei, die nicht tanzen möchte und deshalb den ganzen Abend filmt. So viel Spaß hatte ich lange nicht mehr. Niemand feiert so ausgelassen wie Schüler ohne Schulabschluss. Gerne würde ich mit ihnen noch weiterziehen und die ganze Nacht irgendwo abzappeln, bis es hell wird oder Zeugnisse gibt.

Aber ich lasse mich vernünftig vom Kollegen Werner nach Hause bringen und sehe mir noch das Video vom Abend an. Mein persönliches Lernziel für die nächste Abschlussfeier: Ich muss unbedingt ein paar coole Breakdance-Moves draufhaben, die ich dann gezielt beim Tanzen einstreuen kann. Und auf jeden Fall wieder mit Hochsteckfrisur!

Den ganzen Samstag danach liege ich platt auf der Couch. Die Haare sind wieder unten und nichts glitzert mehr. Ich werde am Montag auf keinen Fall ins Lehrerzimmer gehen. Fräulein Krise hat mir am Telefon schon gesagt, was mich dort erwarten wird: »Haha, guckt sie euch an, die Freitag, erst so jugendlich abtanzen, aufgetakelt wie eine billige Aussiedlerin und danach das ganze Wochenende komatös auf dem Sofa leiden. Ist wohl doch nicht mehr so jung und dynamisch, wie sie immer tut, mit ihren Turnschuhen und H&M-Klamotten.«

»Ja, ja, Hochmut kommt vor dem Fall. Das geschieht ihr doch ganz recht, dieser eingebildeten Ziege, ihre Klasse hat keinen Zug, ein völlig verwahrloster Haufen, und wenn du an ihrem Raum vorbeiläufst, da geht eigentlich in jeder Stunde der Punk ab. Disziplin herrscht bei der nicht! Aber dann so rausgeputzt bei der Feier, was denkt die denn – glaubt die, sie ist sechzehn und macht gerade ihren Abschluss? Hast du gesehen, wie die mit den Jungs getanzt hat? Widerlich, die hat sich ja regelrecht an die rangeschmissen. Das gehört sich ja wohl nicht für eine Lehrerin, vor allem nicht in ihrem Alter.«

»Fehlt ja nur noch, dass sie mit einem geknutscht hätte.«

»Gewundert hätte es mich nicht. Und wer weiß, vielleicht heimlich auf dem Klo?«

»Ist euch überhaupt schon mal aufgefallen, dass die Freitag den gutaussehenden Jungs immer viel zu gute Zensuren gibt?«

»Stimmt, hat dieser Hübsche aus der Zehnten bei ihr nicht nur Einsen bekommen?«

»Schade, dass der Chef am Freitag nicht da war. Sollten wir ihm vielleicht erzählen, wie die sich aufgeführt hat.«

»Meint ihr, die hatte was getrunken?«

»Also, ich hab sie zwar nur Cola trinken sehen, aber vielleicht war da was drin.«

»Hat sie bestimmt heimlich mitgebracht.«

»Oder von den Schülern.«

»Würde mich nicht wundern, wenn sie vor der Feier mit den Schülern Haschisch geraucht hätte.«

»Meinst du, die rauchen Haschisch? Also aus meiner Klasse, glaube ich, raucht keiner Drogen.«

»Was ist das für eine Frage, ob wir dem Schulleiter Bescheid sagen sollten? Das MÜSSEN wir. Das ist unsere Pflicht. Wisst ihr, was ich glaube? Die hat nicht nur mit den Schülern geraucht, ich glaube, die hat denen das Haschisch sogar besorgt.«

»Meinste? Stimmt, jetzt wo du’s sagst – klar. Diese Freitag ist und bleibt doch eine elende Schülerschleimerin. Also, wer sagt’s dem Chef?«

Endlich: Der letzte Schultag!

Niemand hat’s dem Schulleiter erzählt. Und wenn, dann habe ich es nicht mitbekommen, denn in den letzten verbleibenden Pausen mied ich das Lehrerzimmer und drückte mich in den Gängen und auf dem Hof rum.

Und dann plötzlich ist das Schuljahr vorbei. Unfassbar. Ich bin völlig fertig, kann es gar nicht glauben. Die Zeugnisausgabe wäre beinahe in einem Totaldesaster geendet. Hatten doch die Mädchen beschlossen, ihre Sie-hat-jetzt-endlich-einen-Freund-und-warum-mischt-du-dich-da-ein-und-nur-weil-du-mit-dem-geredet-hast-hat-er-jetzt-Schluss-gemacht-Dramen ausgerechnet am letzten Tag aufzuführen.

Eine Mädchengruppe schrie sich also aufs Heftigste an, während die andere Gruppe sich auf irgendein wichtiges Date vorbereitete. Da wurden Haare toupiert und mit Haarspray fixiert. Seit meiner eigenen Hochsteckfrisur erkenne ich die Frisierfähigkeiten meiner Schülerinnen als echte Kompetenz an. Allerdings heute – auf dem schon zum Frühstück gedeckten Tisch, mit dem ganzen Haarspray … Dreimal sage ich: »Kein Haarspray!« Und die stellen es einfach hinter sich auf den Tisch und sprühen fröhlich weiter. Da hab ich ihnen mal richtig heftig die Messer aus dem Lehrerzimmer auf den Boden geknallt: »Macht euren Scheiß doch alleine!« Glücklicherweise befähigt mich meine langjährige Erfahrung, mein hochgeschraubtes Gemüt in Sekundenschnelle wieder runterzuschrauben, und dann haben wir doch noch sehr nett gefrühstückt. Danach gab es ein schnelles: »Hier sind eure Zeugnisse, tschüss und schöne Ferien.« Und weg waren sie – keine kostbare Minute der Ferien verpassen.

Ich dagegen hing noch ewig im Lehrerzimmer ab und wurde ganz wehmütig. Am liebsten hätte ich mich auf dem Hof an jeden von uns scheidenden Zehntklässler gekettet. »Die sollen nicht gehen! Die waren gerade so nett. Wir haben doch so schön getanzt.« Jeder Ärger, jede verkackte Stunde, jeder Wutausbruch ob ihrer Faulheit war wie weggeblasen. »Geht nicht, ihr Lieben! Können wir uns nicht in den Ferien treffen? Lasst mich nicht alleine hier.« Können die nicht alle bei mir wohnen, wenigstens ein paar von denen? Na ja, ich glaube, das ginge nicht lange gut. Ob mein Freund was dagegen hätte? Der würde sich mit dem Lieblingsschüler bestimmt auch gut verstehen.

Und dann liegt es vor mir: das Loch. Beängstigend dunkel und sechs Wochen tief. Noch tanze ich fröhlich am Rand. Noch lenke ich mich mit Was-ich-noch-alles-machen-Muss vom Hinabstürzen ab. Aber von ganz tief unten höre ich die sirenenhaften Gesänge der Depression: »Komm zu uns, Frau Freitag! Spring! Komm! Was willst du da oben? Lass dich fallen. Da oben hast du nichts mehr und bist doch nur verloren. Da oben hast du doch gar nichts mehr zu tun.«

»Doch, doch, ich muss noch meinen Schreibtisch aufräumen, meine Steuererklärung machen, Fotos sortieren, Klamotten ausmisten, Unterricht vorbereiten, das ganze Schuljahr nachbereiten!«

Die Depression: »Unterricht? Ha, dass ich nicht lache! Es sind Ferien. Sommerferien!«

»Aber wenn ich den Unterricht jetzt schon plane, dann wird im nächsten Schuljahr alles anders. Leichter, besser. Ich könnte endlich guten Unterricht machen. Eine gute Lehrerin sein! Ich muss sofort anfangen damit! Ich werd gleich mal Arbeitspläne schreiben.«

»Frau Freitag, jetzt mach dich nicht lächerlich. Jetzt sind Ferien. Da denkt kein Mensch an Unterricht. Komm, schnell, ab ins Loch, los!«

»Nein, nein, warte.« Ich gehe näher an den Rand. Alles dunkel, kalt, und an den Wänden nur Langeweile und schleimige Ausweglosigkeit.

»Nein, bitte, ich will nicht. Ich will meine Zeit nutzen. Wenn ich jetzt ins Loch falle, wie komme ich da je wieder raus? Ich kenne das doch. Es ist schrecklich. Wenn man im Loch ist, dann wacht man nachts auf und hat Selbstmordgedanken. Bitte, bitte, ich möchte diesmal nicht, bitte.«

»Bist doch selbst schuld. Warum bist du nicht gestern Abend in den Urlaub gefahren? Da waren deine Kollegen aber schlauer.«

»Ja, ja, ich weiß, den Fehler mache ich immer wieder. Aber ich dachte, wenn ich hierbleibe, dann kann ich so viel erledigen. All das Liegengebliebene.«

»Hmmm, schon klar. Nun mach dir mal nichts vor, Frau Freitag. Komm, lass dich fallen!«

Neeeiiinnn! Nur schnell weg vom Rand. Während ich renne und renne, drehe ich mich um und rufe: »So. War nett mit dir zu quatschen, aber ich habe leider keine Zeit mehr. Ich muss jetzt unbedingt sofort meine Schultasche ausräumen und die Arbeitsblätter wegheften!«

Voll krass, Alta, isch schwöre!

Wach isch heute auf, kann isch nur noch reden wie Schüler. Sagisch zu Freund: »Freund, vallah, scheiße, was is das für schwule Kacke. Guckstu, wie isch rede. Geht nisch wieda normal, isch schwör. Kann isch nix mehr Kontrolle machen.« Freund sagt, soll ich Hals-Nasen-Ohren-Arzt gehen.

Geh isch Arzt, sag isch: »Herr Arzt, was das für schwule Scheiße mit meine Sprache?«

Sagt er: »Haben Sie in letzter Zeit Stress gehabt?«

»Strezzz? Was Strezzz, hab isch voll krasse Sprachenstörung, hörst du. Musstu Untersuchung machen. Bistu Arzt, oder was? Strezzz … dein Mutter hat Strezzz.« Ich voll aggro, er voll Angst, ich voll ein bisschen stolz. Weil ich noch nie nix erlebt haben tu, wie Arzt voll keine Peilung von nichts gehabt haben hatte.

»Was jetzt, bistu Opferarzt, oder was? Sollisch Untersuchung machen?« Guckt er mich mit so voll schwule Teil in Hals.

»Bistu behindert? Pass auf, du Spast, dis tut voll krass weh. Isch klatsch dir gleich eine. Ja?«

»Also, ich kann da nichts sehen, mit Ihren Stimmbändern ist alles in Ordnung. Ich vermute, Sie leiden an einer Stressattacke. Darf ich fragen, welchen Beruf Sie ausüben?«

»Was Beruf, ja? Bin isch Lehrerin, hastu Problem damit, oder was? Hässlichkeit.«

Glotzt die Sprechstundenschlampe auch noch so behindert. Rotz ich ersma aufn Boden. »Drecksarzt, kann nich heilen. Was, Hals-Nasen-Ohren-Arzt, ja? Opfer.«

Opfer, Missgeburt, Spast

Irgendwie schienen sich das Schülerverhalten und vor allem ihre verrohte Ausdrucksweise in mein System gefressen zu haben. Meine Sprache normalisierte sich nach ein paar Tagen wieder. Aber dann kamen wieder die grauen Gedanken: keine Schule, keine Arbeit, nichts zu tun.

In der zweiten Ferienwoche versuche ich deshalb meine Feriendepression mit einem Aufräumanfall zu bekämpfen. Beim Abbau der Schreibtischhaufen fällt mir ein Buch in die Hände: Mit Schülern klarkommen. Eine Empfehlung von Frau Dienstag: »Brauchst du! Musst du haben! Wird dein Leben verändern!«

Ich blättere darin herum und erinnere mich an meine holprige Anfangszeit als Klassenlehrerin. Damals ging mir der raue Umgangston der Schüler noch gehörig gegen den Strich. Wenn ich in meinem Klassenraum saß und die Tür offen war, hörte ich ständig den Soundtrack vorbeilaufender Schüler: »Du Spast!« – »Hurensohn, Opfer, Missgeburt!« – »Fotze, Hässlichkeit, Bastard!« Das waren die häufigsten Beschimpfungen.

In meiner Klasse hingen damals Klassenregeln, an die sich keiner hielt. Unter anderem stand da: Keiner wird beleidigt oder fertiggemacht. Eigentlich hätte dort auch stehen können: Wenn dich einer beleidigt, dann musst du ihn noch heftiger beleidigen. Und wenn er dich dann noch mal beleidigt, dann musst du ihm die Fresse polieren. Denn so lief das in meiner Klasse. Besonders beliebt waren Mutterbeleidigungen. In der achten Klasse sagten die Schüler nur noch: »Deine Mutter!«, oder: »Dein Vater!« Die Gemeinheit, die folgen sollte, konnte sich der Angesprochene dann wohl selbst aussuchen.

Mir ging der ständige Gebrauch von Beleidigungen und Beschimpfungen so auf die Nerven, dass ich beschloss, das Thema im Ethikunterricht zu bearbeiten. In Frau Dienstags Buch fand ich damals eine interessante Anregung. Im Kapitel »Rauer Umgangston: Ich sag am liebsten Arschloch« hieß es: »Schimpfwörter sind aus dem alltäglichen Umgang nicht zu verbannen.« Heute frage ich mich, warum eigentlich nicht? »Deshalb gilt es zu verdeutlichen, welchen Sinn und welche Bedeutung die Verwendung von Schimpfwörtern haben kann, wie z.B. Spaß, Kränkung oder Diskriminierung.« Und weiter: »Mit dieser Methode dürfen die Schüler in der Schule etwas, was sonst verpönt oder sogar verboten ist, nämlich schimpfen. Allein durch das Herausholen aus der Verbotszone werden viele Schimpfwörter uninteressant und ihr Bedeutungsgehalt durch die Besprechung erst klar.«

Das klang super. Das klang so modern, so fortschrittlich, so viel besser als einfach zu verbieten, bestimmte Wörter in der Klasse oder in meinem Beisein zu benutzen. Ich war Feuer und Flamme, als ich das las. So begeistert, dass ich gleich beim nächsten Elternabend – als es wieder einmal um Beleidigungen ging – ganz souverän versprach, dass ich in den kommenden Ethikstunden das Thema bearbeiten und so das Problem Beleidigungen lösen würde.

In der nächsten Ethikstunde schrieb ich dann auf mehrere DIN-A3-Blätter:«Diese Beleidigungen kommen in unserer Klasse vor« – bei dieser Aufgabe konnten die Schüler sogar in Gruppen zusammenarbeiten, super! Ich schrieb den geplanten Ablauf der Stunde an die Tafel:

  1. Schimpfwörter aufschreiben.
  2. Bedeutungen klären.
  3. Diese Beleidigungen verletzen mich, diese nicht.
  4. Sortieren der Schimpfwörter.

Jetzt hatte ich sogar einen informierenden Stundeneinstieg. Ich war ganz berauscht von meiner hervorragenden Unterrichtsplanung. Auf die Innenseite der Tafel zeichnete ich eine Tabelle mit folgenden Spalten: »Witzig« – »Verletzend« – »Diskriminierend« – »Gegen Einzelne gerichtet«. Und dann wartete ich.

Als die Schüler in den Raum stolperten und an die Tafel guckten, schienen sie aufgeregt und neugierig. Ich erklärte ihnen den Ablauf und fragte: »Welche Beleidigungen verletzen euch am meisten?«

»Alles über meine Mutter«, sagte Abdul.

Mehmet: »Gegen meine Familie.«

Wir stellten fest, dass alle es schlimm finden, wenn jemand etwas Gemeines über die Familie und tote Verwandte sagt.

Dann gab ich den Schülern die vorbereiteten Blätter und Filzstifte. Sie stürzten sich übereifrig darauf und fingen sofort an zu arbeiten. So gierig habe ich noch keinen Schüler einen Arbeitsauftrag erledigen sehen. Ich musste sie immer wieder bitten, leiser zu sein, so sehr arbeiteten sie sich in Rage: »Frau Freitag, wir brauchen mehr Papier.« Ich rannte durch den Raum und verteilte an jedem Tisch mehr und mehr Blätter. Dabei hatte ich ihnen extra dünne Filzstifte gegeben und keine Marker, damit möglichst viel auf ein Blatt passte.

Nach 20 Minuten wollte ich eine erste Auswertung vornehmen. »Nein, nein, wir sind noch nicht fertig«, schrien die Schüler. »Wir brauchen noch mehr Papier!« Alle kicherten aufgeregt und brüllten durcheinander: »Ich hab noch eins, hier, hier gib mal her.« Selbst Elif, eines meiner drei Kopftuchmädchen, das gerade vom Gymnasium zu uns gekommen war und nicht mit auf die Klassenfahrt kommen durfte, war voll bei der Sache.

Die Schüler schrieben und schrieben. Raifat, der sonst nur das Datum und seinen Namen aufs Papier brachte, wollte unbedingt ein eigenes Blatt. Justin und Peter, die sich fast immer stritten, arbeiteten konzentriert zusammen. Einerseits war ich völlig begeistert, andererseits wurde mir etwas mulmig. War das wirklich eine so gute Idee gewesen?

Kurz vorm Ende der Stunde setzte ich dann doch noch eine kurze Auswertung durch: »So, nun guckt mal alle an die Tafel«, sagte ich. »Den ersten Punkt haben wir bereits abgearbeitet: Schimpfwörter aufschreiben«, las ich vor und setzte einen Haken dahinter. »Darf ich vorlesen?« – »Nein, ich zuerst!« – »Nein, ich!« – Wieder schrien alle wild durcheinander.

»Moment, Moment, guckt erst mal hierher. Ich habe hier eine Tabelle vorbereitet …« Ich klappte die Tafel auf: »Hier sind mehrere Kategorien. Jetzt wollen wir mal sehen, in welche Spalten welche Schimpfwörter passen. Peter, lies die Kategorien doch mal vor!«

Schnell war geklärt, was »diskriminierend« bedeutet. Ob die Schüler das verstanden haben, weiß ich nicht, in dieser Phase der Stunde hätten sie mir auch garantiert, die Relativitätstheorie begriffen zu haben, wenn sie dafür ihre Arbeitsergebnisse hätten vorlesen dürfen.

»Na gut, Samira, dann fang mal an.« Samira ist Klassenchefin. Souverän organisiert sie dir ein Frühstück und sämtliche Wandertage. Lässig entfacht oder schlichtet sie Konflikte. Die Kollegen sagen: ein Klopper. Herr Werner nennt sie: Alphatier. Was sie sagt, ist Gesetz. Das gilt irgendwie auch für uns Lehrer. Wenn Samira sich mal meldet, dann nimmt man sie sofort dran.

Samira rückte sich also auf ihrem Stuhl in Position, streckte ihren Rücken, hielt das vollgeschriebene Blatt vor sich und drehte sich zur Klasse.

»Also: Dein Mutters Votze ist so groß, sie nimmt Eifelturm als Dildo.«

Die Klasse schmiss sich weg. Ich stand vorne und wartete. Versuchte zu lächeln. Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren. Wie war das noch? »Wenn die Schimpfwörter aus der Verbotszone herausgeholt werden, verlieren die Schüler das Interesse daran.«

»Oder hier, hier: deine Mutter«, Samira wollte sofort weiter lesen. »Moment noch, Samira«, unterbrach ich sie. »Guck mal an die Tafel. Also, wo würdest du das einordnen? Abdul?«

»Na, witzig natürlich«, antwortete er und kicherte weiter.

»Aha, witzig. Ist das auch witzig, wenn ich das über deine Mutter sage?«

Bei den Worten DEINE MUTTER wurde Abdul sofort wieder ernst: »Natürlich nicht!«

»Wir halten also fest: Das ist nur witzig, wenn es nicht die eigene Mutter betrifft. Wo können wir das nun einordnen?«

»Verletzend.«

»Gut. Ich schreibe mal: ›Alles über die Mutter‹. Ok, nun das nächste. Erhan?«

»Dein Vater …«

»Stopp mal, Erhan!«, unterbrach ich ihn und wischte hektisch das Wort »Mutter« von der Tafel ab. »Vielleicht schreiben wir lieber: ›Alles über die Familie‹. Findet ihr auch Schimpfwörter, die in die Kategorie ›Diskriminierend‹ passen?«

»Jude, Schwuchtel, Kanake, Nigger, Lesbe …« Ich kam mit dem Schreiben gar nicht hinterher.

»Und hier, ›Gegen Einzelne‹? Habt ihr da was gefunden?«

»Abdul ist schwul, Fettsack zu Peter, x-Bein zu Mustafa. Und Krüppel, auch zu Mustafa.« Schnell füllte sich auch diese Spalte. Dann klingelte es. Ich schloss die Tafel und sammelte die Blätter ein.

»Können wir das morgen weitermachen, ich weiß noch ganz viele Schimpfwörter!«

»Ja, ja, wir machen das noch weiter«, antwortete ich geistesabwesend und sah den Schülern hinterher, wie sie fröhlich den Raum verließen.

Die Arbeitsergebnisse dieser Stunde stopfte ich hektisch in meine Tasche. Zu Hause las ich die Liste der Beleidigungen dem Freund vor:

Hurensohn, Missgeburt, Opfer, Spast, Hurentocher, ich fick deine Mutter, Krüppel, x-Bein, Sandmann, Sat1, Liliputaner, Bikini, Riese, dein Vater fickt deine Mutter ohne Schwanz, Fettsack, Bohnenstange, Votze, Schwein, Christ, Rassist, Scheißjude, Scheißkartoffel, Fixer, halt die Fresse, Elefant, Nutte, Schlampe, Nazi, Neonazi, ich steck meinen Schwanz in dein Mutters Votze, Schwuchtel, Ich fick deinen Opa, Schwuler, Lesbe, Zwerg, Arschloch, Arschgeburt, deine Mutter schneidet Glatze, weil sie Angst vor Nazis hat, Fisch, Zigeuner, Assi, Obdachloser, blöde Kuh, Riesenkopf, Streber, gestern war deine Mutter bei mir, Kopftuchmafia, deine Mutter hat Kopftuch und denkt sie wäre 2pac, Scheißtürken, Steinewerfer, PLO, ich fick dein Mutters Muschi, deine Mutter steckt jeden Tag Dildo in den Arsch, dein Vater hat nur ein Bein, dein Vater stinkt aus dem Mund wie eine Kuh aus dem Arsch, deine Mutter hat Vierecktitten, dein Vater rennt gegen die Wand und sagt entschuldigung, dein Vater tretet in Kacke und sagt entschuldigung, Bruder, deine Mutter ist so fett, wenn sie gelben Pullover anzieht und von Fenster springt, man denkt die Sonne geht unter, ich ficke deine Mutter und dein Vater isst Popkorn, dein Vater sagt zu dein Mutter gib fünf, obwohl sie nur drei Finger hat, dein Mutter blockiert dein Vater bei MSN, dein Vater geht zum Pokertisch und sagt MauMau, dein Mutter bricht in ihr Eigenwohnung ein, Schwuchtel, dein Vater kackt im Schlaf, Herr Johan ist notgeil, dein Vater braucht Landkarte um dein Mutters Muschi zu finden, dein Vater hat vier Beine und lacht über Tadeus, deine Mutter wird beim Kacken verhaftet, Fick deine ganze Sippe, du kannst mich mal am Arsch lecken, leck dich, Zwitter, Homosexueller, blas dir mal eine rein, fingern, deine Mutter rennt gegen die Wand und sagt sie hat Kopfschmerzen, deine Mutter ist Arschgeige, deine Mutter hat nur einen Zahn und geht zum Zahnarzt, deine Mutter hat nur ein Bein und lacht über Krüppel, Fischkopf, Achselhaare, Axelschweiß, Hässlichkeit, Hundekind, Votzenkind, Schwanz, Behinderter, ich fick deine Fotze (auf türkisch), Brillenschlange, leck meine Eier, du kannst mal meine Eier schmatzen, Wichser, Tarzan, roll mal weiter, Kartoffel, Nachgeburt, Messi, Fickfehler, Ausrutscher, Votzenlecker, dein zu hause ist eine Mülltonne, Judenschwein, geh mal Kacken, Penner, Stinktier, dein Vater hat sieben Eier, deine Mutter hat ein Auge und lacht über Cyclopen, Stand gebläse, Transe, heul doch, Heulsuse, T T T (Toilettentieftaucher), feuchte Nutte, Kanake, Kartoffel, Polake, Fettfinger, geh mal in den Puff, deine Familie versucht Hitlers Familie nachzumachen, Pornolocke, Finger dir eine beim Schlafen, arschgefickter Hurensohn, deine Mutter hat Glatze und lacht über Britney Spears, deine Oma versteigert Dildos bei Ebay, deine Mutter hat Achselhaare und kämmt sie jeden Tag, deine Oma verkauft Drogen, dein Opa verkauft Haschisch, deine Oma fährt Motorrad und geht in die Disco, deine Mutters Nippel sind dick, du abgefickter Nuttensohn, deine Mutter schwitzt beim Kacken, auf deiner Mutters Stirn ist ein Schwanz, deine Mutter klaut Grabsteine beim Juden, dein Vater ist Standgeburt, deine Mutter hat drei Titten, deine Mutter hat keine Titten, Fehlgeburt, dein Mutter hat ein Ei.

Hm, dachte ich, mal sehen, was die jetzt in dem Buch vorschlagen! Ah, hier, da stehen auch Beispiele für Beleidigungen: »Schattenparker, blinde Kuh, Doofnase, Zicke, Brillenschlange«. Wie soll ich denn jetzt weitermachen? Wir müssen die doch jetzt alle auswerten und besprechen, Rollenspiel, Alternativen finden, kategorisieren, feststellen, welche Schimpfwörter besonders verletzen, welche häufig, welche selten vorkommen. Alternativen finden. Alternativen finden: Das ist die Idee.

In der folgenden Stunde habe ich die Schüler aufschreiben lassen, was man statt einer Beleidigung noch sagen kann. Da kamen ganz gute Sachen raus. Lieblingssprüche der Schüler: »Talk to the hand.« – »Lass dir mal einen Termin bei meiner Sekretärin geben.« Anscheinend mangelte es ihnen nicht an Ideen, sich schimpfwortfrei auszudrücken. Ich habe zu Hause alles abgetippt, dabei kamen fünf Seiten raus. Die habe ich auf farbige Blätter gedruckt und laminiert. Ich wollte, dass jeweils sechs Gruppen alle Sprüche zur Verfügung haben, und zwar als eine Art Kartenspiel.

Mein Plan war so: Die Schüler sitzen zu fünft an einem Tisch, und der, der dran ist, würfelt. Bei einer Eins oder einer Sechs darf er sich eine Person aussuchen, die er beleidigt. Diese Person nimmt dann eine Alternativkarte vom Stapel und antwortet mit einem Spruch, der auf der Karte steht, auf die Beleidigung. Dann entscheidet die Gruppe, ob das gut war, ob der Spruch gepasst hat oder nicht. Aber irgendetwas gefiel mir an dieser Stundenplanung nicht. Der Deutschlehrerfreund sagte, dass er die Beschimpfungen vorgeben würde. Frau Dienstag hätte die ganze Einheit sowieso nicht durchgeführt, weil sie den verbalen Schmutz nicht ertragen hätte. Sie hätte von Anfang an die Zügel fest angezogen und schon ein harmloses »Scheiße« mit drakonischen Strafen belegt.

Ich rief Fräulein Krise an: »Fräulein Krise, ich habe den Eindruck, dass die Schüler noch viel mehr Schimpfwörter benutzen, seit ich mit dem Thema angefangen habe. In dem Buch stand doch, dass die das Interesse verlieren würden. Haben sie aber nicht. Und jetzt hab ich Angst, dass sie sich nur noch krassere Beleidigungen ausdenken.«

Fräulein Krise erzählte mir, dass man früher in der Biologie zur Einführung in die Sexualkunde die Schüler immer alle Begriffe für die Geschlechtsteile aufschreiben ließ. Mit dem Ergebnis, dass dann auch die ahnungslosen, gut erzogenen Schüler ihren perversen Wortschatz erweiterten.

»Warum beendest du das nicht einfach und fängst was Neues an?«

»Aber jetzt habe ich doch die ganzen laminierten Karten. Und was sollen die Schüler denken, wenn wir einfach nicht mehr weitermachen? Die erwarten doch jetzt eine Art Auflösung des Ganzen.«

Fräulein Krise überzeugte mich, dass die Schüler sowieso nicht erkennen, dass die Lehrer beim Unterrichten so etwas wie Struktur im Kopf haben. Die würden das gar nicht merken. »Geh einfach rein, verbiete alle Beleidigungen und fang ein neues Thema an«, riet sie mir.

Ich habe mir aus der Bibliothek Billy Elliot – I will dance ausgeliehen. Ein Film über einen zwölfjährigen, der Tänzer werden will. Kein Schüler verlangte nach einer Aufarbeitung der Schimpfwörterstunde. Ich startete den Film. Die Schüler legten die Füße auf die Stühle, packten ihr Frühstück aus und entspannten sich. Als Billy Elliot bei der Ballettstunde der Mädchen mitmachte, schrie Emre: »Schwuchtel, Homo, Halbjunge!« Ich tat so, als hörte ich ihn nicht, ging zum Fernseher und drehte den Ton auf maximale Lautstärke.

Das Buch Mit Schülern klarkommen habe ich seitdem nicht mehr in der Hand gehabt, aber ich bin mir sicher, Herr Rau, unser Referendar, würde sich darüber freuen.

Bald ist wieder Schule

Sechs Wochen reichen doch eigentlich dicke. Nach dem Aufräumen habe ich mich durch die restlichen Ferienwochen gelangweilt. Bei mir mischt sich Vorfreude mit extremer Unlust. Macht wenig Sinn, ist aber so.

Nach langjähriger Erfahrung habe ich festgestellt, dass man spätestens am Mittwoch wieder voll drin ist und sich durchs neue Schuljahr strampelt. Nach etwa zwei Wochen setzt der Alltag ein, dann ist das Klassenbuch vorgeschrieben, die Kurs-listen sind in die Kursbücher übertragen und die Arbeitspläne für das erste Halbjahr bei den Fachbereichsleitern abgegeben. Man kennt die Schüler, hat auch schon mit einigen Eltern telefoniert und raucht mit neuen Kollegen. Ich freue mich immer sehr auf neue Kollegen. Stets bin ich zur Stelle, wenn sie unwissend im Weg stehen und nicht wissen, wo das Sekretariat ist, wie man Fehlzeiten dokumentiert, mit wem sie sich gut stellen und wem sie aus dem Weg gehen sollten. Hoffentlich bekommen wir auch ein paar von diesen armen Referendaren. Spiegelt sich doch in deren Ausweglosigkeit meine Erfahrung. Zeigt sich doch in jeder ihrer verkackten Desasterstunden meine Routine. Mit wohligem Schauer im Rücken, höre ich mir immer gerne ihr Leid an, erinnere mich dunkel an mein eigenes Referendariat und gebe ihnen mit großer Freude den einen oder anderen unbrauchbaren Tipp.

So kurz vorm Ferienende ergehen wir Lehrer uns in Selbstmitleid. Von allen Seiten kommt Leid und Gejammer. Frau Dienstag, die Arme, muss schon morgen hin. Fräulein Krise ist gerade erst aus Frankreich zurück. Die nutzt die Ferien immer optimal aus, klagt dann allerdings: »Ich bin so müde. Frankreich war so anstrengend. Ich brauch glatt noch mal drei Wochen Ferien.«

Aber bei mir ist es besonders schlimm: Nicht nur, dass die Schule wieder anfängt, jetzt fällt mir auch noch ein, dass die lieben Kleinen schon wieder fasten. Da ich fast nur Hardcore-Moslems unterrichte, halten eigentlich alle den Ramadan ein. Das kann ja heiter werden. Nicht nur, dass die mit ihrer schlechten Laune wieder in den Unterricht kommen, völlig unausgeschlafen: »Isch kann misch nisch umgewöhnen, vallah

Dann werden sie auch noch wegen der Hitze jammern: »Warum haben Sie kein Klima, is zu heiß hier, wann gibs hitzefrei?« Und jetzt auch noch meine Lieblingssäule des Islam, das Fasten: »Isch kann nich mitmachen, ich hab nix gegessen.« Und dann die Mode, jetzt tragen doch alle diese superkurzen Hotpants. Ob die Schüler das auch machen? Ist mir vor den Ferien noch nicht so aufgefallen, aber jetzt sehe ich dieses Rein gewurste überall. Ich will das nicht. Die Hosen sollen nicht so kurz sein. Ich bin sowieso für eine Schuluniform und Zwangsernährung während des Ramadans.

Aber die sollen mir mal mit »Ich faste« kommen, dann werde ich ihnen was erzählen. Ich habe mich auf Wikipedia mal schlau gemacht, wie sich das mit den übrigen Verhaltensregeln während der Fastenzeit verhält: »Nach dem Gesetz wird Fasten als Enthaltung (imsak) von bestimmten Tätigkeiten definiert: Verzehr von irdischen Substanzen und Speisen sowie Getränken, Rauchen, Geschlechtsverkehr, Trunkenheit und Irrsinn.«

  1. Rauchen: Also, wehe dem, der am Montag auf dem Hof beim Rauchen erwischt wird – und mir dann in der nächsten Stunde vorjammert, er könne nicht am Sport teilnehmen, weil er faste.
  2. Trunkenheit: Ich bin verwirrt, Alkohol ist doch gar nicht erlaubt, oder hab ich da was falsch verstanden?
  3. Geschlechtsverkehr und Irrsinn: Nun ja, mit Ersterem habe ich weniger zu tun, aber man soll sich des Irrsinns enthalten! Wunderbar! Das werde ich der 7. Klasse, die ich in der achten und neunten Stunde in Kunst habe, gleich schriftlich geben: »Jungs, Koran sagt: Kein Irrsinn während Fasten!« Weiter heißt es: »Zum Fasten ist jeder Muslim verpflichtet, der in vollem Besitz seiner Geisteskräfte (‘aqil), volljährig (baligh) und körperlich dazu imstande (qadir) ist. Das Fasten eines Minderjährigen mit Unterscheidungsvermögen (mumayyiz) ist ebenfalls gültig.« Ah, da haben wir es! Meine Schüler sind überhaupt nicht verpflichtet zu fasten: Kein einziger befindet sich im Voll besitz seiner geistigen Kräfte. Und: »Unbedingt zu vermeiden sind üble Nachrede, Verleumdung, Lügen, Beleidigungen aller Art, ferner solche Handlungen, die zwar nicht verboten (expressis verbis) sind, die aber Unachtsamkeit in sich oder bei anderen erregen könnten.«

Super, das liest sich ja wie meine Klassenregeln. Und wenn das auch noch im Koran steht, dann kann ja in den ersten Wochen nichts schiefgehen. Wer sich nicht daran hält, bekommt die von mir höchstpersönlich auf die Stirn tätowiert (im Kunstunterricht – verbuche ich unter Grafik).

Aber ein winzig kleiner Teil von mir freut sich auch auf die Schüler. Neulich habe ich vom Lieblingsschüler geträumt, wir waren zusammen bei einem Vortrag – irgendwas Politisches – und er war voll dick! Sah gar nicht mehr gut aus! Ich bin vor Schreck aufgewacht. Ein Alptraum.