5.
Nach den Weihnachtsferien

Die Felder des Frohsinns

Yeah, wieder voll drin! Alltag! Juchu! Und sagte ich schon, wie gerne ich Lehrerin bin? Das Gute am tiefen Tal der Trauer ist, dass die Realität am ersten Arbeitstag nach den Ferien überhaupt nicht so schlimm sein kann wie die schlechte Laune am Sonntag davor. Dementsprechend gut gelaunt treffe ich also wieder in meiner Wohnung ein und erfreue mich an meinem Beruf. Und um das hier noch einmal ganz klarzustellen: Ich möchte keine längeren oder noch mehr als ohnehin schon Ferien haben. Ich möchte nur dann nicht wieder zur Schule gehen, wenn ich durch das Tal der Trauer wandere. Aber das ist Schnee von gestern. Heute ist ja alles wieder anders. Heute ist: »Schönes neues Jahr, Frau Freitag. Wie haben Sie Silvester gefeiert?« – »Warum haben Sie nur so wenig zu Weihnachten bekommen?« – »Frohes neues Jahr.« – »Guten Rutsch, Frau Freitag!« (Guten Rutsch?).

»Ich bin müde. Um die Zeit gehe ich eigentlich erst ins Bett.«

»Das gewöhnst du dir schnell wieder ab, Abdul. Heute Abend wirst du sehr müde sein.«

»Aber könnten wir nicht statt den ersten Stunden lieber am Nachmittag Unterricht haben?«

»Da musst du an eine Abendschule gehen.«

Ich habe – ein guter Tipp von Frau Dienstag – bereits die gesamte Tafel vollgeschrieben, schön bunt, und lasse nun abschreiben. Die Schüler entdecken die Langsamkeit. »Abó, ich habe zwei Wochen meine Schrift nicht mehr gesehen.« Auftritt Justin: 32 Minuten zu spät, leicht abgehetzt und durchgefroren.

»Schönes neues Jahr, Justin. Setz dich und schreib das von der Tafel ab.« Justin rührt sich nicht. Bewegungslosigkeit mit Handschuhen an.

»Justin? Los, los, ABSCHREIBEN!«

»Das schaffe ich jetzt sowieso nicht mehr.« Deshalb fängt er erst gar nicht an. Wie ich diese Schülerlogik vermisst habe. Kurz vorm Klingeln wird vorzeitig aufgestanden. Ein Tabubruch!

»Abdul, bitte sitzen bleiben!«

»Nein, darf ich nicht. Meine Mutter bringt mich um.«

Herrlich, Humor gibt’s noch oben drauf. Ist schon komisch, wie vertraut man mit der Schülerschaft ist. Und als ich sie heute sah, habe ich mich gefreut. Jeder, der zu spät kam, wurde von den anderen lautstark begrüßt, und ein Mitteilungsbedürfnis hatten die – oh Lord. Hoffentlich haben die sich bis Mittwoch alles erzählt, damit wir dann mal mit dem Lernen anfangen können. Ich wandele jedenfalls wieder auf den Feldern des Frohsinns und übe mich in engagierter Gelassenheit.

Kreuze an: Ja oder Nein

Man könnte denken, ich habe gar kein Privatleben. Und BINGO! So ist es auch: kein Privatleben. Brauche ich auch nicht. Ich bin doch Lehrerin. Ich will gar kein Privatleben. Lehrerinsein ist eine Allroundtätigkeit. Wie bei einer Königin. Die ist ja auch immer Königin. Das sollte man schon wissen, wenn man sich für diesen Beruf entscheidet.

Für alle unentschlossenen jungen Menschen, die noch nicht wissen, was sie werden möchten, und für alle Studierenden, die noch überlegen, ob sie den Lehramtspfad einschlagen sollen, habe ich ein paar nützliche Entscheidungshilfen aufgelistet.

  1. Stellt euch einfach mal die folgenden Fragen: Will ich auf ein Privatleben verzichten?
  2. Reichen mir 68 Urlaubstage im Jahr?
  3. Kann ich meine Ferienplanung frühzeitig vornehmen oder bin ich ein Auf-den-letzten-Drücker-Bucher?
  4. Möchte ich meine Dienstreisen selbst bezahlen und mir die Nächte mit besoffenen, kotzenden Jugendlichen und der Polizei um die Ohren schlagen? (Schüler wollen von Natur aus immer nach Italien, da kommt noch eine ziemlich lange Busreise dazu.)
  5. Kann ich es verkraften, wenn ein Haufen Jugendlicher meine mit Liebe vorbereiteten Unterrichtseinheiten erst boykottiert und dann als langweilige Scheiße bezeichnet?
  6. Möchte ich Elterngespräche führen, bei denen die Eltern immer nur nicken und zu jedem Vorschlag wimmern: »Du sagen!«
  7. Reichen mir 5 000 Euro netto jeden Monat? Ich spüre leichte Empörung? Was denn, was denn? Man kann doch auch Schulleiterin werden …
  8. Möchte ich jede Nacht von nicht gemachten Hausaufgaben träumen?
  9. Möchte ich mein Leben lang zur Schule gehen, ohne jemals einen Abschluss zu erhalten und dieses schöne Freiheits gefühl zu spüren?
  10. Bin ich ein Action- und Abenteuertyp? Mag ich Gewalt und Polizeieinsatz? Fühle ich mich in Konfliktsituationen wohl?
  11. Interessiere ich mich besonders für Streitereien zwischen 14-jährigen Busenfreundinnen? Und wie steht es mit Counterstrike, World of Warcraft, MSN und Facebook?

Solltest du mehr als zwei dieser Fragen mit nein beantwortet haben, bist du leider nicht geeignet, diesen herrlichen Beruf auszuüben. Solltest du allerdings schon Lehrerin oder Lehrer sein und trotzdem die eine oder andere Frage mit nein beantworten, dann bleibt nur noch Burn-out und die frühzeitige Versetzung in den Ruhestand. Sorry. Und ich möchte von niemandem hören: Ich habe das ja alles nicht gewusst. Mir hat die Schule als Schüler immer so viel Spaß gemacht. Ich dachte, ich hätte nachmittags frei. Ich dachte, die Jugendlichen wollen was lernen. Ich hatte mir das alles so schön vorgestellt. Nix da! Ihr wusstet genau, worauf ihr euch eingelassen habt. Genauso wie ihr das mit den Ferien wusstet.

Frau Freitag, immer im Dienst!

Es ist Winter. Ich spüre es schon, das Schneechaos. Der Sturm pfeift bereits durch die undichten Stellen meiner Fenster. Und es sieht verdammt kalt draußen aus. Trotzdem werden am Montag wieder Schüler im gestreiften H&M-Kapuzenpulli auf dem Hof rumrennen und rufen: »Nö, ehrlich, mir ist nicht kalt.«

Zu dünn angezogen waren auch die Mitwirkenden des Disputs gestern, der mir die Möglichkeit gab, endlich mal Zivilcourage zu zeigen. Ich komme aus der Schule und singe: »Wochenende, Wochenende, Kaffee, Kaffee, Couch …« Plötzlich vor dem Supermarkt ein tierisches Geschrei. Von Weitem erkenne ich schon, worum es geht.

Zwei Gruppen von Kindern stehen sich gegenüber. Zwischen ihnen circa fünf Meter Abstand, einer brüllt. Ich denke: Hof? Habe ich Aufsicht? Und dann wird mir klar, dass es sich zwar um meine Klientel handelt, ich die Schüler aber gar nicht kenne.

Und irgendwie sind sie auch kleiner als bei uns. In der einen Gruppe zu dünn Angezogene – vom Typ »Ich bin zwar hier geboren, meine Eltern auch, und wir haben alle deutschen Pass, aber wenn Sie mich jetzt fragen, was ich bin, dann können Sie einen drauf lassen, dass ich Türke oder Palästinenser sage« – und in der anderen Gruppe Kinder von Eltern, die nicht wollen, dass ihre Kleinen frieren, und die sie bei der ersten Kälte welle gezwungen haben, eine Winterjacke zu kaufen. Die Kinder haben allerdings coole Jacken durchgesetzt – Markendaunenjacken. Nur der Größte von ihnen, der, der gerade schreit, hat seine Jacke zu Hause gelassen und trägt ein in seinen Augen noch cooleres Kleidungsstück, nämlich den berühmten Kapuzenpulli, dazu die obligatorischen schwarzen Wollhandschuhe. Weil er die inadäquate Bekleidung beim Verlassen der Elternwohnung durchsetzen konnte und die anderen nicht, ist er der Anführer seiner Gruppe.

Mittlerweile bin ich nah genug an der Szene dran, um zu hören, um was es geht. Coolio schreit immer wieder: »Es ist nicht okay, anderen Leuten von hinten ein Ei auf die Jacke zu werfen! Das ist nicht okay!« Er zieht seinen Pulli aus und hält ihn der anderen Gruppe entgegen. Anscheinend haben die ihm das Ei verabreicht. Ich an seiner Stelle würde noch weitergehen und sagen, es ist nicht mal okay, ein Ei vorne auf die Jacke zu werfen. Überhaupt sollte man gar nicht mit Eiern werfen.

Ich sehe mir die Tätergruppe an. Kinder. Stehen da und grinsen. Streiten nichts ab. Klarer Fall, die haben das Ei geworfen. Im ersten Moment will ich sagen: »Ja, spinnt ihr denn? Wisst ihr denn nicht, dass es haram ist, mit Lebensmitteln …« Dann beschließe ich, erst mal abzuwarten. Eigentlich ist mir kalt und ich will nach Hause und Kaffee trinken.

Die Stimmung wird aggressiver. Auf einmal sehe ich Günther Jauch vor mir, der mich vorwurfsvoll anguckt und dann von seinem Zettel abliest: »Er musste sterben, weil er das gemacht hat, was jeder machen sollte. Er hat Zivilcourage gezeigt und den Kindern geholfen.« Zivilcourage! Ja, die werde ich jetzt auch mal zeigen! Ich bleibe also und gucke mir alles weiter an. Mittlerweile stehen noch mehr Erwachsene herum und warten. Wenn es jetzt gleich zum Kampf kommt, dann werde ich Leute gezielt ansprechen: »Sie da im blauen Anorak, helfen Sie!«

Aber noch stehen die Gruppen sich nur gegenüber, und der Beworfene schreit immer wieder: »Das ist nicht okay! Das ist feige.« Sehe ich genauso. Aber wie soll es jetzt weitergehen? »Du bist feige. Du bewirfst Leute von hinten mit einem Ei.« Dabei hält der Junge dem Täter seine Jacke entgegen. Was will er denn? Soll der andere die mit nach Hause nehmen und waschen? Und wird ihm nicht kalt, so im T-Shirt?

Plötzlich geht alles ganz schnell. Der Eierwerfer zieht seinen Kapuzenpulli auch aus und geht auf sein Opfer zu. Jetzt wollen sie sich schlagen. Das bringt Bewegung in uns Zivilcouragierte. Wir nähern uns von allen Seiten den Kontrahenten. »Hey, hey«, sagt ein Mann beruhigend. Und ich frage den mit der Eierjacke: »Was willst du denn jetzt? Willst du dich mit ihm schlagen?« Der Angreifer weicht langsam zurück und schleicht sich beim Anblick der vielen Erwachsenen, die wahrscheinlich nicht auf seiner Seite wären, mit seinen Kumpels zur nächsten Ecke.

Dann spricht mich ein Kleiner mit sehr warmer Daunenjacke an: »Warum mischen Sie sich denn ein?« Na, das ist doch wohl jetzt die Höhe, dankbar sollten die Kleinen sein! »Meinst du denn, ich will mit ansehen, wie ihr euch schlagt?« Und zu dem Angeworfenen: »Was willst du denn jetzt eigentlich von dem Typen?«

»Ich will, dass er sich entschuldigt. Finden Sie das etwa okay, wenn man jemandem von hinten ein Ei auf die Jacke wirft?«

»Nein, das ist überhaupt nicht okay. Aber der wird sich nicht entschuldigen. Weil er ein Idiot ist«, antworte ich und bin mir ganz sicher, dass es stimmt. Jetzt grinst der Kleine in der Daunenjacke: »Ja, da sagen Sie was sehr Richtiges.«

»Guck mal, du provozierst ihn doch jetzt nur noch«, mischt sich der Passant im blauen Anorak ein. Und ich sage: »Ja, oder willst du dich mit ihm schlagen?«

»Nein«, sagt der Junge mit dem Eierpulli kleinlaut. »Aber das war nicht okay. Das war nur feige.«

»Ja, du hast recht. Und der Typ, das ist einfach ein feiger Idiot.«

Stolz gehe ich nach Hause und weide mich an dem guten Gefühl, endlich mal Zivilcourage gezeigt zu haben. Nun habe ich mir meinen Kaffee wirklich verdient. Aber in meiner Wohnung – Stromausfall. Ich also wieder runter und trinke meinen Kaffee in einem Café. Als ich nach Hause gehe, sehe ich die Daunenjacken-Fraktion auf mich zu kommen. Fröhlich beschwingt trägt jeder ein paar Riesen-Chinaböller in der Hand. Das gibt es ja wohl nicht. Sich erst über so ein läppisches Ei auf der Jacke aufregen und jetzt, eine Woche nach Silvester, mit Böllern durch die Gegend rennen: »Sagt mal, was soll denn der Scheiß jetzt?«, frage ich sie. Etwas verdattert sehen sie mich an und machen, dass sie wegkommen. Langsam verfliegt meine Begeisterung für die Zivilcourage, und ich denke nur sauer: Na wartet nur, euch werd ich noch mal helfen …

Glück hat immer zwei Seiten

Oh, fieser Montag. Ich kann nicht mehr. Ich bin rohes Fleisch. Ich bin eine offene Wunde, ein gebrochener Knochen, ein alter Waschlappen. Ich bin mir vor allem nicht sicher, dass ich jemals wieder regeneriere. Unglaublich, was ich heute alles gesagt habe. Hier nur eine kleine Auswahl vom Kunstunterricht in der vierten Stunde:

»Sarah, sing nicht!«

»Wieso? Singen macht glücklich.«

»Aber mich nervt das Singen.«

Ahmet: »Dürfen wir atmen?«

»Atmen dürft ihr. Ihr sollt nur nicht singen.«

Sarah: »Seit wann darf man im Unterricht nicht singen?« (Nur zur Erinnerung: Wir befinden uns nicht im Musikunterricht.)

»Ach, dürft ihr in jedem anderen Unterricht außer meinem vielleicht singen?« Mittlerweile singen mindestens fünf Schüler. Alle unterschiedliche Lieder.

Ahmet: »Ja, nur bei Ihnen dürfen wir nicht singen. Bei Ihnen dürfen wir nichts! Nicht mal atmen.«

Ich – schon am Rande des Wahnsinns: »Wer jetzt noch singt, dem ziehe ich Punkte von der Halbjahreszensur ab!« Es wird weiter gesungen. Ich notiere die Sänger, die werden schon sehen. Ich kämpfe innerlich gegen meine Wut: Ignoriere es, ignoriere es! Die wollen dich doch nur noch provozieren.

Sarah: »Auf der Mauer, auf der Lauer, sitzt ’ne kleine Wanze …«

Mandy: »In der Weihnachtsbäckerei …«

»Mandy, raus!«

»Wiesooo, ich hab doch gar nichts gemacht.«

»Du hast gesungen!«

Mandy schmollend: »Aber man muss singen, singen macht glücklich.«

»Tja, mich nicht! Raus!«

Sarah summt weiter vor sich hin. Ich knie mich vor sie und zische: »Pass mal auf, wenn du nicht weißt, wie du dich hier verhalten sollst, wenn du wirklich glaubst, man darf im Unterricht singen, dann kannst du gleich nach der Stunde mit mir zur Schulleitung kommen. Und dort werden sie dir dann sagen, was du darfst und was nicht.« Plötzlich hört sie auf zu summen.

Die Tür geht auf und Mandy steckt den Kopf in den Kunstraum: »Darf ich wieder rein?«

»NEIN!«

»Aber ich hab doch gar nichts gemacht!«

Ja, liebe Schüler, das ist eine sehr effektive Methode, einen Fachlehrer zu nerven. Das habt ihr ganz toll gemacht. Ziel erreicht. Blöd nur, dass ich die Zensuren für eure Zeugnisse noch nicht eingetragen habe. Und da werde ich jedem, der mich heute mit bescheuerten Kinderliedern genervt hat, mindestens einen Punkt abziehen. And guess what, dabei werde ich die ganze Zeit singen.

Zum Glück stelle ich jede Woche wieder fest: Nach dem Montag kommt immer der Dienstag und da ist alles wieder okay. Da bin ich entspannt und gut gelaunt. Da unterrichte ich, was das Zeug hält. Am Dienstag lernen die Schüler was bei Frau Freitag. Heute haben sie was über die Liebe gelernt. Den Unterschied zwischen Verliebtsein und Liebe.

»Frau Freitag, stimmt es eigentlich, dass die Liebe irgendwann aufhört?«, fragt Bernd aus der ersten Reihe. Ausnahmsweise kein Opfertyp, sondern ein Fan. Eigentlich tummeln sich die coolen Typen ja immer in den hinteren Reihen, und in den ersten Reihen sitzen nur die Loser. Ich relativiere hiermit: In den höheren Klassen können in der ersten Reihe auch Fans der Lehrerin sitzen. Im letzten Schuljahr saß dort natürlich immer der Lieblingsschüler.

Der an der Liebe interessierte Bernd ist auch okay. Nett, sehr charmant, leider nicht so schlau wie der Lieblingsschüler, aber er hat seine lichten Momente, und er hat Humor. Ich benutze ihn oft, um irgendwelchen Blödsinn vorzuführen – wie man Pogo tanzt, wie man einen Heiratsantrag macht, wie man ein Elterngespräch führt – oder einfach so zum Quatschen, wenn ich mich langweile, weil ich den Schülern eine schriftliche Aufgabe gestellt habe.

Es ist kurz vorm Klingeln. »Stimmt das? Dass die Liebe aufhört?«, fragt er noch einmal. Es scheint ihn wirklich zu beunruhigen. »Interessante Frage, Bernd. Also, wenn ihr wirklich was aus meinem reichen Erfahrungsschatz wissen möchtet, dann erzähl ich euch was darüber.«

»Ja! Ja, sagen Sie!« Die Mädchen aus der zweiten Reihe, hoffnungslose Romantikerinnen, die sich permanent ihre eigenen Hochzeiten ausmalen, sind nun ganz Ohr, und auch der Rest der Gruppe wird zum ersten Mal absolut ruhig.

»Also, es gibt das Verliebtsein und die Liebe. Und das Verliebtsein, wo man immer an den anderen denken muss und nichts essen kann, das hört so spätestens nach einem halben Jahr auf.« Entsetzen in den Gesichtern von zwanzig Jugendlichen. Ich überlege kurz, ob ich noch über Sex reden soll, entscheide mich aber schnell dagegen. Zu heikel, zu intim, zu unterschiedliche Lebenswelten – also die meiner Schüler und meine.

»Ein halbes Jahr nichts essen?«, schreit Thomas. Bernd ist völlig aufgelöst: »Wie, und dann ist alles weg? Nach sechs Monaten?«

»Na ja, ich meine das erste, das totale Verliebtsein.«

»Und das gibt es auch nur einmal im Leben!«, ruft Ayla aus der letzten Reihe. Auch eine Romantikerin, allerdings eine, die alles schon vollständig geplant hat. Sie ist ja auch schon sechzehn. Neulich hat sie mir ihr Hochzeitskleid auf einem Bild gezeigt und mir gesagt, was es bei ihrer Feier zu essen geben wird.

Das haut Bernd nun völlig um: »Nur ein Mal?« Wahrscheinlich ist er überzeugt, sein eines Mal schon gehabt zu haben, denn neulich fragte er mich besorgt, ob man wirklich an der Schweinegrippe sterben müsse. Seine Freundin hätte sie und er mache sich große Sorgen. Aber auch diesmal kann ich den armen Bernd beruhigen: »Also, Ayla, ich war schon öfter verliebt. Das kann einem schon mehr als einmal passieren. Bernd, guck mal, wenn das Verliebtsein aufhört, dann kommt ja was anderes dafür. Liebe. Das ist dann irgendwie anders. Ist aber auch gut.« Er scheint nicht überzeugt.

Ich versuche vom Thema abzulenken und zeige ihm meine neue Lücke zwischen den Schneidezähnen, die ich seit der Zahnreinigung habe. Da pfeift jetzt der Wind durch und wenn ich spreche, kommt Spucke durch, das macht mich völlig verrückt. Diese neue Lücke scheint Bernd nun doch mehr als die Liebe zu interessieren, und wir stellen fest, dass er auch so eine hat: »Ach, vielleicht spreche ich deshalb so seltsam.«

Mesut sagt: »Frau Freitag, Sie müssen eine Zahnspange tragen, dann geht das weg.« Ich zeige ihm die Lücke. Wir stellen fest, sie ist nicht groß genug. »Ich warte einfach, bis da wieder Dreck drin ist.« Dann klingelt es und die Schüler gehen. Sie bekommen für die Stunde alle eine gute Mitarbeitszensur.

Zensuren, Zensuren, Zensuren

Jetzt, kurz vor Ende des Halbjahres, kommt ja überhaupt wieder die schöne Zeit der Zensuren. Zensuren geben, Zensuren eintragen, Zensuren auswerten, Zensuren hinterherrennen, Zensuren besprechen, Zensuren ändern, Zensuren ändern lassen und so weiter. Ich empfinde eine Art vorweihnachtlicher Freude daran, auf die Zensuren meiner Klasse zu warten. Dann kopiere ich sie und streiche die Ausfälle mit einem Marker an. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs Ausfälle – und Samira wird bestimmt wieder sagen: »Ich schwöre, die kriege ich alle weg. Glauben Sie mir!«

Auch das Zensurenausrechnen macht mir viel Spaß. Und um einmal mit dem Vorurteil über unsere angeblich so willkürliche Zensurengebung aufzuräumen: Ich benote wie schon beschrieben, jeden Furz von jedem Schüler aufs Akribischste, und dann sitze ich mit krummem Rücken stundenlang über mein Notenheft gebeugt und rechne mit dem Taschenrechner mindestens zwanzig Zensuren für jeden einzelnen Schüler aus. Teilweise gibt es in den Fächern drei unterschiedliche Teilzensuren, die sich dann prozentual zusammensetzen, und auch das rechne ich aus. Und weil ich den Taschenrechner nicht so richtig verstehe, sind das unheimlich komplizierte Rechengänge. Ich verharre dabei in ein und derselben Position, bis mir die Bandscheiben rauchen.

Schüler mit denen ich nicht so gut klarkomme, bekommen bei mir tendenziell bessere Noten, weil ich sonst das Gefühl habe, sie ungerecht zu behandeln. Jede einzelne Zensur ist bei mir nachvollziehbar und hätte sogar vor Gericht bestand. Denn bei uns scheint sich ein neuer Trend durchzusetzen: Die Eltern verklagen den Lehrer, wenn sie mit der von ihm gegebenen Zensur nicht zufrieden sind. Scheint sogar vom Jobcenter bezahlt zu werden, sicher bin ich mir allerdings nicht. Aber egal, die Klagen können kommen, ich bin vorbereitet.

Wie versprochen habe ich übrigens jedem, der vor einiger Zeit in meinem Unterricht gesungen hat, einen Punkt von der Endnote abgezogen. Danach habe ich minutenlang auf das Blatt gestarrt und schließlich allen den Punkt zurückgegeben. Soviel dazu.

Frau Freitags Versetzung ist stark gefährdet

Ach, was sagen denn Noten schon aus? In meiner Klasse sagen sie: Die Hälfte der Schüler wird sitzen bleiben, wenn sie sich nicht massiv verbessern. Die Noten sagen allerdings auch, dass meine Klasse wahrscheinlich besser wäre, wenn sie einen konsequenteren und strengeren Klassenlehrer oder eine bessere Klassenlehrerin hätten.

Jemanden, der beim ersten Schwänzen gleich zu Hause anruft und einen Riesenterror macht. Wenn ich jemand wäre, der ihnen bei der Vorbereitung auf jede einzelne Arbeit hilft, sie motiviert, abfragt, ihnen die Sachen erklärt, bis sie alles verstanden haben, dann hätten sie wahrscheinlich jetzt bessere Noten. Ich weiß hingegen gar nicht, wann sie eine Arbeit schreiben, und sie wissen es auch oft genug nicht und vergessen oder verdrängen diese Termine erfolgreich.

Und was haben die Schüler nun davon, dass sie mich als Klassenlehrerin haben? Sie haben KEINE Schulversäumnis anzeigen, schlechte Noten, wenig im Hirn, aber viel Spaß auf dem Hof gehabt. Weder in der Schule noch außerhalb haben sie jemals einen Finger krumm gemacht. Ihre einzige Anstrengung zur Verbesserung ihrer schulischen Leistungen bestand darin, mir und sich, wahrscheinlich auch ihren Eltern und Allah und der Welt zu schwören, dass sie sich verbessern werden. Wir alle werden schon sehen. Die Schülerin, die am häufigsten von allen geschworen hat, sich zu verbessern, hat sich seit der letzten Notenabgabe sogar noch verschlechtert.

Hilfe Fräulein Krise, was soll ich denn machen? Ich starre auf die markierten Fünfen und Sechsen meiner Schüler (die sogenannten Ausfälle) und kann mich noch nicht mal daran erfreuen. Im Gegenteil, sie tun mir unheimlich leid und ich habe jetzt schon Schiss, diese schlechten Zensuren bei der Konferenz vorzustellen: »Frau Freitag, Ausfälle in folgenden Fächern: Konsequenz, Strenge, Nachhilfe, Eltern informieren, zur Leistung motivieren, Fordern und Fördern, Fachlehrer bequatschen, dass sie die Noten raufsetzen, und überhaupt alles.«

Frau Freitag schafft die Versetzung leider nicht. Lehrerin bleiben, ausgeschlossen. Klassenlehrerin – dieses Amt wird ihr sofort entzogen, wegen Gefahr im Verzug. Um Ausschulung wird gebeten. Frau Freitag darf eine Maßnahme machen und nach der Maßnahme wieder eine Maßnahme und danach, tja, das war’s dann wohl, Frau Freitag. Hätten Sie sich früher mal mehr angestrengt. Das war ja ein Trauerspiel mit Ihrer Klasse. So hoffnungsvolle Schüler waren das. Nicht dumm, durchaus Potenzial für die gymnasiale Oberstufe, aber durch Sie … Kein einziger hat einen Schulabschluss geschafft. Frau Freitag, so kann und wird unser Sozialstaat sich nicht halten können. Sie sind schuld, wenn das Sozialsystem demnächst zusammenbricht, weil Sie keine Steuerzahler produzieren. Deshalb werden Sie auch NIE Rente bekommen. Und Hartz IV auch nicht. Wer soll denn das bezahlen? Ihre Klasse jedenfalls nicht, die hängt mit Ihnen zusammen in der Maßnahme.

Momentan bin ich davon überzeugt, dass aus keinem einzigen Schüler meiner Klasse etwas wird. Ich kann mir noch nicht einmal vorstellen, wie sie mit den schlechten Halbjahreszeugnissen überhaupt weiterleben können. Allerdings gewährt mir die Realität immer wieder Einblicke in die Welt der Schüler nach der Schule, und zwar in Form von ehemaligen Schülern, die es nach ihrer Entlassung in regelmäßigen Abständen wieder zurück in unsere Schule zieht, vergleichbar vielleicht mit Mördern, die doch auch immer wieder an den Tatort zurückkehren.

Ich stehe auf dem Hof rum und mime eine aufmerksame Aufsicht, hetze zum Unterricht oder sitze abgeschlafft im Lehrerzimmer rum, da tauchen sie plötzlich auf. Die bekannten Gesichter aus einer anderen Zeit, aus vergangenen, längst verdrängten Schuljahren. Die Namen habe ich meistens nicht gleich parat – es sei denn, sie haben meinen Unterricht so massiv gestört, dass ich nächtelang von ihnen geträumt habe, dann fallen mir sofort Vor- und Nachname ein.

»Ah, Ali El-Hamade, was machst du denn hier? Du bist doch abgegangen, oder?«

»Frau Freitag, abó, wie geht es Ihnen? Ja, ich bin vor sechs Jahren von Schule weg. Haben Sie mich vermisst?«

»Kein Tag vergeht, an dem ich nicht an dich denke. Was machst du denn jetzt?«

Stolz breitet sich über Alis Gesicht aus: »Ich fange bald Maßnahme an!«

Ich, wenig überrascht: »Maßnahme. Schön. Wo denn?«

Ali leicht verunsichert: »Na, Maßnahme, da, wie heißt das da? Na, so Maßnahme eben.«

»Und wo ist der Ferrari? Wolltest du nicht nach einem Jahr hier im Anzug und im Ferrari vorfahren?«

Ali grinst nur: »Abwarten, Frau Freitag, abwarten. Aber wie geht es Ihnen? Haben Sie neue Klasse? Sind die so schlimm wie wir?«

»Nein, nein, keine Angst, ihr wart die Schlimmsten. Du, Ali, schön dich zu sehen. Melde dich noch mal, wenn du den Hauptschulabschluss in der Tasche hast. Ich muss jetzt zum Unterricht. Tschüssi.« Damit lasse ich ihn stehen, und er sieht sich suchend nach anderen bekannten Gesichtern um.

Diese ehemaligen Schüler tun mir oft leid. Da kommen sie mit hohen Erwartungen zurück an den Ort, an dem sie Jahre ihrer Jugend verbracht haben, nur um dann festzustellen, dass sie nicht mehr dazugehören und sich auch niemand für sie Zeit nehmen kann. Ich versuche immer, kurz mit ihnen zu reden. Es interessiert mich ja auch wirklich, was aus ihnen geworden ist. Meistens hängen sie allerdings in irgendwelchen Warte-schleifen.

Momentan sehe ich ständig Frau von der Leyen durchs Fernsehen geistern. Dort sagt sie mit verschiedenen Worten immer wieder sinngemäß den gleichen Satz: Jugendliche dürfen nicht in Maßnahmen und Warteschleifen versauern. Ihnen sollen gute Angebote gemacht werden und so weiter. Wo darf ich denn die in Maßnahmen geparkten Ex-Schüler hinschicken, wo gibt es denn diese guten Angebote? Liebe Frau von der Leyen, kann ich die direkt an Sie verweisen? Sollen die mal vorbeikommen? Medial würde sich das sehr gut machen, wenn Sie Alis Interessen verträten und ihm bei der Zukunftsgestaltung behilflich wären.

Ich sehe es schon vor mir: Einspieler bei Anne Will. Frau von der Leyen und Ali vorm Kanzleramt. Daneben Alis Mutter, die weint, Ali fällt von der Leyen um den Hals, dann: eine Großaufnahme von seinem roten Ferrari.

Ali träumt vom Sportwagen, und ich sitze in der Zensurenkonferenz und fantasiere: Meine Klasse ist fein und klein. In meiner Klasse sind nur achtzehn Schülerinnen und Schüler. Ich kenne alle Eltern. Sie kommen oft in die Schule und bringen Essen und Getränke für die Schulfeiern, die wir ständig veranstalten. Sie verkaufen die leckeren Speisen und der immense Erlös fließt in die Klassenkasse. Die ist so fett, dass wir immer irre Wandertage veranstalten: Extremklettern, Kanu fahren, Bungee-Jumping …

Konflikte gibt es zwischen den Schülern kaum, und wenn doch, dann lösen sie die in herrlichstem Hochdeutsch alleine. Gewalt ist ein Fremdwort, das die Schüler nur aus den Nachrichten kennen. Überhaupt kennen sie viel, weil sie nicht nur die Tagesschau, sondern auch sämtliche Politsendungen ansehen. Der häusliche Computer wird nur für die Hausaufgaben genutzt. Alle Schüler wollen das Abitur machen und sprechen dauernd davon, was sie alles tun, um ihre Leistungen zu verbessern. Manchmal muss ich sie daran erinnern, dass sie als Teenager auch ein Recht auf Freizeit und Spaß haben. Sie kennen weder MSN noch Counterstrike und sie wissen nicht, was ein Puff ist.

Alle Kollegen schwärmen vom Unterricht in meiner Klasse. Alle reißen sich darum, dort zu unterrichten. Mir werden Unsummen geboten, damit ich sie in mein Fachlehrerteam aufnehme. Der Schulleiter sagt auf jeder Konferenz Dinge wie: »Es kann ja nicht nur Fraufreitagsklassen geben«, oder: »Fragen Sie mal Frau Freitag, wie die das macht.«

Referendare werden immer meiner Klasse zugeteilt. Nach dem ersten Unterrichtsbesuch kommen die Seminarleiter mit all ihren Teilnehmern, um »die perfekte Klasse« zu begutachten. Während des Unterrichts in meiner Klasse kann ich meinen Raum aufräumen oder Kaffeetrinken gehen, weil die Schüler nur noch selbstständig lernen. Ich gehe jeden Tag pfeifend nach Hause und lege mir mehrere Hobbys zu, da ich so entspannt bin und plötzlich so viel Freizeit habe.

Ich streite mich mit Fräulein Krise und habe ein Zerwürfnis mit Frau Dienstag, weil ich deren Gejammer gar nicht mehr verstehe und immer gut drauf bin. Sie sind genervt von mir, da ich ständig versuche, ihnen gute Tipps zu geben. Nachdem sie mich wochenlang nicht zurückrufen, gebe ich es auf und denke, dass sie es im Gegensatz zu mir einfach nicht draufhaben.

In meinem Traum scheint außerdem jeden Tag die Sonne. Wenn ich in die Schule gehe, scheint sie, und wenn ich rauskomme, dann auch. Und es sind immer nette 24 Grad und der Himmel ist blau. Auch im Winter.

Von weit entfernt höre ich meinen Namen: »Frau Freitag, Frau Freitag!« Es ist der Schulleiter. Ich soll die Zensuren meiner Klasse vorstellen. »Äh, also, versetzungsgefährdet sind fünfzehn Schüler. Al-Habibi, Abdul: zwölf Ausfälle in folgenden Fächern …«

Frau Freitags Rede zum Halbjahresende

In der zweiten Stunde halte ich eine Predigt: »Ich verstehe euch nicht. Warum ist euch eure Schulbildung so egal? Ihr seid jetzt in der 9. Klasse, da müsstet ihr doch endlich mal raffen, dass es um eure Zukunft geht. Wollt ihr euch denn nie etwas leisten können? (Hier inspiriert von Fräulein Krise.) Wollt ihr nie verreisen, euch teure Sachen kaufen? Ihr werdet nie viel Geld haben, wenn ihr keinen Schulabschluss macht. Einige von euch werden nach dieser Klasse die Schule verlassen, wenn sie sich nicht anstrengen. Dann habt ihr gar keinen Abschluss. Wollt ihr denn euer Leben lang Hartz IV bekommen, irgendwelche Hilfsjobs machen oder schwarzarbeiten? Jetzt ist eure Chance, etwas für eure Zukunft zu tun. Es ist doch euer Leben! Abdul, willst du denn später mit fünfzig sagen: Mein Chemielehrer war doof, und jetzt habe ich keinen Schulabschluss, keine Ausbildung und keinen Beruf, weil ich meinen Chemielehrer nicht mochte? Ja, denkt ihr denn, ich mochte meine Lehrer?« Plötzlich spüre ich mehr Aufmerksamkeit als vorher.

»Warum sind Sie denn dann Lehrerin geworden?«, fragt Sabine.

»Ich bin doch nicht Lehrerin geworden, weil ich meine Lehrer mochte!«, schreie ich, völlig fassungslos. Wie die Schüler auf so was kommen. »Die meisten meiner Lehrer mochte ich nicht. Eine habe ich gehasst. Die hätte ich umbringen können. Die hat mir dann auch eine Fünf im Abitur gegeben. Und ich habe trotzdem das Abitur bestanden. Ich habe mich halt in den anderen Fächern mehr angestrengt. Ich wollte mir doch nicht von Leuten, die ich sowieso nicht leiden konnte, meine Zukunft versauen lassen. Ich wollte doch sagen: ›Hier guckt mal, ich hab trotzdem das Abitur.‹«

Die Schüler gucken betreten auf ihre Tische. Sie ärgern sich über ihre eigene Faulheit und merken, dass sie die erste Chance schon verspielt haben. Das erste Halbjahr ist gelaufen. Wenn sie sich jetzt nicht anstrengen, dann gibt es nicht mehr viele letzte Chancen.

Irgendwann klingelt es und ich sehe ihnen nach, als sie aus dem Raum trotten. Ob das nun was gebracht hat? Eines werden sie sich immerhin merken, nämlich dass ich meine Lehrer nicht mochte. Aber ich glaube noch an Wunder, sonst wäre ich bestimmt nicht Lehrer geworden. Vielleicht geht ja doch mal ein Ruck durch die Klasse, inshallah.

Mashallah

Jetzt mal was Positives, denn eine hat heute was gelernt in der Schule: Ich! Endlich weiß ich, was »mashallah« heißt beziehungsweise wann man das sagt. Ich liebe diesen Ausdruck, der hört sich gut an und spricht sich gut aus. »Verpiss dich« spricht sich leider auch immer gut aus, schafft aber Probleme, die einen über kurz oder lang in Erklärungsnot bringen können. Kleiner Tipp: Man sollte sich lieber ein gepflegtes: »Geh mal jetzt« angewöhnen und in der Schule ganz auf »Verpiss dich« verzichten.

Zurück zu »mashallah«. Gülistan malt ein schönes Bild, und sie ist offensichtlich auch selbst sehr zufrieden. Ich sehe das Bild, bin begeistert und sage: »Wow, das sieht echt toll aus!«

Kurz darauf sind dreckige Wasserspritzer auf ihrem Bild: »Gucken Sie, Frau Freitag, was Sie gemacht haben.«

»Das war ich doch gar nicht!«

»Nein, aber Sie haben mir ein Auge geworfen.«

»Häh? Ein Auge geworfen?«

Ihre Freundin mischt sich ein: »Ja, Sie haben gesagt, ihr Bild sieht toll aus, und darum ist das jetzt passiert. Sie haben ein Auge geworfen. Wenn Sie zum Beispiel einem Mädchen sagen: ›Deine Haare sehen toll aus‹, dann können dem Mädchen am nächsten Tag die Haare ausfallen. Das heißt ›ein Auge werfen‹. Wie bei Samira aus Ihrer Klasse: Wenn Sie sagen, sie benimmt sich gut, dann kann es sein, dass sie in der nächsten Stunde bei einem andern Lehrer stört und der sie rauswirft.«

Das mit Samira ist mir auch schon aufgefallen. Ich sage: »Das heißt aber dann, dass ich gar nicht mehr loben darf, weil dann immer was passiert, oder?«

Gülistan: »Nein, nein, Sie können ruhig was Nettes sagen, aber Sie müssen danach ›mashallah‹ sagen, dann ist das mit dem Auge wieder weg.«

»Ah, jetzt weiß ich endlich, was das heißt.« Fröhlich gehe ich den Rest der Stunde durch den Raum: »Sieht gut aus, mashallah.« – »Toller Pulli, mashallah.« – »Ihr habt heute gut gearbeitet, mashallah

Man lernt doch nie aus, vor allem nicht als Lehrer, MASHALLAH!

Tag der offenen Tür

Wenn man wie ich seinen Beruf so sehr liebt, dass man ihn auch in der Freizeit nicht missen möchte, umarmt man den Erfinder des Tags der offenen Tür. Tage der offenen Tür an Schulen geben Vollblutpädagogen wie mir die Möglichkeit, sich wenigstens einmal im Jahr auch abends oder am Wochenende in der Schule aufzuhalten. Wenn es nach mir ginge oder nach Frau Dienstag, gäbe es in allen Ferien die Verpflichtung, offene Sprechstunden in der Schule abzuhalten. Für ganz Hartgesottene wahlweise auch freiwilligen Unterricht und Aufsichten. Die Aufsichten könnte man in den öffentlichen Raum verlegen. Einkaufszentren oder Knotenpunkte des Personennahverkehrs böten sich an.

So weit sind wir leider noch nicht, und deshalb begnüge ich mich vorerst mit den Tagen der offenen Tür. Für Nichtlehrer und Nichteltern: Ein Tag der offenen Tür bietet interessierten Eltern die Gelegenheit, sich Schulen anzusehen. Jede Schule bereitet sich auf diesen Schülerfang gut vor: Da werden Kunst-arbeiten gerahmt und Plastiken ausgestellt, da tanzen, singen und kickboxen die Musterschüler (den anderen ist der Besuch der Schule an diesem Tag untersagt). Da wird im Chemiebereich geköchelt, im Physikraum sich herabbewegende Masse berechnet, interaktive Whiteboards können bestaunt werden, Mütter reichen Kaffee und hausgemachtes Allerlei. Die Schule wirkt wie eine Riesenspaßfabrik. Man würde sich nicht wundern, wenn hier wöchentlich Schaumpartys stattfänden.

Die zu umwerbenden Schüler sollen begeistert rufen: »Hier will ich hin. Ich will mir auch so eine schöne Handytasche nähen. Ich will auch mit Ton arbeiten und so einen lustigen Trickfilm machen, ich will Breakdancen und Feuerspucken lernen.«

Tja, dann melden sie sich bei der Schule an und es heißt: »Sorry, Feuerspucken nur für die Oberstufe. Mit Ton arbeiten, wo denkst du hin – das machen wir nur in der Ton-AG und die ist schon voll. Ach, die Bilder von der Klassenfahrt nach Italien, na ja, die sind schon älter, das war 1987, da konnte man mit den Schülern noch verreisen. Hat dir denn niemand gesagt, dass wir hier seit Jahrzehnten keine Fahrten mehr machen?«

Und dann sitzen die kleinen, aufgrund falscher Tatsachen angemeldeten neuen Schülerchen in der Klasse und hören zur Begrüßung: »Jacke aus, Blatt raus, Stift in die Hand, ich diktiere.«

Aber für uns Lehrer ist der Tag der offenen Tür eine super Sache. Für ein paar Stunden sind wir alle glücklich. Enthusiastisch präsentieren wir unseren Arbeitsplatz. Wir denken: Ist doch gar nicht so schlecht, was wir hier machen. Wir besuchen die Kollegen der anderen Fachbereiche und stellen überrascht fest: Na, das zischt und spritzt hier in Chemie – ist doch ein Riesenspaß, warum hassen meine Schüler denn den Chemieunterricht so sehr? Beschwingt gehen wir nach Hause und denken: Warum fühle ich mich denn so anders? So gar nicht niedergeschlagen und hoffnungslos? Und dann fällt es einem wie Schuppen von den Augen: Es waren gar keine Schüler da. Die Arbeit könnte so schön und unkompliziert sein.

Was wäre eigentlich, wenn ich nicht Lehrer wäre. Unvorstellbar. Vorstellbar ist aber, dass ich irgendwann in Rente gehe. Mal angenommen, ich ginge nächste Woche in den Ruhestand, wie sähe dann mein Alltag aus?

Also, morgens gäbe es ja gar keinen Grund aufzustehen. Stünde ich dann gar nicht auf? Wer mich kennt, wird sich das nicht vorstellen können, und auch ich bin mir sicher, dass ich wie gewohnt um 6.10 Uhr aus dem Bett springe. Rein in den Bademantel, das automatische Frühstückmachen mit simultanem Geschirrspüler ausräumen, das hätte ich immer noch im System. Dann wie immer auf das Sofa und mit dem Frühstücksfernsehen frühstücken. Draußen wird es langsam hell. Fertig gefrühstückt. Und dann? Da ich nicht in die Schule muss, brauche ich mich auch nicht anzuziehen, also bleibe ich im Bademantel. Auch das Waschen und Zähneputzen macht dann eigentlich keinen Sinn. Den Fernseher ausschalten – warum?

So vergeht Stunde um Stunde. Draußen wird es langsam wieder dunkel. Ich habe mir sämtliche Gerichtsshows angesehen und bin dann beim Zoo hängengeblieben. Ich bilde mir ein, viel über die Pflege von Wildschweinen gelernt zu haben, und verspüre einen kleinen Hunger. In der Küche bereite ich mir einen Snack zu und breite mich damit wieder gemütlich vor dem Fernseher aus. Gleich kommen Explosiv und Exclusiv – Das Star-Magazin, ich bilde mir ein, dass ich das sehen muss, um gut informiert zu sein. Das schlechte Gewissen lässt mich daraufhin gleich drei unterschiedliche Nachrichtensendungen hintereinander sehen. Und dann kommt auch schon der 20.15Film. Um 22.30 Uhr döse ich vor Spiegel TV in die erste Leichtschlafphase hinüber.

Mein erster Tag im Ruhestand – war der Tag, an dem ich meine Ruhe fand.

Der zweite und dritte Tag gleichen dem ersten. Unterscheiden sich nur durch den 20.15-Film. Am dritten Tag ist der Kühlschrank leer, und meine Haare starten eine leichte Verfilzung. Ich muss einkaufen gehen. Waschen? Ach, ich ziehe mir schnell was über und setze eine Mütze auf, ich will doch bloß in den Supermarkt.

Soziale Kontakte meide ich, da sie mir meine Ruhestandsroutine durcheinanderbringen und ich nicht genug erlebe, um mich mit anderen Menschen zu treffen. Ich fürchte die Konversation.

Da ich das Haus nicht mehr verlasse und mich nicht mehr bewege, vergrößert sich mein Volumen. Meine Kleidung beginnt zu zwicken. Ich behalte nun ganztägig den Bademantel an. Der passt immer. Ich entdecke die Supermarkt-Internet-Bestellung und bin froh, meine Wohnung nicht mehr verlassen zu müssen. Die Wohnung verkeimt. Die Bewohnerin auch. Tatsächliche Freude empfinde ich nur noch beim Verzehr von Fertiggerichten und gesättigten Fettsäuren. Ich beginne zu trinken. Adipös vegetiere ich bis zu meinem plötzlichen Tod vor mich hin. Als man nach Wochen die Wohnungstür aufbricht, bin ich so dick, dass man mich durch das Fenster aus der Wohnung schaffen muss.

Ja, und das alles nur, weil mir Struktur fehlte. Ruhestand, pah, das will ich gar nicht. Ich arbeite gerne bis 67. Ach, lasst mich ruhig bis 77 arbeiten! Die Schüler werden sich freuen: »Wir haben gleich wieder bei Oma, die sieht nicht mehr so gut. Wenn wir uns hinten hinsetzen, können wir Karten spielen.«

Wenigstens sind sie ehrlich

Noch bin ich weder 65 noch 67. Aber gestern Abend, als ich völlig lustlos an meiner Unterrichtsvorbereitung saß, fühlte mich wie 77, und es überkam mich wieder dieses So-jetzt-reicht’s-Gefühl. Wer morgen erneut sein Buch vergessen hat, bekommt von mir eine schriftliche Aufgabe, die sich gewaschen hat. Aufgebrauchte Geduld verjüngt ungemein.

Sofort schob ich die Unterrichtsvorbereitung zur Seite und verfasste ein Arbeitsblatt mit zwanzig Fragen. Überschrift: »Schreibe diese Fragen ab und beantworte sie ausführlich!«

Dann, heute in der zweiten Stunde: Showdown! Jeder Schüler, der in den Raum kam, musste mir sein Buch zeigen. Wer keines dabei hatte, musste sich sofort mit den zwanzig Fragen in die hinterste Reihe setzen und wurde von mir nicht mehr beachtet. Mit der übriggebliebenen Kleinstgruppe machte ich sehr individualisierten Unterricht.

Am Ende der Stunde sammelte ich die Antworten der Vergesslichen ein. Eben habe ich sie gelesen und war ziemlich überrascht. Nicht vom schlechten Deutsch, aber von den ehr lichen Antworten. Hier ein paar Beispiele:

Welches Arbeitsmaterial hast du vergessen?

Alle: Buch

Warum hast du dein Arbeitsmaterial vergessen?

A: Zeitdruck und vergessen

B: Hab verschlafen und war spät dran.

C: weil ich morgens nicht auf den Stundenplan geguckt hab.

D: Keine Ahnung, weil alle ihr Buch hier haben und ich mein Buch zu hause ausgepackt habe.

Welches Arbeitsmaterial brauchst du für den Unterricht? (Zähle ALLES auf!)

Alle wissen, was man dabei haben sollte …

Warum brauchst du diese Dinge?

A: um zu schreiben und arbeiten.

B: um in Unterricht mit machen zu können

C: Damit ich im Unterricht mitmachen kann

D: um gründlich am Unterricht teil zu nehmen

Was sollte die Lehrerin tun, wenn du dein Arbeitsmaterial nicht mithast?

A: keine Antwort

B: Sie sollte straf arbeiten aufgeben

C: chilln! Hallo ich hab ein nachbar wo ich mit rein gucken kann oder so?

D: Extra Aufgabe.

E: die Note 6 geben

Was möchtest du später werden?

A: Pysiotherapheut/Masseur (wenn das nicht klapt Maler und Lakierer)

B: Ich möchte Kinder erziherin werden.

C: Ich weiß nicht genau so in der Art in der Apotheke

D: Apothekenhelferin

E: Ich habe vor im Büro zu arbeiten aber kp (das bedeutet: kein Plan) was genau.

Wie wird man das?

Alle: wissen ganz genau Bescheid, welche Schulabschlüsse sie brauchen.

Was tust du dafür?

A: Ich tuh was ich kann ok in Mathe werde ich mich bessern.

B: Ich bereite mich darauf vor wie mann mit Kindern um geht.

C: ein bisschen anstrengen

D: Naja im Moment hab ich nicht wirklich gut mit gemacht im Unterricht aber ich hatte mir vorgenommen mich zu ändern.

E: zur Schule gehen

Sind deine Eltern mit deinen Schulleistungen zufrieden?

A: ist nicht so weit gekommen.

B: Mit einigen Unterrichtsverchen schon.

C: nicht ganz … erwarten ein bisschen mehr mühe.

D: ich denk ma nicht ne.

E: Nein gar nicht

Bist du mit deinen Schulleistungen zufrieden? Begründe, warum ja/warum nicht.

B: Nein, weil ich damit kein Abi machen kann

C: Nein! Weil ich weiss ich kann mehr.

D: eigentlich nicht weil ich brauch das ja für mein späterin Beruf.

E: neeeee, weil es nicht gut für mich läuft.

Welchen Schulabschluss möchtest du machen?

Hier haben alle mindestens den Realschulabschluss oder das Abitur vor Augen.

Was musst du dafür tun?

B: gute noten schreiben nicht schwensen

C: genug Punkte bekommen!

D: mitmachen und lernen

E: lernen viel lernen

Von welchem Geld werden Schulen und Lehrer bezahlt?

B: Ich glaube vom stad

C: ich weiß nicht

D: vom Start

E: vom Start

Wer bezahlt deine Schulbücher?

B: Hartz 4

C: Sozialamt!

D: Job Center

E: Arbeitsamt

Was würdest du an der Schule ändern, wenn du etwas ändern könntest?

Alle wünschen sich längere Pausen und einen späteren Unterrichtsbeginn.

Wie viel Geld wird dir mit 30 Jahren im Monat zur Verfügung stehen? Was schätzt du?

B: 700 – 800 Euro

C: ich weiss nicht, mein Mann wird ja (auch) arbeiten

D: 50 – 1000 Euro /mein Mann

E: ist nicht so weit gekommen

Wie viel Geld braucht man im Monat? Mache eine Liste (Miete, Essen, Kleidung, Handy, Krankenversicherung …)

Hier entstanden herrliche Kalkulationen, zum Beispiel die folgende: Handy 200 Euro, warm Wasser 200 Euro, Kleidung 400 Euro, Essen 300 E, Auto 1000 E usw. (insgesamt 2900 Euro!!!)

Wofür wirst du später noch Geld brauchen? Reisen? – Wie viel wird das kosten?)

Hier kamen noch etliche Euro dazu:

C: Das wird mies teuer aber ich glaub nicht, dass ich das alles bezahlen muss … mein Mann. (Zum Glück ist C bildhübsch und wird freie Ehemannwahl haben – aber die wird sie auch brauchen.)

Jetzt muss ich nur noch überlegen, was ich damit anfange. Ich glaube, es wird mal wieder Zeit für pädagogisch sinnlose Einzelgespräche. Aber ich würde wetten, dass in der nächsten Stunde niemand mehr sein Buch vergessen wird. Der Optimist lächelt und hofft, bis er den nächsten Reinfall erlebt …

Wenn der Lehrer als Mensch entdeckt wird

Heute war mal wieder ein Tag, da war alles dabei. Aber vor allem wurde viel gequatscht. Nebenbei wurde noch so ein wenig vor sich hin gearbeitet, aber jetzt, so kurz vor den Zeugnissen, will man sich ja auch nicht übernehmen.

Ich liebe diese Tage, wenn eigentlich alles getan ist, die Kopfschmerzen abgeklungen sind und die Schüler friedlich an ihren Arbeiten rumwurschteln. Dann habe ich Zeit zum Aufräumen. Heute habe ich mit einigen Schülerinnen die Tuschkästen sauber gemacht und neue Farben einsortiert. Sehr handlungsorientierter Unterricht, und sogar die Produktorientierung kommt nicht zu kurz, denn man sieht sofort, was man geschafft hat.

In solchen Stunden ist die Stimmung immer gut. Dann trauen die Schüler sich auch mal, etwas Persönliches zu fragen. Aber nicht alle Fragen sollte man als Lehrer beantworten, auch wenn man sich noch so sehr darüber freut, dass man ansatzweise als Mensch wahrgenommen wird. Typische Schülerfragen in netten Stunden:

»Sind Sie verheiratet?« Kann man ruhig beantworten. Verneint man, folgt: »Habe Sie einen Freund?« – »Wie lange sind Sie schon zusammen?« – »Sieht der gut aus?« – »Wo haben Sie sich kennengelernt?« Von diesen Fragen muss man nicht alle beantworten.

Heute wurde mir eine nette Frage gestellt: »Frau Freitag, hören Sie auch Musik?«

»Natürlich höre ich auch Musik, was denkst du denn, was ich bin, ein Roboter?«

Und warum denken Schüler immer, Lehrer hören grundsätzlich nur Klassik. Allerdings umschiffe ich die Frage nach meinen Musikpräferenzen immer geschickt, indem ich so lange über irgendetwas anderes quatsche, dass sie gar nicht merken, dass ich ihre Frage unbeantwortet lasse.

Versteht man sich mit einer Gruppe Schüler besonders gut – das kommt ja vor –, dann fragen sie gerne mal: »Frau Freitag, habe Sie schon mal gekifft?« Hier gibt es nur eine mögliche Reaktion: »Na, was meint ihr denn?« Und dann schnell das Thema wechseln. Bloß nicht Ja oder Nein sagen.

Die Klassiker sind aber: »Wollten Sie schon immer Lehrer werden?«, und: »Warum sind Sie eigentlich Lehrer geworden?«

In der letzten Stunde kam diese Frage wieder, und ich – gut gelaunt die Tuschkästen sortierend – lasse mich dazu hinreißen, den Schülern meinen kompletten beruflichen Werdegang zu erzählen. Irgendwann sagt Meltem: »Frau Freitag, Sie haben es gut, Sie haben Ihren Beruf, verdienen genug Geld, können sich alles leisten.« Endlich hat es mal jemand kapiert.

»Ja, genau, ihr müsst hier sein und bekommt kein Geld, aber ich bin hier und verdiene die ganze Zeit Geld.«

»Ich will auch mal viel Geld verdienen«, sagt Meltem.

»Wie viel ist denn für euch viel?«

Noah: »Mindestens 2 500 brutto.«

Zufällig habe ich meine Gehaltsabrechnung in der Tasche und hole sie raus: »Also ich verdiene mehr als das. Hier …« Ich lese ihnen mein Bruttogehalt vor, sie staunen. Dann lese ich ihnen genau vor, was wieder abgezogen wird. Sie sind entsetzt. Wir sprechen über den Solidarbeitrag, die Pflege- und die Rentenversicherung. Noah fragt: »Werden Sie da nicht sauer, dass Ihnen so viel abgezogen wird?«

»Na ja, ich werde sauer, wenn ein Schüler den Haarpinsel im Wasser stehen lässt, der kaputtgeht und dann von den Steuern ein neuer Pinsel bezahlt werden muss. Oder wenn Schüler ständig zum Arzt rennen, nur weil sie keine Lust haben, zur Schule zu gehen und damit die Krankenkasse belasten.« Plötzlich sagt eine Schülerin: »Oh, es klingelt gleich.« – »Echt? Schon?« Sie räumen auf, stellen die Stühle hoch und gehen.

Und die Bilder, die sie gemalt haben, sehen auch gar nicht schlecht aus.

Heute Kinder wird’s was geben …

… heute werdet ihr euch freu’n. Welch ein Toben, welch ein Beben wird in euren Häusern sein. Achtzehn Wochen nichts gemacht – heißa, heut ist Zeugnistag!

Hihi, Zeugnistag: Stoisch nehmen sie die Beweise für ihre dumpfe Faulheit in Empfang. Wortlos lassen sie die pädagogischen Worte über sich ergehen, während ich in der einen ihre Hand und in der anderen ihr Halbjahreszeugnis halte.

»Nach oben alles offen.« Wie oft habe ich das schon gesagt? »Bessert euch, tut was, ändert euch!« – »Und seht zu, wie ihr eure Eltern besänftigen könnt.«

»Letzte Chance! Ich schwöre, ich bessere mich. Ich werde ab jetzt immer lernen. Ich werde versetzt. Ich versprech’s. Ich schwör!«

Ihr lieben Eltern: Traut den Versprechungen nicht. Nehmt euch die Schultaschen oder das, womit eure Kinder täglich losziehen, wenn sie sich im Laufe des Vormittags aus dem Haus entfernen. Werft mal einen Blick hinein. Nur Schminkzeug und die vermisste Bürste. Keine Federtaschen? Habt ihr nicht ein Hausaufgabenheft gekauft? Und ja, die Bücher gehören der Schule und Frau Freitag wird sie so garantiert nicht wieder annehmen. Noch vor achtzehn Wochen waren die nagelneu, und seht sie euch nun an. Die werdet ihr bezahlen müssen. Fangt schon mal an zu sparen. Und sollte in der Tasche nicht auch ein Hefter liegen oder so etwas wie ein Block? Habt ihr eurem Kind nicht Geld gegeben, damit es sich Schulsachen kaufen kann? Gebt ihr ihm nicht jeden Monat Geld dafür? Und nun das!

Seht euch die Zeugnisse genau an! Überall wimmelt es nur so von schlechten Noten. Nein, eine Vier ist keine gute Zensur, lasst euch das nicht erzählen. Lobt nicht die Drei in Kunst, die ist von der warmherzigen Frau Freitag aus Mitleid spendiert worden. Was ist mit Deutsch, Mathe, Englisch? Fragt nicht schon wieder, was Arbeitslehre ist. Merkt euch doch einmal, dass wir hier Punkte vergeben statt Noten und dass diese Punkte für bestimmte Noten stehen. Eure Kinder gehen doch nicht erst seit gestern auf diese Schule – wie hieß die doch gleich? Nicht gleich fünf Euro geben und das Kind nach draußen schicken! Handy wegnehmen, Kabel vom Computer einziehen, Fernseher konfiszieren! Tasche entrümpeln, gemeinsam mit dem Kind! Vielleicht sogar Nachhilfe. Ja, so was gibt es. Ja, nicht nur für Gymnasiumkinder! Ihr müsst nicht automatisch am Arsch der Gesellschaft hocken bleiben. Müsst ihr ganz und gar nicht, und lasst euch von eurem Kind nicht erzählen, es hätte keine Chance. Die Klassenbeste ist keineswegs ein Bildungsbürgerkind! Und denkt mal daran, was für eine gute Partie eure Kinder auf dem Heiratsmarkt abgeben, wenn sie ihr Geld selbst und vielleicht nicht in der Gebrauchtmobiltelefonvertriebsbranche verdienen würden. Fördern und Fordern. Das gilt nicht nur in der Schule, sondern auch für euch! Für ein wenig mehr Mitarbeit eurerseits wäre ich zutiefst dankbar. Und jetzt wünsche ich euch noch viel Spaß mit euren Gören zu Hause. Vormittags sind sie immer ganz besonders niedlich. Aber nach den Ferien beginnt ja das zweite Halbjahr, und das ist dann wirklich ihre allerletzte Chance.